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Die unglücklichen Ehen

Ein weiblicher Blaubart vor den Geschworenen

„Die Ehen werden im Himmel geschlossen“, dieser schöne Ausspruch ist längst durch die Wirklichkeit widerlegt. Es ist ungemein bedauerlich, daß in unserm materiellen Zeitalter eine glückliche Ehe als große Seltenheit gilt. Unglückliche Ehen sind in allen Gesellschaftskreisen vorhanden. In den Kreisen der Begüterten ist wohl in der Hauptsache der Umstand schuld, daß die Ehen vielfach nicht aus innerer gegenseitiger Neigung, sondern geschlossen werden mit Rücksicht auf eine große Mitgift, eine in Aussicht stehende Erbschaft oder anderer äußerer Vorteile wegen. Dadurch wird die Ehe eine Art Versorgungsanstalt. Daß derartige Ehen nicht glücklich sein können, ist begreiflich. Vielfach werden auch unglückliche Ehen dadurch verschuldet, daß sie in übereilter Weise und in solch jugendlichem Alter geschlossen werden, daß beide Ehegatten, insbesondere der männliche Teil, noch gar nicht den nötigen Ernst und auch nicht das Bedürfnis zu einer Familiengründung empfindet. Aber auch in den unbemittelten Volkskreisen begegnet man vielfach unglücklichen Ehen. Zweifellos wird das schöne Dichterwort nicht genügend beachtet:

„Drum prüfe, wer sich ewig bindet,

Ob sich das Herz zum Herzen findet.“

Sowohl im Mittelstande, als auch in den ärmeren Kreisen werden die unglücklichen Ehen vielfach durch den Umstand verschuldet, daß die Frau es nicht versteht, durch Wirtschaftlichkeit, Sauberhalten der Wohnräume und Zubereitung schmackhaften Essens, dem Manne das Familienleben angenehm zu machen. Daß die traurigen wirtschaftlichen Verhältnisse hieran die Hauptschuld haben, ist allerdings nicht zu leugnen. Sehr viel wird ja zweifellos der glücklicherweise immer geringer werdende Branntweingenuß zur Besserung des Familienlebens beitragen. Dringend notwendig ist es aber auch, die jungen Mädchen für ihren dereinstigen Beruf als Gattinnen und Mütter schon in der Schule und auch durch möglichst zahlreiche Gründung von Haushaltungsschulen besser vorzubereiten. Dies gilt selbstverständlich für alle Gesellschaftskreise. Daß die vielen unglücklichen Ehen zur Verminderung der Eheschließungen beitragen, ist begreiflich. Man hat einmal einen römischen Philosophen gefragt: ob es besser sei, zu heiraten oder nicht. Der Philosoph antwortete: „Tue beides, und du wirst beides bereuen.“ Wer wollte leugnen, daß in diesem Ausspruch eine große Wahrheit liegt? Jedenfalls ist es auch mit unserem Eherecht noch sehr schlecht bestellt. Angesichts des Umstandes, daß die Zahl der modernen Raubritter keine geringe ist, die Mädchen und Witwen mit einigem Vermögen nur in der Absicht heiraten, um durch „straflosen Diebstahl“ sich in den Besitz des Vermögens der Gattin zu setzen und alsdann spurlos zu verschwinden, sollte Veranlassung geben, den § 247, alinea 2 des Strafgesetzbuches so schnell als möglich zu ändern. Die gefährlichste Erscheinung im Eheleben ist zweifellos der Blaubart. Welches Kind empfindet nicht ein gewisses Gruseln, wenn ihm vom Dienstmädchen in der Dunkelstunde am traulichen Kaminfeuer von einem Blaubart erzählt wird, der ein halbes Dutzend Frauen aus reiner Mordlust um die Ecke gebracht hat. Leider haben diese Kindermärchen in der Neuzeit immer mehr praktische Gestalt angenommen. Im fünften Bande meiner „Interessanten Kriminalprozesse“ wird dem Leser unter der Überschrift: „Ein verbrecherischer Arzt“, ein Blaubart in schlimmster Form als Angeklagter vor dem Schwurgericht zu München vorgeführt. Daß wir aber auch an weiblichen Blaubärten keinen Mangel haben, erhellt aus dem Prozeß gegen die Gräfin Tarnowska und Genossen (siehe Band 3), aus den Prozessen gegen Frau v. Schönebeck in Allenstein sowie der Damen Steinheil und Borawska in Paris und aus noch neueren Vorkommnissen. In demselben Saale, in dem sich im Hochsommer 1910 Frau Majorin v. Schönebeck wegen Anstiftung zum Gattenmorde zu verantworten hatte, erschien sieben Jahre früher, im Juni 1903 ein weiblicher Blaubart vor den Geschworenen, die alle ihre Vorgängerinnen an Ruchlosigkeit und Grausamkeit weit in den Schatten stellte. Diese Massenmörderin gehörte keineswegs den unbemittelten Klassen an; sie war Besitzerin einer sehr wertvollen Landwirtschaft; sie schenkte nicht, wie der Erste Staatsanwalt im Plädoyer ausführte, unbemittelten Jünglingen im Dorfe ihre Gunst. Auch hier waren Lüsternheit und Habsucht die Triebfeder des ungeheuerlichen Treibens dieser Megäre. Die Verhandlung enthüllte einen solch furchtbaren Abgrund von Verworfenheit und niederer Gesinnung, wie man sie bei einem weiblichen Wesen nicht für möglich halten sollte. Ich habe in meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter so manchem verruchten Verbrecher ins Antlitz gesehen, dies Scheusal in weiblicher Menschengestalt, das am 18. und 19. Juni 1903 vor dem Schwurgericht zu Allenstein unter der Beschuldigung stand, ihre ersten vier Ehemänner in verhältnismäßig kurzer Zeit vergiftet zu haben, war jedoch in höchstem Grade geeignet, mich, den „wetterfesten Kriminalisten“, mit Ekel und Abscheu zu erfüllen.

Den Vorsitz in diesem forensischen Drama führte Landgerichtsdirektor Dr. Thiessen. Die Anklage vertrat Erster Staatsanwalt Nietzki. Die Verteidigung führte Justizrat Wolski. Dolmetscher der polnischen Sprache war Obersekretär Doehlert. Die Angeklagte, Frau Anna Przygodda, war eine kleine, etwas behäbige Frau mit nicht unintelligenten und auch nicht unschönen Gesichtszügen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab sie durch den Mund des Dolmetschers an, sie sei am 20. Juli 1859 zu Puvlitz, Kreis Ortelsburg, geboren, evangelischer Konfession und bisher noch nicht bestraft. Laut Anklagebeschluß war sie beschuldigt, vier ihrer Ehemänner, die Besitzer Bachur, Kempka, Panneck und Wiescholleck durch Gift getötet zu haben. Auf Befragen des Vorsitzenden, ob sie sich schuldig bekenne, äußerte die Angeklagte: Keineswegs, ich bin vollständig unschuldig. Die Männer sind sämtlich an ihren Krankheiten gestorben. Auf weiteres Befragen bemerkte die Angeklagte: Am 15. Februar 1883 habe sie den Besitzer Johann Bachur in Röblau geheiratet. Bachur war bei der Verheiratung 21 Jahre. Aus dieser Ehe seien drei Kinder hervorgegangen. Das jüngste, das nach dem Tode des Bachur geboren wurde, sei drei Wochen nach der Geburt gestorben. Bachur sei am 22. Mai 1888 gestorben. Im Dezember desselben Jahres habe sie Kempka, der bei Bachur Wirtschaftsinspektor war, geheiratet. Kempka sei 27 Jahre alt gewesen. Auch aus dieser Ehe sei ein Mädchen hervorgegangen, aber kurze Zeit nach der Geburt gestorben. Kempka habe ihr gesagt, er habe ein Vermögen von tausend Talern, die er auf ihre Besitzung einzahlen wolle; er habe aber nur 100 Taler besessen.

Vors.: Ist es richtig, daß Sie nicht zur Trauung gehen wollten, ehe Kempka tausend Taler auf den Tisch aufzähle?

Angekl.: Das ist unwahr, ich war froh, daß Kempka mich heiratete, denn ich befand mich von ihm bereits in gesegneten Umständen.

Vors.: Das Mädchen, das Sie in der zweiten Ehe geboren, wurde nach dem Tode Ihres zweiten Mannes am 22. Juli 1889 geboren?

Angekl.: Ja.

Vors.: Sie erhielten deshalb die Erlaubnis, sehr bald eine neue Ehe einzugehen und heirateten am 26. November 1889 August Panneck. Dieser war zu Lebzeiten des Kempka dessen Wirtschaftsinspektor?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wann starb Panneck?

Angekl.: Am 18. September 1891.

Vors.: Hatten Sie mit Panneck Kinder?

Angekl.: Jawohl, mit Panneck hatte ich zwei Kinder. Eins starb noch zu Lebzeiten des Panneck, das zweite sehr bald nach seinem Tode. Am 19. April 1892 heiratete ich den Besitzer Wiescholleck. Mit diesem hatte ich drei Kinder, einen Knaben und zwei Mädchen. Der Knabe starb sehr bald, die zwei Mädchen chen leben. Am 16. November 1899 ist Wiescholleck gestorben. Wiescholleck war zu Lebzeiten des Panneck dessen Wirtschaftsinspektor. Am 3. November 1901 habe ich zum fünften Male geheiratet, und zwar meinen jetzt noch lebenden Mann, den Besitzer Adam Przygodda.

Vors.: Woran sind denn Ihre ersten vier Männer, zunächst Bachur, gestorben?

Angekl.: Bachur bekam den Typhus. Es starben damals viel Leute in Röblau am Typhus. Bachur wollte keinen Arzt haben. Nach acht Tagen war Bachur tot. Ich habe mich mit Bachur wohl bisweilen gezankt, im allgemeinen war aber unsere Ehe eine sehr friedliche und glückliche. Bachur hatte auch Ausschläge auf dem Kopf bekommen, so daß ihm die Haare ausgingen. Mein zweiter lieber Mann, Kempka, hatte sich bei dem Tragen eines Sackes Kartoffeln „überhoben“. Er klagte bald darauf über Schmerzen im Rücken und in den Füßen und ist nach einigen Tagen gestorben. Mein dritter Mann Panneck war Ulan. Er wurde zu einer Übung nach Lyck eingezogen. Als er zurückkam, hatte er ein großes Geschwür am Halse, das ihn heftig schmerzte. Kurze Zeit darauf starb er. Es wurde mir gesagt: Panneck sei an der Schwindsucht gestorben. Woran mein vierter Mann Wiescholleck gestorben ist, weiß ich nicht, er ist von Anfang an krank gewesen. Eines Abends hatte sich Wiescholleck im „Krug“ derartig betrunken, daß er nicht nach Hause fand; er hatte mehrere Stunden im Schnee geschlafen. Dadurch wird er sich wohl stark erkältet haben.

Vors.: Haben Sie nicht Ihren Männern Gift beigebracht?

Angekl.: Nein, ich habe mit Gift nie etwas zu tun gehabt.

Vors.: Ihre vier ersten Männer waren evangelisch, Ihr jetziger, fünfter Gatte ist katholisch?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie sollen einmal gesagt haben, die evangelischen Ehemänner kosten zehn Pfennige, die katholischen bekommt man für fünf Pfennige.

Angekl.: Das sind Lügen.

Vors.: Sie sollen viel Schnaps getrunken haben?

Angekl.: Ich bin allerdings keine Abstinentin, viel Schnaps habe ich aber nicht getrunken, zumal ich ihn nicht vertragen kann.

Vors.: Ihr dritter Mann Panneck soll einmal gesagt haben: Zwei Männer hat sie schon um die Ecke gebracht, bei mir wird es ihr aber nicht gelingen?

Angekl.: Das ist mir vollständig unbekannt.

Vors.: Wiescholleck ging häufig auf die Jagd?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie sollen deshalb dem Wiescholleck Vorwürfe gemacht und gesagt haben: Wenn du das nicht läßt, dann wirst du bald verschwinden?

Angekl.: Das ist vollständig unwahr. Im Gegenteil, ich freute mich, wenn mir mein Mann einen Hasen mitbrachte.

Vors.: Panneck soll Sie bei einem Streit einmal eine Hexe genannt haben. Sie sollen geantwortet haben: Wenn ich eine Hexe bin, dann werde ich dich verhexen. Es kostet mich bloß einen Silbergroschen, dann kommt dich der Teufel holen.

Angekl.: Das ist eine vollständige Lüge.

Vors.: Sie sollen außerdem einmal gesagt haben: Es gibt eine Pflanze; wenn man davon einem Menschen zu essen gibt, dann muß er sterben, wenn es auch etwas lange dauert.

Angekl.: Das ist alles Lüge.

Vors.: Sie sollen ferner gesagt haben: Sie haben in Ihrem Planeten gelesen, daß Sie sechs Männer haben werden, erst mit dem siebenten werden Sie Ihr Dasein beschließen?

Angekl.: Es ist einmal eine Zigeunerin bei mir gewesen, von dieser habe ich mir die Karten legen lassen. Die Zigeunerin sagte mir: Ich habe in meiner Jugend sieben Liebschaften gehabt. Dies habe ich im Dorfe erzählt, dabei muß ich mißverstanden worden sein.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden äußerte die Angeklagte: Solange meine zwei ersten Männer lebten, habe ich niemals Gift im Hause gehabt. Wiescholleck scholleck hat zwei Jahre vor seinem Tode Schweinfurter Grün zum Töten von Schwaben angeschafft. Der Vater des Wiescholleck, Altsitzer Wiescholleck, hatte an Krätze gelitten und wahrscheinlich deshalb, aber auch zum Weißen der Wände Vitriol angeschafft.

Vors.: Sie sollen einmal zu Ihrem vierten Mann Wiescholleck gesagt haben: Du ruinierst die ganze Wirtschaft. Wenn du nicht anders wirst, werde ich dich einfach verschwinden lassen.

Angekl.: Das ist unwahr. Ich habe dem Wiescholleck allerdings oftmals Vorwürfe gemacht, weil er sich bisweilen betrank und infolgedessen die Wirtschaft vernachlässigte. Ich habe aber niemals gesagt, ich werde dich verschwinden lassen.

Vors.: Wiescholleck soll einmal gesagt haben, die Wurst, die Sie ihm vorgesetzt hatten, schmecke eigentümlich.

Angekl.: Das ist mir nicht erinnerlich. Die Wurst war jedenfalls gut, ich habe selbst davon gegessen. Meinem Mann schmeckte nicht alles, da er krank war.

Vors.: Wiescholleck soll oftmals allein gegessen haben?

Angekl.: Das geschah nur, wenn wir uns gezankt hatten.

Vors.: Sie sollen einmal erzählt haben, Wiescholleck sei gestorben, weil er Rühreier gegessen hatte, zu denen Eier verwendet wurden, die eine Gans schon vierzehn Tage lang bebrütet hatte?

Angekl.: Auch das ist nicht wahr, dem Wiescholleck ist allerdings einmal von dem Essen gekochter Eier übel geworden.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts stellte der Vorsitzende aus den Akten fest, daß Bachur bei der Verheiratung 21 Jahre, Kempka 27, Panneck 26, Wiescholleck 28 Jahre alt war.

Vors.: Angeklagte, es ist Ihnen schon wiederholt vorgehalten worden, daß es festgestellt ist, daß in den ausgegrabenen vier Leichen, jedenfalls bei Bachur, Kempka und Wiescholleck Arsenik gefunden wurde; es ist ferner festgestellt, daß alle vier Männer an ein und derselben Krankheitserscheinung gestorben sind, wie erklären Sie sich das?

Angekl.: Ich kann mir das nicht erklären. Arsenik war niemals in unserem Hause. Dieselben Krankheitserscheinungen können bei den vier Männern nicht festgestellt sein, denn sie sind an verschiedenen Krankheiten gestorben.

Unter größter Spannung wurde darauf der fünfte Ehemann der Angeklagten, Besitzer Przygodda, ein großer, nicht unschöner Mann von 30 Jahren, als Zeuge in den Saal gerufen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe die Angeklagte am 3. November 1901 geheiratet. Seine Frau habe oftmals gezankt zankt und auch Schnaps getrunken. Zweimal sei sie betrunken gewesen.

Vors.: Hat Ihnen Ihre Frau bisweilen gedroht?

Zeuge: Sie sagte einmal: „Du wirst meiner gedenken.“

Vors.: Hat nicht Ihre Frau einmal gesagt: „Es kostet mich nur ein ?Dittchen?, dann kommst du um die Ecke?“

Zeuge: Davon weiß ich nichts. Es ist mir allerdings erzählt worden, meine Frau habe gesagt, evangelische Männer kosten einen Silbergroschen, katholische die Hälfte.

Vors.: Sind Sie denn nicht gewarnt worden, eine Frau zu heiraten, der fast hintereinander vier Männer gestorben waren?

Zeuge: Jawohl, es wurde mir gesagt, es könnte mir auch so gehen, denn die Männer seien alle unter eigentümlichen Umständen plötzlich gestorben. Dies hielt ich meiner Frau vor. Da versetzte sie: „Meine vier ersten Männer sind an verschiedenen Krankheiten gestorben. Wenn deine Zeit herangekommen sein wird, dann stirbst du auch.“ Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe 600 Taler in die seiner Frau gehörende Wirtschaft eingebracht.

Angekl.: Ich habe mich mit meinem fünften Mann Przygodda nur zweimal gezankt. Das eine Mal zankte ich mich mit Przygodda, weil er den Hund sehr geschlagen schlagen hatte. Przygodda drohte mir, mich ebenfalls zu schlagen. Da sagte ich: Du wirst meiner gedenken. Ich habe allerdings auch zu Przygodda gesagt: „Wenn deine Zeit gekommen sein wird, dann wirst du auch sterben.“ Das ist doch Gottes Bestimmung, dagegen läßt sich nichts machen.

Gutsbesitzer Braun (Röblau): Ich kannte Panneck, Wiescholleck und kenne Przygodda. Panneck war ein sehr nüchterner Mann, dagegen war Wiescholleck bisweilen angetrunken, Wiescholleck klagte mir oftmals, daß seine Frau ihn sehr schlecht behandle. Ich habe deshalb dem Wiescholleck geraten, sich scheiden zu lassen. Wiescholleck, der ebenso wie Panneck Ulan war, hat mir geantwortet: Ich bin ein kranker Mann, da ist es schwer, sich scheiden zu lassen. Auch Przygodda klagte mir einmal, daß seine Frau ihn schlecht behandle. Er erzählte mir, seine Frau habe zu ihm gesagt: „Vier meiner Männer hat der Teufel schon geholt, den fünften wird er auch bald holen.“

Vors.: Angeklagte, Sie sollen oftmals in Rußland gewesen sein?

Angekl.: Ich war zweimal in Rußland.

Bürgermeister Müller (Willenberg): In Rußland sind Gifte teurer, als in Deutschland, man kann aber in Rußland alle Gifte ohne Giftschein erhalten. Ich kenne die Angeklagte seit 20 Jahren, ich habe sie oftmals angetrunken gesehen. Sie trank vielfach mit Leuten, ten, die unter ihrem Stande waren, Schnaps. Die Angeklagte war auch eine unordentliche, unwirtschaftliche Frau.

Landgerichtssekretär Hintz: Ich war im Sommer 1902 in Willenberg. Da wurde erzählt, die Angeklagte habe ihre vier Ehemänner beiseite geschafft, um immer wieder neues Geld zu erhalten. Die Ehemänner haben auch alle Geld in die Besitzung, die sich sehr gut rentierte, eingebracht.

Die Angeklagte bestritt, daß sie darauf ausgegangen sei, von ihren Männern neues Geld zu erhalten. Frau Rosowsky: Die Angeklagte habe ihr einmal erzählt, sie habe sich von einer Zigeunerin die Karten legen lassen. Sie habe der Zigeunerin sechs Mark für das Kartenlegen zahlen müssen. Die Zigeunerin wisse aber viel, habe die Angeklagte gesagt; sie habe ihr aber nicht mitgeteilt, was die Zigeunerin wisse.

Vors.: Haben Sie nicht zum Gendarm gesagt, die Angeklagte habe sich ein Mittel zum Behexen für sechs Mark gekauft?

Zeugin: Nein. Die Angeklagte sagte nur: Es kostet bei der Zigeunerin sechs Mark, die weiß aber viel.

Vors.: War Ihnen bekannt, daß die Angeklagte viel Schnaps trank?

Zeugin: Das glaube ich schon. Als wir über die Zigeunerin sprachen, haben wir zusammen einen Liter Schnaps ausgetrunken. (Große Heiterkeit.)

Vors.: Haben Sie die Angeklagte angetrunken gesehen?

Zeugin: Das kann ich nicht sagen, ich wohne nicht in Röblau.

Lehrer Ottersdorf: Im Volksmunde hieß es, die Angeklagte habe ihre vier ersten Ehemänner durch Zauberei aus der Welt geschafft.

Vors.: Was verstehen die Leute unter Zauberei?

Zeuge: Die Leute sind der Ansicht, die Angeklagte habe die Männer behext, so daß sie von dem Weichselzopf und ähnlichen Dingen befallen wurden und starben. Ich habe nur Wiescholleck gekannt. Mit diesem zankte sich einmal die Angeklagte im Kruge und sagte: Drei sind bereits um die Ecke gegangen, dir wird’s auch bald so gehen. Wiescholleck hat mir oftmals über schlechte Behandlung seiner Frau geklagt. Als Wiescholleck starb, wollte ich Anzeige erstatten, weil mir das Sterben der vier Männer aufgefallen war. Nachdem die Angeklagte mit Przygodda verheiratet war, zankte sie sich auch einmal mit diesem im Krug. Przygodda weinte und sagte: Vier Männer hast du schon um die Ecke gebracht, mir wird es wohl auch bald so gehen. Daraufhin fühlte ich mich veranlaßt, Anzeige zu erstatten.

Przygodda gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, die bekundete Äußerung im Krug getan zu haben, er erinnere sich aber nicht, daß er dabei geweint habe.

Alsdann wurde Frau Przygodda, Schwester des ersten Mannes der Angeklagten, des verstorbenen Johann Bachur, als Zeugin vernommen: Ihr Bruder sei, als er mit 21 Jahren die Angeklagte heiratete, ein sehr kräftiger und gesunder Mann gewesen. Im letzten Jahre seines Lebens habe ihr Bruder über Schmerzen in den Füßen geklagt; dadurch sei ihm das Arbeiten schwer geworden. Sie habe ihren Bruder wenige Tage vor seinem Tode besucht. Ihr Bruder habe über innere Schmerzen und Hitze geklagt. Sie sei einmal mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin in Willenberg gewesen. Da haben sich die Eheleute heftig gezankt. Die Angeklagte habe zu ihrem Manne gesagt: Du wirst auch „keinen Tod“ sterben. Wahrscheinlich habe die Angeklagte sagen wollen, ihr Bruder werde keines natürlichen Todes sterben.

Gemeindevorsteher Cibalski (Röblau): Bachur sei ein kräftiger, gesunder Mann gewesen. Im letzten Jahre seines Lebens habe Bachur über Schmerzen in den Gliedern und auch geklagt, daß ihm Hände und Füße anschwellen.

Angekl.: Bachur hat nicht angeschwollene Hände und Füße, sondern den Typhus gehabt und ist daran gestorben.

Vors.: Herr Gemeindevorsteher, herrschte damals der Typhus in Röblau?

Zeuge: Keineswegs.

Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Die Angeklagte habe oftmals Schnaps getrunken und sei sehr unwirtschaftlich gewesen. Dem Bachur habe das Grundstück gehört; die Angeklagte habe in die Wirtschaft hineingeheiratet. Wieviel sie in die Ehe mitgebracht habe, wisse er nicht. Die anderen Männer der Angeklagten haben alle Geld und auch Vieh mitgebracht. Es sei aufgefallen, daß alle vier Männer unter denselben Krankheitserscheinungen gestorben seien.

Arbeiter Pöhl: Bachur habe plötzlich Hautausschläge auf dem Kopf bekommen, so daß ihm die Haare ausgegangen waren. Der Zeuge bestätigte ferner die Aussagen des Vorzeugen und bekundete außerdem: Die Eheleute aßen zumeist nicht zusammen. Wenn sie sich beide betrunken hatten, dann gab es heftigen Zank und Streit. Bachur bekam im letzten Jahre seines Lebens auf dem Gesicht und auf dem Kopf zahlreiche „Pusseln“.

Frau Pöhl (Gattin des Vorzeugen) schloß sich im wesentlichen den Bekundungen ihres Gatten an. Bachur habe in der letzten Zeit oftmals Erbrechungsreiz gehabt, er habe sich aber nicht erbrechen können. Die Angeklagte habe ihr einmal erzählt, ihr Mann habe sich von Eiern, die schon 14 Tage von einer Gans bebrütet waren, Rühreier gemacht und sei infolgedessen erkrankt. Bachur habe in den letzten Jahren über Krampf in den Armen und Beinen geklagt. Als Bachur starb, befand sich die Angeklagte in gesegneten Umständen.

Arbeiter Jacobeck bestätigte im wesentlichen die Bekundungen der Vorzeugen und teilte weiter mit: Als Bachur gestorben war, sei das Gesicht der Leiche vollständig schwarz und angeschwollen gewesen. Bachur sei am Tage vor seinem Tode infolge heftiger Schmerzen mit dem Kopfkissen umhergelaufen und habe über furchtbare Schmerzen im Halse geklagt. Da Bachur es vor Schmerzen nicht aushalten konnte, habe er das Kopfkissen heftig an seinen Körper gedrückt. Er klagte auch über eine furchtbare innere Unruhe. In der folgenden ganzen Nacht habe Bachur laut vor Schmerzen fast unaufhörlich geschrien. Er habe geklagt, daß er innerlich verbrenne. Dieser schreckliche Zustand habe bis zum folgenden Morgen angedauert, bis Bachur unter heftigen Zuckungen und Stöhnen starb. Der Tod war dem bedauernswerten Mann zweifellos eine Erlösung.

Hierauf wurden die Zeugen über das Ableben des Kempka, des zweiten Mannes der Angeklagten, vernommen. Gemeindevorsteher Cibalski konnte über die Krankheit und das Ableben des Kempka nichts bekunden. Er hatte nur gehört, Kempka habe sich „überhoben“. Kempka habe die Hilfe eines Lehrers in Röblau in Anspruch genommen, der sich viel mit Kurieren rieren beschäftigt habe.

Arbeiter Pöhl: Kempka sei ein sehr gesunder und kräftiger Mensch gewesen. Eines Tages sei Kempka erkrankt; er habe gesagt, er müsse sich „überhoben“ haben. Kempka habe über dieselben Schmerzen wie Bachur geklagt. Er habe sich schließlich in seine Heimat Wallen begeben, um sich dort kurieren zu lassen.

Frau Jacobeck: Kurze Zeit vor dem Ableben des Kempka habe dieser heftiges Nasenbluten bekommen. Um dies zu stillen, haben ihm die Leute Pferdedünger auf die Nase gelegt. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Besitzer Christoph Kempka, Bruder des zweiten Gatten der Angeklagten: Sein Bruder habe 800 Taler und 100 Mark, eine Anzahl Rindvieh und 11 Schweine in die Wirtschaft mitgebracht. Die Angeklagte habe erklärt: Sie gehe nicht eher zur Trauung, ehe nicht das versprochene Geld und Vieh da sei. Sein Bruder sei ein kräftiger, gesunder Mensch gewesen. Einige Zeit nach der Verheiratung habe er seinen Bruder besucht. Dieser habe so schlecht ausgesehen, daß er (Zeuge) vor ihm erschrocken sei. Er habe geglaubt, sein Bruder habe einen Schlaganfall erlitten. Sein Bruder habe ihm auf Befragen erzählt: Als er eines Tages vom Friedrichshofer Jahrmarkt gekommen sei, habe ihm seine Frau zu essen gegeben; seit dieser Zeit sei er krank. Der Bruder habe über heftige Schmerzen in Händen und Füßen geklagt. Nachdem sein Bruder 1 1/2 Jahre in seiner Behausung gelegen hatte, habe er sich von ihm, dem Zeugen, nach Wallen bringen lassen, da seine Frau ihn nicht pflegen wollte. Der Bruder habe gesagt: Wenn ein Schwein krank sei, dann erhalte es eine bessere Behandlung, als sie ihm von seiner Frau zuteil geworden sei. Er (Zeuge) habe zu seinem Bruder einen Arzt gerufen. Dieser habe gesagt: Ihr Bruder wird nicht mehr lange leben, sein ganzes Blut ist vergiftet. Sein Bruder sei ein sehr nüchterner Mann gewesen und war auch bemüht, seine Frau vom Schnapstrinken abzuhalten. Das Kind seines Bruders sei auch ganz plötzlich gestorben.

Frau Maruch, eine Schwester des Vorzeugen und des verstorbenen Kempka, bestätigte vollständig die Bekundungen ihres Bruders.

Kreisarzt Dr. Urbanowicz (Memel): Er sei früher Arzt in Willenberg gewesen. Dort habe er einmal einen Mann, namens Kempka, behandelt. Er glaube, daß dieser mit dem verstorbenen zweiten Mann der Angeklagten identisch war. Er habe angenommen, daß es sich bei dem Patienten um eine Verdauungsstörung gehandelt habe. Er halte aber eine Arsenikvergiftung nicht für ausgeschlossen. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bekundete der Zeuge noch: Das Überheben mit einem Sack Kartoffeln hätte wohl lokale Beschwerden, nicht aber derartige Krankheitserscheinungen zur Folge haben können.

Arbeiter Jacobeck: Kempka sei in Wallen von dem ihn behandelnden Arzt mit einer Nadel in verschiedene Körperteile gestochen worden, da der Patient über vollständige Gefühllosigkeit an Händen und Beinen geklagt hatte. Der Patient sollte während des Stechens zählen, er konnte das aber nicht.

Besitzer Christian Kempka bekundete noch: Sein Bruder habe beim 128. Infanterieregiment in Danzig gestanden.

Darauf wurde über das Ableben des dritten verstorbenen Ehegatten, August Panneck, verhandelt. Frau Samplotzki, Schwester des Panneck, bekundete: Ihr Bruder habe beim 8. Ulanenregiment in Lyck gedient; er sei ein gesunder, kräftiger Mann gewesen. Er habe der Angeklagten, tausend Taler in die Wirtschaft mitgebracht. Ihr Bruder habe ihr oftmals geklagt, daß er von seiner Frau schlecht behandelt werde. Als ihr Bruder, nachdem er schon eine Zeitlang verheiratet war, von einer militärischen Übung aus Lyck zurückkam, sei er plötzlich erkrankt. Er klagte über Schwere in den Gliedern und sagte: Hände und Füße seien ihm wie abgestorben. Von ihrer Mutter sei ihr erzählt worden, ihr verstorbener Bruder habe einmal gesagt: Zwei Männer hat meine Frau schon um die Ecke gebracht, bei mir wird ihr das aber nicht gelingen.

Gemeindevorsteher Cibalski: Panneck sei ein sehr kräftiger und vollständig gesunder Mensch gewesen. Plötzlich sei er erkrankt. Er habe geklagt: Seine Hände und Beine seien ihm wie abgestorben. Panneck hatte einmal einen Schuh vom Fuße verloren, es aber gar nicht bemerkt.

Schneider Matthias Panneck, Bruder des Verstorbenen, bekundete: Die Ehe seines Bruders war sehr unglücklich. Sein Bruder habe seine Frau oftmals geschlagen, weil sie dem Trunk ergeben war. Sein Bruder sei schließlich erkrankt und habe über Gefühllosigkeit an Händen und Füßen geklagt. Sein Bruder habe ihm gesagt: Seine Frau müsse ihm etwas eingegeben haben. Sie habe ihm eines Abends Rühreier vorgesetzt, dadurch sei er von einem heftigen Unwohlsein befallen worden. Er habe seine Frau und seine Schwiegermutter aufgefordert, mitzuessen. Diese haben aber geantwortet: Wir haben schon gegessen, das ist dein Anteil. Sein Bruder erzählte ihm noch: Er habe in den Füßen derart das Gefühl verloren, daß, als er einmal in Holzpantoffeln durch den Schnee gegangen sei, er diese von den Füßen verloren habe, ohne es zu merken. Er war so schwach, daß er einmal plötzlich im Hausflur umgefallen sei. Sein Bruder habe gesagt: Die Weiber müssen mir etwas eingegeben haben. Die sind so verliebt in die Hexerei, daß ich ihnen schon zutraue, sie haben mir etwas ins Essen getan.

Frau Grötsch, geb. Panneck, Schwester des Vorzeugen, zeugen, bestätigte im wesentlichen die Bekundungen ihres Bruders.

Besitzer Adolf Panneck erklärte: Er wolle gegen seine Schwägerin nicht Zeugnis ablegen.

Am zweiten Verhandlungstage wurde der Fall Wiescholleck verhandelt. Wiescholleck war bekanntlich der vierte Gatte der Angeklagten, der auch durch Arsenik vergiftet sein sollte. Gutsbesitzer Braun bekundete auf Befragen des Vorsitzenden als Zeuge: Er kannte den verstorbenen Wiescholleck sehr genau. Er traf mit ihm häufig auf Genossenschaftsversammlungen und ähnlichen Gelegenheiten zusammen. Wiescholleck hatte seiner Militärdienstpflicht beim 8. Ulanenregiment in Lyck genügt. Er war ein kräftiger, gesunder Mann. Er habe ihm aber oftmals geklagt, daß ihn seine Frau sehr schlecht behandle. Wiescholleck erzählte ihm: Wenn er krank sei, dann werde er von seiner Frau nicht nur nicht gepflegt, sondern sogar geschlagen. Seine Frau gehe einfach tagelang fort, koche ihm kein Essen und lasse ihn hilflos liegen. Im letzten Jahre seines Lebens seien dem Wiescholleck die Füße angeschwollen.

Vors.: Haben Sie das selbst gesehen?

Zeuge: Jawohl.

Gemeindevorsteher Cibalski: Wiescholleck habe ihm oftmals über schlechte Behandlung seiner Frau geklagt.

Vors.: Hat der Mann auch gesagt, daß ihn seine Frau schlage?

Zeuge: Die Ehegatten haben sich oftmals gegenseitig geschlagen. Wiescholleck trank viel, er verkehrte viel im Krug; seine Frau leistete ihm dabei Gesellschaft, da sie auch viel Schnaps trank. In der letzten Zeit klagte Wiescholleck, daß ihm Hände und Beine anschwellen und er kein Gefühl darin habe.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Wiescholleck einmal, als er aus dem Kruge kam, längere Zeit im Schnee gelegen hat?

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Angekl.: Alles, was die Zeugen ausgesagt haben, ist unwahr. Schlägereien kommen bei allen Eheleuten vor. (Große Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Frau Kloßeck: Sie habe bei der Angeklagten mehrere Jahre gewohnt. Die Wiescholleckschen Eheleute haben eine sehr schlechte Ehe geführt; es kam oftmals zu Zank und Streit, auch zu gegenseitigen Schlägereien. Wiescholleck habe zumeist allein gegessen. Er habe einmal seine Frau „Hexe“ und Diebin genannt. Die Angeklagte habe darauf versetzt: „Wenn ich eine Hexe und Diebin bin, dann werde ich etwas machen, daß du bald sterben wirst. Es kostet mich bloß ein Dittchen, dann mußt du sterben.“ Wiescholleck sei in der letzten Zeit seines Lebens sehr krank gewesen und habe geäußert: Seine Frau sei daran schuld. Wiescholleck scholleck sei derartig schwach gewesen, daß er einige Male nach Hause getragen werden mußte. Er klagte, daß ihn seine Beine kaum noch tragen können. Sie (Zeugin) habe einmal Veranlassung genommen, über die Krankheit des Wiescholleck mit der Angeklagten zu sprechen, zumal Wiescholleck anfänglich ein kräftiger, gesunder Mann war. Die Angeklagte sagte: Krankheiten kommen alle von Gott, da läßt sich nichts dagegen machen. Sie (Zeugin) habe erwidert: Es gibt Krankheiten, die von Gott kommen und Krankheiten, die von Menschen kommen. Darauf habe die Angeklagte versetzt: Es gibt ein Kraut, wenn man davon einem Menschen etwas ins Essen tut, dann muß er sterben; wenn es auch etwas lange dauert, es kann unter Umständen ein volles Jahr dauern. Sie habe gefragt, was das für ein Kraut sei. Die Angeklagte habe geantwortet: Das Kraut heißt „Frauenzier“. Die Angeklagte habe ihr auch einmal erzählt: Sie habe in ihrem Planeten gelesen, sie werde sieben Ehemänner haben. Die ersten sechs werden sterben, erst mit dem siebenten werde sie ihr Dasein beschließen.

Die Angeklagte lächelte bei dieser Bekundung und äußerte: Ich habe der Frau so manche Dummheiten erzählt, ich konnte nicht annehmen, daß die Frau das ernstnehmen werde.

Arbeiter Kloßeck, Gatte der Vorzeugin, bestätigte im wesentlichen die Aussage seiner Frau und bekundete außerdem: Wiescholleck war in der letzten Zeit seines Lebens magenkrank; er klagte, daß er schwere Speisen nicht vertragen könne. Als Wiescholleck seine Frau Hexe und Diebin nannte und ihr drohte, er werde sie wegen Gänsediebstahls anzeigen, da habe die Frau gesagt: Du wirst es nicht erleben, gegen mich als Zeuge aufzutreten. Es kostet mich nur einen Silbergroschen, dann bist du von der Welt verschwunden. Wiescholleck antwortete: Drei Männer hast du allerdings schon vergiftet. Nun willst du wohl auch mich, deinen vierten Mann, vergiften? Bald darauf habe Wiescholleck einen von seiner Frau zubereiteten Hering gegessen. Seit dieser Zeit war Wiescholleck krank; er konnte weder arbeiten noch auf die Jagd gehen. Er war so schwach, daß er (Zeuge) ihn oftmals nach Hause tragen mußte. Kurz Zeit nachdem Wiescholleck den Hering gegessen hatte, habe ihm die Angeklagte Mehlsuppe vorgesetzt. Wiescholleck weigerte sich, die Suppe zu essen, da ihm schon beim Genuß des ersten Löffels übel wurde. Wiescholleck kam in seine (des Zeugen) Wohnung und sagte: Es komme ihm vor, als wolle ihn seine Frau mit der Suppe vergiften. An diesem Tage habe Wiescholleck bei ihm zu Mittag gespeist. Bald darauf sei die Angeklagte in seine (des Zeugen) Wohnung gekommen und habe ihren Mann gefragt, weshalb er die Suppe nicht essen wolle. Er (Zeuge) habe geantwortet: Der Mann befürchte, er solle durch die Suppe vergiftet werden. Die Angeklagte sei daraufhin in große Erregung geraten und habe gesagt: Von der Suppe haben die Kinder und der Hirt Kochza gegessen, sie habe allen sehr gut geschmeckt.

Vors.: Haben Sie von der Suppe gegessen?

Zeuge: Jawohl, ich habe sie gekostet. Sie roch und schmeckte ganz widerlich.

Vors.: Ist der Hirt auch gestorben?

Zeuge: Jawohl, der Hirt starb vier Wochen nach Wiescholleck, er war aber bereits 70 Jahre alt.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bekundete der Zeuge noch: Er habe einmal mit der Angeklagten gesprochen und seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß ihr alle Männer so plötzlich weggestorben seien. Da habe die Angeklagte geantwortet: Ich habe in meinem Planeten gelesen, daß ich sieben Ehemänner haben werde. Sechs werden sehr schnell hintereinander sterben, erst mit dem siebenten werde ich mein Dasein beschließen.

Die Angeklagte habe ihm auch einmal gesagt: Es gibt ein Kraut, wenn man davon einem Menschen etwas ins Essen tut, dann muß er sterben. Es dauert lange, es kann ein Jahr dauern, aber der Erfolg ist sicher.

Wiescholleck hatte seine Frau auch bisweilen bezichtigt, zichtigt, daß sie ihm Geld stehle. Die Frau dagegen habe dem Manne Vorwürfe über viele Ausgaben, Faulheit und Vernachlässigung der Wirtschaft gemacht. Die Frau sagte einmal: Du ruinierst die ganze Wirtschaft und schmälerst das Vermögen unserer Kinder. Ich werde schon dafür sorgen, daß du bald verschwindest. Im Januar 1899 sei er (Zeuge) einmal mit der Angeklagten in der Scheune gewesen. Es sollte Buchweizen gedroschen werden. Da sagte er zu der Angeklagten: Wenn jetzt der Buchweizen gedroschen wird, dann haben Sie ja gar nichts zur Beerdigung; Wiescholleck wird doch bald sterben. Die Angeklagte versetzte: Das kann noch fast ein Jahr dauern.

Vors.: Und wann starb Wiescholleck?

Zeuge: Am 19. September 1899.

Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Wiescholleck habe einmal Schweinfurter Grün zur Tötung von Schwaben gekauft. Wiescholleck habe gesagt: er müsse das Gift vor seiner Frau und seinen Kindern sehr vorsichtig verschließen.

Vors.: Nun, Angeklagte, was sagen Sie zu dieser Aussage?

Angekl.: Das sind alles Lügen, die Leute legen es sich so zurecht.

Vors.: Leben Sie mit dem Zeugen in Unfrieden?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie haben bei Ihren Vernehmungen vor dem Untersuchungsrichter mit voller Entschiedenheit bestritten, daß Sie Gift im Hause hatten. Es war Ihnen doch aber bekannt, daß Ihr vierter Mann Schweinfurter Grün im Hause hatte?

Angekl.: Ich wurde von dem Herrn Untersuchungsrichter gefragt, ob in unserem Hause Arsenik war, an das Schweinfurter Grün dachte ich nicht.

Knecht Gayl, Besitzer Guend und Frau Lax, letztere Schwester des Wiescholleck, bestätigten im wesentlichen die Bekundungen der Vorzeugen. Frau Lax teilte außerdem mit, ihr Bruder habe 1700 Mark in die Ehe mitgebracht.

Besitzer Michael Wiescholleck, Bruder des verstorbenen Wiescholleck, erklärte, daß er gegen seine Schwägerin nicht Zeugnis ablegen wolle.

Es wurde darauf die gerichtliche Aussage des inzwischen verstorbenen Vetters des Wiescholleck, Altsitzers Adam Wiescholleck, verlesen. Dieser hatte bekundet: Als er bei seinem Vetter, dem verstorbenen Wiescholleck, gewohnt, habe er einmal an Krätze gelitten. Er habe sich deshalb Vitriol gekauft, um damit die erkrankten Körperteile zu bestreichen. Nachdem er das Vitriol aufgebraucht hatte, habe er das Fläschchen zerschlagen. Sein Vetter habe ihm einmal gesagt: Seine Frau müsse ihm etwas eingegeben haben.

Gendarm Böhmfeld: Er habe in der Wohnung der Angeklagten Haussuchung gehalten und vier leere Flaschen mit der Bezeichnung „Gift“ gefunden. Frau Rosowski habe ihm (Zeugen) erzählt: Die Angeklagte habe ihr einmal gesagt: Sie habe von einer Zigeunerin ein Mittel gekauft, das sechs Mark gekostet habe, es habe aber geholfen.

Besitzer Rosowski: Er habe die Angeklagte stark im Verdacht gehabt, daß sie ihm fünf Gänse gestohlen habe. Der verstorbene Gatte der Angeklagten, Wiescholleck, habe den Verdacht geteilt, es wurde aber von keiner Seite Strafanzeige erstattet. Wiescholleck, der früher ein starker, kerngesunder Mann gewesen, war in der letzten Zeit seines Lebens derart hilflos, daß er sich nur mühsam auf Krücken fortbewegen konnte.

Dr. med. Riemeck bekundete hierauf als Zeuge und Sachverständiger: Ich wurde im Januar 1899 zu dem verstorbenen Wiescholleck gerufen. Wiescholleck sah sehr schlecht aus. Er klagte über Rücken- und Kreuzschmerzen, Ameisenlaufen, Gefühllosigkeit in Händen und Füßen und Verdauungsstörungen. Außerdem klagte er, daß ihm das Gehen sehr schwer werde. Ich nahm zunächst an, der Patient leide an Rückenmarksschwindsucht. Ich kam aber sehr bald davon ab, da die wesentlichsten Symptome der Rückenmarksschwindsucht fehlten. Ich kam überhaupt zu keiner Diagnose, eine Vergiftung nahm ich damals nicht an. Ich habe Wiescholleck viermal besucht. Nachdem ich gehört hatte, daß in den Leichenteilen des Wiescholleck Arsenik gefunden wurde, kam ich zu der Überzeugung, daß Wiescholleck an Arsenikvergiftung gestorben ist. Wiescholleck muß Arsenik in großen Quantitäten, und zwar längere Zeit genossen haben. Es muß eine chronische Vergiftung vorgelegen haben.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bekundete Dr. Riemeck noch: Er glaube nicht, daß in der Suppe, die die angeklagte dem Wiescholleck vorgesetzt hatte, Arsenik oder Schweinfurter Grün enthalten war. Arsenik sei geschmack- und geruchlos, Schweinfurter Grün hätte die Suppe grünlich gefärbt.

Erster Staatsanwalt: Ist es nicht möglich, daß auch andere Dinge in der Suppe waren, die den widerlichen Geruch und Geschmack der Suppe verursacht haben?

Dr. Riemeck: Diese Möglichkeit liegt vor.

Darauf wurde auf Antrag des Ersten Staatsanwalts die Strafgefangene Frau Teschner als Zeugin vorgeführt. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich verbüße eine längere Gefängnisstrafe wegen Kindesmordes. Als ich hier in Untersuchungshaft saß, sagte die Angeklagte einmal zu mir: Gestehen Sie nur nicht, sondern sagen Sie immer nein. Wenn man vor Gericht immer nein sagt, dann kommt man am besten weg.

Die Angeklagte bestritt mit großer Entschiedenheit, eine solche Äußerung zu der Zeugin getan zu haben. Sie habe die Zeugin ausgefragt, ob sie schuldig sei und ihre Schuld eingeräumt habe. Die Zeugin müsse sie mißverstanden haben.

Auf Befragen des Vorsitzenden sagte die Zeugin: Sie habe die Angeklagte nicht mißverstanden, sie halte ihre Aussage in vollem Umfange aufrecht.

Auf Auffordern des Vorsitzenden wiederholte die Zeugin ihre Aussage in polnischer Sprache.

Die Angeklagte beteuerte wiederholt, daß sie eine solche Bemerkung nicht gemacht habe.

Gerichtschemiker Medizinalassessor Dr. Gutzeit (Königsberg) wurde alsdann als Sachverständiger vernommen: Im Mai vorigen Jahres wurden mir in verschiedenen Gefäßen innere Teile von der ausgegrabenen Leiche des Wiescholleck, Magen, Leber, Nieren, Schädel-, Handknochen, sowie Teile vom Sargboden, Sargdeckel und dem Stroh, auf dem die Leiche gebettet war, zur Untersuchung gesandt. In den mir übergebenen Körperteilen habe ich 69 Milligramm Arsenik gefunden. Es ist aber anzunehmen, daß in der Leiche mehr als die doppelte Menge enthalten war. Nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft ist der Genuß von 20 Milligramm Arsenik unschädlich. 50 Milligramm wirken bereits gesundheitsschädlich, 100 Milligramm wirken tödlich. Von Giftmördern wird vielfach behauptet: das Arsenik könne von außen in die Leiche gekommen sein. Es ist daher wichtig, daß weder in der Erde, noch im Sargdeckel, dagegen im Stroh und im Sargboden Arsenik gefunden wurde. Daraus geht hervor, daß von außen Arsenik nicht in die Leiche gekommen ist. Ich resümiere mich dahin; Das Arsenik ist bei Lebzeiten in den Körper des Wiescholleck, und zwar in solcher Menge gekommen, daß dies den Tod des Mannes herbeiführen mußte. Dieselbe Untersuchung habe ich an den Leichenteilen von Bachur, Kempka und Panneck vorgenommen. Bei Bachur und Kempka sind nur Teile von Arsenik, in den Leichenteilen des Panneck dagegen keinerlei Arsenikteile gefunden worden. Bei Bachur und Kempka ist auch das Arsenik nicht von außen eingeführt, sondern ihnen bei Lebzeiten beigebracht worden.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bekundete der Sachverständige noch: Arsenik verflüchtet sich sehr schnell und erhält sich längstens 22 Jahre in einem menschlichen Körper, es ist daher kein Wunder, daß in den Leichen, die schon 10 bis 14 Jahre alt waren, nur noch Spuren oder auch nicht einmal solche vorhanden waren.

Sachverständiger Kreisarzt Dr. v. Petrykowski (Ortelsburg): Die Krankheitserscheinungen der verstorbenen vier Männer lassen darauf schließen, daß alle vier an chronischer Arsenikvergiftung gestorben seien, und zwar ist allen vier Männern das Arsenik von fremder Hand beigebracht worden. Es ist allerdings auffallend, daß in der Leiche des Panneck keine Spur von Arsenik gefunden wurde. Ich zweifle aber nicht, daß Panneck auch an Arsenikvergiftung gestorben ist. Dafür spricht einmal, daß sich bei diesem dieselben Krankheitserscheinungen gezeigt haben, wie bei den anderen drei Männern, andererseits aber auch der Umstand, daß die Leiche des Panneck so schnell in Verwesung übergegangen ist, daß nach erfolgtem Ableben der Sargdeckel sofort geschlossen werden mußte, weil es vor Gestank nicht auszuhalten war.

Kreisarzt Dr. von Decker (Neidenburg): Ich kann mich dem Gutachten meines Kollegen Petrykowski nur anschließen. Arsenik kann auch durch künstliche Blumen, Tapeten, bunte Lampenschirme und ähnliches in den menschlichen Körper kommen und allmählich den Tod herbeiführen. Ich halte das aber in den vorliegenden Fällen für ausgeschlossen, da nur immer die Ehemänner erkrankten, niemals aber die Frau, Kinder oder andere Mitbewohner.

Die Angeklagte äußerte sich hierauf mit weinender Stimme: Ich kann mir die Gutachten der Sachverständigen nicht erklären. Ich beteuere nochmals, daß ich niemals Arsenik im Hause gehabt habe. „Die Ärzte sind doch nicht der liebe Gott, sondern nur Menschen, die sich irren können.“

Direktor Medizinalrat Dr. Stoltenhoff, Kortau: Ich habe die Angeklagte in der Provinzial-Irrenanstalt beobachtet und sie für geistig gesund befunden.

Die Beweisaufnahme war damit erschöpft.

Der Vorsitzende verlas die den Geschworenen vorzulegenden Schuldfragen. Diese lauteten: Ist die Angeklagte schuldig, ihre Ehemänner Bachur, Kempka, Panneck und Wiescholleck vorsätzlich getötet zu haben, und zwar indem sie die Tötung mit Überlegung ausführte? Bei der Schuldfrage betreffs Panneck wurde die Unterfrage gestellt: Im Falle der Verneinung der Frage zu 3: Ist die Angeklagte des versuchten Mordes schuldig?

Der Dolmetscher übersetzte die Schuldfragen ins Polnische. Die Angeklagte begann darauf laut und heftig zu weinen und beteuerte ihre Unschuld. Es nahm alsdann das Wort zur Schuldfrage Erster Staatsanwalt Nietzki. Meine Herren Geschworenen! Fürchten Sie nicht, daß ich Ihre Phantasie erregen werde. Ich habe auch keineswegs die Absicht, die schauervollen Taten, die Gegenstand der Beweisaufnahme waren, noch schauerlicher zu schildern. Phantasien gehören nicht in den Gerichtssaal, und schauervolle Bilder gehören auf den Jahrmarkt. Ich will lediglich an Ihren nüchternen Verstand appellieren und die Taten ohne jedes Beiwerk schildern. Sollten Sie mit mir zu der Überzeugung kommen, meine Herren Geschworenen, daß die Angeklagte ihre vier Ehemänner ner oder auch nur einen durch Beibringung von Gift aus der Welt geschafft hat, dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihren Urteilsspruch abgeben werden ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Folgen. Sie können nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Eine Milderung Ihres Urteilsspruchs kann lediglich Seine Majestät der Kaiser und König bewirken. Als vor länger denn Jahresfrist bei der hiesigen Staatsanwaltschaft die Anzeige einging: In dem Dorfe Röblau lebe eine Frau, die vier Ehemänner getötet habe, da wurde diese Behörde, obwohl sie gewohnt ist, in den Abgrund menschlicher Verworfenheit zu sehen, etwas stutzig. Die Staatsanwaltschaft konnte sich kaum denken, daß es hier im Osten des deutschen Vaterlandes eine Frau geben könne, die solch furchtbarer Straftaten fähig wäre. Als sich aber bei der Ausgrabung des Wiescholleck ergab, daß dieser große Quantitäten Arsenik genossen und daher sterben mußte, und als in den Leichenteilen noch zweier anderer Ehemänner der Angeklagten Arsenik gefunden wurde, da war es klar, daß die Angeklagte vor Ihrem Forum, meine Herren Geschworenen, werde erscheinen müssen, um sich wegen Mordes zu verantworten. Die Angeklagte lebte mit 42 Jahren bereits in fünfter Ehe. Das ist jedenfalls etwas ganz Außergewöhnliches. In einem solchen Falle ist nicht anzunehmen, daß die vier ersten Ehemänner eines natürlichen Todes gestorben seien. Man ist geneigt, anzunehmen, daß eine solche Frau mindestens einige Male geschieden ist, oder ein siebzehnjähriges Mädchen hat einen 70jährigen Mann geheiratet, oder eine gesunde, kräftige junge Frau hat einige schwindsüchtige Männer gehabt. Nichts von alledem war hier der Fall. Die vier ersten Ehemänner der Angeklagten waren sämtlich jung, gesund und kräftig. Der erste Ehemann Bachur war bei der Verheiratung 21, Kempka 27, Panneck 26, Wiescholleck 28 Jahre. Alle vier Ehemänner waren mehrere Jahre jünger als die Angeklagte. Der jetzige fünfte Mann, Przygodda, ist sogar 14 Jahre jünger als die Frau. Wenn man erwägt, daß die Angeklagte in ihrem Planeten gelesen haben will, es werden ihr sechs Ehemänner sterben, erst mit dem siebenten werde sie ihr Dasein beschließen, da muß man sagen, es lag dringende Gefahr vor, daß auch der fünfte Ehemann und womöglich noch ein sechster von ihr vergiftet worden wäre, wenn nicht der Angeklagten noch rechtzeitig das Handwerk gelegt worden wäre. Der Erste Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise die einzelnen Straftaten der Angeklagten. Ich will nicht so weit gehen, so etwa fuhr der Erste Staatsanwalt fort, daß die Angeklagte, als sie den 21jährigen Bachur heiratete, von vornherein den Beschluß gefaßt hatte, den Mann durch Gift aus der Welt zu schaffen. Wäre das der Fall, dann wäre ja die Angeklagte eine menschliche Bestie. Aber nach einigen Jahren, da kam sie zu dem Entschluß, ihren Ehemann aus der Welt zu schaffen. Diesen Entschluß führte sie sehr bald aus. Es verging nur eine kurze Zeit, da heiratete sie einen zweiten Mann, den Kempka. Dieser erfreute sich nicht lange der ehelichen Gemeinschaft. Nach kaum fünf Monaten war auch Kempka beseitigt. Nun kam der dritte, namens Panneck. Dieser war ein ganz besonders kräftiger, gesunder Mann. Panneck war Ulan. Er sagte: Die Frau hat schon zwei Ehemänner um die Ecke gebracht, bei mir soll es ihr aber nicht gelingen. Allein es dauerte nicht lange, da war auch Panneck um die Ecke gebracht. Allerdings, es ist in den Leichenteilen des Panneck kein Arsenik, sondern nur Kupfer gefunden worden. Die Sachverständigen haben jedoch erklärt, sie halten es für sehr wahrscheinlich, daß auch Panneck mittels Arsenik vergiftet worden ist. Da aber hierbei Zweifel aufgetaucht sind, so will ich bezüglich dieses Falles die Anklage wegen vollendeten Mordes fallen lassen und nur wegen versuchten Mordes das Schuldig beantragen. Der vierte Ehemann, Wiescholleck, hat längere Zeit standgehalten, aber auch dieser mußte schließlich sein Leben lassen. In der Leiche des Wiescholleck wurde so viel Arseink gefunden, daß er notwendigerweise sterben mußte. Der Erste Staatsanwalt erinnerte an die verschiedenen Zeugenaussagen, die mit zwingender Notwendigkeit für die Schuld der Angeklagten sprechen. Der Beweggrund der Angeklagten war einmal ihre übergroße Sinnlichkeit und andererseits ihre Habsucht. Die Angeklagte hatte bei jeder Ehe einen neuen Mann und auch immer neues Geld, denn sie wendete sich nicht an die armen Jünglinge des Dorfes, sondern immer an die begüterten, die sämtlich tausend und mehr Taler und viel Vieh mitbrachten. Sollten Sie, meine Herren Geschworenen, woran ich nicht zweifle, von der Schuld der Angeklagten überzeugt sein, dann hoffe ich, daß Sie nicht Milde walten lassen werden. Der Richter und auch der Geschworene steht unter dem Gesetz und darf sich von der Milde nicht zu einem Fehlspruch verleiten lassen. Woher sollte auch die Milde kommen? Hat die Angeklagte gegen ihre vier Ehemänner Milde geübt? Sie hat drei blühende Menschenleben durch Gift vernichtet und in einem Falle mindestens den Versuch hierzu unternommen. Sie hat ihre Männer zum Tode verurteilt, die ihr nichts weiter getan, als daß sie ihr die Hand zum Ehebunde gereicht haben. Wenn Sie die Angeklagte verurteilen, dann treffen Sie jedenfalls eine Schuldige.

Verteidiger Justizrat Wolski: Ich gebe zu, daß die Verhandlung ein schauderhaftes Bild entrollt hat. Die Angeklagte ist auch der zur Anklage stehenden Verbrechen dringend verdächtig. Es liegt aber kein bestimmter Beweis vor, daß alle vier Ehemänner durch Arsenikvergiftung gestorben sind und auch nicht, daß die Angeklagte die Täterin war. Man wird nur annehmen können, daß Wiescholleck an Arsenikvergiftung gestorben ist, man kann auch annehmen, daß diesem das Gift von dritter Hand beigebracht worden ist. Es ist aber nicht bewiesen, daß diese Tat die Angeklagte begangen hat. Es ist nicht unmöglich, daß die Mutter der Angeklagten die Täterin war. In einem Falle, wo es sich um Leben und Tod handelt, kann man nur auf Schuldig erkennen, wenn die Schuld klar erwiesen ist, da die Vollstreckung des Urteils nicht mehr repariert werden könnte. Erwägen Sie, meine Herren Geschworenen, daß nur der Schein für die Schuld der Angeklagten spricht, und daß die Gefahr, eine Unschuldige zu verurteilen, nicht ganz ausgeschlossen ist.

Alsdann teilte der Dolmetscher der Angeklagten den Antrag des Staatsanwalts und auch den des Verteidigers in polnischer Sprache mit. Die Angeklagte bemerkte darauf mit weinender Stimme: Ich habe mit meinen „geliebten“ Männern friedlich gelebt, wenn es auch bisweilen zu Streitigkeiten gekommen ist. Arsenik ist niemals in mein Haus gekommen. Ich schwöre bei Gott, daß ich vollständig unschuldig bin.

Der Vorsitzende erteilte alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung. Nach halbstündiger Beratung der Geschworenen verkündete der Obmann, Amtsvorsteher Fox (Nadrau): Die Geschworenen nen haben die Schuldfragen betreffs Bachur, Kempka und Wiescholleck bejaht, betreffs Panneck verneint.

Der Erste Staatsanwalt beantragte darauf, die Angeklagte zum Tode und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu verurteilen.

Die Angeklagte beteuerte von neuem mit weinender Stimme, daß sie unschuldig sei.

Der Verteidiger erklärte, daß er nichts weiter zu sagen habe.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Thiessen: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof, entsprechend dem Spruch der Geschworenen, die Angeklagte im Falle Panneck freigesprochen, in den Fällen Bachur, Kempka und Wiescholleck dagegen in jedem einzelnen Falle zum Tode verurteilt und außerdem der Angeklagten die Bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Soweit Verurteilung erfolgt ist, hat die Angeklagte, soweit auf Freisprechung erkannt ist, die Staatskasse die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Angeklagte wurde, als ihr der Dolmetscher das Urteil mitteilte, kreidebleich.

Die eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht zurückgewiesen. Kurze Zeit darauf wurde die Angeklagte auf dem Gefängnishofe zu Allenstein hingerichtet.

[Bismarck/Mommsen, fertig]

Ein russischer Gardeoberst wegen Taschendiebstahls angeklagt

In den Hallen, in denen die Göttin der Gerechtigkeit mit Schwert und Wage ihres Amtes waltet, ereignen sich oftmals ganz wundersame Dinge. Das Vorkommnis, das im März 1879 die Berliner Gerichte beschäftigte, lieferte jedoch den vollen Beweis, daß der Ausspruch Ben-Akibas: „Es ist alles schon dagewesen“, nicht auf voller Wahrheit beruht. Der damalige Vorgang zeigte, wie leicht sich Richter täuschen können, ganz besonders aber, daß die zweite Instanz in Strafsachen, die bis zum 1. Oktober 1879 bestand und bei den Militärgerichten noch heute besteht, eine dringende Notwendigkeit ist. Am Sonntag, den 2. März 1879, sah man im Passage-Panoptikum, das damals den Gebrüdern Kastan gehörte, ein auffallend schönes, blutjunges Mädchen. Ein älterer Herr mit ausländischem Typus drängte sich an das junge Mädchen heran. Einem Bediensteten des Panoptikums fiel das Benehmen des Herrn auf. Ein Dragoneroffizier soll zu dem Diener gesagt haben: „Das Benehmen des Herrn ist geradezu unverständlich.“ Der Diener, der beobachtet haben wollte, daß der exotisch aussehende Herr sich an ältere und jüngere Damen herandränge, hielt den Herrn für einen Taschendieb. Er machte daher pflichtschuldigst seinem Chef von seinen Wahrnehmungen Mitteilung. Zu jener Zeit waren die „Gretchentaschen“ Mode. Diese bildeten geradezu einen Anreiz zu Taschendiebstählen. Letztere häuften sich derartig, daß ein Berliner Rechtsanwalt, der einen solchen Taschendieb zu verteidigen hatte, im Plädoyer sagte: „Die Trägerinnen der Gretchentaschen wären ?von Rechts wegen? wegen Anreizung zum Taschendiebstahl zu bestrafen.“ Herr Louis Kastan teilte die Ansicht seines Dieners, daß der alte Herr sich lediglich an das hübsche junge Mädchen herandränge, nicht weil das „Gretchen“ sein Wohlgefallen gefunden habe, sondern weil er einen Griff in die Gretchentasche beabsichtige, um der jungen Dame das Portemonnaie zu stehlen. Herr Kastan war von der diebischen Absicht des Herrn so überzeugt, daß er den Diener beauftragte, schleunigst zwei Kriminalbeamte herbeizuholen. Noch ehe diese erschienen, veranlaßte Herr Kastan die ihm persönlich bekannte junge Dame, die 14 1/2jährige Rosa Kobelt, sich in auffälliger Weise ihr Portemonnaie in die Gretchentasche zu stecken und sich alsdann an das Schaufenster zu stellen, in dem die chinesischen Schuhe lagen. Allein die junge Dame war trotz ihrer seltenen Schönheit bettelarm. Sie besaß überhaupt kein Portemonnaie; der exotisch aussehende Herr und vermeintliche Taschendieb wäre mithin gar nicht in der Lage gewesen, die junge Dame zu bestehlen. Herr Kastan wußte sich jedoch zu helfen. Er veranlaßte die Mutter des Mädchens, ihrer Tochter ihr Portemonnaie zu dem angedeuteten Zweck zu geben. Die Mutter zog ein altes beschmutztes, halb zerrissenes Portemonnaie, in dem sich Mark 1,50 befanden, aus der Tasche und steckte es in etwas auffälliger Weise ihrer Tochter in die Gretchentasche. Ob der Herr diesen Vorgang beobachtet hatte, konnte nicht festgestellt werden. Fräulein Rosa Kobelt, das nicht nur ein schönes Gesicht, sondern auch eine prächtige Figur hatte und körperlich derartig entwickelt war, daß man es für 16-17 Jahre alt halten konnte, stellte sich an den Schaukasten, in dem die chinesischen Schuhe lagen und las, anscheinend ganz ernsthaft, im Katalog. Das anmutige Mädchen hatte es offenbar dem exotisch aussehenden Herrn angetan. Denn obwohl im Panoptikum noch eine Anzahl anderer junger Damen weilten, stand der Herr wiederum sehr bald dicht neben Fräulein Kobelt. Herr Kastan, die Mutter des jungen Mädchens und zwei mit der Familie Kobelt befreundete junge Handlungsgehilfen, aber auch zwei inzwischen erschienene Kriminalschutzleute beobachteten den Herrn. Sie sahen aber nicht, daß der Herr einen Griff in die Gretchentasche unternommen hatte. Kriminalschutzmann Wendt gewann im Gegenteil sehr bald die Überzeugung, der sehr vornehm aussehende Herr habe es auf das hübsche Gretchen, nicht aber auf den armseligen Inhalt der Gretchentasche abgesehen. Aber plötzlich vermißte Fräulein Kobelt das Portemonnaie. Nun war es ja kein Zweifel, daß der Herr ein abgefeimter Taschendieb war. Herr Kastan veranlaßte die Verhaftung des Diebes. Der „Dieb“ wurde von den zwei Kriminalschutzleuten nach der Wache der in der Mittelstraße belegenen Revierpolizei Nr. 3 geführt. (Dies war, beiläufig erwähnt, dieselbe Polizeiwache, in die am Nachmittag des 12. Mai 1878 der 21jährige Klempnergeselle Max Hödel geführt wurde, nachdem er Unter den Linden, gegenüber dem russischen Botschaftspalais auf Kaiser Wilhelm I. geschossen hatte, als der greise Monarch im offenen Wagen mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise von Baden, aus dem Tiergarten kommend, in sein Palais fuhr.) Der vermeintliche Taschendieb wurde wie ein gemeiner Verbrecher nach der erwähnten Polizeiwache geführt. Frau Kobelt, nebst ihrer hübschen Tochter, und die zwei Handlungsgehilfen, namens Freund und Färber, schlossen sich dem Transport an. Der zufällig anwesende Reviervorstand, Polizeileutnant Friese, war über die sonderbare Verhaftung nicht wenig erstaunt. Der angebliche Taschendieb legitimierte sich als russischer Gardeoberst a.D.v. Basilewitsch. Der Polizeioffizier erlangte aus den Papieren des „Taschendiebes“ sofort die Überzeugung, daß dieser dem russischen schen Hochadel angehöre, ja sogar mit dem russischen Kaiserhause eng verwandt war. Der Gardeoberst wohnte seit Jahren in Meinhardts Hotel Unter den Linden, das damals zu den vornehmsten Hotels der Reichshauptstadt zählte. Der Gardeoberst hatte eine prächtige, mit Brillanten besetzte goldene Uhr, die mit einem Schlagwerk versehen war und eine nicht minder kostbare goldene Kette sowie mehrere Brillantringe. Er zeigte dem Polizeioffizier sein hochelegantes Portemonnaie. Es war mit Gold- und Kassenscheinen dicht gefüllt. Der Gardeoberst bat, seine Freunde, den Leibarzt des Deutschen Kaisers, Generalarzt Exzellenz Dr. v. Lauer, und den ersten Botschaftsrat bei der Kaiserlich Russischen Botschaft Exzellenz v. Arapoff herbeizurufen. Beide Herren erschienen sehr bald auf der Polizeiwache. Sie waren nicht wenig erstaunt, ihren Freund unter der Beschuldigung auf der Polizeiwache zu finden – einem armen Mädchen ein schäbiges Portemonnaie, das 1,50 Mark enthielt, gestohlen zu haben. Beide Herren schlugen die Hände über den Kopf, sie konnten vor Erstaunen kaum Worte finden. Sie sagten dem Polizeioffizier: Sie verbürgen sich für den Verhafteten mit ihrer ganzen Person; es sei vollständig ausgeschlossen, daß der Herr das Portemonnaie gestohlen habe. Der Gardeoberst habe ein unermeßliches Vermögen. Er sei einer der reichsten Grundbesitzer in Rußland und habe mindestens hunderttausend Mark jährlich zu verzehren. Der Gardeoberst ersuchte den Polizeioffizier, ihn zu visitieren. Leutnant Friese nahm jedoch davon Abstand mit dem Bemerken: Er sei ebenfalls vollständig von der Unschuld des Herrn überzeugt. Er werde den Herrn sofort entlassen, er sei aber selbstverständlich verpflichtet, vorerst ein Protokoll aufzunehmen und das Vorkommnis zu melden. Damit war die Angelegenheit für diesen Abend erledigt. Allein die Staatsanwaltschaft des Berliner Stadtgerichts teilte nicht die Ansicht des Polizeileutnants. Nach zwei Tagen erschienen am frühen Morgen – der Gardeoberst lag noch im tiefen Schlummer – zwei Kriminalschutzleute in Meinhardts Hotel und erklärten den Gardeoberst für verhaftet. Der Direktor des Hotel Meinhardt, Herr Mahn, wandte sich sofort an Justizrat Primker. Letzterer beantragte die sofortige Haftentlassung. Der Untersuchungsrichter willigte in die Haftentlassung gegen eine Sicherheitsleistung von 15000 Mark. Da der Gardeoberst eine solch’ hohe Summe nicht sofort beschaffen konnte, zahlte Direktor Mahn sogleich die verlangten 15000 Mark. Die Staatsanwaltschaft erhob gegen den russischen Gardeoberst v. Basilewitsch Anklage wegen Taschendiebstahls. Am 17. März 1879 hatte sich der Gardeoberst vor der dritten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, die in einem kleinen düsteren Parterresaale, Molkenmarkt 3, tagte, zu verantworten. Den Gerichtshof bildeten Stadtgerichtsrat Ebers (Vorsitzender), Stadtgerichtsrat Bertram und Gerichtsassessor Dr. Nickel (Beisitzende). Die Anklage vertrat Staatsanwalt Baschdorf. Die Verteidigung führte Justizrat Primker.

Obwohl Generalarzt Dr. v. Lauer und Botschaftsrat v. Arapoff ihr Leumundszeugnis wiederholten und die anderen Zeugen sehr unsicher waren, führte Staatsanwalt Baschdorf zur Schuldfrage aus: Der Angeklagte nehme eine hohe soziale Stellung ein; er sei ein bisher höchst achtbarer Mann und besitze ein großes Vermögen. Ja, man gehe wohl nicht zu weit, wenn man die Jahresrevenuen des Angeklagten auf 60000 Mark berechne. Not oder augenblickliche Geldverlegenheit können den Angeklagten also nicht zu der ihm zur Last gelegten Tat veranlaßt haben. Nur selten komme allerdings ein Diebstahl vor, dessen Motive ein unlösbares psychologisches Rätsel bilden. Trotz alledem sei der Richter genötigt, wenn ein solcher Fall zu seiner Kenntnis komme, den Täter zur Strafe zu ziehen. Der Staatsanwalt erläuterte alsdann in eingehender Weise nochmals den Tatbestand der Anklage, woraus unzweifelhaft die Schuld des Angeklagten hervorgehe. Er beantrage deshalb, den Angeklagten zu vier Monaten Gefängnis und einem Jahre Ehrverlust zu verurteilen. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Verteidiger Justizrat Primker: Der positive Beweis für die Schuld des Angeklagten sei in keiner Weise erbracht. Wäre der Angeklagte ein wirklicher Taschendieb, dann hätte er sich nicht so auffällig benommen. Es sei doch denkbar, daß, als die Zeugin Kobelt das Portemonnaie mit Ostentation in die Tasche steckte, Langfinger dies beobachteten und diese Gelegenheit benützt haben. Daß die Zeugen Färber und Freund, die in dem Wahne waren, einen gefährlichen Taschendieb zu fangen, nicht frei von Voreingenommenheit seien, sei nicht zu bezweifeln. Der Angeklagte, ein hochangesehener, steinreicher Mann, sei 57 Jahre alt geworden und stehe bisher makellos da. Man könne mithin nicht annehmen, daß der Angeklagte plötzlich einer geringen Geldsumme wegen – und nur eine solche konnte er bei der Zeugin Kobelt vermuten – mit seiner ganzen Vergangenheit brechen und sich zum gemeinen Diebe erniedrigen werde. Er sei der Überzeugung, daß wo so viele Momente zugunsten eines Angeklagten sprechen, dagegen die Belastungsmomente auf so schwachen Füßen stehen, der Gerichtshof auf Freisprechzing erkennen werde.

Nachdem der Angeklagte nochmals seine Unschuld beteuert hatte, zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Der Gerichtshof hielt die Schuld des Angeklagten für erwiesen und verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis.

Staatsanwalt Baschdorff beantragte die sofortige Verhaftung des Angeklagten.

Der Gerichtshof beschloß von der Verhaftung Abstand zu nehmen, wenn der Angeklagte noch 9000 Mark Kaution stellen wolle.

Der Angeklagte erklärte sich hierzu bereit.

Dieser gerichtliche Vorgang erregte erklärlicherweise in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen. Der Angeklagte wurde nach Schluß der Verhandlung zunächst in die benachbarte Stadtvogtei, dem damaligen, am Molkenmarkt belegenen Untersuchungsgefängnis, geführt. Sehr bald erschien Direktor Mahn mit weiteren 9000 Mark. Die Gerichtskasse war aber, es war inzwischen Abend geworden, bereits geschlossen. Der „Taschendieb“ konnte mithin noch nicht freigelassen werden, sondern mußte die folgende Nacht in der Stadtvogtei, einem mittelalterlichen Verlies, schlafen, in dem an Ratten und Mäusen, Wanzen, Flöhen und Läusen kein Mangel gewesen sein soll. Der Angeklagte legte selbstverständlich sofort Appellation ein, wie es damals hieß, und ersuchte den berühmtesten Strafrechtsverteidiger Berlins, Rechtsanwalt Holthoff, die Verteidigung neben Justizrat Primker zu übernehmen.

Am 3. Juli 1879 gelangte die Sache vor dem ersten Strafsenat des Kammergerichts zur nochmaligen Verhandlung. Den Gerichtshof bildeten Kammergerichtsrat rat Klingner (Vorsitzender) und die Kammergerichtsräte Schröder, Kramer, Veltmann und Kreisgerichtsrat Pihatzeck (Beisitzende). Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Feige. Die Verteidigung führten Justizrat Primker und Rechtsanwalt Holthoff. Der Angeklagte, der einen sehr vornehmen Eindruck machte, kam in einer hocheleganten Equipage in Begleitung des russischen Botschaftsrates, Exzellenz von Arapoff, vorgefahren. Der russische Staatsrat von Kumanin war ebenfalls im Auftrage des russischen Botschafters im Gerichtssaale erschienen. Der Angeklagte gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Ich heiße mit Vornamen Alexander, bin am 20. Oktober 1823 zu Tiflis geboren und griechisch-katholischer Konfession. In Petersburg besuchte ich die Schule. Nach Absolvierung der Schule trat ich als Junker in ein russisches Gardehusarenregiment ein, dem ich elf Jahre angehörte. Seit dem Jahre 1857 befinde ich mich auf Reisen und komme jährlich zweimal nach Berlin, woselbst ich mich stets mehrere Wochen, bisweilen Monate, aufgehalten habe.

Alsdann wurde festgestellt, daß der Angeklagte u.a. in Rußland ein Rittergut im Werte von 200000 Silberrubel besitzt. Er habe einmal auf einer Berliner Postanstalt eine bedeutend größere Summe als ihm zukam, zurückerhalten. Obwohl der Irrtum nicht hätte aufgeklärt werden können, habe der Angeklagte das ihm nicht zukommende Geld sofort zurückgegeben. Rosa Kobelt gab als Zeugin an, daß sie am 2. November 1864 geboren und evangelischer Konfession sei. Sie bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war am 2. März zum dritten Male im Panoptikum. Als ich das Panoptikum zum zweitenmal besuchte, erhielt ich von Herrn Kastan ein Familienpassepartoutbillett. Am in Rede stehenden Sonntage kam ich gegen 6 Uhr abends ins Panoptikum. Nachdem ich ca. 3/4 Stunden im Panoptikum verweilt hatte, drängte sich Herr von Basilewitsch an mich heran. Sehr bald kam Herr Kastan zu mir und sagte, ich solle ihm helfen, einen Spitzbuben abzufassen. Auf Auffordern des Herrn Kastan lieh ich mir von meiner Mutter ein Portemonnaie und steckte es in meine offene Jackettasche. Alsdann stellte ich mich an den Schaukasten, in welchem die chinesischen Schuhe stehen und las in einem Katalog. Ich las nicht bloß pro forma, sondern ganz ernsthaft und wußte auch nicht, daß der abzufassende Dieb der Angeklagte sei. Ich stand vor dem Schaukasten, in die Lektüre des Katalogs vertieft, etwa 15 Minuten.

Vors.: Das ist ja eine sehr lange Zeit.

Zeugin: Vielleicht sind es auch bloß 10 Minuten gewesen. Der Angeklagte drängte sich ganz dicht an mich heran. Ob er mir das Portemonnaie entwendet hat, weiß ich nicht. Ich weiß bloß, als ich an den Schaukasten herantrat, befand sich das Portemonnaie in meiner Jackettasche. Es hat außer Herrn von Basilewitsch niemand in meiner Nähe gestanden, es war überhaupt gar nicht voll im Panoptikum. Als ich nach Verlauf von 10 Minuten von dem Schaukasten wegging, fragte mich Herr Färber, ob ich das Portemonnaie noch habe; da erst vermißte ich das Portemonnaie. Ob es der Angeklagte auf seinem Transport zur Wache, wohin ich ihn begleitete, fortgeworfen hat, weiß ich nicht.

Auf die Frage des Staatsanwalts erklärte die Zeugin, daß sie das Portemonnaie, während sie an dem Schaukasten stand, stets bei sich fühlte. Zwischen dem letzten Nachfühlen und der Zeit, wo sie das Portemonnaie vermißte, lag ein Zeitraum von ca. 5 Minuten.

Die Mutter dieser Zeugin, eine separierte Kobelt, geb. Landsberg, bekundete: Ich war mit einem Ingenieur verheiratet. Ich bin 41 Jahre alt und jüdischer Konfession, obwohl meine Eltern zum Christentum übergetreten waren. Als ich großjährig wurde, ließ ich mich in Breslau zum Judentum aufnehmen. Von dem angeblichen Diebstahl selbst habe ich nichts gesehen.

Handlungsgehilfe Adolf Färber: Ich bin 24 Jahre alt, jüdischer Konfession und Verkäufer in einem hiesigen Handlungshause. Am 2. März ging ich mit den Kobelts, von denen ich Freibilletts erhielt, ins Panoptikum. tikum. Ich beobachtete längere Zeit den Angeklagten, wie dieser sich auffallenderweise an die Taschen der Dame herandrängte. Als das Fräulein Kobelt sich das Portemonnaie in die Jackettasche steckte, beobachtete ich genau den Angeklagten. Ich erfreue mich einer vorzüglichen Sehkraft und sah, daß der Angeklagte, der im übrigen gesehen haben muß, wie Fräulein Kobelt sich das Portemonnaie in die Tasche steckte, sich an das Mädchen herandrängte und eine Bewegung nach der Gegend der Tasche der jungen Dame machte. Ob der Angeklagte das Portemonnaie genommen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, da ich es in seiner Hand nicht gesehen habe. Ich kann es mir aber nicht anders denken, als daß der Angeklagte das Portemonnaie entwendet hat, da andere Leute nicht in der Nähe waren, und Fräulein Kobelt gleich nachdem es sich vom Schaukasten entfernt, das Portemonnaie vermißte. Ich habe den Angeklagten für einen raffinierten Dieb gehalten. Wäre der Angeklagte in so anständiger Weise wie heute gekleidet gegangen und ganz besonders, hätte ich gewußt, wer der Angeklagte ist, dann wäre meine Meinung allerdings eine andere gewesen.

In ähnlicher Weise äußerte sich Handlungsgehilfe Isidor Freund. Auch dieser war mit einem von der Kobelt erhaltenen Freibillett in Gesellschaft der Familie Kobelt am in Rede stehenden Sonntage ins Panoptikum kum gegangen. Er hatte dieselben Wahrnehmungen bezüglich des Angeklagten wie Färber gemacht. Er sei allerdings kurzsichtig, habe jedoch genau gesehen, wie der Angeklagte sich an die Kobelt herangedrängt und in ihre Jackettasche gefaßt habe. Das Portemonnaie habe er in der Hand des Angeklagten nicht gesehen.

Der Besitzer des Panoptikums, Louis Kastan, bekundete: Er habe den Angeklagten beobachtet und ihn, da er sich an alle und junge Damen in sehr auffälliger Weise herandrängte, für einen Taschendieb gehalten. Er habe deshalb zwei Kriminalschutzleute rufen lassen und sie ersucht, ein Experiment mit dem Angeklagten vornehmen zu lassen. Die Schutzleute haben dies jedoch abgelehnt, ebenso eine im Panoptikum bedienstete Frau Otto. Deshalb habe er Fräulein Kobelt zur Vornahme des Experiments veranlaßt. Ob der Oberst die Hände in den Taschen der Kobelt gehabt habe, wisse er nicht.

Frau Otto: Der Oberst habe unaufhörlich die Hände in seinen Taschen gehabt.

Kriminalschutzmann Wendt, der mit dem Kriminalschutzmann Pätzoldt die Verhaftung des Angeklagten bewirkt hatte, erklärte: Er hielt den Angeklagten für einen lüsternen Damenfreund, dagegen habe ihn der Kriminalschutzmann Pätzoldt für einen raffinierten Taschendieb gehalten.

Kriminalschutzmann Pätzoldt versuchte alsdann der Kobelt das Portemonnaie aus der Jackettasche zu nehmen. Das Portemonnaie war dabei in der Hand des Pätzoldt vollständig von allen Seiten sichtbar, obwohl der Zeuge eine sehr große Hand hatte. Er erklärte: Die Herausnahme des Portemonnaies habe ihm keine Schwierigkeiten verursacht.

Polizeiinspektor Schuchardt bekundete: Die Rosa Kobelt habe mit dem Zeugen Kastan und noch mehreren anderen Leuten intimen Umgang gegen Entgelt, und zwar schon seit langer Zeit.

Kriminalkommissar von Hüllesem: In der Wohnung der Kobelt verkehre eine große Zahl bestrafter und von der Polizei gesuchter Taschendiebe, ja, die in der Mulackstraße belegene Wohnung werde von den meisten Berliner Taschendieben geradezu als Schlupfwinkel benützt. Rosa Kobelt habe der Verbergung der Taschendiebe vielfach Vorschub geleistet. Rosa Kobelt habe auch mit Taschendieben häufig intimen Verkehr gehabt. Auch in der Wohnung des Zeugen Freund verkehren vielfach bekannte und bestrafte Taschendiebe.

Beisitzender Kammergerichtsrat Schröder: Wann soll Rosa Kobelt den geschlechtlichen Umgang mit den Taschendieben gepflogen haben?

Zeuge: Im September 1877.

Beisitzender Kammergerichtsrat Schröder: Damals mals war die Rosa Kobelt noch nicht 13 Jahre alt.

Hebamme Juliusburger: Rosa Kobelt habe ihr erzählt, daß sie von Herrn Kastan und anderen Herren Geld für geschlechtlichen Umgang erhalte. Die Rosa habe viel im Café Bauer verkehrt und auch dort von Herren für „Gefälligkeiten“ Geld erhalten. Der Zeuge Färber habe der Frau Kobelt häufig „Flebben“ oder auch „Flebbchen“ angefertigt. (Flebben sind in der Hochstaplersprache fälschlich angefertigte Bettelbriefe und Zeugnisse.)

Frau Niedermeyer: Rosa Kobelt habe ihr, als sie 13 Jahre alt war, erzählt, daß sie auf Veranlassung ihrer Mutter aufs „Herren-Geschäft“ gehe. Wenn sie nicht genug Geld nach Hause bringe, erhalte sie heftige Schläge von ihrer Mutter. Einmal habe Rosa Kobelt erzählt: Sie sei eines Abends auf die „Herrensuche“ gegangen und habe sich bei dieser Gelegenheit an ein Schaufenster gestellt. Als ein feiner Herr an das Schaufenster trat, habe sie heftig geweint und als der Herr sie nach der Ursache ihres Weinens fragte, habe sie dem Herrn gesagt, sie habe ihr Portemonnaie, in dem ca. 5 Taler enthalten waren, verloren. Der Herr habe sie aufgefordert, nach seiner Wohnung zu kommen, dort werde er ihr die 5 Taler ersetzen. Sie habe dieser Aufforderung alsbald Folge geleistet und auch von dem Herrn 5 Taler erhalten. Selbstverständlich hatte sie in Wirklichkeit kein Portemonnaie verloren.

Rosa Kobelt und ihre Mutter, die den beiden letzten Zeugen gegenübergestellt wurden, bestritten diese Angaben.

Frau Lehmann bekundete ebenfalls, daß die Kobelt, Tochter und Mutter, einen unmoralischen Lebenswandel geführt, daß Taschendiebe bei ihnen verkehrt und daß auch die Zeugen Färber und Freund Umgang mit diesen Taschendieben gehabt haben. Am 2. März sei sie im Panoptikum gewesen und habe die Kobelt, Tochter und Mutter, und die Zeugen Färber und Freund gesehen. Da sie wisse, daß die Gesellschaft sich in schlechtem Rufe befinde, habe sie eine Berührung mit diesen Leuten vermieden. Plötzlich habe sie gesehen, wie die vier Personen einen fremden Herrn, als den sie den Angeklagten erkenne, umringten. Bei dieser Gelegenheit sah sie, wie Färber der Kobelt in die Tasche faßte und ihr einen Gegenstand herausnahm. Den Gegenstand selbst konnte sie nicht erkennen, sie wisse nur, daß es kein Taschentuch war. Die Kobelt habe gesehen, wie ihr Färber in die Tasche faßte.

Vors.: Färber, weshalb griffen sie der Kobelt in die Tasche?

Färber: Ich wollte mich noch einmal genau überzeugen, ob der Kobelt das Portemonnaie fehlte.

Der frühere Schutzmann Goldes bekundete ebenfalls, daß die Kobelts (Mutter und Tochter) und auch der Zeuge Freund vielfach mit Zuchthäuslern, Taschendieben usw. intimen Umgang gehabt.

Polizeileutnant Friese: Der Angeklagte habe ersucht, ihn zu visitieren, er (Zeuge) habe aber die Visitation abgelehnt, da er von der Unschuld des Angeklagten überzeugt war.

Staatsanwalt Dr. Feige nahm alsdann das Wort zur Schuldfrage: Ich bin in der Lage, die Freisprechung des Angeklagten zu beantragen. Ich bin von der Unschuld des Angeklagten überzeugt und werde mich deshalb sehr kurz fassen. Ich werde den Herren Verteidigern hinreichenden Spielraum gewähren. Zunächst sage ich den Herren Verteidigern meinen besten Dank, daß sie sich mit so großer Mühe der Herbeischaffung des Entlastungsmaterials unterzogen haben. Die Sache ist bereits mehrfach ein psychologisches Rätsel genannt worden; ich glaube, die psychologische Diagnose war von den meisten Belastungszeugen falsch gestellt worden. Der Angeklagte kam an einem Sonntag abend in die glänzenden, hell erleuchteten Räume des Kastanschen Panoptikums. In welcher Tracht? Mit einem alten, fast defekten Mantel angetan, mit großen Wasserstiefeln und die Hosen in die Stiefeln gesteckt. Daß er in solchem Aufzuge die Aufmerksamkeit im Panoptikum erregt hat, ist begreiflich. Wenn der Angeklagte mit der Absicht das Panoptikum besucht hätte, einen Taschendiebstahl auszuführen, dann hätte er sich wohl anders gekleidet. Daß der Angeklagte, nachdem er nunmehr fast 60 Jahre alt geworden, plötzlich Gelüste bekommen sollte, sich an einem Portemonnaie zu bereichern, ist nicht gut anzunehmen. Daß die Hauptbelastungszeugen nicht vollen Glauben verdienen, ist selbstverständlich. Jedenfalls ist die Hauptbelastungszeugin nicht als eine vestalische Jungfrau anzusprechen. (Heiterkeit.) Das Hauptbelastungsmoment bleibt immer der gestohlene Gegenstand selbst und dieser ist bei dem Angeklagten nicht gefunden worden. Ich stelle deshalb dem hohen Gerichtshofe die Freisprechung anheim.

Verteidiger Rechtsanwalt Holthoff: Ich bin dem Herrn Staatsanwalt sehr dankbar, daß er der Verteidigung die Sache so leicht gemacht hat. Daß Meineide in dieser Sache geleistet worden sind, steht fest. Ich will jedoch nicht noch einmal darauf zurückkommen, da ich der festen Meinung bin, der hohe Gerichtshof ist von der Unschuld des Angeklagten überzeugt. Ich glaube, die Verhandlung hat objektiv und subjektiv nicht den geringsten Anhalt für die Schuld des Angeklagten ergeben. Ich schließe deshalb mit der Bitte, den Angeklagten freizusprechen.

Nachdem noch der Verteidiger Justizrat Primker in längerer Rede für die Freisprechung des Angeklagten plädiert hatte, erkannte der Gerichtshof nach kurzer Beratung auf Freisprechung mit der Begründung: Der Gerichtshof hat aus der Verhandlung die volle Überzeugung gewonnen, daß der Angeklagte den ihm zur Last gelegten Diebstahl nicht begangen habe.

Ein Presse-Skandal

Erpressungsprozeß gegen die Redakteure des „Unabhängigen“ vor der I. Strafkammer des Landgerichts Berlin I (Juni 1883)

Die Grundlage aller modernen Kultur ist zweifellos die Buchdruckerkunst. Ohne die großartige Erfindung Johann Gutenbergs wäre es kaum möglich gewesen, die Werke Rousseaus, Goethes, Schillers und aller anderen geistigen Heroen der Nachwelt zu überliefern. Selbst die Reformation wäre ohne die Buchdruckerkunst kaum durchführbar gewesen. Wie wäre es ohne die Buchdruckerkunst um die medizinische Wissenschaft, ja um die Wissenschaft überhaupt bestellt? Allerdings gab es lange vor Gutenberg, selbst im grauen Altertum, eine ziemlich hochentwickelte Kultur. Es soll sogar vor Erfindung der Buchdruckerkunst in Deutschland geschriebene Zeitungen gegeben haben. Man kann es sich aber heute kaum vorstellen, daß es vor 500 Jahren noch keine Buchdruckerkunst und folgerichtig auch keine Presse gegeben hat. Ich behaupte jedenfalls nicht zuviel, wenn ich die Presse als den ersten Kulturfaktor bezeichne. Ohne Presse wäre es wohl kaum möglich gewesen, den Aberglauben und die damit verbundene Barbarei des Mittelalters zu überwinden. Die Presse wird die siebente Großmacht genannt. Das trifft heute kaum noch zu. Die Presse hat eine Bedeutung erlangt, daß sie fast als erste Großmacht bezeichnet werden kann. Im November 1879 hielt der verstorbene Hofprediger Stöcker einen Vortrag über die Presse und bezeichnete sie als erste Großmacht. Selbst die Mächtigen dieser Erde verkennen nicht die Macht der Presse. Der mächtigste Kanzler des Deutschen Reiches, Fürst Otto von Bismarck, der fast drei Jahrzehnte die Geschicke Europas geleitet hat, war aufs emsigste bemüht, Einfluß auf die Presse zu gewinnen. Ferdinand Lassalle äußerte sich im Jahre 18631 in seiner „göttlichen Grobheit“ etwas sehr abfällig über die Presse. Er sagte von den „Zeitungsschreibern“: „Zu unfähig zum Elementarschullehrer, zu faul zum Postschreiber, zu keiner anderen bürgerlichen Hantierung fähig, fühlt er sich berufen, Volksbildung und Volkserziehung zu treiben.“ Wer wollte bestreiten, daß diese Worte noch heute auf verschiedene „Journalisten“ zutreffen. Fürst Bismarck sagte einmal; „Die Journalisten sind fast sämtlich Leute, die ihren Beruf verfehlt haben.“ Bismarck hatte insofern recht, als es noch heute keinen akademischen Lehrstuhl für Journalistik gibt. Trotzdem sind die Anforderungen, die an einen wirklichen Journalisten gestellt werden, sehr hohe und vielseitige. Ich glaube auch nicht, daß durch Schaffung akademischer scher Lehrstühle für Journalistik die Zahl der tüchtigen Journalisten eine größere werden würde. Die Ausübung der Journalistik läßt sich nicht erlernen. Es gehört dazu in erster Reihe Talent und Befähigung. Wer nicht Talent und Befähigung zum Journalisten besitzt, sollte es nicht werden. Ich halte deshalb die Journalistenschulen, auch die „journalistischen Hochschulen“ für gänzlich wertlos. Bis zum Inkrafttreten des Reichspreßgesetzes (1. Juli 1874) mußte für Herausgabe einer Zeitung eine ziemlich hohe Kaution in mündelsicheren Papieren bei der Ortspolizei hinterlegt und eine hohe Stempelsteuer, die nach der Auflage der Zeitung bemessen wurde, allvierteljährlich gezahlt werden. Seit Aufhebung dieser Bestimmungen hat sich das Zeitungswesen ganz unendlich entwickelt. Es ist begreiflich, daß damit Auswüchse verbunden gewesen sind. Jeder Provinzbuchdrucker ist in der Lage, eine Zeitung herauszugeben. In der Hauptsache gehört dazu eine Schere, ein Kleistertopf und ein Pinsel. Die Mitarbeiter der größeren Zeitungen sind gleichzeitig seine unfreiwilligen und selbstverständlich unbezahlten Mitarbeiter. „Geistiges Eigentum“ sind vielen Zeitungsherausgebern unbekannte Dinge. Die Richter in der Provinz und auch die sogenannten Sachverständigenkommissionen bekunden bei Klagen wegen unerlaubten Nachdrucks oftmals eine geradezu erstaunliche Weltfremdheit, zumal die Sachverständigenkommissionen genkommissionen zumeist nicht aus Fachleuten bestehen. Daher kommt es, daß viele, selbst sehr befähigte Journalisten und Schriftsteller, die doch zweifellos zu den Pionieren der Kulturbewegung gehören, trotz großen Fleißes mit großen Nahrungssorgen zu kämpfen haben. Es ist geradezu ungeheuerlich, daß sogenannte Sachverständigenkommissionen spaltenlange Berichte über Gerichtsverhandlungen, Kongresse und Versammlungen als vogelfreies Zeitungsmaterial bezeichnen. Wenn im großen Publikum die Ansicht herrscht, ein Bericht über eine Gerichtsverhandlung, Kongreß oder Versammlung sei keine geistige Arbeit, da doch der Berichterstatter nur sein Stenogramm den Zeitungen gesandt hat, so kann man über diese Naivität lächeln, es vielleicht auch bedauern, daß in unserem fortgeschrittenen Zeitalter noch derartige Anschauungen herrschen. Wenn aber eine aus Gelehrten zusammengesetzte „Sachverständigenkommission“ dieser Ansicht Ausdruck gibt, also ein Urteil abgibt, das als Grundlage eines richterlichen Urteils zu gelten hat, so ist das sehr bedauerlich. Wissen die gelehrten Sachverständigen wirklich nicht, daß die erwähnten Berichte nicht Stenogramme, sondern mit Blitzgeschwindigkeit gemachte Aufzeichnungen der interessantesten und wichtigsten Vorgänge sind? Ein wörtliches Stenogramm wäre schon, aus Anlaß der Länge und des Mangels an jeder Lebendigkeit, als Zeitungsbericht bericht nicht zu verwenden. Wäre die Ansicht der Sachverständigen richtig, dann brauchten die Zeitungen keine geschulten Berichterstatter. Der erste beste junge Mann aus der Expedition, der gut stenographieren kann, genügte, um über die wichtigsten Prozesse, Kongresse und Versammlungen zu berichten. Daß zur Berichterstattung ein sehr umfassendes, gründliches Wissen erforderlich ist, um einmal die Themata zu beherrschen und andererseits das Wichtige vom Unwichtigen sondern zu können, und daß auch die Beherrschung der deutschen Sprache in vollendetster Form notwendig ist, sollten auch gelehrte Sachverständige und auch gelehrte Richter begreifen. Prinz Heinrich von Preußen, Bruder des Kaisers Wilhelm II., hat vor einigen Jahren auf einem Festmahl in Amerika die Vertreter der Presse mit „kommandierenden Generalen“ verglichen. Es wird mehrfach behauptet, der Prinz habe mit diesem Ausspruch nur die amerikanischen Journalisten im Auge gehabt. Ich teile diese Ansicht, zumal die Journalisten in Deutschland und vornehmlich in Berlin noch vielfach mit Geringschätzung behandelt werden. Dank dem Fortschritt der Kultur ist es allerdings auch in dieser Beziehung besser geworden. Vor dreißig bis vierzig Jahren wurden die Vertreter der Presse, insbesondere die Berichterstatter in Versammlungen, bisweilen en canaille behandelt. In antisemitische Versammlungen konnte man sich in Berlin in den 1880er Jahren nur mit Lebensgefahr wagen. Aber nicht nur die Berichterstatter jüdischer Religion oder jüdischer Abkunft, auch die arischer Abkunft wurden beschimpft und zum Teil tätlich beleidigt. Im Januar 1881 war ich in einer in der Großen Frankfurter Straße stattgefundenen antisemitischen Versammlung. Ich wagte nicht, mich an den Pressetisch zu setzen, sondern stand unerkannt unter den Zuhörern, „eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge“. Da plötzlich, inmitten der Rede des Dr. Ernst Henrici ertönte von der Galerie der Ruf: „Hier schreibt eener.“ unter den Rufen: „Jude raus, Preßlümmel raus“ und unter ungeheurem Tumult wurde ein junger Mann, der keineswegs den Eindruck eines Juden machte und von dem nicht feststand, daß er Berichterstatter war, die Treppe hinunter und aus dem Saale hinausgeprügelt. Das meiste Entgegenkommen haben die Berichterstatter von jeher auf den deutschen Katholikentagen, auf den Generalversammlungen des Bundes der Landwirte, früher auf den Generalversammlungen der nationalsozialen Partei und seit einiger Zeit auch auf den sozialdemokratischen Parteitagen gefunden. Die Behandlung der Berichterstatter seitens der Gerichtsvorsitzenden ist allmählich besser geworden. Der Korpsgeist unter den Journalisten läßt, trotz der vielen Fachvereine, noch viel zu wünschen übrig.

Vor Inkrafttreten des Reichspreßgesetzes gab es mehrfach sogenannte Sitzredakteure. Die von dem verstorbenen „roten Krämer“ Anfang der 1870er Jahre redigierte „Deutsche Freie Zeitung“ setzte dem Unfug geradezu die Krone auf. An der Spitze dieser Zeitung stand: Verantwortlicher Redakteur J.C. Fraas, Dienstmann Nr. 107. Das deutsche Reichspreßgesetz gestattet bekanntlich keine Sitzredakteure.2) Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß die Presse eine geradezu unheimliche Macht besitzt. Um so mehr ist es Pflicht aller anständigen Journalisten, darauf Bedacht zu nehmen, daß mit dieser Macht nicht Mißbrauch getrieben und daß etwaigen Schmarotzern ihr schmutziges Handwerk gelegt wird. Vor einigen Jahren ist es leider zwei Preßbanditen gelungen, den Kommerzienrat Israel, aus Anlaß einer von ihm begangenen sittlichen Verfehlung, zum Selbstmord zu treiben. Zweifellos war Gelderpressung die Triebfeder dieses Schurkenstreichs. Sehr im argen liegt noch die lokale Gerichtsberichterstattung. Der Schweigegelderunfug steht noch immer in Blüte. Andererseits ist zu tadeln, daß Gerichts- und Polizeiberichterstatter oftmals ganz unnötigerweise anständige Leute an den Pranger stellen und dadurch den Ruf und die Existenz ganzer Familien aufs ärgste schädigen. In den letzten Jahren haben mehrere Erpressungsprozesse gegen Journalisten stattgefunden. Ich erinnere nur an den Prozeß Dahsel, der mit der Verurteilung des Angeklagten zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis endete. Den Prozeß Bruhn will ich nicht berühren, da die Angeklagten in diesem Prozeß sämtlich freigesprochen wurden und der Vorsitzende des Gerichtshofs, Landgerichtsrat Lampe, in der Urteilsbegründung ausdrücklich hervorhob: „Der Gerichtshof hat die Überzeugung gewonnen, daß dem Angeklagten Bruhn kein moralischer Makel anhaftet.“ Der in diesem Prozeß amtierende Vertreter der Anklage, Staatsanwaltschaftsrat Dr. Leyseringk, hat diese Ansicht nicht geteilt. Jedenfalls reichen alle diese Prozesse nicht im entferntesten an die Bedeutung des Prozesses gegen die Redakteure des „Unabhängigen“ heran, der im Juni 1883 die erste Strafkammer des Landgerichts Berlin I beschäftigte. Im Jahre 1874, nachdem weder Kaution noch Stempelsteuer mehr zu zahlen war, gründete der vor einigen Jahren verstorbene Journalist Heinrich Joachim Gehlsen die „Eisenbahnzeitung“. In dieser wurden sogenannte Gründer, Börsenspekulanten u.a. vielfach angegriffen. Gehlsen wurde einige Male wegen Beleidigung angeklagt. Es wurde schon damals behauptet, daß das Blatt ein Revolverblatt sei. Im Jahre 1875 wurde der Titel „Eisenbahnzeitung“ in „Reichsglocke“ umgewandelt. Die „Reichsglocke“ wurde das Leiborgan des im Oktober 1874 auf seinem Gute Nassenheide verhafteten Botschafters des Deutschen Reiches, Grafen Harry von Arnim, der bekanntlich im Dezember 1874 von der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts wegen Hinterziehung amtlicher Aktenstücke zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde. Der erste Strafsenat des Kammergerichts erkannte in contumaciam – Graf Arnim war inzwischen nach der Schweiz gegangen – auf 9 Monate Gefängnis. Die „Reichsglocke“ nahm sehr tapfer für den Grafen Arnim Partei und richtete heftige Angriffe gegen den grimmigsten Feind des ehemaligen Botschafters, den Fürsten Bismarck, sowie gegen den damaligen Ersten Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht, späteren Oberreichsanwalt Tessendorff und gegen die Richter, die den Grafen Arnim verurteilt hatten. Eines Sonnabends, Anfang Dezember 1876, erschien in der „Reichsglocke“ ein längerer Artikel, in dem der Vorsitzende der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, Stadtgerichtsdirektor Reich, der Verübung ehrenrühriger Dinge schlimmster Art beschuldigt wurde. Gegen 6 Uhr morgens wurde die Zeitung ausgegeben. Gegen 8 Uhr morgens war bereits der Befehl zur Verhaftung Gehlsens und seines verantwortlichen Redakteurs Schellenberg erteilt. Es gelang aber nur, Schellenberg festzunehmen. Gehlsen war bereits auf dem Wege nach London. Sechs Tage später fand die Verhandlung gegen Gehlsen und Schellenberg wegen verleumderischer derischer Beleidigung, auf Grund der §§ 185, 186 und 187 des Strafgesetzbuches statt. Die Angeklagten wurden, Gehlsen in contumaciam, zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Beide wurden einige Zeit später wegen verleumderischer Beleidigung des Fürsten Bismarck zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Gegen den Fürsten Bismarck wurde der Vorwurf erhoben: er habe sich für Beschaffung der Konzession zur Gründung der Preußischen Bodenkreditbank mit einer Million Mark beteiligen lassen. Die „Reichsglocke“ hatte nach der Flucht Gehlsens aufgehört, zu erscheinen. Ihre Beschuldigung wurde jedoch von dem Redakteur der konservativen „Berliner Revue“, Dr. Rudolf Meyer und dem Landrat a.D. von Diest-Daber weiterverbreitet. Beide wurden deshalb angeklagt. Geh. Kommerzienrat Gerson von Bleichroeder (Berlin) und Geh. Kommerzienrat Freiherr Carl Meyer von Rothschild (Frankfurt am Main) erklärten in beiden Prozessen zeugeneidlich, daß an der Beschuldigung gegen den Fürsten Bismarck kein wahres Wort sei. Dr. Rudolf Meyer wurde im Februar 1877 von der Kriminaldeputation des Berliner Kreisgerichts zu 9 Monaten, von Diest-Daber im Juni 1877 von der dritten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt.

Gehlsen saß während dieser Zeit längst heiter und wohlgemut an den Gestaden der Themse und korrespondierte spondierte unter dem Namen Gottfried Keller für die freikonservative „Post“ in Berlin, die zu den größten Verehrerinnen des Fürsten Bismarck zählte. Die Redakteure der „Post“ hatten selbstverständlich keine Ahnung, daß ihr Londoner Korrespondent Gottfried Keller der ausgerissene „Reichsglöckner“ Heinrich Joachim Gehlsen war. Nach einigen Jahren fuhr der damalige Chefredakteur der „Post“, Dr. Leopold Kayßler, nach London. Dort suchte er selbstverständlich auch seinen langjährigen Korrespondenten Gottfried Keller auf. Wie groß das Erstaunen des Dr. Kayßler war, als ihm der Reichsglöckner Gehlsen als Gottfried Keller entgegentrat, kann man sich ausmalen. Ob Gehlsen alsdann noch weiter für die „Post“ korrespondierte, ist mir nicht bekannt. Als Kaiser Friedrich im März 1888 bei seinem Regierungsantritt eine Amnestie für politische und Preßvergehen erließ, kehrte Gehlsen nach Deutschland zurück und schlug in Charlottenburg seinen Wohnsitz auf. Er gab hier die „Charlottenburger Stadtlaterne“ heraus. Die Einwohner Charlottenburgs schienen von dem Inhalt dieses Blattes wenig erbaut zu sein. Gehlsen wurde eines Abends in der Berliner Passage von einem Einwohner Charlottenburgs öffentlich geschlagen, weil er in der „Stadtlaterne“ bloßgestellt war. Sehr bald darauf wurde Gehlsen verhaftet und wegen Erpressung angeklagt. Die Strafkammer des Landgerichts Berlin II verurteilte ihn Ende Dezember 1899 nach mehrtägiger Verhandlung zu einer längeren Gefängnisstrafe.

Einige Jahre später, nachdem Gehlsen die Strafe längst verbüßt hatte, wurde er im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Er hat alsdann weiter die „Stadtlaterne“ herausgegeben. Er erschien auch als Zeuge in dem 1907 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin II verhandelten Prozeß wider den Journalisten Adolf Brand, der bekanntlich wegen verleumderischer Beleidigung des Reichskanzlers Fürsten v. Bülow angeklagt war. Brand wurde damals zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Er wurde von Rechtsanwalt Dr. Barnau verteidigt. Die Anklage in diesem Prozeß vertrat der Erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin II, Preuß, später Oberstaatsanwalt und Chef der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I, jetzt Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Königsberg in Preußen. Derselbe Oberstaatsanwalt vertrat in dem Skurczer Ritualmordprozeß (April 1885) vor dem Schwurgericht zu Danzig als Gerichtsassessor die Anklage. Vor einigen Jahren starb Gehlsen in größter Armut in einem Charlottenburger Krankenhause.

Gehlsen hatte, als er noch in Berlin die „Reichsglocke“ redigierte, einen „Leibdiener“, namens Wilhelm Grünewald. Dieser, ein ehemaliger Kellner, der, als er noch bei Gehlsen war, gleichzeitig bei der Polizei zei Spitzeldienste geleistet haben soll, ging, als Gehlsen nach London abgedampft war, zu seinem früheren Metier zurück. Er war auch vorübergehend Hotelbesitzer in Flensburg und schließlich wiederum Kellner in einem großen Restaurant in Hamburg. Schließlich plagte ihn die Eitelkeit, in erster Reihe aber wohl die Geldgier. Er wollte, gleich seinem früheren Herrn und Gebieter, ein berühmter Schriftsteller und gleichzeitig ein reicher Mann werden. Daß ihm alles und jedes Wissen abging, was tat das zur Sache. Er hatte sich als Kellner etwas gespart, er war also manchem routinierten Journalisten über, denn er hatte Geld und die nötige Portion Frechheit, zwei Dinge, die so mancher Journalist nicht besitzt. Grünewald hängte also die Serviette an den Nagel, siedelte nach Berlin über und erstand hier ein unter Ausschluß der Öffentlichkeit erschienenes Wochenblättchen, das den Titel „Der Unabhängige“ führte. Was der frühere Besitzer des „Unabhängigen“, ein Herr v. Flotow, mit dem Blättchen bezweckt hatte, ist nicht bekannt geworden. Grünewalds Zweck wurde dagegen sehr bald erkennbar. Sein Zweck war skrupellose Gelderpressung. Die erforderlichen Mitarbeiter waren schnell gefunden, es waren alles geistesverwandte Seelen des zum Zeitungsverleger und Chefredakteur avancierten ehemaligen Kellners und Gehlsenschen Leibdieners. Zu den Hauptmitarbeitern Grünewalds gehörte ein preußischer ßischer Hauptmann a.D., Freiherr v. Schleinitz. Selbstverständlich ist wegen Entgleisung eines einzelnen dem preußischen Adel oder gar dem preußischen Offizierkorps nicht der geringste Vorwurf zu machen. Der „Unabhängige“ hatte kaum dreihundert zahlende Abonnenten. Darauf kam es Herrn Grünewald aber nicht an. Er bzw. seine Mitarbeiter verstanden es, sich Kenntnis von dunklen Punkten reicher Leute aus dem Adels- und Kaufmannsstande zu verschaffen. Diese dunkeln Punkte wurden im „Redaktionsbriefkasten“ des „Unabhängigen“ angedeutet und das betreffende Blatt, blau angestrichen, an den betreffenden Mann gesandt. Gleichzeitig erhielt der Adressat einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde: das erstandene Material habe viel Geld gekostet, eigne sich aber vortrefflich zu einem sensationellen Artikel. Letzterer werde in der nächsten Nummer des „Unabhängigen“, evtl. in Fortsetzungen, erscheinen. Das Material könne aber auch abgekauft werden. Alsdann werde selbstverständlich das Erscheinen des Artikels unterbleiben. Derartige Schreiben hatten fast immer den gewünschten Erfolg. Man wollte sich doch nicht öffentlich blamieren und seine Geschäftsmanipulationen an den Pranger stellen lassen. Die Gründungen des Direktors der Vereinsbank, August Sternberg, wurden in mehreren Schmähartikeln des „Unabhängigen“ als schwindelhaft bezeichnet. Die betreffenden Zeitungsexemplare plare wurden an die Kunden Sternbergs gesandt und außerdem in den Waggons der Kasseler Straßenbahn, einer Gründung Sternbergs, ausgelegt. Sternberg zahlte zunächst durch Vermittelung des Redakteurs Moser 500 Mark an Grünewald, in welcher Folge die Angriffe, die stets mit dem Vermerk „Fortsetzung folgt“ erschienen, aufhörten. Einige Zeit darauf erschienen Grünewald und Moser bei Sternberg mit der Mitteilung: es seien wieder recht interessante Geschichten bei der Redaktion über die Vereinsbank eingelaufen. Sternberg möge Berichtigungen geben, andererseits wäre es bedauerlich, daß dem „Unabhängigen“ ein solch interessanter Stoff entzogen würde. Sternberg zahlte 4500 M., darauf unterblieben alle Angriffe. Ostern 1882 bestellte Grünewald den Kaufmann Mochmann in sein Redaktionsbureau. Dort zeigte er ihm den Fahnenabzug eines für den „Unabhängigen“ bestimmten Artikels, in welchem dem Mochmann u.a. der Vorwurf des Betruges zum Nachteile des Ingenieurs Freund gemacht und gegen die Kaufleute Fischer und Seelig Schmähungen enthalten waren. Grünewald erklärte sich bereit, den Artikel zu unterdrücken, wenn die drei Angegriffenen bis 5 Uhr nachmittags 6000 Mark zahlten. Sollte dies nicht bis zur bestimmten Stunde geschehen sein, so würde es am anderen Tage 10000, dann 15000, dann 20000 Mark kosten; schließlich müsse, wenn kein Arrangement ment erfolgt sei, das ganze Blatt angekauft werden. Da die Unterhandlungen keinen Erfolg hatten, so erschienen etwa drei Vierteljahre lang in dem „Unabhängigen“ Schmähartikel gegen Fischer, Mochmann und Seelig mit dem steten Vermerk: „Fortsetzung folgt“. Als Fischer 300 Mark zahlte, unterblieben die Schmähartikel und es erfolgte der Widerruf eines Artikels, der eine Entführungsgeschichte des Fischer behandelte. Am 17. Juni 1882 teilte Redakteur Dr. Vogelsang dem Rentier Jaroczynski mit, daß dieser und Fischer in der noch an demselben Tage erscheinenden Nummer 24 angegriffen würden. Auf Anraten des Vogelsang kauften J. und F. die Exemplare bei den Zeitungshändlern auf. Infolgedessen wurden am nächsten Tage einzelne Exemplare mit 10 Mark verkauft. Auf Anraten des Dr. Vogelsang hatte Grünewald eine neue Auflage von der Nummer 24 drucken lassen Da fernere Schmähartikel gegen Jaroczynski angedroht waren, so wandte sich dieser an Moser. Letzterer riet ab, den Grünewald zu bitten, „denn G. kenne nur Geld“; er möge den reichen Bankier Seelig, der doch ebenfalls in dem Artikel genannt sei, veranlassen, Geld zu geben. Seelig wollte sich jedoch trotz aller Angriffe auf nichts einlassen. Da endlich erschienen einige Artikel, die das Privatleben Seeligs mit Schmutz bewarfen. Als auch ein solches Exemplar, in welchem die betreffenden Stellen blau angestrichen waren, an Frau Seelig geschickt wurde, ging Seelig zu Moser, woselbst er Grünewald antraf. Nach längerer Unterredung erklärte G.: Er sehe ein, daß dem Seelig Unrecht geschehen sei; er wolle die Verleumdung gegen ihn aus der Welt schaffen. Auf die Frage des S., was der langen Rede kurzer Sinn sei, erwiderte G.: Er verlange für die Unterdrückung der Artikel 1000 Mark. S. übersandte dem G. zunächst 500 Mark; diese schickte G. jedoch zurück. Als Jaroczynski aber mitteilte, er solle sich die 500 Mark nur holen, die anderen 500 Mark werde er später erhalten, tat dies G. und erhielt 500 Mark später noch einmal. Auch der Geh. Kommerzienrat Conrad wurde in mehreren Artikeln angegriffen. Nachdem er dem G. 1200 Mark zahlte, hörten die Angriffe auf. Im September 1882 erhielt Kaufmann Gosewisch in Dresden von Moser einen Brief, worin ihm letzterer mitteilte, er werde im „Unabhängigen“ eine Reihe von Artikeln veröffentlichen. Dem Brief lag ein gegen den Bankier Julius Seemann in Hannover gerichteter Schmähartikel mit dem Vermerk: „Fortsetzung folgt“ bei. Moser und Gosewisch hatten zusammen bei Seemann konditioniert. Seemann, von Gosewisch benachrichtigt, reiste sofort mit seinem Sohne nach Berlin. Auf die Frage des Gosewisch an Moser: Welchen Zweck er mit den Artikeln verfolge, erklärte M., daß er verschiedene, dem Seemann nachteilige Dinge aus dessen Privat-und Geschäftsleben im öffentlichen Interesse und auch auf höheren Wunsch in die Öffentlichkeit bringen wolle. Auf Gosewischs Bemerken, daß Seemann einen Ausgleich wünsche, antwortete Moser, er habe keine Verfügung mehr über die Artikel, sie befänden sich bereits in den Händen der Redaktion. Wenn aber S. einen Ausgleich wünsche, dann möge er ihm zunächst zwei ältere Forderungen in Höhe von 10000 Mark bezahlen. Seemann begab sich zu Grünewald und hier erfolgte ein Ausgleich, indem er an Redakteur Sponholz, der im Auftrage Mosers handelte, 1500 Mark und an Grünewald für angeblich gehabte Unkosten 100 Mark zahlte.

Im November 1882 teilte Redakteur Sawatzky in dem in der Friedrichstraße 83 belegenen Restaurant Olbrich einem Kaufmann Eccardt mit, daß nach einer Notiz im Briefkasten des „Unabhängigen“ ein Schmähartikel gegen ihn erscheinen würde. Freiherr von Schleinitz sei erbötig, gegen Zahlung von 500 Mark das Erscheinen des Artikels zu verhüten. Da Eccardt sich ablehnend verhielt, erschien der Artikel. Einige Tage später veranlaßte Sawatzky zwischen Eccardt und von Schleinitz eine Zusammenkunft. Letzterer teilte dem E. mit, daß ein weiterer Artikel unter voller Namens- und Wohnungsangabe gegen ihn erscheinen werde, wenn er nicht 150 Mark zahlte. Eccardt gab das Geld und der Artikel erschien nicht.

Ende 1882 bedeutete von Schleinitz dem Kaufmann Lewin, er werde nächstens im „Unabhängigen“ gleich anderen besprochen werden, weil er zu der bei Dressel und Olbrich verkehrenden Wuchergesellschaft gehöre. Als Lewin die Zugehörigkeit bestritt, erwiderte Sch.: Auf die Richtigkeit käme es gar nicht an, es handle sich hauptsächlich darum, den Leuten des „Unabhängigen“ eine Einnahme zuzuwenden. In letzterem Falle werde von dem Erscheinen des Artikels Abstand genommen werden. Da Lewin sich ablehnend verhielt, erhielt er nach einigen Tagen ein Exemplar des „Unabhängigen“ zugeschickt, in dessen Briefkasten, mit Blaustift angestrichen, unter dem unterstrichenen Anfangsbuchstaben seines Namens, das Erscheinen des Artikels in Aussicht gestellt wurde. Lewin erbot sich nun dem v. Sch. gegenüber, dem „Unabhängigen“ Inserate bis zur Höhe von 100 Mark zuzuwenden. Er erhielt jedoch von Grünewald, indem er v. Sch. als seinen Vertreter bezeichnete, einen ablehnenden Bescheid, „weil von Personen, die im ?Unabhängigen? besprochen werden sollen, keine Inserate aufgenommen werden können“. Nach längeren Unterhandlungen zahlte Lewin 100 Mark mit dem Versprechen, für 500 Mark inserieren zu lassen.

Ein Baron von Prittwitz vermochte sich gegen die Schmähartikel des „Unabhängigen“ nur zu retten, daß er einen Wechsel über 1400 Mark an Moser gab.

Durch Dr. Vogelsang, der für den Grafen Götzendorf-Grabowski und C. Scheunert in Dresden im Jahre 1880 den Ankauf gräflich Esterhazyscher Güter in Ungarn vermittelt hatte, war dem Grafen Grabowski v. Schleinitz zugeführt worden. v. Schleinitz kaufte mit seinem Kompagnon Fränkel von dem Grafen Grabowski Kunstsachen und Antiquitäten zum Preise von 5950 Mark. 4450 Mark wurden den Käufern bis zum 9. August 1881 kreditiert. Gleich nach geschehenem Kaufabschlusse hielt sich Graf Grabowski für benachteiligt, und als am Fälligkeitstermin Zahlung nicht erfolgte, erhob er gegen Fränkel und Schleinitz Klage. Diese Angelegenheit wurde andeutungsweise im „Unabhängigen“ besprochen. Bald darauf ging Grünewald zu dem Grafen Grabowski, welcher in Berlin im Tiergarten-Hotel wohnte. Grünewald verlangte zum Zwecke der Publikation die den Prozeß betreffenden Akten einsehen zu dürfen. Graf Grabowski lehnte dies Ansinnen ab. Es erschien infolgedessen im Briefkasten des „Unabhängigen“ folgende Notiz: „Von Zobeltitz hier: Hiermit erklären Ihnen, daß wir von den uns auf Ihre Veranlassung von dem Grafen v. Grabowski gemachten Mitteilungen auf keinen Fall Gebrauch machen werden. Wir erwarten zumal von Edelleuten, daß sie uns gemachte Zusagen (auf Ergänzung des Materials) strikte innehalten. Dagegen werden Ihnen nächstens in unserem Blatte die Geschichte des Herrn S. in Dresden, die Angelegenheit des Graf Esterhazy betreffend, erzählen. Zu Kunststückchen läßt sich der ?Unabhängige? nicht gebrauchen.“ Ein Exemplar dieser Nummer, in der Grabowski außerdem angegriffen war, sandte v. Schleinitz mit dem Vermerk: „Die schmutzige Geschichte heißt Grabowski contra Scheunert“ an die Gräfin Grabowski und stellte in einem der Sendung beigelegten Briefe das Verlangen, ihre Forderung an ihn mit einer Forderung an ihren Ehemann zu kompensieren. „Ich richte diese Anfrage an Sie, um einen Vergleich zu schaffen, da viele unliebsame Erörterungen noch in diesem Prozesse vorkommen werden.“ Obwohl nun die unerhörtesten Angriffe und Drohungen gegen Grabowski im „Unabhängigen“ erschienen und in den Briefkastennotizen ihm wiederholt angedeutet war, daß er die Sache mit Geld totmachen könne und obwohl v. Schleinitz den Grafen in unerhörtester Weise beleidigte, mit dem Bemerken, wenn er Courage hätte, so würde er ihn längst gefordert haben, so antwortete Graf Grabowski auf alle diese Angriffe nicht mit einer Silbe. Auf Veranlassung seiner Ehefrau zahlte schließlich Graf Grabowski an Moser 600 Mark, wovon M. an Grünewald 500 Mark zahlen sollte. Darauf hörten die Angriffe auf.

Der in der Friedrichstraße 83 wohnende Hoftraiteur Olbrich wußte sich gegen die Angriffe des „Unabhängigen“ gigen“ nur durch Zahlung von 1000 Mark zu retten. Hierbei spielten v. Schleinitz und Sawatzki die Hauptrolle.

Diese und viele ähnliche Erpressungen dauerten ziemlich lange. Die Erpreßten erstatteten schließlich Anzeige. Ende Dezember 1882, wenige Tage vor Weihnachten, wurden Grünewald und seine Kumpane, mit Ausnahme des Freiherrn v. Schleinitz, der rechtzeitig geflüchtet war, von dem Kriminalkommissar, späteren Polizeiinspektor Höft verhaftet. Die Verhafteten waren: 1. Chefredakteur und Verleger Ernst August Wilhelm Grünewald, 2. Kaufmann und Redakteur Josef Moser, 3. Kaufmann und Redakteur Anton Sponholz, 4. Weinreisender Alexander Lodomez, 5. Dr. jur. Werner Vogelsang, 6. Buchhändler Karl Sawatzki.

Am 25. Juni 1883 hatten sich Grünewald und Genossen vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen vollendeter und versuchter Erpressung in zahlreichen Fällen zu verantworten. Im Zuhörerraum des großen, im alten Moabiter Gerichtsgebäude belegenen Schwurgerichtssaales, in dem die aufsehenerregende Verhandlung stattfand, war ganz besonders die Börsenwelt zahlreich vertreten. Den Gerichtshof bildeten Landgerichtsdirektor Bachmann (Vorsitzender), die Landgerichtsräte Wollner, Kandelhardt, Brausewetter und Landrichter Dietz (Beisitzende). Die Anklage vertrat Staatsanwalt Lehmann, die Verteidigung führten: Rechtsanwalt Wronker, Rechtsanwalt Saul, Justizrat Jensitzki und Rechtsanwalt Dr. Sello.

Nach Verlesung des Anklagebeschlusses äußerte auf Befragen des Vors. Angekl. Grünewald: Ich habe in meiner Vaterstadt Dannenberg in Hannover bis zu meinem 15. Jahre die Schule besucht und wurde alsdann Kellner. Ich konditionierte als solcher in Hamburg, Flensburg und Kopenhagen und habe im Jahre 1870 in Flensburg ein Hotel besessen. Ich prosperierte jedoch dort nicht, kam Anfang der 70er Jahre nach Berlin und konditionierte hier wiederum als Kellner. Später, wurde ich Sekretär bei der von Gehlsen herausgegebenen „Reichsglocke“. Den „Unabhängigen“ kaufte ich 1880 von Herrn v. Flotow. Meine Redakteure waren Geh. Oberregierungsrat a.D. Dr. Hermann Wagener, Dr. Robolsky und die Angeklagten Moser und Sponholz.

Vors.: Was hatten Sie für Einnahmen?

Grünewald: Der „Unabhängige“ hatte etwa 3-500 feste Abonnenten und 2000 bis 2500 Exemplare wurden mittels Straßenverkaufs abgesetzt.

Vors.: Was hatten Sie für Einnahmen?

G.: Etwa 500 Mark monatlich.

Vors.: Was zahlten Sie Ihren Redakteuren?

G.: Die Herren Geh. Rat Wagener und Dr. Robolsky sky erhielten für die einzelnen Artikel bezahlt. Moser erhielt 150 Mark, Sponholz 120 Mark monatlich.

Vors.: Sie selbst haben wohl nichts geschrieben?

G.: Nein, ich übte bloß die Aufsicht und gab die Idee an.

Vors.: Selbst geschrieben haben Sie nicht?

G.: Nein.

Vors.: Das konnten Sie wohl auch nicht. Wenn Sie nur bis zum 15. Jahre die Schule besucht und alsdann Kellner gelernt haben, da wird Ihnen wohl die Fähigkeit zu selbständig schriftstellerischer Tätigkeit gefehlt haben?

Grünewald schwieg.

Auf Befragen des Vors. äußerte Angekl. Moser: Ich war nicht Redakteur des „Unabhängigen“, sondern bekam bloß zeilenweise bezahlt. Im übrigen waren die Einnahmen G. s bedeutend größer, als er angegeben hat. Grünewald erhielt eine sehr bedeutende Subvention. Als ich bei G. engagiert wurde, sagte ich ihm, ich müsse von meiner schriftstellerischen Tätigkeit leben. G. erwiderte mir: Sie sollen immer prompt Ihr Geld erhalten und wenn nötig, gebe ich Ihnen Vorschuß. Ich hatte auch immer Vorschuß. Ich verstehe nicht, weshalb Herr Grünewald nicht sagt, von wem er die Subvention erhalten hat, er hat doch keine Veranlassung, diese seine Geldquelle zu verschweigen.

Vors.: Wenn Grünewald seine Geldquelle nicht nennen will, so kann ich ihn dazu nicht zwingen. Sie sind gelernter Kaufmann, wie kamen Sie zu schriftstellerischer Tätigkeit?

M.: Das tat ich schon als Gymnasiast.

Vors.: Was schrieben Sie für den „Unabhängigen“?

Moser: Ganz besonders Artikel, die Tagesfragen betrafen.

Vors.: Können Sie mir nicht einige Artikel namhaft machen?

M.: Z.B. über die „Sternbergschen Gründungen“.

Vors.: Das nennen Sie Tagesfragen?

M.: Jawohl.

Vors.: Was gingen Sie denn die Sternbergschen Gründungen an? Wer reinfallen will, mag es doch tun?

Moser: Es ist doch Pflicht der Presse, das Publikum gegen unreelle Gründungen zu warnen.

Vors.: Es darf bloß keine Erpressung damit verbunden sein.

Moser: Das ist richtig; ich bin auch sofort sehr energisch aufgetreten, als ich wahrnahm, es handle sich um eine Erpressung.

Vors.: Sind sonst Erpressungen vorgekommen?

Moser: Mir schien es einmal so.

Der Angeklagte Sponholz äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe das Gymnasium bis zur Quarta besucht und alsdann Privatunterricht erhalten. Ich habe darauf in einem Spezereiwarengeschäft die Handlung erlernt. Ich war auch im Redaktionsbureau des „Unabhängigen“ lediglich Buchhalter, Korrespondent und Korrektor. Ich habe nur ein einziges Mal einen Artikel mit dem Titel: „Die sozialpolitischen Vorlagen des Reichstages“ geschrieben.

Vors.: Auf Ihren Visitenkarten stand: Anton Sponholz, Redakteur des „Unabhängigen“.

Angekl.: Die Karten habe ich mir auf Veranlassung Grünewalds drucken lassen, um mich auf der Börse besser einführen zu können. Ich besuchte die Börse zwecks Erlangung von Inseraten.

Angekl. Lodomez: Ich habe 21 Jahre lang kaufmännische Geschäfte betrieben und Weinhäuser vertreten. Durch Besuche auf dem Redaktionsbureau des „Unabhängigen“ bin ich mit den Redakteuren bekannt geworden; die Beziehungen waren aber nur sehr lose. Mit Herrn v. Schleinitz war ich schon früher bekannt. Ich war früher eine Zeitlang für Dr. Stroußberg tätig. Herr v. Schleinitz, der sich mir als Vetter des königlichen Hausministers vorstellte, sagte mir: Er habe großen Einfluß bei Hofe und selbst auf die

Entschließungen des Kaisers.

Er könne bei dem Monarchen so manches durchsetzen. Ich suchte deshalb die Freundschaft des Freiherrn v. Schleinitz; dadurch wurde ich in der Hauptsache mit den Redakteuren des „Unabhängigen“ bekannt.

Angekl. Dr. Vogelsang: Er habe niemals eine Zeile für den „Unabhängigen“ geschrieben; er sei mit den Redakteuren bekannt geworden, da Grünewald ihn um Beschaffung von Inseraten gebeten habe. Er sei selbst einmal im „Unabhängigen“ angegriffen worden.

Angekl. Sawatzki: Er habe niemals nähere Beziehungen mit den Redakteuren des „Unabhängigen“ unterhalten.

Der erste Zeuge war Agent Priest. Er bekundete: Er habe eine gegen den Angeklagten Grünewald gerichtete Broschüre unter dem Titel: „Sizilianische Zustände, literarische Räuberbande in Berlin“ erscheinen lassen. Das Material habe er von dem Redakteur Wasinski erhalten. Letzterer sei eine Zeitlang in der Redaktion des „Unabhängigen“ tätig gewesen und habe infolgedessen volle Kenntnis über das Treiben der Redakteure erhalten. Er habe die Broschüre geschrieben, weil mehrere Bekannte von ihm im „Unabhängigen“ angegriffen waren. Persönlich habe er keine Wahrnehmungen gemacht. Grünewald habe aus Anlaß der Broschüre die Privatbeleidigungsklage gegen ihn angestrengt.

Laufbursche Meising: Er sei Redaktionsdiener im „Unabhängigen“ gewesen. Sobald Lodomez im Redaktionsbureau daktionsbureau erschien, sei er von Grünewald oder Sponholz zum Verlassen des Zimmers aufgefordert worden.

Redakteur Dr. Lipka: Er habe auf Aufforderung des Sponholz mehrere Artikel für den „Unabhängigen“ geschrieben und dafür von Grünewald Bezahlung erhalten. Er habe auch einen Artikel gegen Herrn Rudolf Mosse geschrieben. Zur Zeit der Wahlbewegung habe ihn Sponholz ersucht, einen Artikel gegen eine bedeutendere Persönlichkeit aus der Börsenwelt zu schreiben. Im Bureau des „Unabhängigen“ habe man sehr flott gelebt, insbesondere sehr opulent gefrühstückt.

Baumeister Piater: Er sei durch mehrere Artikel, welche der Berichterstatter Bennemann in einzelne Berliner Zeitungen und in den „Unabhängigen“ lanciert habe, arg geschädigt worden. Er habe alles mögliche unternommen, um gegen diese Artikel vorzugehen und habe auch einmal Herrn Dr. Vogelsang sein Leid geklagt; dieser habe aber geantwortet: „Zahlen Sie, hier kommen Sie bloß los, wenn Sie den Leuten Geld bezahlen.“ Er wisse nun auch, daß Oskar Bennemann seinerzeit bei dem Falle Fedor Berg Artikel geschrieben habe, die jedoch unterblieben, nachdem Frau Berg dem Bennemann 1000 Mark gezahlt hatte. Er selbst habe aber gar keine Lust gehabt, Geld zu bezahlen, er habe sich vielmehr vorgenommen, mit allen seinen Kräften gegen die „Preßpiraten“ vorzugehen. Er habe deshalb auch wiederholte Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft erstattet, diesen sei aber niemals Folge gegeben worden; deshalb habe er Material für das Wasinskische Flugblatt geliefert.

Angekl. Grünewald gab zu, mit Bennemann in Verbindung gestanden zu haben; er erkannte auch zwei Postkarten an, von denen die eine lautete: „L. Grünewald. Wo kann man denn Euch Banditen vom ?Unabhängigen? des Abends habhaft werden? Man plaudert doch mal gern ein Stündchen. Willst Du ein hübsches Reiterstückchen von Fedor Berg haben? Besten Gruß, alter Junge! Dein Bennemann.“

Kaufmann Lewinsohn: Er wurde in mehreren Artikeln des „Unabhängigen“ angegriffen. Dr. Vogelsang habe ihm geraten, die Angriffe durch Geldzahlung zu unterdrücken. Er habe dies aber nicht getan, da er erfahren hatte, daß die Artikel von dem Zuchthäusler Bennemann und Grünewald ausgehen. Er habe schließlich, da die Artikel nicht aufhörten, gegen Grünewald die Privatbeleidigungsklage angestrengt.

Graf v. Hessenstein: Er sei Aufsichtsratsmitglied der Sternbergschen Vereinsbank und sei ebenfalls im „Unabhängigen“ angegriffen worden. Eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft sei erfolglos gewesen. Er habe schließlich an Dr. Vogelsang 50 Mark gezahlt, von diesem Augenblick ab hörten die Angriffe auf.

Hypothekenmakler Westernhagen bekundete, daß infolge Zahlung eines größeren Geldbetrages die Angriffe im „Unabhängigen“ gegen ihn aufgehört haben.

Es gelangte ferner folgender Fall zur Verhandlung:

Rentier Otten in Lübeck, der im Jahre 1880 die Tochter des am 3. Juni 1879 verstorbenen Weinhändlers Georg Theodor Pflüg in Lübeck geheiratet hatte, war der Meinung, daß diese von ihrem Bruder, dem Weinhändler Georg Pflüg in Lübeck, bei der Erbteilung übervorteilt sei. Da er Ende Mai 1882 hier in Berlin erfuhr, daß der frühere Portier Lodomez hiesiger Vertreter des Geschäfts gewesen, so fragte er diesen nach dem Wert der in der Inventur vom 31. Dezember 1879 aufgeführten Weinbestände, ersuchte ihn auch um Rat und vertraute ihm gedrucktes Material über die Streitsache an, welches Lodomez angeblich den Rechtsanwälten Drews und Hentig vorlegen wollte. Als Otten am 1. oder 2. Juni von hier wieder abreisen wollte, erschien Lodomez in dem Hotel und erhob einen Anspruch auf Bezahlung. Otten lehnte dies ab, warf aber ein Zwanzigmarkstück aus dem Wagen, das Lodomez aufhob. Inzwischen hatte Lodomez aber auch schon an Pflüg eine Depesche folgenden Inhalts geschickt: „Ihr eigenes Interesse erfordert dringend persönliche Anwesenheit hier. Gefahr im Verzuge. Lodomez.“ Pflüg telegraphierte ablehnend, mußte aber aus anderer Veranlassung nach Berlin und traf hier auf dem Bahnhofe Lodomez, der inzwischen noch ein Telegramm abgesandt hatte. Lodomez teilte ihm mit, daß ein gewisser Moritz Guhrauer den Ottenschen Nachlaßanspruch kaufen und daß „sie Familien- und Geschäftspapiere, welche den Pflüg beträfen, veröffentlichen wollten.“ Er riet ihm gleichzeitig, ein gutes Stück Geld in die Hand zu nehmen, um die Sache totzumachen. Pflüg wies diesen Vorschlag ab. Nach seiner Rückkehr nach Lübeck telegraphierte er aber auf Wunsch seiner Schwester, der Frau Otten, an Lodomez: „Die Sache hinhalten.“ Lodomez telegraphierte am 1. Juni 1882 zurück: „Wenn Sie mir 30000 Mark garantieren, will, um hinauszuschieben, versuchen, durch Anbietung eines höheren Preises einen provisorischen Vertrag auf acht Tage zu erreichen. Lodomez.“ Dann folgte ein weiteres Telegramm vom 6. Juni, worin Lodomez einen zweiten Zentralstraßenprozeß androhte. Als Herr Pflüg an demselben Tage 300 Mark an Lodomez eingesandt hatte, depeschierte dieser unterm 8. Juni: „Sendung für derlei Sache kaum nennenswert. Trotz Dank. Otten leitet Revision dort oder nahe Hamburg, Abschluß für 230000 soll in einigen Tagen erfolgen. Lodomez“. Zu den Telegrammen gesellten sich noch drei Briefe, in denen Lodomez Rat erteilte, versicherte, daß er nicht umsonst arbeiten könne; käme die Affäre ans Tageslicht, so würde sich Pflügs Konkurrenz ihrer bemächtigen tigen und ihn unmöglich machen, während er, Lodomez, zu geeigneter Stunde vielleicht noch einen Keil hineinschieben könne. Dazu gehöre aber Geld. Der Hauptreflektant solle ein Hamburger sein, der Hauptakteur scheine noch nicht hier zu sein, solle aber bald zum provisorischen Abschlusse nach Berlin kommen. Der Preis solle 230000 Mark betragen.

In einem späteren Briefe heißt es: „Der Verkäufer beansprucht jetzt 500000 Mark und der provisorische Abschluß ist deshalb nicht erfolgt, es gibt vielleicht Mittel und Wege, die Sache für immer totzumachen.“ Nachdem Pflüg auch hierauf ablehnend geantwortet hatte, trat Hauptmann a.D.v. Schleinitz in Aktion. Diesem übergab Lodomez die ihm anvertrauten und von ihm zurückbehaltenen Papiere. Als Pflüg im September 1882 abermals in Berlin war, suchte v. Schleinitz eine Unterredung mit ihm nach und teilte ihm mit, daß er im Besitze eines reichhaltigen, ihn kompromittierenden Materials sei, welches im „Unabhängigen“ und im „Börsen-Kurier“ veröffentlicht werden sollte. Er legte ihm einen großen Pack Papiere vor und fragte ihn, ob er sie kaufen wolle, wobei er einen hohen Preis andeutete. Pflüg erwiderte, daß er sich zu nichts verstände, ließ jedoch später dem v. Schleinitz durch seinen hiesigen Vertreter 1200 M. zahlen, da Schleinitz außer mit seinem Ehrenwort auch schriftlich am 4. Oktober versichert hatte, er wolle mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln dagegen wirken, daß in der Berliner und der auswärtigen Presse irgend etwas Nachteiliges über Pflüg oder dessen Firma publiziert werde. Trotzdem schrieb v. Schleinitz schon vier Tage darauf an Lodomez: „In Sachen P. wird ein großes Geschäft zustande kommen, falls Sie in der Lage sind, dafür zu sorgen, daß Otten Ende der Woche nach hier kommt. Ich habe eine feste Offerte... Am Mittwoch bitte um Ihren werten Besuch, um Ihnen alles mitteilen zu können; ich glaube, wir werden reüssieren, falls eben eine Offerte auch von Otten gestellt werden kann.“ Lodomez lud Otten nach Berlin ein. Als dieser abgelehnt und jede weitere Tätigkeit in der Sache verboten hatte, schrieb v. Schleinitz am 25. Oktober wiederum einen Brief an Pflüg. Dieser hatte nämlich Zweifel darüber, ob Schleinitz wirklich die 1200 Mark an den „Unabhängigen“ und den „Börsen-Kurier“ gezahlt habe. Er hatte Recherchen anstellen lassen und durch seinen Beauftragten von Grünewald erfahren, daß dieser nichts erhalten habe. Grünewald benutzte aber gleichzeitig die Gelegenheit, um in zwei von Sponholz und Moser geschriebenen Briefen Pflüg unter Androhung der Veröffentlichung über die angebliche Verleumdung, daß der „Unabhängige“ mit 600 M. bestochen sei, zur Rede zu stellen. Hierauf bezog sich der neue Brief Schleinitzs. In diesem behauptete v. Schleinitz, daß infolge dieser Indiskretion kretion die Sache für Pflüg gefährlich werde, denn Lodomez und Otten täten das ihrige, das Feuer zu schüren. Otten habe nunmehr dem „Unabhängigen“ die Mittel zur Verfügung gestellt, um gegen Pflüg eine Broschüre voller Haß, Rache und Wut in 6000 Exemplaren drucken zu lassen. In der Presse habe er ihn geschützt, vor Broschüren könne er ihn nicht schützen. Er deutete auch den Inhalt der Broschüre an und teilte mit, daß diese an alle Offizierkasinos und die Kunden des Pflüg verteilt werden solle. Das Manuskript sei als Verlagseigentum mit allen Rechten zu verkaufen. Bei Erledigung des Geschäfts würde das gänzliche Schweigen des Gegners verbürgt, sobald aber der erste Bogen gedruckt sei, würde die Broschüre nicht mehr verkauft. Falls er, Schleinitz, keine Depesche erhalte, betrachte er die Unterhandlungen für abgebrochen und die Broschüre werde am 16. November in Lübeck erscheinen. Pflüg ließ sich jedoch auf nichts ein. Infolgedessen erschien am 9. November in der „Lübecker Zeitung“ eine Notiz, daß im Grünewaldschen Verlage eine Broschüre bezüglich des Testaments des verstorbenen Pflüg herauskommen werde. Gegen Weihnachten begab sich im Auftrage Pflügs Generalagent Manfred Lewin zu Grünewald, um diesen zu sondieren. Grünewald erzählte hierbei, daß die Broschüre schon im Druck sei, er las einige den Pflüg kompromittierende Stellen vor und meinte, Pflüg täte am besten, die Sache totzumachen und die Broschüre für 10000 Taler zu kaufen. Es wurde durch Vermittlung Lewins noch einmal hin und her verhandelt. Als aber alles erfolglos war, erschien in der Tat die Broschüre: „Das Testament des verstorbenen Herrn G.T. Pflüg in Lübeck und dessen Ausführung, durch den Testamentsvollstrecker Böhl v. Faber.“ In dieser Broschüre wurden dem Schwager Pflügs, Herrn Böhl v. Faber, zahlreiche strafbare Handlungen nachgesagt und von Pflüg allerlei schmutzige Geschichten erzählt. Die Broschüre war von Sponholz, der den Auftrag zum Druck erteilt hatte, mit Hilfe von Grünewald und Moser ausgearbeitet worden.

Der Angeklagte Lodomez bestritt, in dieser Angelegenheit sich irgendeiner Erpressung gegen Pflüg schuldig gemacht zu haben. Er habe von Otten den Auftrag gehabt, sich mit Pflüg zur Regulierung der Angelegenheit in Verbindung zu setzen und dafür 30-40000 Mark versprochen erhalten. Er habe Pflüg geraten, die Sache mit Geld aus der Welt zu schaffen. Die Korrespondenzen mit Pflüg gab er zu; er habe aber nicht 30000 Mark, sondern 3000 Mark verlangt. Er habe die Ottenschen Papiere nur zur Information an v. Schleinitz übergeben, nachdem dieser sein Ehrenwort verpfändet hatte, sie niemandem zu zeigen. Später sei Grünewald zu ihm gekommen und habe ihm die Papiere unter dem Vorwande abgelockt, daß die daraufhin abzufassende Broschüre, zu welcher er das einzelne Material nachher noch ergänzt, dazu dienen solle, um die Einverleibung Lübecks vorzubereiten und der Regierung zu zeigen, welche Zustände in Lübeck herrschen.

Vors.: Reden Sie doch nicht solchen Unsinn! Was hat denn diese Skandalbroschüre mit der Einverleibung Lübecks zu tun?

Angekl.: Mir ist ein anderer Zweck nicht bekannt.

Grünewald erklärte auf Befragen des Vorsitzenden, daß die Broschüre von Sponholz und Moser verfaßt worden sei. Er habe aus den Ottenschen Schriften ersehen, daß in der Erbschaftsgeschichte ein Betrug vorliege, und da sich Pflüg um den Hoflieferantentitel beworben, habe er dies durch die Broschüre vereiteln wollen.

Vors.: Reden Sie doch nicht so ins Blaue hinein. In den betreffenden Papieren befinden sich Gutachten namhafter Rechtsanwälte, welche über die Rechtsfrage sehr im Zweifel waren, und da kommen Sie, ein Mensch ohne Bildung, ein früherer Kellner, und wollen behaupten, es liege ein Betrug vor?

Grünewald: Ich hatte diesen Eindruck und wollte mit der Broschüre nur ein buchhändlerisches Geschäft machen.

Der Vorsitzende verlas alsdann einige von Grünewald wald und Schleinitz an Pflüg gerichtete Briefe. In einem schrieb Grünewald: Er habe gehört, daß ein Redaktionsmitglied des „Börsen-Kuriers“ gegen Pflüg ein „Revolverstück“ verübt und 1200 M. angeblich auch für den „Unabhängigen“ erhalten habe. Er müsse seine Redakteure gegen solche Insinuation energisch schützen und bitte deshalb um Auskunft. In einem anderen Brief erklärte Grünewald: Es sei ihm nunmehr bekannt, daß Schleinitz der Mann sei, der die 1200 M. in Empfang genommen, doch habe er (Grünewald) kein Geld erhalten. Es wurde alsdann eine Anzahl Briefe des von Schleinitz an Georg Pflüg in Lübeck verlesen. In einem Briefe warnte v. Schleinitz Pflüg vor Lodomez, der ein sehr gefährlicher Mensch sei; es sei mit ihm nur mit äußerster Vorsicht zu verkehren. Ganz besonders dürfe ihm nichts Schriftliches überantwortet werden, da ihm alles zuzutrauen sei.

In einem anderen Briefe verwahrte sich v. Schleinitz gegen eine Verwechslung des Urhebers der Broschüre mit ihm; er habe nur das Erscheinen der Broschüre angekündigt. Solange Pflüg ihm vertrauen werde, werde er ihm stets nützlich sein. Auch deutete v. Schleinitz an, daß er ihm den Hoflieferantentitel durch Geheimrat v. Thielemann beschaffen werde. Nachdem er Pflüg den Tag des Erscheinens der Broschüre mitgeteilt, riet er den Ankauf des Manuskripts zu einem hohen Betrage an.

Die Angeklagten Sponholz und Moser behaupteten: Grünewald habe durch die Broschüre nur Revanche dafür nehmen wollen, daß Pflüg ihn verdächtigt habe, durch 600 Mark bestochen zu sein.

Lodomez: Er habe in der ganzen Sache wie ein Diplomat gehandelt; er habe Pflüg wie die Sünde gehaßt, da dieser ihn schmählich behandelt habe. Er habe deshalb mit der Broschüre Rache nehmen und der Reichsregierung dienen wollen.

Rentier Otten, Lübeck, bekundete als Zeuge: Er habe den Namen Lodomez als Agenten der Pflügschen Firma erst aus den Zeitungsnotizen über dessen antisemitisches Auftreten erfahren. Er habe Lodomez aufgesucht, ihm seinen Rechtsstreit mit seinem Schwager Pflüg vorgetragen, die nötigen Papiere überlassen und ihn gebeten, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Gleichzeitig habe er ihm gesagt, daß es ihm am liebsten wäre, wenn er die Erbansprüche seiner Frau, die sich auf einige 100000 M. beliefen, in Bausch und Bogen verkaufen könnte. Er habe später Lodomez einen Revers unterschrieben, wonach er diesem 50000 M. zahlen sollte, wenn er selbst in der Streitsache etwas ohne Lodomez unternehmen würde. Später habe Lodomez 5 % von der zur Auszahlung kommenden Erbschaft als Provision beansprucht. Einen Auftrag, mit den Schriftsachen an die Öffentlichkeit lichkeit zu treten, habe er Lodomez nicht erteilt.

Kommerzienrat Hübener: Lodomez habe sich ihm mit der Offerte genähert, Herrn Otten die Erbschaftsansprüche abzukaufen. Er habe diese Offerte nicht abgelehnt, später aber die Verbandlungen abgebrochen, da Lodomez von ihm verlangte, er solle, um einen Druck auszuüben, einen anonymen Brief an Pflüg richten, daß man schlecht über ihn spreche.

Der aus der Haft vorgeführte Rentier Reuter bestätigte als Zeuge, daß Pflüg ihm eines Tages mitgeteilt habe, er hätte 200 M. für ein Börsenblatt und den „Unabhängigen“ bezahlen müssen. Er habe dem ihm bekannten Grünewald darüber Vorstellungen gemacht, dieser habe den Empfang von Geld abgeleugnet. Später habe sich herausgestellt, daß v. Schleinitz der Geldempfänger gewesen sei.

Agent Manfred Lewin: Er habe gesprächsweise von Moser und Grünewald gehört, daß sie die Broschüre für 30000 M. an Pflüg verkaufen möchten.

Buchdruckereibesitzer Erdmann: Er habe die Broschüre gegen Pflüg in 1000 Exemplaren für einen Preis von 110 Mark gedruckt. Er sei nur mit Sponholz in Verbindung getreten, der sich als Redakteur des „Unabhängigen“ ausgegeben und einen Teil des Druckpreises bezahlt habe. Den Rest habe Pflüg in Lübeck auf Veranlassung des Kriminalkommissars Höft entrichtet.

Am zweiten Verhandlungstage wurde ein Aufruf verlesen, den die Redaktion des „Unabhängigen“ an die Redaktionen aller Berliner Zeitungen gerichtet hatte. In diesem Aufruf wurden die Redaktionen ersucht, „im öffentlichen Interesse“ das Publikum vor den Gründungen von August Sternberg, insbesondere der Vereinsbank, zu warnen. Alsdann wurden mehrere Artikel aus dem „Unabhängigen“ unter der Überschrift: „Nette Geschäfte“ verlesen. In diesen wurden die verschiedenen Gründungen Sternbergs in sehr drastischer Weise besprochen.

Angekl. Grünewald: Die Artikel seien nicht geschrieben worden, um von Sternberg Geld zu erpressen. Er habe allerdings von Sternberg 10000 M. bekommen. Dies sei jedoch geschehen, weil Sternberg gegen ihn ein Pamphlet habe drucken lassen und er die deshalb gegen Sternberg angestrengte Beleidigungsklage zurücknehmen sollte. Von den 10000 M. habe er je 500 M. an Moser und Sponholz für rückständiges Gehalt gegeben. Sternberg habe ihm zunächst 3000 Mark und alsdann monatlich 500 M. gegeben, im ganzen 10000 M.

Moser und Sponhalz gaben zu, einige Artikel gegen Sternberg geschrieben zu haben.

Direktor August Sternberg bekundete darauf als Zeuge: Die Vereinsbank wurde fast unaufhörlich im „Unabhängigen“ angegriffen; die Angriffe haben uns allerdings geschadet. Ob wir den „Unabhängigen“ unter Kreuzband zugeschickt erhielten, weiß ich nicht mehr, jedenfalls wurden wir aufgefordert, auf das Blatt zu abonnieren; wir lehnten das aber ab. Da wir sahen, daß es bloß auf eine Erpressung abgesehen war, wandten wir uns an die Staatsanwaltschaft. Wir erhielten jedoch einen ablehnenden Bescheid. Die alsdann von uns gegen Grünewald angestrengten Beleidigungsklagen machten nur geringe Fortschritte, deshalb war uns ein Ausgleich erwünscht. Eines Tages kam Moser zu uns ins Bureau; soweit ich mich erinnere, handelte es sich um eine Hypothekenangelegenheit. Hierbei kam das Gespräch auch auf den „Unabhängigen“. Ob Moser oder ich das Gespräch begonnen, weiß ich nicht mehr. Moser sagte mir: es wäre doch am besten, wenn ich auf einen Vergleich einginge. Ich zahlte darauf im ganzen etwa 5000 M. Ich bat aber Moser, da die Vereinsbank fast ein Jahr lang in jeder Nummer des „Unabhängigen“ angegriffen wurde, die Angriffe nicht sofort einzustellen, sondern sie noch in einigen Nummern in maßvoller Weise fortzusetzen. Ich ersuchte Moser, diese Artikel mir vorher zu zeigen. Das geschah auch. Wir fürchteten, daß, wenn die Artikel, die stets mit den Worten schlossen: „Fortsetzung folgt“, plötzlich aufhörten, das Publikum vermuten könnte, daß wir uns abgefunden haben. Wir mußten uns zu dieser Demütigung entschließen, da wir doch nicht imstande waren, jedem einzelnen Leser des „Unabhängigen“ die gegen uns gerichteten Angriffe zu widerlegen. Das Pamphlet war nicht auf unsere Veranlassung geschrieben; es wurde uns von dem Redakteur Wasinski vorgelegt. Wir haben lediglich zu den Druckkosten des Pamphlets beigetragen. Die 10000 Mark wurden als Schweigegelder gegeben; die Privatklagen Grünewalds hatten wir nicht zu scheuen.

Auf Antrag des Staatsanwalts wurde folgende Briefkastennotiz verlesen: „X.X. Sie fragen an, warum wir uns mit Sternberg sowenig beschäftigen? Wir erklären Ihnen, daß wir fünfzehn Privatklagen von August Sternberg in der Schwebe haben. Wir könnten daher nicht objektiv genug schreiben und ziehen es vor, eine abwartende Haltung einzunehmen. Wenn Sie uns aber die Kosten der Privatklagen bezahlen wollen, so stehen wir ganz zur Verfügung.“

Angekl. Grünewald gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, daß er zusammen mit Sponholz den „Briefkasten“ redigiert habe.

Redakteur Wasinski bekundete als Zeuge, daß er die zwei ersten Artikel gegen Sternberg im „Unabhängigen“ geschrieben habe.

Es folgte der Anklagepunkt bezüglich Mochmann, Fischer und Seelig.

Die Angeklagten bestritten, in diesem Falle eine strafbare Handlung begangen zu haben.

Der alsdann als Zeuge vernommene Kaufmann Mochmann bekundete: Ich bin mit Grünewald in Dresden bekannt geworden. Grünewald ersuchte mich, auf den „Unabhängigen“ zu abonnieren. Ich tat dies auch. Eines Tages kam ein Bote mit der Meldung: Herr Grünewald wünsche mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Ich begab mich sogleich zu Grünewald. Dieser sagte mir: Herr Mochmann, es ist eine Anzahl arger Beschuldigungen gegen Sie eingelaufen. Ich bedauere, daß dies Sie gerade betrifft, es läßt sich aber daran nichts ändern. Ich sagte zu Grünewald, das ist ja alles Schwindel, bester Herr Grünewald. Das ist vorläufig gleichgültig, erwiderte Grünewald. Ich werde Ihnen sofort authentische Widerlegungen bringen, versetzte ich. Das kann mir alles nichts nützen, erwiderte Grünewald. Die Sachen kosten mich Geld, viel Geld und ohne weiteres kann ich sie nicht fallen lassen. Seelig und Fischer sind ja ebenfalls arg beschuldigt; vielleicht veranlassen Sie Seelig, mir das Material abzukaufen. Bis fünf Uhr nachmittags kostet es sechstausend Mark, am folgenden Tage 10000 Mark, dann 15000 Mark, dann 20000 Mark. Eventuell werde ich die bereits geschriebenen Artikel nur unterdrücken, wenn mir die ganze Zeitung abgekauft wird. Ich ging zu Seelig. Dieser sagte jedoch: Ich gebe nicht einen Heller, und wenn die Leute schreiben, ich habe silberne Löffel gestohlen. Ich dachte auch so, sagte aber zu Grünewald: Seelig wolle das Blatt kaufen; ich wollte damit die Sache hinhalten. Da wir aber nicht bezahlten, erschienen zahlreiche Schmähartikel gegen Seelig, Fischer und mich.

Kaufmann Jaroczynski: Dr. Vogelsang sagte mir eines Tages, ich sei im „Unabhängigen“ angegriffen, ich solle die Exemplare aufkaufen. Ich kaufte eine sehr große Anzahl, am nächsten Dienstag erschien aber eine neue Auflage. Am folgenden Tage kam mein Sohn, der damals Sekundaner des Askanischen Gymnasiums war, aus der Schule und sagte: „Papa, ich muß von diesem Gymnasium weg; meine Mitschüler verhöhnen mich, da du im ?Unabhängigen? gestanden hast.“ Ich suchte den Knaben zu beruhigen; dieser wiederholte aber am folgenden Tage seine Klagen, denen ich schließlich Gehör gab. Ich meldete meinen Sohn an einem anderen Gymnasium an. Da die Angriffe nicht aufhörten, wurde mir geraten, mich an Moser zu wenden. Dieser sagte, ich solle zu Grünewald gehen, aber Bitten sei bei Grünewald vollständig nutzlos. Grünewald kennt weder Mitleid noch Erbarmen, sondern nur Geld. Ich erwiderte: Ich habe sehr viel Geld an der Börse verloren, ich bin augenblicklich außerstande, etwas zu geben. Moser versetzte: Veranlassen Sie doch Seelig, der in dem Artikel auch angegriffen ist, etwas zu bezahlen. Ich begab mich zu Seelig. Es gelang mir schließlich, Seelig zu bewegen, mit Grünewald eine Zusammenkunft anzubahnen. Die Zusammenkunft fand in der Wohnung des Moser statt.

Bankier Seelig bestätigte diese Bekundungen und äußerte: Als ich zu Moser kam, war Grünewald bereits anwesend. Grünewald begann die Unterhaltung, indem er erzählte: Er habe Beziehungen zum königlichen Hofe und zur Staatsanwaltschaft. Letzterer müsse er alle Artikel vor dem Erscheinen vorlegen. Ich habe von alledem selbstverständlich kein Wort geglaubt. Ich habe mich aber zur Zahlung von 1000 Mark verstanden, als der „Unabhängige“ durch erlogene verleumderische Artikel Angriffe gegen mein Privatleben brachte und diese Artikel meiner Frau zuschickte. Ich wunderte mich, daß die Redaktion des „Unabhängigen“ alle innersten Geschäftsgeheimnisse von mir kannte. Ich hörte, daß ein Herr Hennig, der bei mir einmal im Geschäft gewesen sein soll, Redaktionsmitglied sei. Dieser Herr Hennig war der Angeklagte Sponholz. Dieser wurde mir eines Tages von dem Kommissionsrat Limann mit dem Bemerken zugeführt: „Hier ist ein junger, unverschuldet ins Unglück geratener Kaufmann, ein Familienvater, den ich einige Zeit mit Abschreiben beschäftigt habe. Vielleicht haben Sie für diesen ordentlichen Menschen eine passende Beschäftigung.“ Ich engagierte Sponholz. Einige Zeit darauf kam jedoch Kommissionsrat Limann wieder zu mir mit dem Bemerken: „Ich habe Ihnen einen ganz unwürdigen Menschen empfohlen. Sponholz, dem ich mein volles Vertrauen geschenkt, hat mich schmählich hintergangen, indem er sich eine Abschrift von meinen Kunden machte und diese zu deren Schaden mißbrauchte.“ Ich zahlte dem Sponholz sofort sein volles Quartalsgehalt und entließ ihn.

Sponholz bezeichnete die Angaben des Kommissionsrats Limann als unwahr. Auf Befragen des Vorsitzenden, weshalb er sich Hennig genannt habe, erwiderte Sponholz: Grünewald habe ihm lediglich dem Wasinski gegenüber als Hennig vorgestellt, da dieser mit aller Gewalt die Namen des Bureaupersonals vom „Unabhängigen“ wissen wollte.

Kriminalkommissar Höft: Nachdem ich im Auftrage des Chefs der Kriminalpolizei, Regierungsrats Grafen Pückler, Grünewald, Moser und Sponholz verhaftet hatte, hielt ich im Redaktionsbureau des „Unabhängigen“ Haussuchung und fand einen von Damenhand geschriebenen Brief, welcher lautete: „Ich bitte Sie dringend, lassen Sie genug sein des grausamen Spiels, und machen Sie mich, meinen Mann und meine Kinder nicht noch unglücklicher, als Sie es durch Ihre Schreibereien schon getan haben.“ Das Schreiben trug keine Unterschrift. In dem sogenannten ten geheimen Fach fand ich ein von dritter Hand geschriebenes, von Grünewald unterschriebenes Schriftstück, in welchem G. an Eidesstatt versicherte, daß er für die Unterdrückung der gegen einen hiesigen Bankier jüdischen Glaubens von dem Redakteur der Ostend-Zeitung, Ruppel, ins Werk gesetzten Artikel durch Zahlung von noch weiteren tausend Mark an Ruppel Sorge tragen werde. Als die Verhaftung der Grünewald, Moser, Sponholz durch die Zeitungen bekannt wurde, machte Pflüg in Lübeck Anzeige, in welcher Folge ich den Auftrag erhielt, auch Lodomez, dessen Freundschaft mit dem Hauptmann a.D.v. Schleinitz mir bekannt war und von dem ich wußte, daß er schon seit Jahren kein sicheres Einkommen hat, zu verhaften.

Rentier Seemann (Hannover) erzählte ebenfalls den gegen ihn verübten Erpressungsfall. Moser habe absolut keine Forderung an ihn gehabt.

Moser behauptete, der Zeuge habe große Glücksspiele in seiner Wohnung entriert und unsaubere Wechselgeschäfte mit jungen Offizieren in Hannover gemacht.

Der Zeuge bezeichnete diese Behauptung als Erfindung.

Angekl.: Seemann ist Anfang der 1870er Jahre der Spielerangelegenheit wegen verhaftet gewesen und nur gegen hohe Kaution entlassen worden.

Seemann: Das ist eine grobe Lüge.

Vors.: Verlangen Sie, daß ich die Sache vertage, Moser, und die Akten mir aus Hannover kommen lassen soll?

Seemann: Wenn Sie das täten, Herr Präsident, dann würden Sie sehen, daß Moser gänzlich die Unwahrheit sagt.

Moser: Die Verhaftung vermute ich bloß, aber die Sache mit der Kaution weiß ich positiv. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Es ist frech von Ihnen, daß Sie sich erlauben, eine bloße Vermutung hier als positive Behauptung aufzustellen.

Bei dem nunmehr folgenden Erpressungsfall Eccardt bemerkte Grünewald: Er kenne den Eccardt gar nicht und habe in keiner Weise einen Erpressungsversuch gegen diesen unternommen.

Sawatzki erklärte sich ebenfalls für nichtschuldig; er sei selbst um 500 Mark von dem Freiherrn v. Schleinitz geprellt worden. Er wollte dem Eccardt nur aus persönlicher Freundschaft raten, sich mit Schleinitz behufs Unterdrückung der Angriffe im „Unabhängigen“ in Verbindung zu setzen.

Kaufmann Eccardt bestätigte das.

Alsdann gelangte der Erpressungsfall gegen den Grafen v. Grabowski zur Verhandlung. Die Angeklagten Grünewald und Moser bestritten, sich hierbei strafbar gemacht zu haben. Als sie einsahen, daß der angegriffene Graf Grabowski nicht mit dem Grafen v. Götzendorf-Grabowski, sondern mit einem anderen Grafen v. Grabowski in Wien identisch sei, haben sie eine vom ersteren gewünschte Berichtigung aufgenommen.

Graf Grabowski, so erzählte Moser, habe ihm ohne weiteres dafür 500 Mark gegeben; er habe dies Geld, das er an Grünewald abgeführt, nicht von dem Grafen gefordert.

Grünewald: Ich habe die 500 M. von Moser nicht erhalten.

Moser blieb bei seiner Behauptung.

Dr. Vogelsang bestritt, sich in dieser Angelegenheit einer Erpressung schuldig gemacht zu haben.

Graf v. Götzendorf-Grabowski: Er habe lange Zeit die Schmähartikel unbeachtet gelassen, ganz besonders, weil er nicht ganz bestimmt darin bezeichnet war. Als letzteres jedoch geschah, sei er in die Redaktion des „Unabhängigen“ gegangen und habe dort Moser gebeten, von weiteren Artikeln Abstand zu nehmen. Er habe 300 Mark geboten, Moser habe ihm jedoch bemerkt, Grünewald verlange 1000 Mark. Als er (Zeuge) antwortete, daß er höchstens 500 Mark geben werde, sei M. zu G. gegangen, um diesen zu befragen. M. kehrte bald darauf zurück mit dem Bemerken, daß G. sich mit den 500 Mark einverstanden erkläre.

Kaufmann Fränkel, der ehemalige Kompagnon des Freiherrn v. Schleinitz, bemerkte: Schleinitz habe ihm nachträglich durch seine Tochter einen eingeschriebenen Brief gesandt, in welchem er ihn aufforderte, ihm 500 Mark zu geben, widrigenfalls er ihn denunzieren würde. Er glaube, dies dem Gerichtshofe mitteilen zu müssen.

Vors.: Schleinitz gehört zum Militärverbande; wenn Sie gegen Schl. etwas haben, so müssen Sie es der Militärbehörde anzeigen.

Geheimer Kommerzienrat Conrad: Er habe zur Unterdrückung von Angriffen gegen die Handelsgesellschaft 1200 Mark an Grünewald gezahlt.

Kaufmann Jaroczynski bekundete noch: Er habe immer mit Angst dem Freitag, an welchem Tage der „Unabhängige“ erschien, entgegengesehen; denn obwohl er an Moser Zahlung geleistet hatte, habe dieser immer gesagt: „Heute stehen Sie noch nicht drin, Sie kommen erst nächsten Freitag dran.“

Am dritten Verhandlungstage erschien als Zeuge Generalagent Manfred Lewin. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Tages kam Hauptmann a.D. Frhr. v. Schleinitz zu mir mit der Mitteilung, ich werde nächstens im „Unabhängigen“ besprochen werden, da ich zu der bei Dressel verkehrenden Wucher- und Spielergesellschaft gehöre. Als ich erwiderte, daß das eine grobe Lüge sei, bemerkte Schleinitz, das ist ja gleichgültig; es handelt sich ja nur darum, den Leuten des „Unabhängigen“ etwas zuzuwenden und blamiert sind Sie dann doch. Ich entgegnete dem Schleinitz: Ich werde mich mit der Redaktion direkt in Verbindung setzen. Schleinitz erwiderte: Ich kann Ihnen nur raten, daß Sie sich vergleichen, sonst sind Sie blamiert. Es hat sich bereits eine sehr große Anzahl hochgestellter Leute losgekauft, zu diesen gehört auch Herr v. Bleichröder. Ich bemerkte dem Schleinitz: Ich werde der Redaktion Inserate in der Höhe von 100 Mark geben und diese 100 Mark im voraus bezahlen. Diese Proposition machte ich auch schriftlich der Redaktion, daraufhin erschien Schleinitz wieder bei mir und sagte mir: Grünewald könne meinen Vorschlag nicht akzeptieren, da von Personen, die besprochen werden sollen, Inserate nicht aufgenommen würden. Ich muß hierbei bemerken, daß ich nicht willens war, im „Unabhängigen“ inserieren zu lassen, denn dadurch wäre ich bloß blamiert worden. Was würde also die Unterdrückung der Artikel kosten, fragte ich den Schleinitz. Nun, es kommt darauf an, antwortete dieser. Sie, der Sie ein sehr luxuriöses Leben führen, Champagner trinken usw., dürften unter 1000 Mark nicht davonkommen. 1000 Mark, versetzte ich, das ist sehr viel; 500 Mark würde ich geben. Darauf wird wohl Grünewald nicht eingehen; ich will aber einmal sehen, was sich machen läßt, antwortete Schleinitz. Am folgenden Tage kam Schleinitz wieder zu mir und sagte: Ich habe Sie doch zu niedrig geschätzt; Grünewald verlangt 5000 Mark. Sie irren sich wohl, versetzte ich, Sie meinen wohl 500 Mark. Mein bester Herr Lewin, wenn Sie sich zur Zahlung der 5000 Mark nicht entschließen, dann stehen Sie in der nächsten Nummer des „Unabhängigen“, bemerkte v. Schleinitz. Ich begab mich nunmehr zu Grünewald. Dieser hatte zunächst keine Zeit; er ließ mich sehr lange warten, endlich sagte er zu mir, nachdem ich ihm mein Anliegen vorgetragen: Schleinitz habe von ihm keinen Auftrag. Im übrigen lasse sich die Redaktion des „Unabhängigen“ nicht bestechen. (Große allgemeine Heiterkeit, in die selbst die Richter und der Staatsanwalt einstimmten.) Die Artikel werden nicht geschrieben, um Geld zu erhalten, sondern um die Moral in Berlin zu heben. (Große anhaltende Heiterkeit, in die der Gerichtshof, der Staatsanwalt und die Verteidiger einstimmten.)

Vors.: Die Moral hörte auf in dem Moment, wo Geld gezahlt wurde?

Zeuge: Sehr richtig, Herr Präsident; als ich dem G. sagte, daß doch alles, was er gegen mich schreiben wolle, pure Erfindung sei, erwiderte er wiederum: Das wird sich finden, wir wissen ganz genau, daß Sie auch zu der Gesellschaft gehören. Nun sagte ich zu G.: Wenn ich mir nicht anders helfen kann, so werde ich Ihnen die Knochen entzweischlagen. G. erwiderte mir: Er habe mit der Sache eigentlich nichts zu tun, ich solle zu Moser gehen, dieser habe das Material geliefert und auch den bereits im Fahnenabzug fertiggestellten Artikel geschrieben. Ich ging nun zu Moser und dieser sagte mir: Wenn ich 150 Mark zahle, dann sei die Sache tot. Ich zahlte 100 Mark, angeblich behufs Insertion. Bald darauf hörte ich, daß die ganze Angelegenheit zur behördlichen Anzeige gekommen ist. Ich forderte deshalb von Moser die 100 Mark zurück und erhielt sie auch.

Der folgende Erpressungsfall war gegen einen Freiherrn v. Prittwitz gerichtet. Letzterer bekundete als Zeuge. Ich wurde eines Tages von dem mir bekannten Hauptmann a.D. Freiherrn v. Schleinitz darauf aufmerksam gemacht, daß ich nächstens im „Unabhängigen“ besprochen werden solle. Da mein Gewissen rein war, sagte ich dem Schleinitz: Das ist mir sehr gleichgültig; Schlechtes können die Leute nicht über mich schreiben. Schleinitz erwiderte: Auf Wahrheit komme es den Redakteuren des „Unabhängigen“ wenig an. Wenn ich nicht blamiert werden wolle, so solle ich mich loskaufen. Ich lehnte ein solches Ansinnen entschieden ab, und nun erschien eine Reihe von Schmähartikeln mit dem steten Vermerk „Fortsetzung folgt“ gegen mich. Ich wurde des unerlaubten Glücksspiels und aller möglichen Untaten beschuldigt. Die betreffenden Zeitungsexemplare wurden mir, blau angestrichen, per Kreuzband, aber auch in gleicher Weise allen meinen Verwandten, Bekannten usw. zugeschickt. Ich hatte zur Zeit bei dem Amtsgericht zu Breslau einen Zivilprozeß. Anläßlich dessen schickte man die betreffenden Zeitungsexemplare an die Rechtsanwälte meiner Gegner. Da die Angriffe nicht aufhörten, so begab ich mich in die Redaktion des „Unabhängigen“; dort traf ich bloß Moser an. Dieser sagte mir, er habe mit der Sache nichts zu tun, das sei Sache Grünewalds, aber das könne er mir sagen, wenn ich die Artikel unterdrücken wolle, dann gebe es nur ein Mittel, das sei: Zahlen. Ich fragte, wieviel ich denn zahlen solle? Mit 1000 Mark würde sich wohl Grünewald begnügen, antwortete Moser. Aber sagen Sie einmal, wie komme ich denn dazu, 1000 Mark zu zahlen? Die gegen mich erhobenen Beschuldigungen sind ja doch die pure Erfindung. Ja, das ist vollständig gleichgültig, versetzte Moser; da hilft Ihnen auch kein Klagen; Grünewald steht mit der Polizei, Staatsanwaltschaft, ja selbst mit den höchsten Regierungskreisen in Verbindung. Dann bleibt nichts weiter übrig, als solch einem Kerl die Knochen entzweizuschlagen, erwiderte ich. Sie werden sich doch nicht an einer lebenden Leiche vergreifen, sagte Moser, und was haben Sie davon? Sie werden wegen schwerer Körperverletzung bestraft, die Artikel erscheinen weiter und die Sache kommt immer mehr in die Öffentlichkeit. Nach noch längeren Verhandlungen verstand ich mich schließlich zur Ausstellung eines Wechsels von 1400 Mark, den ich jedoch nicht sogleich einlöste. Einige Zeit darauf traf mich Moser in einer Konditorei. Er kam zu mir heran und sagte mir, er habe mit G. den größten Ärger; wenn ich den Wechsel nicht bald einlöse, dann erscheinen die Artikel weiter. Ich versprach, sehr bald zu zahlen. Einige Tage darauf wurde Grünewald und Genossen verhaftet, und ich erhielt meinen Wechsel zurück. Bemerken will ich noch, daß ich gleich nach dem Erscheinen des ersten Artikels zu dem Kriminalkommissar Höft ging. Dieser sagte mir jedoch: Er sei in der Sache bereits tätig gewesen; vorläufig lasse sich aber von Amts wegen noch gar nichts tun.

Hoftraiteur Olbrich: Mir wurde eines Tages von Sawatzki Mitteilung gemacht, daß nach einer Notiz im „Unabhängigen“ mein und das Dresselsche Lokal nächstens besprochen werden sollen. Sawatzki riet mir, mich behufs Unterdrückung des Artikels mit Schleinitz in Verbindung zu setzen. Ich tat dies. Sch. verlangte für die Unterdrückung 1000 Mark. Nach längerer Verhandlung zahlte ich diese und erhielt auch eine von Sponholz geschriebene Quittung über die 1000 Mark. Auch erfolgte im „Unabhängigen“ ein Widerruf. Ich bin überzeugt, daß Sawatzki nur aus freundschaftlichem Interesse mir den erwähnten Rat gegeben hat.

Es wurde alsdann die kommissarische Aussage des erkrankten Weinhändlers Pflüg in Lübeck verlesen. Dieser hatte bekundet, Lodomez sei im Jahre 1880 vier Wochen lang sein Berliner Agent gewesen; er habe jedoch, da Lodomez seine Firma durch seine antisemitische Agitation kompromittierte, ihn wieder entlassen müssen.

Pflüg hatte außerdem bekundet: Lodomez und Hauptmann a.D.v. Schleinitz hätten schamlose Erpressungsversuche gegen ihn unternommen. Da er sich auf nichts eingelassen habe, so sei eine Broschüre erschienen, in der sein Schwager, Böhl v. Faber, zahlreicher strafbarer Handlungen, er selbst der Urkundenfälschung, des Betruges usw. beschuldigt wurde, um seine Schwestern bei der Erbteilung zu übervorteilen. Außerdem wurde sein Privatleben in breitester Weise besprochen, er der Völlerei sowie sonstiger Ausschweifungen usw. bezichtigt.

Im weiteren hatte Pflüg bekundet: Freiherr v. Schleinitz hätte ihm geschrieben: Er sei befreundet mit dem Baron Thielemann, dem Vorsitzenden des Union-Klubs, der großen Einfluß besitze und namentlich auch Hoflieferantentitel verschaffen könne. Er habe dann, angeblich „für Herrn v. Thielemann“, 3000 Mark an Schleinitz einsenden müssen, habe aber später erfahren, daß es sich hier um einen schnöden Mißbrauch des Namens des Barons v. Thielemann handelte.

Leutnant a.D. v. Gerhardt, der zeitweise beim „Unabhängigen“ Korrektor gewesen, bekundete: Wenn Grünewald und Moser eine Konferenz hatten, dann wurde Sponholz aufgefordert, das Zimmer zu verlassen.

Hauptmann a.D. v. Brauchitsch: Lodomez habe eine große Entrüstung bekundet, als er hörte, daß Schleinitz von Pflüg 1200 Mark verlangt habe.

Am vierten Verhandlungstage begannen die Plädoyers.

Staatsanwalt Lehmann: Als vor etwa einem halben Jahre die Verhaftung der Angeklagten erfolgte, da gab sich mit Recht ein allgemeines Aufsehen kund. Nicht wegen der verhafteten Personen war das Aufsehen, sondern wegen der Verbrechen, deren sie beschuldigt wurden. Bei dem erstaunlich großen Einfluß, den die Presse auf alle Lebensverhältnisse, bei dem ungeheuren Einfluß, den die Presse auf das Wohl und Wehe des einzelnen und der Gesamtheit haben kann, ist es zu erklären, daß so viele Leute sich veranlaßt fühlten, den Angeklagten Geld zu geben, um im „Unabhängigen“ nicht angegriffen zu werden. So nützlich und unentbehrlich die Presse für das öffentliche Leben ist, so verderblich kann sie wirken, wenn sie anstatt der Sachen die Person angreift. Niemand hat das Recht, das Vorleben eines Menschen, wenn dieser nicht eine öffentliche Stellung bekleidet, wenn das Gesetz es nicht geradezu erfordert, an die Öffentlichkeit zu bringen. Es darf niemand in dieser Beziehung von dem Wohlwollen eines anderen abhängig sein. Das Publikum erblickte deshalb in der Verhaftung der Grünewald, Moser und Sponholz eine Genugtuung. Diese Genugtuung war allerdings keine vollständige, da es nicht gelang, des Hauptakteurs, des Hauptmanns a.D. Freiherrn v. Schleinitz, habhaft zu werden. Ich bezweifle allerdings nach dem, was wir über Schleinitz gehört haben, daß wir viel Neues von diesem Manne herausbekommen hätten, denn Schleinitz war, wie wir gesehen haben, ein

vollendeter Meister in der Kunst der Erpressung.

Schleinitz war ein Mann, der seinen sehr opulenten Lebensunterhalt fast ausschließlich aus Erpressungen gewann. Dasselbe ist auch bei den Angeklagten Grünewald, Moser und Sponholz zu konstatieren. Wenn wir den Angaben des Grünewald Glauben schenken, daß er eine Einnahme von monatlich 500 Mark gehabt und davon 150 Mark an Moser, 120 Mark an Sponholz und noch je 60 Mark an 2 andere Mitarbeiter gegeben hat, so vermochte er mit seinen Redakteuren jedenfalls nicht ein solch luxuriöses Leben zu führen, ren, Champagner zu trinken, wie ein früherer Mitredakteur, Herr Dr. Lipka, bekundet hat. Ich will sogar dem Moser Glauben schenken, daß Grünewald subventioniert worden ist; jedenfalls war doch die Subvention keine große. Sehen wir uns die Angeklagten einmal näher an. Moser und Sponholz, ehemalige Kaufleute, fühlten sich zu Redakteuren berufen, obwohl ihnen jede Vorbildung dazu fehlte. Ich will absehen, daß Sponholz nur die Reife für Untertertia in der Schule erlangt und Moser auch nur in ungenügender Weise das Gymnasium besucht hat; ich bin der Meinung, die Tüchtigkeit eines Menschen hängt nicht von der Menge der gemachten Examina ab. Es ist wohl möglich, daß sich auch ein Mensch, ohne die nötige Schulbildung, im späteren Leben etwas aneignen und es bis zu einer gewissen Fertigkeit bringen kann. Was aber den Angeklagten Moser und Sponholz fehlte und für einen Journalisten unentbehrlich ist, das ist der Takt, die Kunst, sich in anständiger Weise auszudrücken. Grünewald, der ehemalige Kellner, spätere Gastwirt, betrat im Jahre 1875 die journalistische Laufbahn oder richtiger gesagt, er trat in das „Zeitungsgeschäft“ ein. Er wurde Sekretär der früheren „Eisenbahnzeitung“, späteren „Reichsglocke“, und man geht nicht fehl, wenn man den „Unabhängigen“ eine Kopie jener „Reichsglocke“ nennt. Nicht nur die äußere Form glich vollständig der „Reichsglocke“, auch das System ähnelt ihr in hohem Maße. Wie die „Reichsglocke“ es sich zur Aufgabe machte, die hochgestelltesten Personen, wie den Fürsten v. Bismarck usw. in unflätigster Weise anzugreifen, so war es System des „Unabhängigen“, alle Privatpersonen in derselben Weise mit Kot zu bewerfen, wenn sie sein Schweigen nicht mit klingender Münze bezahlten. Nicht bloß Geschäftsunternehmungen wurden angegriffen, auch die innersten Familienverhältnisse wurden beleuchtet und die betreffenden Zeitungsexemplare an die Angehörigen der Angegriffenen gesandt. Man schreckte eben vor keinem Mittel zurück. Man unterließ es nicht, auch das Familienleben zu stören, um in den Besitz von Geld zu gelangen. Auf die Wahrheit der Angriffe kam es, wie wir gehört haben, den Herren gar nicht an. Es wurde, wenn die Briefkastendrohungen nichts fruchteten, frech darauf losgeschrieben, und zwar so lange, bis das Schweigen bezahlt wurde. Und in welcher Weise verfahren wurde, das haben wir von den Zeugen Mochmann und Jaroczynski am besten gehört. Mochmann wollte dem Grünewald eine Berichtigung bringen, dieser aber erwiderte: „Das kann mir alles nichts nützen, das Material kostet mich Geld, viel Geld, und wenn Sie mir das Material nicht abkaufen wollen, so muß ich es veröffentlichen.“ Dem Jaroczynski sagte Moser: bei Grünewald hilft kein Bitten, kein Flehen, Grünewald kennt keinen Vater, keine Mutter, keine Kinder, kein Mitleid, kein Erbarmen, der kennt bloß Geld. Ja, ich gehe gewiß nicht fehl, wenn ich behaupte, der „Unabhängige“ hatte lediglich den Zweck, Erpressungen auszuüben. Ich gebe zu, daß auch einige gute Artikel im „Unabhängigen“ gestanden haben, diese dienten jedoch lediglich zum Verdecken des Treibens, das im anderen Teile dieser Zeitung vorgenommen wurde. Das Blatt wurde auch von niemandem gelesen der wenigen guten Artikel wegen, sondern lediglich wegen der in der Zeitung enthaltenen Skandalosa. Wir haben gehört, daß Jaroczynski und Fischer die Nr. 24 angekauft wegen der gegen sie enthaltenen Angriffe. Der Staatsanwalt ging alsdann in ausführlicher Weise auf die einzelnen Anklagepunkte ein und schloß: Wenn man erwägt, daß die Angeklagten sich nicht scheuten, selbst die innersten Familienverhältnisse in die Öffentlichkeit zu ziehen, wenn sie nicht Bezahlung erhielten, wenn man das planmäßige, schamlose Treiben der Angeklagten erwägt, wenn man in Betracht zieht, daß die Angeklagten gewerbsmäßig jahrelang die gemeinsten Erpressungen verübt haben, so wird man eine exemplarische Strafe wohl für notwendig erachten. Ich verkenne nicht, daß der schlimmste von der ganzen Gesellschaft Freiherr v. Schleinitz gewesen ist. Dieser, ein Mann, dem es vergönnt war, in den höchsten Kreisen zu verkehren, der außerdem die volle Befähigung besessen hat, sich in anständiger, ehrlicher Weise zu ernähren, dem es also ein leichtes gewesen wäre, sich in ehrenvoller Weise seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, zog es vor, von Betrug, Unterschlagung und Erpressung zu leben. Ein solcher Mann hat es verwirkt, in anständiger Gesellschaft zu verkehren. Hätte Herr v. Schleinitz unserer Kompetenz unterstanden und wären wir seiner habhaft geworden, so hätte ich keinen Anstand genommen, das höchstzulässige Strafmaß gegen ihn zu beantragen. Aber auch die Strafen gegen Grünewald, Moser und Sponholz müssen, nach Lage der Dinge, dem Strafmaximum nahekommen. Ich beantrage gegen Grünewald 8 Jahre Gefängnis, 5 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht auf gleiche Dauer, gegen Moser, zusätzlich zu der im April d.J. vom Kgl. Landschwurgericht Berlin I erkannten Strafe von 1 1/2 Jahren Gefängnis wegen Notzucht, 6 Jahre Gefängnis, 4 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht von gleicher Dauer, gegen Sponholz 6 Jahre Gefängnis, 5 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Lodomez 1 Jahr 3 Monate Gefängnis und 5 Jahre Ehrverlust. Die Angeklagten Vogelsang und Sawatzki beantrage ich freizusprechen, da die Beweisaufnahme nichts Belastendes gegen diese ergeben hat.

Verteidiger Rechtsanwalt Wronker: Bekanntlich ist es die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Anklage ge nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten, während es die Aufgabe der Verteidigung ist, die Anklage zu entkräften. Über das Strafmaß vermag ich nach Lage der Dinge nicht zu sprechen, ich muß das dem hohen Gerichtshofe anheimstellen, indem ich des Spruches, der da oben an der Decke des Saales angeschrieben steht, eingedenk bin: „Das Gesetz straft, nicht der Richter.“ Ich bin nicht der Meinung, daß es lediglich zu den Aufgaben des „Unabhängigen“ gehörte, Erpressungen auszuüben. Von diesem Standpunkt aus wird der Gerichtshof sein Urteil nicht sprechen können, sondern lediglich die vorliegenden Fälle sachlich zu prüfen haben. Der Verteidiger ging alsdann des Näheren auf die einzelnen Fälle ein und suchte nachzuweisen, daß die meisten Fälle mild aufzufassen seien.

Vert. Rechtsanwalt Saul: Daß durch die Verhaftung der Angeklagten im Publikum eine große Genugtuung hervorgerufen sei, möchte ich bestreiten. Das große Publikum hatte an der Verhaftung der Angeklagten ein nur sehr geringes Interesse genommen. Das größte Interesse an der Sache hat naturgemäß die anständige Presse und diese hatte allerdings die Verpflichtung, diese Ausgeburt von Presse in das rechte Licht zu stellen. Durch die Presse, die direkt mit dem Publikum verkehrt, ist das große Publikum hierbei erst in Mitleidenschaft gezogen worden. Bei Beurteilung der Sache wird man in Erwägung ziehen müssen, daß der Hauptbelastete, Herr v. Schleinitz, flüchtig geworden ist und nur die kleinen Schächer hier auf der Anklagebank stehen. Es ist charakteristisch, daß alles meinem Klienten Moser aufgebürdet wird. Ich muß leider hier die antisemitische Bewegung in die Diskussion ziehen. An wen sollten sich die angegriffenen Lewin, Seelig, Jaroczynski usw. wenden, um einen Ausgleich herbeizuführen? Etwa an den christlich-sozialen Agitator Grünewald? oder an den Antisemiten Lodomez? Am geratensten erschien es den genannten Herren, sich an den Juden Moser zu wenden. Und Moser sagte den Leuten: „Hier wird nichts weiter helfen, als zahlen, denn Grünewald kennt bloß Geld.“ Damit hat aber Moser nur das getan, was Jaroczynski und Fischer auch getan haben. Eine Erpressung kann lediglich in dem Falle Seemann gefunden werden. Allein wenn diese Anklage auf zwei Augen ruht, so kann ich zu meinem großen Leidwesen nicht umhin, die Aussagen des Herrn Seemann in Zweifel zu ziehen. Der Verteidiger ging alsdann auf die einzelnen Fälle ein und bat, in Rücksicht auf die traurigen Verhältnisse, die Moser, einen ehemaligen, sehr wohlhabenden Bankier in Hannover, genötigt haben, Stellung beim „Unabhängigen“ zu nehmen, diesem mildernde Umstände zuzubilligen.

Vert. Justizrat Jenzitzki beantragte für Sponholz, der lediglich im Abhängigkeitsverhältnis bei Grünewald wald stand, und wie nachgewiesen, keinen Gewinn aus den Erpressungen gezogen hat, ein mildes Strafmaß.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Sello (für Lodomez): Bei meinem Antrage auf Freisprechung meines Klienten gehe ich nicht davon aus, für ihn etwa eine Ehrenerklärung zu erzielen. Aus den Verhandlungen haben wir erfahren, daß wir es bei Lodomez mit einem Prototyp eines modernen Hochstaplers zu tun haben. Nicht Uneigennützigkeit, sondern vornehmlich Gewinnsucht haben ihn zu den Schritten bewogen, die er gegangen ist. Aber diese fallen nicht unter irgendeinen strafrechtlichen Gesichtspunkt. Die Tathandlungen in der ersten Periode im Mai und Juni v.J. hat der Herr Staatsanwalt selbst nicht als strafbar erachtet; Lodomez hat sich nur als unberufener Vermittler in die Ottensche Streitangelegenheit eingedrängt, um eine recht hohe Vermittlerprovision zu verdienen. In der zweiten Periode trat lediglich Freiherr v. Schleinitz auf, um unter Bruch seines Ehrenworts, ohne Wissen und hinter dem Rücken des Lodomez, eine Erpressung gegen Pflüg zu verüben. Daß diese Behauptungen des Angeklagten Lodomez nicht ohne Wahrscheinlichkeit sind, beweist ein einfacher Blick auf den Charakter des Hauptschuldigen, Herrn v. Schleinitz, den der Staatsanwalt vollständig zutreffend geschildert hat. In der Tat war Schleinitz der böseste seste aller bösen Geister, die sich jemals an die Fersen eines Schuldbewußten geklammert haben. Daß Schleinitz in der Tat ein Mann ist, der eines Bruches seines Ehrenwortes fähig ist, zeigt die charakteristische Geschichte mit den von Herrn Pflüg gezahlten 1200 Mark. Es ist zweifellos, daß v. Schleinitz in dieser ganzen Sache ganz auf eigene Rechnung und Gefahr erpreßt hat. Herr v. Schleinitz ist somit eine Persönlichkeit, bei der man sich der Tat versehen kann; Schleinitz hat diese 1200 Mark einfach unterschlagen unter dem frivolen Vorwande, daß die Hälfte dem „Börsen-Kurier“ zufließen solle. Es ist unnötig, unter Beweis zu stellen, daß Schleinitz gar keine Berührung mit dem „Börsen-Kurier“ gehabt hat und gänzlich ohne Einfluß auf diese Zeitung gewesen ist. Wenn aber dies erwiesen ist, wenn sich Herr v. Schleinitz nicht entblödet, ein geachtetes Blatt in dieser Weise bloßzustellen, so gewinnt es an Wahrscheinlichkeit, daß er in der Tat Herrn Lodomez sein Ehrenwort gebrochen hat. Es bleibt nun derjenige Teil des Pflügschen Falls bestehen, den der Herr Staatsanwalt als den Erpressungsversuch bezeichnet hat. Es ist zweifellos, daß der Angeklagte an der Veröffentlichung der schimpflichen Broschüre teilgenommen hat. Hat denn aber Lodomez diese zum Zweck der Drohung gegen Pflüg benutzt? Nichts ist dafür erbracht, ebensowenig eine Komplottmäßigkeit mit Grünewald und Genossen. An der Veröffentlichung der Broschüre hatte mein Klient ein Interesse, weil durch deren Verkauf in Lübeck und Umgegend viel Geld zu verdienen war. Als Pressionsmittel hat er die Broschüre nicht benutzt, denn dazu konnte sie nur dienen, solange sie als Manuskript im Kasten lag. Dafür, daß dies seitens des Grünewald geschehen ist – denn die Treue haben die Angeklagten sich nicht bewahrt –, kann Lodomez nicht verantwortlich gemacht werden. Die Lüge des Lodomez, daß er geglaubt habe, der Reichsregierung mit der Veröffentlichung der Broschüre einen Dienst zu erweisen, ist nur vorgebracht worden, um die eigene Schlechtigkeit, die niederträchtige Gesinnung seiner verwerflichen Rachsucht nicht eingestehen zu müssen. Man wird ihm das deshalb nacht belastend anrechnen dürfen. Aus all diesen Gründen wird der hohe Gerichtshof sich dem Antrage des Herrn Staatsanwalts nicht anschließen können. Evtl. wird eine recht milde Strafe, unter Anrechnung der langen Untersuchungshaft, am Platze sein, da der Angeklagte im November vorigen Jahres dem Verhungern nahe war. Für meinen Klienten Dr. Vogelsang bitte ich, in dem zu fällenden Urteil auszusprechen, daß ihm nicht der mindeste Makel in dieser Sache anhaftet. Die sorgfältigsten Recherchen der Kriminalbeamten haben nicht ergeben, daß Dr. Vogelsang auch nur im mindesten mit den Männern des „Unabhängigen“ in Verbindung gestanden, und daß er nie auch nur eine Zeile für dieses Blatt geschrieben hat. Er ist aus dieser Sache mit unbefleckten Händen hervorgegangen.

Vert. Rechtsanwalt Saul schloß sich betreffs Sawatzki dem Antrage des Staatsanwalts an.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bachmann, folgendes Urteil:

Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme unterliegt es keinem Zweifel, daß die Angeklagten sich verbunden haben, um gemeinschaftlich durch Drohungen mit Veröffentlichung von Skandalartikeln Erpressungen auszuüben. Es ist dabei nicht erforderlich, daß der Teilnehmer die Drohung ausspricht, es ist auch gleichgültig, wer das Geld in Empfang nimmt, zur Mittäterschaft genügt eine wissentliche Hilfeleistung bei Ausübung des Verbrechens. Der Gerichtshof ist nun zu der Überzeugung gelangt, daß in dem vollendeten Erpressungsfalle gegen Pflüg in Lübeck Lodomez freizusprechen, dagegen in dem versuchten Erpressungsfalle Lodomez, Grünewald, Moser und Sponholz zu bestrafen seien. Der Gerichtshof hat Grünewald in acht vollendeten und vier versuchten, Moser in sechs vollendeten und drei versuchten, Sponholz in vier vollendeten und zwei versuchten Erpressungsfällen, Lodomez in einem versuchten Erpressungsfalle für schuldig erachtet. Bei der Strafbemessung messung war zu berücksichtigen, daß die Handlungsweise der Angeklagten eine derartig niedrige und schamlose war, daß man sie für unglaublich finden würde, wenn man es nicht so klar vor Augen hätte. Die Gesetzgebung hat den Pranger als eine unmoralische, mittelalterliche Institution abgeschafft, und nun verbinden sich die drei ersten Angeklagten, die nachweislich keinen richtigen Erwerb haben, um einen modernen Preßpranger zu errichten, an den zahlungsfähige Personen, die den Drohungen auf Geldhergabe nicht Folge leisten, gestellt werden. Es zeugt dies von einer solch niedrigen Gesinnung, daß eine hohe Strafe von vornherein geboten erschien. Gegen einen solchen Preßpranger, wonach jedermann befürchten muß, daß seine innersten Familienverhältnisse täglich in das Licht der Öffentlichkeit gezogen werden können, kann sich schließlich niemand schützen. Aus allen diesen Gründen hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß Grünewald mit 6 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Moser mit 4 1/2 Jahren Gefängnis und 4 Jahren Ehrverlust, Sponholz mit 4 Jahren Gefängnis und 4 Jahren Ehrverlust, Lodomez mit 1 Jahr Gefängnis und 1 Jahr Ehrverlust zu bestrafen seien. Lodomez sind 3 Monate bereits erlittener Untersuchungshaft angerechnet worden. Gegen Vogelsang und Sawatzki ist auf Freisprechung erkannt.

Fußnoten

1 Siehe „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag“. Eine Rede von Ferdinand Lassalle, gehalten in den Versammlungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Barmen, Solingen und Düsseldorf.

2 § 8 des Preßgesetzes lautet: Verantwortliche Redakteure periodischer Druckschriften dürfen nur Personen sein, welche verfügungsfähig, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte sind und im Deutschen Reiche ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Der Königliche Hof- und Domprediger Adolf Stöcker in dem Beleidigungsprozeß wider den Redakteur Heinrich Bäcker als Zeuge

Im siebenten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts herrschte auf dem Gebiete der inneren Politik bereits eine sehr lebhafte Bewegung. Anfang der 1870er Jahre wurde die deutsche Gesandtschaft vom Vatikan abgelehnt. Darauf begann im Reichstage der sogenannte Kulturkampf gegen die katholische Kirche.

Es war der Beginn der Ausnahmegesetzgebung, die einen sehr heftigen Kampf der Zentrumspartei gegen die Regierung und die verschiedenen gegnerischen Parteien entfachte. Im Juli 1874 verübte der katholische Böttchergeselle Kullmann in Kissingen ein Attentat gegen den zur Kur weilenden Reichskanzler Fürsten v. Bismarck. Dies Vorkommnis, das begreiflicherweise eine ungeheure Aufregung hervorrief, hatte alsbald zur Folge, daß die katholischen Vereine fast sämtlich aufgelöst und gegen die Vorstandsmitglieder Anklage wegen Verletzung des Vereinsgesetzes erhoben wurde.

Inzwischen entstand zwischen dem damaligen Botschafter des Deutschen Reiches bei der französischen Republik, dem Grafen Harry v. Arnim und dem Fürsten Bismarck eine heftige Fehde. Graf Arnim, obwohl Protestant, billigte, gleich einem großen Teil der konservativen Partei, den „Kulturkampf“ nicht, und als er schließlich seine Entlassung nahm, unterließ er es, angeblich aus Pietätsgefühl, die kirchenpolitischen Aktenstücke seinem Nachfolger, dem Fürsten Hohenlohe zu übergeben. Fürst Hohenlohe, der spätere deutsche Reichskanzler, der von Kaiser Wilhelm II. „Onkel Chlodwig“ angeredet wurde, war Katholik und Bruder eines Kardinals. Graf Arnim nahm die kirchenpolitischen Akten bei seiner Abreise von Paris mit, um sie in Berlin im Auswärtigen Amt persönlich abzugeben. Angeblich hatte Graf Arnim dies vergessen. Er reiste mit dem Koffer, in dem die erwähnten Akten aufbewahrt waren, von Berlin nach seinem Gute Nassenheide in Pommern. Dort angelangt, sah er, daß er vergessen hatte, die kirchenpolitischen Aktenstücke im Auswärtigen Amt abzuliefern. Er sandte die Aktenstücke sofort mit seinem Sohne, einem Gardedragoneroffizier, nach Berlin. Inzwischen hatte aber bereits Fürst Bismarck erfahren, daß Graf Arnim „den Versuch der Hinterziehung amtlicher Aktenstücke“ unternommen hatte. Er erteilte den Befehl, den Botschafter sofort zu verhaften.

Der damalige Erste Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht, Tessendorff, ein Untersuchungsrichter, der Chef der politischen Abteilung der Berliner Kriminalpolizei, Polizeirat Pick, nebst einigen Berliner Kriminalschutzleuten fuhren sofort nach Nassenheide, erklärten den Grafen Arnim auf seinem Gute für verhaftet – ich bin bei der Verhaftung in Nassenheide zugegen gewesen – und transportierten ihn nach Berlin. Graf Arnim wurde in das damalige Untersuchungsgefängnis, die Stadtvogtei, gesperrt. In diesem mittelalterlichen Verlies, in dem es von Ratten, Mäusen, Flöhen, Wanzen und Läusen gewimmelt haben soll, mußte der ehemalige Botschafter des Deutschen Reiches, Wirkl. Geheime Rat Exzellenz Dr. jur. Graf Harry v. Arnim sechs volle Wochen Aufenthalt nehmen.

Graf Arnim hatte sich vom 9. bis 20. Dezember 1874 vor der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts „wegen Hinterziehung amtlicher Aktenstücke“ zu verantworten. Erster Staatsanwalt Tessendorff beantragte 1 Jahr Gefängnis. Nach geradezu meisterhaften Reden der Verteidiger Professor Dr. jur. v. Holtzendorff (München), Justizrat Dockhorn (Posen) und Rechtsanwalt August Munckel (Berlin) erkannte der Gerichtshof (Vorsitzender: Stadtgerichtsdirektor Reich) auf einen Monat Gefängnis und beschloß außerdem, den Angeklagten aus der Haft zu entlassen.

Während dieser Verhandlung fand im Reichstage eine ungemein stürmische Debatte statt. Der damalige Chefredakteur der „Germania“, Reichstags- und Landtagsabgeordneter, Kaplan Dr. Paul Majunke, war im Juni 1874 von der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts wegen einiger Artikel in der „Germania“, in denen Beleidigungen gegen den Fürsten Bismarck gefunden wurden, zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden. Der Gesundheitszustand des Dr. Majunke war derartig, daß die Verbüßung einer einjährigen Gefängnisstrafe das schlimmste befürchten ließ. Dr. Majunke ging deshalb nach England, und als Anfang Dezember 1874 der Reichstag zusammentrat, fragte Dr. Majunke bei dem nationalliberalen Abgeordneten, Rechtsanwalt Dr. Eduard Lasker telegraphisch an, ob er, da er Reichstagsabgeordneter sei, unbehindert nach Berlin kommen könne. Lasker antwortete telegraphisch: „Halte Ihre Rückkunft für unbedenklich.“ Dr. Majunke kehrte sofort nach Berlin zurück. Wenige Stunden nach seinem Eintreffen in der deutschen Reichshauptstadt wurde Dr. Majunke auf Befehl der Staatsanwaltschaft des Berliner Stadtgerichts verhaftet.

Aus diesem Anlaß wurde die Regierung von den Abgeordneten Dr. Lasker und Dr. Windthorst interpelliert. Bei dieser Gelegenheit rief Fürst Bismarck dem Zentrum zu: „Mögen Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen, Kullmann hängt Ihnen an allen Rockschößen.“ Die Empörung, die diese Worte in den Reihen des Zentrums hervorrief, ist unbeschreiblich. Ein allgemeines stürmisches Pfui des Zentrums war die Antwort. Der verstorbene Graf Ballestrem, später langjähriger Präsident des Reichstages, eilte in größter Erregung an den Bundesratstisch und rief dem Reichskanzler Fürsten Bismarck ein kräftiges Pfuisolo zu.

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Graf Arnim legten gegen das Urteil des Berliner Stadtgerichts Appellation ein. Der zweite Strafsenat des Kammergerichts hob im Mai 1875 das Urteil des Berliner Stadtgerichts auf und erkannte auf neun Monate Gefängnis. Die vom Angeklagten eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obertribunal (das Reichsgericht existierte noch nicht) verworfen. Graf Arnim war zuckerkrank. Eine längere Gefängnisstrafe ließ das schlimmste für ihn befürchten. Graf Arnim hatte sich aus diesem Anlaß bereits kurze Zeit nach der ersten Verhandlung nach der Schweiz begeben. Er ließ in Zürich in der Druckerei von Schabelitz eine Broschüre unter dem Titel „Pro nihilo“ drucken. Diese Broschüre wurde sofort nach ihrem Erscheinen in Deutschland beschlagnahmt und gegen den Grafen Arnim die Anklage wegen Landesverrats erhoben. Er wurde im April 1877 vom preußischen Staatsgerichtshof wegen Landesverrats in contumaciam zu fünf Jahren ren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Bald darauf war Graf Arnim auf ärztliches Anraten genötigt, zur Kur nach Karlsbad zu gehen. Er bat um freies Geleit, da er, wenn er nicht durch Deutschland fahren könnte, genötigt sei, einen sehr großen Umweg zu machen. Das Gesuch um freies Geleit wurde abgelehnt. Graf Arnim war genötigt, den weiten Umweg zu machen, um nach Karlsbad zu kommen. Er ist kurze Zeit darauf gestorben.

1875 wurde auf einem Kongreß in Gotha die Vereinigung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins mit der sozialdemokratischen Partei, Eisenacher Programms, die sich bis dahin feindlich gegenüberstanden, vollzogen. Die sozialdemokratische Partei begann von dieser Zeit ab, in weiten Volkskreisen Boden zu fassen. Aus Anlaß der im Sommer 1877 erfolgten Remotion des erblindeten Privatdozenten Dr. jur. et phil. Eugen Dühring schlossen sich zahlreiche Akademiker, ganz besonders aktive Studenten, der sozialdemokratischen Partei an. Aber schon mehrere Jahre vorher, im Herbst 1872, berief eine Anzahl Universitätsprofessoren, wie Gneist, Adolf Wagner, Schmoller, Brentano, Nasse u.a. einen Kongreß nach Eisenach. Auf diesem wurde erklärt: Das Prinzip des „laisser faire, laisser passer“, d.h. die unbeschränkte freie Konkurrenz der Manchesterpartei sei weder praktisch noch theoretisch aufrechtzuerhalten. Die Gesetzgebung müsse dem wirtschaftlich Schwachen Schutz und Unterstützung gewähren, wenn die sozialen Gegensätze sich nicht immer mehr zuspitzen sollten. Es wurde in Eisenach der noch bestehende „Verein für Sozialpolitik“ begründet.

Die Manchesterpartei, an deren Spitze Faucher, Prince Smith, Braun (Wiesbaden), genannt „Unser Braun“, Dr. Ludwig Bamberger, Dr. Max Weigert, Dr. Alexander Meyer, Dr. Heinrich Bernhard Oppenheim u.a. standen, befehdeten wohl die neue Richtung, sie erschienen aber trotzdem zum Teil auf ihren Kongressen. Letztere finden noch alle zwei Jahre statt, während die Volkswirtschaftliche Gesellschaft, die die Vereinigung der Manchesterpartei bildete, nicht mehr zu existieren scheint. Wenigstens ist seit vielen Jahren von der früher sehr rührigen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft nichts mehr zu hören. Der erwähnte Dr. H.B. Oppenheim belegte die neue Richtung mit dem Spottnamen „Kathedersozialisten“. Trotz alledem gewannen letztere immer mehr Anhänger. Im Jahre 1879 entstand unter dem Vorsitz des Regierungsrats a.D. Schück ein „Verein für deutsche Volkswirtschaft“. Dieser Verein bezweckte in der Hauptsache, für den Schutzzoll, der damals zur Einführung gelangte, Propaganda zu machen. Dieser Verein bestand aber nur einige Jahre. Jedoch schon 1877 unternahmen es Männer, wie Pastor Todt (Barenthin), später Superintendent in Brandenburg a.d.H., Professor Dr. Adolf Wagner u.a. einen Verein der Staatssozialisten zu gründen. Diese Vereinigung, deren Bestrebungen etwas weiter gingen, als die der „Kathedersozialisten“, ließen in Berlin ein Wochenblatt, genannt „Der Staatssozialist“ erscheinen; sie fanden aber nur wenig Anhänger. Da plötzlich erschien in den Berliner Zeitungen und an den öffentlichen Anschlagsäulen Berlins eine Einladung zu einer öffentlichen Versammlung, die zum 3. Januar 1878 nach dem im Norden Berlins in der Chausseestraße belegenen Eiskelleretablissement berufen wurde. Als Tagesordnung war angekündigt: Gründung einer christlich sozialen Partei. Als Einberufer war Schneider Emil Grüneberg angegeben. Es war erklärlich, daß diese Versammlung lange vor Beginn überfüllt war. Die weitaus große Mehrheit bestand naturgemäß aus Sozialdemokraten. An deren Spitze bemerkte man den damaligen Reichstagsabgeordneten und Chefredakteur der „Berliner Freien Presse“, Johann Most, der im März 1906 als Anarchistenführer in Neuyork gestorben ist. Grüneberg, ein etwa 45jähriger Mann, der den Eindruck eines biederen Handwerksmeisters machte, stand mit der deutschen Sprache in arger Fehde. Er eröffnete die Versammlung mit einigen einleitenden Worten. Die Sozialdemokraten verlangten sofort Bureauwahl. Es wurde der damalige Berliner Vertrauensmann der Sozialdemokraten, Schriftsetzer August Heinsch, zum ersten, Redakteur, frühere Maurer, Paul Grottkau zum zweiten Vorsitzenden und Redakteur, frühere Handlungsgehilfe Heinrich Dentler zum Schriftführer gewählt. Nachdem Grüneberg in einem kauderwelschen Deutsch den Zweck der Versammlung auseinandergesetzt hatte, sollte Most sprechen. Der Vorsitzende teilte aber mit, daß der Königliche Hof- und Domprediger Adolf Stöcker sich zum Wort gemeldet habe. Most erklärte sogleich, er wolle vorläufig auf das Wort verzichten und erst Herrn Hofprediger Stöcker sprechen lassen. Stöcker, ein sehr gewandter Redner, der es vortrefflich verstand, in Volksversammlungen den Kanzelton zu vermeiden, setzte die Notwendigkeit der Bildung einer „christlich-sozialen Arbeiterpartei“, wie es in der ersten Zeit hieß, auseinander. Er fand aber nur vereinzelten Beifall. Nach Stöcker sprach Most. Er suchte den Nachweis zu führen, daß die Arbeiter nur durch die sozialdemokratische Bewegung etwas erreichen könnten und „daß die Geistlichen stets auf seiten der herrschenden und ausbeutenden Klassen gestanden haben“. Most, gelernter Buchbinder, aber ein geradezu glänzender Volksredner, führte weiter aus: „Die Arbeiter wollen auf dieser Welt an den Genüssen des Lebens teilnehmen, den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“ Er schloß mit den Worten Schillers in ?Wilhelm Tell?, indem er sich an die anwesenden Geistlichen wandte: „Macht Eure Rechnung mit dem Himmel, Eure Uhr ist abgelaufen.“ Es wurde schließlich mit allen gegen etwa zwanzig Stimmen eine von Most und Dentler eingebrachte Erklärung angenommen, in der es u.a. hieß: „Das Christentum hat es seit 1900 Jahren nicht vermocht, die soziale Frage zu lösen, es hat die Arbeiter nur immer auf das ungewisse Jenseits vertröstet. Die Versammlung lehnt daher die Gründung einer christlich-sozialen Arbeiterpartei ab und empfiehlt den Arbeitern, sich der sozialdemokratischen Partei anzuschließen.“

Trotzdem datieren die Christlich-Sozialen von diesem Abend ab die Gründung ihrer Partei. Und in der Tat, die „christlich-soziale Arbeiterpartei“ gewann sehr bald zahlreiche Anhänger. In den Versammlungen der neuen Partei, die gewöhnlich Freitag abend, zumeist in den Berliner Arbeitervierteln, stattfanden, kam es oftmals zu heftigen Zusammenstößen mit der Sozialdemokratie; die Versammlungen waren aber immer gut besucht, zumal Professor Dr. Adolf Wagner sich sehr bald der Partei anschloß und auch zum Vizepräsidenten gewählt wurde. Allein schon nach einigen Monaten erfolgten die Attentate von Hödel und Nobiling. Diese Vorkommnisse hatten die Auflösung des Reichstages und das Sozialistengesetz zur Folge. Alle sozialdemokratischen Zeitungen und Bücher wurden sofort, nachdem das Sozialistengesetz Gesetzeskraft erlangt hatte, beschlagnahmt; alle sozialdemokratischen Vereine aufgelöst und alle Versammlungen, von denen zu vermuten war, daß sie einen sozialdemokratischen Charakter annehmen könnten, von vornherein verboten oder während der Verhandlung polizeilich aufgelöst. Über Berlin-Potsdam und zweimeiligen Umkreis wurde der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt. Auf Grund dieser Bestimmung wurden alle Leute, die im Verdacht standen, sich irgendwie im sozialdemokratischen Sinne zu betätigen, aus dem Belagerungsgebiet ausgewiesen.

Man glaubte, nun werde die christlich-soziale Arbeiterpartei in Aufschwung kommen. Allein trotz Sozialistengesetz und „Kleinem Belagerungszustand“ blieb die große Mehrheit der Arbeiter den sozialdemokratischen Grundsätzen treu. Wenn Stöcker es sich zur Aufgabe gemacht hätte, lediglich sozialreformerisch zu wirken, dann hätte er in dieser toten Zeit vielleicht an Boden gewonnen. Er beschränkte aber seine Tätigkeit in der Hauptsache auf die Bekämpfung der doch bereits offiziell toten Sozialdemokratie sowie des politischen und kirchlichen Liberalismus, ganz besonders aber auf die Bekämpfung des Judentums. Diese Agitation führte ihm allerdings eine zahlreiche Anhängerschar aus bürgerlichen Kreisen zu, die Arbeiter konnte er aber mit solcher Agitation unmöglich möglich gewinnen.

Er hat dies wohl auch schließlich eingesehen, denn er strich schließlich das Wort „Arbeiter“ aus der Parteifirma. Seine antisemitische Agitation ging einer Anzahl seiner Anhänger nicht weit genug. Diese riefen eine antisemitische Bewegung ins Leben, die dazu führte, daß das Faustrecht in Berlin und vielen anderen Orten, insbesondere im Osten Deutschlands, nicht nur in den Antisemitenversammlungen proklamiert wurde, sondern sich auch auf den Straßen, Cafés, Restaurants und in den Straßenbahnen breit machte. Diese Bewegung nahm schließlich derartige Formen an, daß der damalige Kronprinz, spätere Kaiser Friedrich, sich veranlaßt sah, öffentlich die antisemitische Bewegung als Schmach des Jahrhunderts zu bezeichnen.

Stöcker nebst Anhang griffen 1881 und 1884 sehr lebhaft in die Wahlbewegung ein. Stöcker stand 1881 und 1884 im zweiten Berliner Reichstagswahlkreise mit Professor Dr. Rudolf Virchow zur Stichwahl, in der er, da die Sozialdemokraten beide Male für Virchow stimmten, selbstverständlich unterlag. Allein die Wahlbewegung in dieser Zeit, ganz besonders die von 1884, nahm sehr scharfe Formen an. Am 11. Oktober 1884 erschien in der fortschrittlichen „Freien Zeitung“ ein Artikel mit der Überschrift: Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner.

Am 15. Oktober 1884 brachte die „Freie Zeitung“ einen Artikel betitelt: „Denkwürdigkeiten des Schneiders Grüneberg.“

Der erste Artikel beschäftigte sich mit der moralischen Qualifikation Stöckers und seiner agitatorischen Tätigkeit und der Art seiner agitatorischen Sprache. Im zweiten Artikel wurden die Enthüllungen des ehemaligen Adlatus Stöckers, des Schneiders Grüneberg, eingehend besprochen und behauptet, daß sich diese Tätigkeit mit dem Talar nicht vertrage. Speziell wurde in dem Artikel behauptet, daß Hofprediger Stöcker bestrafte Subjekte mit voller Kenntnis ihrer Vergangenheit in seine Dienste stelle, daß er solche Leute sogar zu Angriffen gegen seine Amtsbrüder benütze und daß er Gelder, die ihm zu wohltätigen Zwecken überwiesen worden seien, zu parteiagitatorischen Zwecken, Gewährung von Freibier usw. verwendet habe. Die betreffenden Zeitungen wurden auf Antrag Stöckers beschlagnahmt und gegen den verantwortlichen Redakteur der „Freien Zeitung“, Heinrich Bäcker, auf Grund der Paragraphen 185, 186, 194, 200, 73 und 74 des Strafgesetzbuches und auf Grund der Paragraphen 20 und 21 des Preßgesetzes öffentliche Anklage erhoben. Bäcker hatte sich daher im Juni 1885 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Den Gerichtshof bildeten Landgerichtsdirektor Lüty (Vorsitzender) und die Landgerichtsräte Markstein, v. Makomaski, Oppert und Landrichter Graf v. Strachwitz (Beisitzende). Die Königliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Weichert, die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Hugo Sachs und Munckel.

Die Verhandlung begann mit der Vernehmung des Angeklagten Bäcker. Dieser äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Obwohl er nicht der Verfasser der inkriminierten Artikel sei, so übernehme er die volle Verantwortlichkeit dafür. Er gebe zu, daß die darin enthaltenen Ausdrücke etwas derb seien, allein der zur Zeit getobte heftige Wahlkampf, ganz besonders aber die unaufhörlichen harten Angriffe, die Hofprediger Stöcker gegen die liberale Presse geschleudert, rechtfertigten diese Angriffe, für die er im übrigen den Beweis der Wahrheit angeboten habe.

Es wurde alsdann sogleich mit der Zeugenvernehmung begonnen. Der erste Zeuge war Schneidermeister Emil Grüneberg, ehemaliger Vizepräsident der christlich-sozialen Partei. Er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei nur einige Male wegen politischer Vergehen bestraft.

Staatsanwalt: Ich muß hierbei bemerken, daß der Zeuge außer wegen mehrerer politischer Vergehen noch wegen Bettelns, wissentlich falscher Anschuldigung und Unterschlagung bestraft ist.

Zeuge: Das gebe ich zu, diese Strafen hatten aber alle eine politische Ursache.

Vors.: Die vom Herrn Staatsanwalt genannten Strafen können wohl kaum einen politischen Hintergrund haben.

Zur Sache bekundete der Zeuge: Ich gehörte zwölf Jahre lang der sozialdemokratischen Partei an. Im Jahre 1877 kam ich aus München; ich war zu jener Zeit mit der Sozialdemokratie zerfallen und kam durch Lesen von religiösen Schriften zum christlichen Glauben. Von Herrn Missionsprediger Dr. Wangemann wurde ich mit Herrn Hofprediger Stöcker bekannt; diesem teilte ich mein Zerwürfnis mit der sozialdemokratischen Partei mit. Hofprediger Stöcker sagte mir: Er gehe mit der Absicht um, eine christlich-soziale Partei zu gründen, um die sozialdemokratische Partei energisch zu bekämpfen, ich solle ihm dabei behilflich sein. Ich erklärte mich sofort dazu bereit und berief im Auftrage des Hofpredigers Stöcker zum 3. Januar 1878 eine Versammlung nach dem in der Chausseestraße belegenen Eiskelleretablissement. Da zunächst ein Arbeiter sprechen sollte, so hielt ich die erste Rede, die zweite Hofprediger Stöcker. In dieser Versammlung wurde die christlich-soziale Partei gegründet. Einige Monate darauf wurde der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben. Dies war für die Partei gewissermaßen ein Unglück, denn die Partei war noch zu schwach, um schon tatkräftig in die Wahlbewegung einzugreifen. Ich wollte das Herrn Hofprediger Stöcker nicht sagen, sondern beteiligte mich sehr lebhaft an der Wahlagitation, die der christlich-sozialen Partei sehr viel Geld kostete. Die christlich-soziale Partei erlitt bei den Wahlen eine arge Niederlage. Und nun verlangte das Gros der Mitglieder der christlich-sozialen Partei, das aus Sozialdemokraten bestand, daß ich an die Spitze der Partei treten solle; es sei durchaus unnötig und auch für die Partei schädlich, daß ein Geistlicher an der Spitze stehe. Ich erklärte mich auch dazu bereit; inzwischen mußte ich jedoch in München eine vierwöchentliche Gefängnisstrafe wegen Verletzung des Vereinsgesetzes verbüßen. Als ich aus München zurückkehrte, machte ich den Versuch, eine zweite Partei zu gründen, die Polizei verbot jedoch meine Versammlungen, dadurch unterblieb diese Parteigründung. Der Zwiespalte zwischen mir und Stöcker wurde dadurch immer größer. Später verkaufte ich ein Tagebuch, in dem ich mir täglich Notizen gemacht hatte, und eine Anzahl Briefe des Hofpredigers Stöcker an die Redaktion der Berliner Volkszeitung.

Vors.: Was zahlte Ihnen die Redaktion der Volkszeitung dafür?

Zeuge: 30 Mark.

Vors.: Was bewog Sie, das Tagebuch und die Briefe des Herrn Hofpredigers Stöcker zu verkaufen?

Zeuge: Materielle Gründe. Im weiteren äußerte der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Es ist niemals von den für wohltätige Zwecke bestimmten Geldern der christlich-sozialen Partei ein Pfennig für Agitationszwecke verausgabt worden, Hofprediger Stöcker hätte dies niemals zugegeben. Als einmal Pastor Witte in einer Versammlung der christlich-sozialen Partei sprechen wollte, machte Hofprediger Stöcker Bedenken dagegen geltend, da Pastor Witte jüdischen Leuten gegen Geschenke Titel und Orden verschafft habe. Einen Redakteur Löschmann kannte ich. Dieser wurde zur Zeit Herrn Hofprediger Stöcker als Redakteur der „Volkswarte“, des damaligen Organs der christlich-sozialen Partei, empfohlen. Es wurde Herrn Hofprediger Stöcker damals gesagt, Löschmann sei ein wegen Unterschlagung von Mündelgeldern mit Zuchthaus bestrafter Mensch; Hofprediger Stöcker erklärte jedoch: Wenn es ein befähigter Mensch ist, dann können wir ihn ja trotzdem engagieren, er kann sich bessern, man braucht ihn ja nicht öffentlich auftreten zu lassen. Löschmann, der beschäftigungslos in Offenbach weilte, wurde engagiert. Da jedoch Hofprediger Stöcker einsah, daß der Charakter Löschmanns ein zu liederlicher war, so wurde Löschmann nach etwa vier Wochen wieder entlassen. Küster, der frühere Redakteur des „Neuen Sozialdemokraten“ und ich schrieben im übrigen ebenfalls viel für die „Deutsche sche Volkswarte“. Ich zeichnete als verantwortlicher Redakteur des Blattes. Hödel wurde mir kurz vor dem Attentat auf Se. Majestät den Kaiser von dem damaligen Redakteur des „Staatssozialisten“, Herrn Golombeck, empfohlen. Ich nahm deshalb Hödel als Mitglied auf. Nach dem Attentate fertigte ich eine neue Mitgliederliste an, um einen Menschen, wie Hödel, nicht in der Mitgliederliste stehen zu haben. Dasselbe tat ich bezüglich des Nobiling, der ebenfalls Mitglied der christlich-sozialen Partei war. Wer Nobiling als Mitglied aufgenommen hat, weiß ich nicht. Möglich, daß ich ihn aufgenommen habe, es meldeten sich bei mir bisweilen 50 bis 60 Personen auf einmal zur Aufnahme in die Partei. Die Neuanfertigung der Mitgliederliste bewirkte ich aus eigenem Antrieb, jedoch mit Zustimmung Stöckers. Ich sagte einmal zu Herrn Hofprediger Stöcker: „Ich würde die Prinzipien der Sozialdemokratie für richtig halten, wenn letztere den Thron und Altar nicht stürzen wollten.“ Hofprediger Stöcker übergab mir darauf eine Schrift des Herrn Pastors Todt (Barenthin) mit dem Bemerken: „Hier haben Sie eine Schrift, die ist sehr radikal, steht aber auf dem Boden, den Thron und Altar zu erhalten.“

Vors.: Wie kamen Sie dazu, die Schriftstücke gerade der Volkszeitung zu übergeben?

Zeuge: Ich konnte die Aufnahme in einem anderen Blatte nicht erwirken.

Vors.: Welcher Zeitung haben Sie das Tagebuch angeboten?

Zeuge: Auswärtigen Blättern.

Vors.: Sie wollten damit ein Geschäft machen?

Zeuge: Allerdings.

Vors.: Es ist doch eigentümlich, daß Sie die Briefe veröffentlicht haben, die eine andere Person an Sie geschrieben hat.

Zeuge: Die Lebensverhältnisse des Menschen sind nicht immer gleich.

Vors.: Ach so, Sie waren in einer Notlage. Nun geben Sie uns einmal Auskunft über die Affäre mit dem Pastor Witte.

Zeuge: Kurz vor der Reichstagswahl 1878 wurden verschiedene Versammlungen abgehalten. Während der Wahlbewegung wurde Herr Stöcker als Kandidat im sechsten Berliner Reichstagswahlkreis aufgestellt. Es fand aber eine konservative Versammlung statt, in welcher der Fabrikant Hoppe durch Herrn Pastor Witte als Kandidat empfohlen werden sollte. Herr Stöcker sagte mir, ich solle in jener Versammlung sagen, daß Herr Witte in keiner konservativen Versammlung einen Kandidaten vorschlagen könne, da er jüdische Leute bevorzuge, indem er ihnen für Geld Titel verschaffe. Sie können von dieser Mitteilung Gebrauch machen, sagte Herr Stöcker. Ich bin aber zu dieser Mitteilung nicht gekommen, weil die Versammlung sammlung noch vorher aufgelöst wurde.

Vors.: Haben Sie Herrn Witte davon Mitteilung gemacht?

Zeuge: Nein.

Vors.: Es wußte also niemand davon als Sie?

Zeuge: Ja, weiter niemand.

Vors.: Was waren denn das für Geschenke, die Herr Pastor Witte für seine Fürsprache genommen haben sollte?

Zeuge: Flügel und Pianino.

Vors.: Wissen Sie, von wem und was für ein Titel dafür gewährt wurde?

Zeuge: Nein, nur, daß es sich auf Potsdam bezieht; welcher Titel in Frage kam, weiß ich nicht.

Vors.: Ist Ihnen der Name des Herrn, dem Herr Witte den Titel verschafft haben soll, von Herrn Stöcker genannt worden?

Zeuge: Nein, ich hörte nur von einem Pianino, das der Herr dem Oberlinverein geschenkt hat.

Vors.: Es handelt sich hierbei nämlich um einen Kommerzienrat. Sie sagten, es waren zwei gesonderte Kassen da, eine für wohltätige, eine andere für politische Zwecke. Nun wird behauptet, es seien Gelder, die zu wohltätigen Zwecken bestimmt waren, zu politischen Zwecken gebraucht worden.

Zeuge: Herr Stöcker bekam von hohen Herrschaften viel Geld, aber es ist niemals eine Summe, die nur für wohltätige Zwecke bestimmt war, zu politischen Zwecken verwendet worden.

Vors.: Sind die Gelder gebucht worden?

Zeuge: Alle Gelder wurden gebucht, die Kassen waren auch räumlich getrennt.

Rechtsanwalt Sachs: In Ihren „Denkwürdigkeiten“ sagen Sie: Das erste große Fest, welches dazu bestimmt war, Propaganda für die Partei zu machen, war der Geburtstag des Kaisers. Zur Bewirtung der Leute, Ausschmückung des Saales usw. waren große Summen zusammengekommen, u.a. 150 Mark von Ihrer Majestät der Kaiserin.

Zeuge: Das stimmt schon. Ihre Majestät die Kaiserin hat das Geld zur Speisung armer Leute am Geburtstage des Kaisers bestimmt und dazu ist es auch bei dieser Gelegenheit verwandt worden. Die Geburtstage des Kaisers sind aber niemals zu Wahlagitationen benutzt worden.

Rechtsanwalt Sachs: Sie sagen aber weiter: Herr Hofprediger Stöcker habe Sie aufgefordert, das erste Hoch auszubringen, damit er dem Kaiser melden könne, ein Sozialdemokrat habe das erste Hoch ausgebracht.

Zeuge: Das ist schon richtig. Wenn übrigens irgend etwas in jener Sache verfehlt worden sein sollte, so trifft das nur mich, nicht aber den Hofprediger Stöcker. Die christlich-soziale Partei hat niemals solche che Feste zu politischen Zwecken ausgebeutet.

Vors.: Es soll aber in Ihren „Denkwürdigkeiten“ darauf hingewiesen worden sein.

Zeuge: Dann habe ich das falsch niedergeschrieben.

Vors.: Sind nur arme Leute zu dem Fest geladen worden?

Zeuge: Nur arme Leute, um sie zu speisen; es waren aber auch andere Leute anwesend.

Auf Anregung des Vert. Rechtsanwalts Sachs wurde Grüneberg aufgefordert, sich näher über die Parteizugehörigkeit von Hödel und Nobiling zu äußern. Grüneberg: Herr Stöcker war nach den Versammlungen stets massenhaft umringt um Aufnahme, und er schickte durchweg alles zu mich um Aufnahme; er befaßte sich damit nicht. So war es auch mit Hödel. Der sagte, er käme von Leipzig, brachte mir einen Brief von Golombeek, dem Redakteur des ?Staatssozialisten?, ich sollte Hödel Arbeit geben. Ich sagte ihm, ich hätte Arbeitskräfte genügend, aber er rückte mir so dreist auf den Leib, ich sollte ihm wenigstens Flugblätter zur Verbreitung geben. Um ihn zu befriedigen, gab ich ihm welche. Kurze Zeit darauf kam er wieder; die Flugblätter schienen mir nicht reell verbreitet zu sein, und ich sagte: Nein, ich habe nicht soviel. Außerdem erfuhr ich, daß er abends nach unseren Versammlungen noch in sozialdemokratische ging, daß er aber auch da nicht gern aufgenommen wurde. Schließlich kam er wieder nach dem Bureau. Das war so innerhalb sechs Tagen. Am Freitag darauf – wir hatten immer Freitags unsere Versammlungen – kam vor Beginn unserer Versammlung in der Frankfurter Straße jemand zu mir und sagte: „Draußen ist Hödel, genannt Lehmann, der fragt nach Ihnen; er sieht aber etwas reduziert aus, wir wollen ihn nicht reinlassen.“ Ich ließ ihn auf die Tribüne führen, gab ihm auch ein Glas Bier, denn der Mann hatte noch nichts gegessen und er dauerte mich; er sah sehr heruntergekommen aus. Dies war Freitag abend. Am Sonnabend um 3 Uhr sollte ich zu Herrn Hofprediger Stöcker kommen, vorher hatte ich noch einen Gang nach Unter den Linden zu Gerold. Da sah ich einige Gruppen Menschen stehen, und ich hörte auf meine Frage, was passiert sei: „Eben hat man nach dem Kaiser geschossen: es ist ein Klempner, ein Sachse.“

Gleich stößt es mich auf, es wird doch nicht der Kerl gewesen sein! Ich fuhr nach Hause, da fand ich schon einen Brief, sofort zu Herrn Landrichter Joël zu kommen. Da wurde mich der Hödel vorgeführt, und so hatte es ein Ende.

Vors.: War er denn je in den Listen verzeichnet gewesen?

Zeuge: Ja.

Vors.: Weil Sie den Mann für einen von Ihren Anschauungen hielten, da er Ihnen von Golombeek empfohlen war.

Zeuge: Jawohl, ich wurde ja nur geholt, weil man die Mitgliedskarte bei ihm gefunden hatte.

Vors.: Haben Sie ihn nun gestrichen?

Zeuge: Augenblicklich, wie das Attentat geschehen, strich ich ihn aus den Listen, oder nein, vielmehr, ich ließ ihn stehen und schrieb eine andere Liste; hiernach wollten wir nicht, daß er drin stehe.

Vors.: Wie war der Fall mit Nobiling?

Zeuge: Ich habe ihn nicht persönlich gekannt, nur die Photographie von ihm gesehen.

Vors.: Stand er denn in den Listen der Partei?

Zeuge: Ja!

Vors.: Wie ist er denn hineingekommen?

Zeuge: Das ist nicht zu erforschen. Der Andrang war oft abends nicht nur von 20 und 30, sondern von 40 und 50 für neue Aufnahmen, außerdem wurde auch brieflich um Karten geschrieben.

Vors.: Also Sie wissen es gar nicht.

Zeuge: Ich habe Nobiling nicht persönlich gekannt; er ist mir erst im Gedächtnis eingefallen nach der Photographie.

Vors.: Haben Sie ihn streichen müssen?

Zeuge: Ich habe die Liste einfach weggenommen.

Vors.: Es war Ihnen nicht befohlen?

Zeuge: Nein. Wie ich gut mit Herrn Stöcker stand, tat er mir leid. Ich habe daher die Liste kassiert und eine neue gemacht.

Rechtsanwalt Sachs: In Ihren „Denkwürdigkeiten“ sagen Sie ausdrücklich, Sie hätten Nobiling eingetragen?

Zeuge: Jawohl; ich habe ihn auch eingetragen; denn die Eintragungen besorgte nur ich.

Rechtsanwalt Sachs: Ferner sagen Sie in den „Denkwürdigkeiten“, Sie hätten Hödel auf Veranlassung von Herrn Stöcker gestrichen.

Zeuge: Ich habe ihn gestrichen und Herr Stöcker ist damit einverstanden gewesen.

Es erschien alsdann als Zeuge Hofprediger Stöcker. Auf Antrag der Verteidigung beschloß der Gerichtshof, die Vereidigung des Zeugen auszusetzen. Hofprediger Stöcker bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Grüneberg wurde mir zur Zeit von dem Missionsdirektor Dr. Wangemann empfohlen. Meines Wissens sind von der christlich-sozialen Partei Gelder, die zu Wohltätigkeitszwecken bestimmt waren, niemals zu Agitationszwecken verwendet worden. Als sich die christlich-soziale Partei bildete, da wurde ihr sehr bald von verschiedenen Wohltätern, darunter Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin, 2000 Mark zur Begründung eines Arbeiterasyls überwiesen. Diese 2000 Mark sind selbstverständlich niemals angetastet getastet und sind nunmehr als zinsfreies Darlehen der Berliner Stadtmission gegeben worden. Wir annoncierten zur Zeit nach einem befähigten Menschen, der die im Sommer 1878 von der christlich-sozialen Partei begründete „Deutsche Volkswarte“ redigieren sollte. Es war das eine kleine, nur für Wahlzwecke bestimmte Zeitung. Unter vielen anderen Bewerbern war auch ein gewisser Löschmann, der mir von einem Amtsbruder in Mainz ganz besonders empfohlen wurde; allerdings verhehlte mir der Amtsbruder nicht, daß Löschmann wegen Unterschlagung von Mündelgeldern bestraft sei. Ich stehe seit langer Zeit an der Spitze des „Vereins für Besserung entlassener Strafgefangener“, der ja bekanntlich das Bestreben hat, entlassene Gefangene zu bessern. Ich nahm daher keinen Anstand, den Löschmann zu engagieren, zumal er mir, wie gesagt, durch einen Amtsbruder empfohlen war.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Herr Zeuge, was für eine Bewandtnis hatte es mit der Sammlung für „Wilhelmsheim“?

Zeuge: Herr Vorsitzender, ich möchte den Herren Verteidigern nicht antworten.

Vors.: Herr Zeuge, das Gesetz gibt den Verteidigern das Recht, Fragen an die Zeugen zu stellen.

Zeuge: Dann bemerke ich, daß diese Angelegenheit auf einem Irrtum beruht, die Sammlung für „Wilhelmsheim“ helmsheim“ ist von dem „Staatssozialist“ ausgegangen, ich hatte damit absolut nichts zu tun. Im weiteren äußerte Zeuge Hofprediger Stöcker auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war zur Zeit Leiter des Berliner Oberlinvereins. Eines Tages erhielt ich von einem adligen Herrn für den Oberlinverein ein Pianino zum Geschenk. Ich drückte dem Geber schriftlich meinen besten Dank aus. Nach etwa einem halben Jahre kam der freundliche Geber zu mir und bat mich, ich solle mich für den Kommerzienrat Caesar Wollheim bei Seiner Majestät dem Kaiser für die Verleihung des Titels „Geheimer Kommerzienrat“ verwenden. Selbstverständlich wies ich dieses Ansinnen mit Indignation zurück. Es ist richtig, daß ich gegen das öffentliche Auftreten des Herrn Pastors Witte Einspruch erhoben hatte, weil mir bekannt war, daß er jüdischen Leuten gegen Geschenke Titel verschaffe.

Pastor Witte: Im Jahre 1878 wurde ich aufgefordert, für die Kandidatur des Fabrikbesitzers Hoppe im sechsten Berliner Reichstagswahlkreise Partei zu nehmen. Hoppe war damals von der konservativen Partei aufgestellt. Ich lehnte das Ansinnen ab, da in demselben Wahlkreise Hofprediger Stöcker von der christlich-sozialen Partei aufgestellt war und ich gegen einen Amtsbruder nicht auftreten wollte.

Im weiteren bestätigte Pastor Witte die Bekundungen des Vorzeugen bezüglich des Pianino. Der Geschenkgeber, schenkgeber, so bemerkte Pastor Witte, war der bekannte konservative Agitator Alexander v. Wedell, der bereits verstorben ist. Dieser ersuchte mich unter anderem, mich für den Kommerzienrat Wollheim um Verleihung des Titels „Geheimer Kommerzienrat“ zu verwenden. Ich tat dies auch, wußte aber nicht, daß Wollheim, der im übrigen auch inzwischen verstorben, jüdischer Konfession war. Darüber, ob ich mich für Wollheim verwendet hätte, wenn mir seine Konfession bekannt gewesen wäre, will ich mich nicht äußern.

Alsdann wurde Hofprediger Stöcker über die Zugehörigkeit von Hödel und Nobiling zur christlich-sozialen Partei befragt.

Hofprediger Stöcker: Bei Hödel wurde bekanntlich eine Mitgliedskarte der christlich-sozialen Partei gefunden, und er soll auch Flugblätter unserer Partei vertrieben haben. In diesen Flugblättern wurde die Liebe zu König und Vaterland behandelt, mithin ist doch Hödel nicht etwa durch den Inhalt dieser Flugblätter zu seiner bübischen Tat verleitet worden. Von wem er als Mitglied aufgenommen worden, weiß ich nicht, jedenfalls habe ich nicht veranlaßt, die Liste, in der er als Mitglied verzeichnet war, zu vernichten. Es lag dazu auch gar kein Grund vor, da ja bekanntlich in allen Zeitungen stand, daß eine Mitgliedskarte unserer Partei bei ihm gefunden wurde. Daß Nobiling Mitglied unserer Partei gewesen sein soll, habe ich erst einige Zeit vor den jüngsten Wahlen durch die „Berliner Volks-Zeitung“ erfahren. Mir war Nobiling vollständig unbekannt; ich möchte fast annehmen, daß hier eine Verwechslung zwischen einem sehr ehrsamen Berliner Bürger gleichen Namens vorliegt, der noch heute zu unserer Partei gehört.

Schneidermeister Grüneberg: Eine derartige Verwechslung liegt nicht vor, denn ich habe gleich nach dem Nobilingschen Attentat die Liste, in der der Name des Attentäters verzeichnet war, vernichtet.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich stelle an den Hofprediger Stöcker die Frage: Ob ihm ein Herr Simon May bekannt ist?

Stöcker: Jawohl.

Verteidiger: Herr Simon May ist ein wegen Unterschlagung bestrafter Mensch und hat im hiesigen Gefängnisse Plötzensee seine Strafe verbüßt. Herr Hofprediger Stöcker hat nun vor einiger Zeit, auf Grund einer Rede dieses Simon May, den Eid der Juden als unglaubwürdig bezeichnet. Es geschah dies in der bekannten Rede des Hofpredigers Stöcker über das „Kol-Nidre“-Gebet. Herr Hofprediger Stöcker erklärte in dieser seiner Rede den Simon May als bedeutenden Talmudisten?

Stöcker: Ich bedauere, daß der Herr Verteidiger so schlecht orientiert ist, der von mir angezogene Talmudist dist war Herr Dr. Morgenstern, ein Mann, der in der Tat ein ganz bedeutendes Wissen im Talmud besitzt. In meiner erwähnten Rede habe ich wohl auf die religiöse Entartung der Juden hingewiesen, es ist mir jedoch nicht eingefallen, einen Schatten auf ihre Glaubwürdigkeit zu werfen.

Verteidiger Rechtsanwalt Sachs: Der Herr Zeuge wird nicht in Abrede stellen, daß Simon May in den christlich-sozialen Versammlungen gesprochen, daß er (Zeuge) sich auf die Worte Mays berufen und er ihn als einen braven Menschen bezeichnet hat. Im weiteren frage ich den Zeugen: ob er, nachdem er von den Vorstrafen des Simon May Kenntnis erhalten, mit ihm den Verkehr abgebrochen hat?

Hofprediger Stöcker: Nachdem ich eines Abends in einer Versammlung der christlich-sozialen Partei einen Vortrag gehalten, meldete sich ein Herr Simon May zum Wort; dies wurde ihm erteilt. Da mir Herr May jedoch unbekannt war, so erkundigte ich mich sehr bald bei einer hiesigen Zeitungsredaktion nach ihm. Als ich von seiner Bestrafung hörte, schrieb ich an ihn, er solle entweder die gegen ihn erhobenen Behauptungen widerlegen oder sich von der Öffentlichkeit zurückziehen. Das ist der Sachverhalt.

Auf weiteres Befragen äußerte Stöcker: Vor einigen Jahren wurde ich zu einer Kirchenkonferenz nach Eisenach eingeladen, um auf dieser einen Vortrag über die moderne Theologie zu halten. Ich folgte dieser Einladung und hielt den zugesagten Vortrag; an dem zweiten Gegenstande der Tagesordnung, der ausschließlich thüringische Kirchenverhältnisse betraf, beteiligte ich mich jedoch nicht. Da stellte ein junger Geistlicher, namens Zingst, die Frage: Infolge des Vortrages des Hofpredigers Stöcker ist die Frage aufgeworfen: Wie kann an der Universität Jena die orthodoxe neben der liberalen Theologie bestehen? Der Vorsitzende fragte mich: was ich wohl dazu sage? Ich erwiderte fünf bis sechs Worte, die etwa dahin gingen: „Wir verlangen von Jena nur unser Recht!“ Ich hatte zu jener Zeit so vielen Versammlungen und Konferenzen beigewohnt, daß ich im Augenblicke mich nicht erinnerte, diese paar Worte gesprochen zu haben. Jedenfalls dürften diese wenigen Worte, wie Herr Superintendent Braasch (Jena) behauptete, doch nicht als eine wesentliche Beteiligung an der Debatte anzusehen sein. Es ist um so bedauerlicher, daß, da ich eine Beteiligung an der Debatte in Abrede stellte, mich ein Teil der theologischen Fakultät zu Jena und Herr Superintendent Braasch der bewußten Unwahrheit bezichtigten und der gesamten liberalen Presse zu unqualifizierbaren Angriffen gegen mich Veranlassung gaben.

Superintendent Braasch: Ich bin in Eisenach selbst gewesen und habe mit meinen Ohren selbst gehört, hört, daß Hofprediger Stöcker eingegriffen hat in die Debatte über die Frage der Berufung eines orthodoxen Professors nach Jena, und zwar eingegriffen in einem kritischen Moment. Als Hofprediger Stöcker später dieses Eingreifen ableugnete, hat mich das so empört, daß ich in meiner Broschüre darauf zurückkam. Hätte der Herr Hofprediger später einfach erklärt, daß er sich getäuscht hatte, indem er behauptete: „Ich habe mich mit keinem Wort beteiligt,“ so würde ich darauf nicht weiter zurückgekommen sein. Da Herr Stöcker statt dessen aber sich darauf beschränkte, um die Bedeutung seiner Worte nach seinem Geschmack zu modeln und sie als ganz irrelevant hinzustellen, so habe ich mich veranlaßt gesehen, dies Verhalten meinerseits zu kritisieren.

Vors.: Wissen Sie etwas davon, daß dies Eingreifen des Hofpredigers Stöcker ein peinliches Aufsehen gemacht hat?

Zeuge: Ich vertrete, was in meiner Broschüre steht, Wort für Wort.

Hofprediger Stöcker warf dem Zeugen die betreffende Broschüre auf den Tisch und rief: Wort für Wort vertreten Sie das, Herr Superintendent?!

Während der Zeuge in der Broschüre blätterte, trat Hofprediger Stöcker auf ihn zu und bemerkte: „Ich will Ihnen behilflich sein, Herr Superintendent, ich will sehr freundlich sein!“

Zeuge: Ich muß für Ihre Hilfe danken.

Vors.: Ich muß bitten, daß wir so ruhig wie möglich verhandeln und muß ebenso bitten, daß wir alle persönlichen Spitzen aus diesem Saale der Rechtsprechung soweit wie möglich fernhalten.

Der Zeuge gab sodann als möglich zu, daß Hofprediger Stöcker auf jener Konferenz in jenem Augenblick von dem Leiter der Versammlung zur Äußerung aufgefordert worden sei, er wiederholte aber durch Verlesung seiner damals in der „Magdeb. Ztg.“ und „Voss. Ztg.“ erlassenen Erklärung, daß er es unbegreiflich finde, wie Hofprediger Stöcker einen solchen kritischen Moment vergessen konnte.

Staatsanwalt: Würden Sie in dem Falle, daß Herr Hofprediger Stöcker nichts weiter auf jener Konferenz gesagt habe als „Wir verlangen nur unser Recht“, dies auch als ein wesentliches Eingreifen in die Debatte betrachten?

Zeuge: Darauf antworte ich klar und einfach mit: Ja!

Auf weiteres Befragen bemerkte Hofprediger Stöcker: Der erwähnte Schriftsteller Dr. Morgenstern besuchte mich eines Tages und klagte mir, daß er sehr wenig verdiene. Ich versprach ihm, mich für ihn bei Zeitungsredaktionen zu verwenden und schenkte ihm 20 Mark. Einige Tage darauf empfahl ich Herrn Dr. Morgenstern der Redaktion der „Kreuzzeitung“. Vor einigen Tagen hat mir Dr. Morgenstern die 20 Mark zurückgesandt, wie ich vermute, um nicht gegen seinen Wohltäter Zeugnis ablegen zu müssen. Ich habe dem Dr. Morgenstern bezüglich seines talmudischen Wissens meine volle Hochachtung ausgesprochen, ihn jedoch ersucht, etwas weniger gehässig zu schreiben.

Es erschien hierauf als Zeuge Schriftsteller Dr. Morgenstern (49 Jahre alt, jüdischer Konfession): Ich muß vorerst bemerken, daß ich erstaunt bin, hier als Zeuge vorgeladen zu sein, ich kenne den Angeklagten Bäcker absolut nicht, die Angelegenheit, über die ich hier bekunden soll, kann deshalb nur durch die Redaktionen der „Kreuzzeitung“ und „Staatsbürgerzeitung“ zur weiteren Kenntnis gelangt sein.

Der Zeuge erzählte alsdann in sehr umständlicher Weise, wie er mit Hofprediger Stöcker bekanntgeworden sei. Letzterer habe ihm zu seiner großen Verwunderung eines Tages 20 Mark übersandt und ihm einige Tage darauf gesagt: Der Redakteur der „Kreuzzeitung“, Herr Dr. Kropatscheck, wünsche seine Bekanntschaft zu machen bzw. ihn als Mitarbeiter der „Kreuzzeitung“ zu gewinnen. Er habe sich infolgedessen im Redaktionsbureau der „Kreuzzeitung“ Herrn Dr. Kropatscheck vorgestellt. Letzterem sei jedoch von der erwähnten Unterredung Stöckers absolut nichts bekannt gewesen, er habe ihn (den Zeugen) deshalb einen Schwindler genannt und die Tür hinter ihm zugeworfen. Hofprediger Stöcker habe sich damit entschuldigt: Es sei möglich, daß er sich in der Person geirrt, vielleicht habe Frhr. v. Hammerstein die erwähnte Unterredung gewünscht.

Buchhalter Stehling und Kaufmann Täubner, die beide dem im September 1883 zu Dresden stattgefundenen „Antisemitenkongresse“ beigewohnt, bekundeten übereinstimmend, daß das im Kongreßlokale aufgestellte Bildnis der Esther-Solymossi auf Verlangen des Hofpredigers Stöcker entfernt worden sei.

Schuhmacher Masche: Eines Tages kam der Photograph Laar zu mir und sagte: Masche, es ist viel Geld zu verdienen, die Juden sind in böser Klemme; es handelt sich um den Prozeß gegen die „Freie Zeitung“. Ich habe von einem Juden Jakobsen eine Aufforderung von Herrn Rechtsanwalt Sachs erhalten.

Vors.: Ich teile mit, daß der erwähnte Jakobsen nicht aufzufinden ist.

Photograph Laar: Er habe zu Masche nicht gesagt: Die Juden sind in böser Klemme, es ist viel Geld zu verdienen; möglich sei, daß er eine ähnliche Äußerung getan habe. Im weiteren Verlaufe der Vernehmung bemerkte Laar zu Masche: Ich glaube, Sie haben Geld von den Juden bekommen.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich habe an Laar geschrieben, da dieser mir als eine derjenigen Personen bezeichnet wurde, die über die Affäre in Dresden etwas wissen. Ich habe ihm jedoch weder Geld versprochen, noch mich eines Vermittlers bedient.

Am zweiten Verhandlungstage machte der Verteidiger, Rechtsanwalt Sachs darauf aufmerksam, daß zwischen den Aussagen des Hofpredigers Stöcker und Dr. Morgenstern ein Widerspruch besteht. Herr Dr. Morgenstern hat, im Gegensatz zum Herrn Hofprediger, gesagt: Er habe dem Herrn Hofprediger Stöcker bemerkt, er sei nicht willens, einen Schatten auf seine Glaubensgenossen zu werfen.

Hofprediger Stöcker: Ich wiederhole, was ich bereits gestern gesagt habe: Ich habe Herrn Dr. Morgenstern gesagt, er solle seine exorbitanten Angriffe gegen das Judentum auf das äußerste Maß beschränken. Herr Dr. Morgenstern erwiderte: „Wenn die Juden den talmudischen Eid schwören, dann mögen sie ja wohl die Wahrheit sagen, der gewöhnliche Eid gilt den Juden jedoch gar nichts. Sie kennen das verdammte Judenvolk noch nicht, Sie sind viel zu gutmütig, Herr Hofprediger.“ Ein von mir zu den Akten eingereichter Brief wird das weitere bestätigen. Eines Tages kam eine Frau zu mir und überbrachte mir einen Brief des Dr. Morgenstern, in dem mir dieser mitteilte, wenn ihm bis zum nächsten Ersten nicht geholfen werden könne, dann müsse er sich das Leben nehmen. Angesichts dieser Sachlage sandte ich Herrn Dr. Morgenstern sofort 20 Mark. Im übrigen habe ich mit Herrn Dr. Kropatscheck gesprochen; dieser sagte mir, er habe Herrn Dr. Morgenstern ganz freundlich empfangen, ihm aber schließlich gesagt, es müsse ein Irrtum vorliegen. Wenn Herr Dr. Morgenstern diese Bemerkung dahin verstanden habe, daß er ihn einen Schwindler genannt, so könne dies nur dem exzentrischen Wesen des Dr. Morgenstern zuzuschreiben sein.

Es wurde darauf ein an Hofprediger Stöcker von Dr. Morgenstern gerichteter Brief verlesen. In diesem dankte der Briefschreiber dem Hofprediger Stöcker für die ihm übersandten 20 Mark. Im weiteren hieß es in dem Briefe: „Ich übersende Ihnen gleichzeitig einen von mir im ?Deutschen Tageblatt? enthaltenen Aufsatz, der Sie vielleicht für so manche Angriffe des elenden Judenblattes entschädigen wird. Das elende Judenblatt hat über den ?Mahdi? in einer Weise geschrieben, die von höchster Ignoranz des Judenblattes vom Talmud zeugt. Ich werde stets bemüht sein, im Namen unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi zu arbeiten, vor allem aber, um den Talmud zu stürzen.“

Dr. Morgenstern gab zu, diesen Brief, und zwar, nachdem er bei Herrn Dr. Kropatscheck gewesen, an Hofprediger Stöcker geschrieben zu haben. Im weiteren bemerkte der Zeuge: Es sei unwahr, wie in Zeitungen stehe, daß er gesagt, er habe Herrn Hofprediger Stöcker um eine Unterstützung ersucht.

Vors.: Die Berichte in den Zeitungen können hier nicht zur Erörterung kommen. In solch flüchtig geschriebenen Zeitungsberichten werden sich erklärlicherweise stets Fehler finden.

Pastor Witte: Er müsse ebenfalls auf die falschen Zeitungsberichte rekurrieren, er sei gestern mehrfach nicht verstanden worden.

Vors.: Herr Hofprediger Stöcker, die Verteidigung behauptet, Sie haben dem Zeugen Grüneberg ein Buch vom Pastor Todt übergeben, in dem die Republik als die zu erstrebende Staatsform bezeichnet wird?

Hofprediger Stöcker: In der Broschüre von Todt wird die republikanische Staatsform allerdings in abstrakter Weise als gut bezeichnet. Es heißt jedoch wörtlich in der Broschüre: „In Deutschland wäre die republikanische Staatsform vollständig ungeeignet, hier kann nur die Monarchie Segen bringen.“ Todt selbst ist durch und durch von monarchischer Gesinnung und ist vor einiger Zeit preußischer Superintendent geworden. Im übrigen ist das Buch von Todt von sehr vielen Geistlichen und preußischen Kirchenregimentern, so u.a. von dem Königlichen Konsistorium zu Magdeburg, empfohlen worden.

Der Vert. Rechtsanwalt Sachs beantragte: 1. Das Buch von Pastor Todt zu verlesen, in welchem die republikanische Staatsform als empfehlenswert bezeichnet net wird. 2. Die stenographischen Berichte über die Antisemitenpetition zu verlesen, wonach Hofprediger Stöcker im Abgeordnetenhause zunächst auf Befragen geantwortet, er habe die Antisemitenpetition nicht unterzeichnet, hinterher habe er jedoch zugegeben, die Petition unterschrieben zu haben, es sei ihm jedoch nicht bekannt gewesen, daß der Bogen, auf dem er unterschrieben, bereits zirkuliert habe. 3. Die stenographischen Berichte zu verlesen, wonach Hofprediger Stöcker im Abgeordnetenhause gesagt: Die Unterzeichner gegen die Antisemitenpetition haben zumeist mehrfach den Tanz um das goldene Kalb mitgemacht. Aufgefordert, Namen zu nennen, habe Hofprediger Stöcker erklärt, er wolle von einer Namensnennung Abstand nehmen, da er niemanden kompromittieren wolle. 4. Beweis darüber zu erheben, daß die Behauptung des Hofpredigers Stöcker, der jüdische Stadtverordnete Horwitz habe sich in städtische Ämter gedrängt, die einem Juden nicht zustehen. Damit will die Verteidigung den Beweis führen, daß Herr Stadtverordneter Horwitz nicht Jude und sich auch in kein Amt gedrängt habe. 5. Es soll der Beweis erbracht werden, daß Hofprediger Stöcker den Dr. Brandes falsch zitiert und ihn einen Juden genannt hat, während Dr. Brandes nicht Jude ist. 6. Professor Dr. Beyschlag (Halle) hat die Behauptung aufgestellt, daß Hofprediger Stöcker die Berliner Stadtmissionare zur Verbreitung des „Reichsboten“ benütze. Hofprediger Stöcker hat dies auf der Berliner Pastoralkonferenz in Abrede gestellt, die Verteidigung will den Beweis führen, daß die Behauptung des Prof. Dr. Beyschlag richtig ist.

Der Verteidiger stellte im weiteren noch eine Reihe von Beweisanträgen, daß Hofprediger Stöcker die liberale Presse in gröblichster Weise beschimpft habe. Endlich hat Hofprediger Stöcker behauptet: Die Berliner Juden haben das Andenken des französischen Juden Cremieux gefeiert, eines Mannes, unter dessen Regierung die Ausweisungsdekrete gegen die Deutschen aus Frankreich erlassen worden seien. Es mußte Herrn Hofprediger Stöcker bekannt sein, daß die Ausweisungsdekrete am 4. August 1870 erlassen wurden, während Cremieux erst am 4. September 1870 Regierungsmitglied wurde.

Der Staatsanwalt widersprach den meisten dieser Anträge, besonders aber der Verlesung einzelner Stellen aus dem Buche des Pastors Todt, da derartige, aus dem Zusammenhange gerissene Sätze nichts beweisen.

Vert. Rechtsanwalt Munckel schloß sich dieser letzteren Ausführung des Staatsanwalts an und beantragte, das Buch von Todt vollständig zu verlesen.

Der Gerichtshof beschloß, das Verlesen einiger Stellen des Buches von Todt als unerheblich abzulehnen. nen. Der Gerichtshof, so etwa bemerkte der Vorsitzende, ist der Ansicht, daß Hofprediger Stöcker, als er dem Zeugen Grüneberg das genannte Buch übergab, zweifellos bona fide gehandelt hat. Zweitens hat der Gerichtshof beschlossen, die Verlesung der stenographischen Berichte als ungehörig abzulehnen. Der Gerichtshof erachtet die stenographischen Berichte des Abgeordnetenhauses nicht als amtliche Urkunden. Auch lehnt der Gerichtshof die Vernehmung des Direktors Kleinschmidt ab, da dieser nur Herausgeber der stenographischen Berichte ist, der betreffenden Verhandlung aber nicht beigewohnt hat. Der Gerichtshof hat ferner beschlossen, die Verlesung des Erkenntnisses kontra Dr. Arthur Levysohn und die Verlesung des „Staatssozialist“ abzulehnen. Dagegen hat der Gerichtshof beschlossen, den Bericht der „Staatsbürger-Zeitung“, nachdem er dem Hofprediger Stöcker vorgelegt worden, zu verlesen.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Nachdem der Gerichtshof beschlossen hat, die Verlesung der stenographischen Berichte abzulehnen, beantrage ich die Vernehmung der Abgeordneten Rickert, Richter, Strosser und des Vizepräsidenten v. Benda.

Der Staatsanwalt beantragte, doch zunächst den Hofprediger Stöcker über die stenographischen Berichte zu vernehmen.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Die Verteidigung kann sich mit diesem Antrage des Herrn Staatsanwalts nicht einverstanden erklären, da es wohl nicht angeht, daß wir uns mit dem interessierten Zeugen Stöcker begnügen. Der Gerichtshof beschloß, zunächst den Hofprediger Stöcker über die Richtigkeit der stenographischen Berichte zu vernehmen.

Hofprediger Stöcker: Ich erkenne den stenographischen Bericht im allgemeinen als richtig an. Was die Unterzeichnung der Antisemitenpetition anlangt, so will ich zunächst bemerken, daß die Petition in vielleicht 60000 Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet worden ist. Man wird mir doch nicht zumuten, daß, wenn meine Unterschrift unter einer solchen Petition steht, ich sie öffentlich ableugnen werde. Der Schriftsteller Franz Mehring, der die größten Pamphlete gegen mich geschrieben hat, bemerkte: Für so dumm kann man den Hofprediger Stöcker doch nicht halten, daß er eine Unterschrift, die unter 60000 Exemplaren steht, ableugnen wird. Es ist hier derselbe Fall, wie bei der Eisenacher Konferenz. Dort waren auch gegen fünfhundert Personen versammelt, denen gegenüber man doch nichts ableugnen kann. Ich hatte nun zunächst die Antisemitenpetition unterzeichnet. Gleich darauf kam Dr. Förster zu mir und bat mich, meine Unterschrift zurückzuziehen, da diese angesichts meiner prononzierten Parteistellung für das Resultat der Unterschriftensammlung schädlich sein könnte. Ich entsprach diesem Wunsche und zog meine Unterschrift zurück. Inzwischen wurden einige hundert Exemplare der Petition an die verschiedenen Superintendenten mit der Aufforderung geschickt, sie lediglich unter den Pastoren zirkulieren zu lassen. Auf Wunsch des Dr. Förster unterschrieb ich nunmehr diese Petition. Als ich nun gefragt wurde, ob ich die Antisemitenpetition unterschrieben habe, mußte ich mit einem Nein antworten. Ich hatte die eigentliche Petition nicht unterzeichnet und konnte nicht wissen, daß die nur in vertrauten Kreisen zirkulierende Petition zur weiteren Kenntnis gelangt sei. Ich konnte schon aus politischen Gründen nicht zugeben, daß ich die Petition unterzeichnet habe. Ich bin überzeugt, daß man mich deshalb auf Befehl von Berlin in ganz planmäßiger Weise der Unwahrheit geziehen hat. Anständige Leute, die nicht zu meiner Parteirichtung gehören, haben diese meine Auffassung geteilt. Was die Bezeichnung der Herren Horwitz und Schleyden als Juden anlangt, so habe ich dies sofort berichtigt. Ich wußte nicht, daß Dr. Horwitz zum Christentum übergegangen sei, und bezüglich des Prof. Dr. Schleyden bemerke ich, daß dieser eine so sehr judenfreundliche und christenfeindliche Broschüre geschrieben hat, daß man wohl zu der Meinung gelangen konnte, Schleyden sei Jude. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß die Verteidigung unfähig ist, zwischen Irrtum und Unwahrheit wahrheit zu unterscheiden. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Der Vorsitzende bedeutete dem Zeugen, daß er mit dieser seiner Äußerung die Grenze eines Zeugen überschritten habe.

Hofprediger Stöcker fuhr fort: Im weiteren habe ich nicht von dem Professor Paulus Cassel, sondern von dessen Bruder, dem Professor Cassel, der noch heute Jude ist, gesprochen. Ich weiß nicht, weshalb sich Herr Prof. Paulus Cassel immer sofort getroffen fühlt, sobald irgendwo der Name Cassel genannt wird. Dr. Brandes ist jüdischer Abstammung. Er sagt allerdings, er sei Atheist; allein es gibt viele Juden, die sich als Atheisten bekennen. Bezüglich meiner Behauptung, daß ein Viertel der Notablen, die im Dezember 1880 die bekannte Erklärung zugunsten der Juden erlassen, den Tanz um das goldene Kalb mitgemacht haben, habe ich recht behalten. Wenn ich diesen Ausdruck in rhetorischem Sinne gebraucht, so habe ich selbstverständlich nicht gemeint, daß diese Leute in Wirklichkeit getanzt haben. Allein feststeht, daß in den Jahren 1871, 72 und 73 ein sogenannter Tanz um das goldene Kalb stattgefunden hat, und ferner steht fest, daß etwa ein Viertel all der Unterzeichner der erwähnten Erklärung diesen Tanz, und zwar zum Teil vielfach mitgemacht haben. Ich sagte deshalb im Abgeordnetenhause: Ich lege auf diese Unterschriften schriften kein Gewicht. Ich wurde nun aufgefordert, Namen zu nennen. Ich wollte das nicht gleich tun, bemerkte aber, ich werde nach Schluß der Sitzung noch zehn Minuten im Hause bleiben und jedem, der mich darum angehe, die Namen nennen. Es stellte jedoch niemand ein solches Verlangen an mich. Die konservative Fraktion wünschte die Sache beigelegt zu sehen. Als ich schließlich um die Namen der Gründer doch angegangen wurde, legte ich eine Liste der Namen im Abgeordnetenhause aus; es waren dies teils gutartige, teils bösartige Gründer.

Daß Herr Dr. Max Hirsch Mitarbeiter der „Konkordia“ war, habe ich nicht behauptet, sondern lediglich einmal gesagt, Dr. Max Hirsch sei Mitglied des Fabrikantenvereins, der die „Konkordia“ herausgebe. Diese meine Behauptung ist wahr. Was meine Äußerung betreffs Cremieux anlangt, so steht fest, daß in einer hiesigen Synagoge für Cremieux eine Gedächtnisfeier veranstaltet worden ist. Ich habe mich nur insofern geirrt, daß ich glaubte, Cremieux habe das Ausweisungsdekret gegen die Deutschen mitunterzeichnet. Was die Behauptung des Prof. Dr. Beyschlag anlangt, so reduziert sich diese dahin, ich habe in der Berliner Pastoralkonferenz einmal mitgeteilt, daß es einem Stadtmissionar gelungen sei, in einigen Häusern das „Berliner Tageblatt“ durch den „Reichsboten“ zu verdrängen. Ich gestehe offen, es würde mich sehr freuen, wenn es gelingen wollte, alle „Berliner Tageblätter“ durch „Reichsboten“ zu verdrängen, denn ich halte das „Berliner Tageblatt“ für eine politisch radikale und in religiöser Beziehung für eine schädliche Zeitung. Diese meine Äußerung veranlaßte Herrn Prof. Dr. Beyschlag, zu schreiben: Ist es wahr, daß Hofprediger Stöcker die Berliner Stadtmissionare zu politischer Propaganda verwendet, und zwar, indem er ihnen den Auftrag gibt, den „Reichsboten“ zu verbreiten? Ich habe einen solchen Auftrag niemals erteilt, sondern im Gegenteil den Stadtmissionaren stets strengste Objektivität empfohlen.

Auf Antrag der Verteidiger wurde schließlich die erwähnte Gründerliste und auf Beschluß des Gerichtshofes einige Stellen aus den gesammelten Reden Stöckers und ferner ein Bericht über eine Rede Stöckers aus der „Staatsbürger-Zeitung“ verlesen, in denen sich Hofprediger Stöcker in sehr heftigen Angriffen gegen die liberale Presse erging.

Hofprediger Stöcker: Er müsse bekennen, daß er die Angriffe gegen die liberale Presse in ähnlicher Weise, wie sie hier verlesen, gemacht habe, und zwar habe er sich zur Zeit dazu gezwungen gesehen. Seit einiger Zeit befleißige sich die liberale Presse im allgemeinen eines anständigeren Tones als früher. Er habe Veranlassung genommen, dies mehrfach öffentlich zu konstatieren; er erachte diesen Fortschritt für ein Verdienst der christlich-sozialen Bewegung.

Vert. Rechtsanwalt Sachs beantragte, die Abgeordneten Virchow, Langerhans, Richter, v. Benda und Strosser und die Stenographen Professor Dr. Eduard Engel und Geh.

Rechnungsrat Schallopp über die Richtigkeit der stenographischen Berichte als Zeugen zu vernehmen.

Der Gerichtshof lehnte diesen Antrag ab, da Hofprediger Stöcker den stenographischen Bericht im allgemeinen als richtig anerkannt habe und beschloß, einige Stellen aus dem Bericht, soweit sie die Rede Stöckers betreffen, zu verlesen. Auf die Frage des Vert. Rechtsanwalt Sachs: „Ob Hofprediger Stöcker die liberale Presse eine umgekehrte Kanalisation genannt, da die Kanalisation den Schmutz aus der Stadt hinausschaffe, die liberale Presse aber den Schmutz hineinleite“ usw., bemerkte Hofprediger Stöcker, daß er die Frage in dieser aus dem Zusammenhange gerissenen Form nicht beantworten könne. Rechtsanwalt Sachs beantragte darauf, die Zeitungsberichterstatter Alfred Lange, Gustav Meyer, Paul Kunzendorf und Hugo Friedländer darüber als Zeugen zu vernehmen, daß Hofprediger Stöcker in den Jahren 1880 und 1881 die liberale Presse unaufhörlich in der ärgsten Weise beschimpft habe. Der Gerichtshof lehnte diesen Antrag als unerheblich und, weil zu allgemein gehalten, ab. Es erfolgte alsdann die Vereidigung der Zeugen gen Stöcker und Grüneberg. Vert. Rechtsanwalt Sachs beantragte, den Zeugen Schuhmacher Masche nach seinen Vorstrafen zu fragen. Der Vorsitzende bedeutete dem Zeugen, daß er persönlich bedauere, ihm eine solche Frage vorlegen zu müssen.

Vert. Rechtsanwalt Munckel beantragte, diese Bemerkung des Vorsitzenden zu Protokoll zu nehmen. Der Gerichtshof lehnte diesen Antrag ab.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte Zeuge Masche: Er sei einmal von einem nichtpreußischen Gerichtshofe wegen Beteiligung am Betruge mit Gefängnis bestraft, weitere Antworten verweigere er, er gebe auch heute keinerlei eidesstattliche Versicherung ab, sondern werde am Sonnabend das erforderliche Material beibringen. Heute sei er nicht als Zeuge geladen, er fühle sich mithin nicht veranlaßt, heute einen Eid zu leisten.

Der Staatsanwalt erachtete die an den Zeugen gestellten Fragen für unerheblich.

Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen eventuell durch Inhaftnahme zu zwingen, die gegen ihn verhängten Vorstrafen unter eidesstattlicher Versicherung anzugeben.

Der Zeuge beharrte bei seinem Entschluß, erst am Sonnabend Zeugnis ablegen zu wollen. Nach längerer Verwarnung des Vorsitzenden und nachdem der Staatsanwalt die Inhaftnahme des Zeugen beantragt hatte, bemerkte dieser: Ich bin von einem preußischen Gerichtshofe, und zwar mit Zuchthaus bestraft. (Große allgemeine Bewegung.)

Vors.: Sind Sie wegen Meineides bestraft?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sind Sie bereit, diese Ihre Bekundung auf den von Ihnen bereits geleisteten Eid zu versichern?

Zeuge: Jawohl, zehnmal.

Am dritten Verhandlungstage eröffnete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Lüty die Sitzung mit den Worten: Ich eröffne die Verhandlung in der Strafsache wider Stöcker. (Allgemeine Heiterkeit.) Vorsitzender (sich verbessernd): Pardon: kontra Bäcker. Ehe wir in die Verhandlung eintreten, habe ich folgendes mitzuteilen: Wie in jedem großen Prozeß, so geht mir auch bei diesem täglich eine Anzahl Briefe zu, die ich gewöhnlich kurzerhand in den Papierkorb werfe. Es ist mir jedoch gestern ein Brief zugegangen, den ich nicht glaubte, ohne weiteres dem Papierkorb übergeben zu dürfen, schon nicht in Rücksicht auf seinen Inhalt, ferner in Rücksicht auf die Unterschrift und endlich in Rücksicht auf den Umstand, daß der Brief augenscheinlich mit verstellter Handschrift geschrieben ist. Ich werde den Brief hier verlesen lassen und alsdann einige Bemerkungen hinzufügen. Auf Auffordern des Vorsitzenden verlas der Beisitzer, Landgerichtsrat Oppert, den Brief.

Dieser lautete: „Geehrter Herr Direktor! Sie werden hoffentlich von den Konferenzen, die der Gerichtshof mit dem Kläger und dem Staatsanwalt geführt, der Verteidigung Mitteilung machen. Der gegenwärtige Prozeß wird die Herausgabe eines Buches bewirken, in dem die Unparteilichkeit deutscher Richter eine Beleuchtung erfahren soll. Ich hoffe demnach, Sie werden als ehrlicher Christ, trotz der offenbar antisemitischen Neigungen des Gerichtshofes, Gerechtigkeit üben. Sie glauben vielleicht, daß Sie durch Ihr Verfahren nach oben hin sich einen guten Namen machen. Jeder anständige Christ findet Ihre Leistung groß im Schimpfen, klein in der Wahrheit, die sich windet und dreht in einer Weise, daß sie Ekel und Verachtung hervorruft. Müseler, Rechtsanwalt.“ (Große Bewegung.)

Vors.: Ich bin für meine Handlungen nur mir, meinem Gewissen und meiner vorgesetzten Behörde verantwortlich. Wenn ich diesmal eine Ausnahme gemacht habe, so geschah es, damit mir nicht der Vorwurf einer Vertuschung gemacht wird. Aus diesem Grunde habe ich diesen Brief öffentlich verlesen lassen und nehme ihn zu den Akten. Ich bemerke nun zunächst, daß ich mit dem Zeugen Stöcker niemals eine Konferenz gehabt und außer in dem gegenwärtigen und einem anderen, vor einigen Jahren stattgehabten Prozeß, in dem Herr Hofprediger Stöcker ebenfalls als Zeuge auftrat, niemals mit dem Zeugen gesprochen habe. Was die Konferenz mit dem Herrn Staatsanwalt anlangt, so habe ich der Verteidigung bereits von einer Konferenz, die der Gerichtshof mit dem Herrn Staatsanwalt gehabt, Mitteilung gemacht. Es geschah dies bezüglich der vom Herrn Staatsanwalt vorgeschlagenen Zeugen Masche, Laar und Schröder. Nun haben sich am vergangenen Donnerstag bei dem Herrn Staatsanwalt Zeugen gemeldet, die sich bereit erklärt haben, den Verfasser der inkriminierten Artikel zu nennen. Aus diesem Grunde hat der Herr Staatsanwalt um eine Konferenz mit mir nachgesucht, die gestern abend stattgefunden hat. Von dieser Konferenz konnte ich bisher der Verteidigung keine Mitteilung machen, es geschieht dies aber hiermit. Eine weitere Konferenz hat nicht stattgefunden. Derartige Konferenzen sind, angesichts der Verhältnisse in Berlin, auch nicht so leicht ausführbar. Ich erkläre nun den mir gemachten Vorwurf für eine feige Verleumdung, hinter der sich ein Anonymus verbirgt, denn die mir wohlbekannte Handschrift und der ganze Charakter des ehrenwerten Kollegen Müseler spricht dafür, daß der Briefschreiber den Namen eines anständigen Mannes mißbraucht hat.

Staatsanwalt Weichert: Wie der Herr Vorsitzende bereits mitgeteilt hat, ist mir gestern der wahre Verfasser der inkriminierten Artikel genannt worden. Ich habe sofort die umfassendsten Recherchen angestellt, der Denunziant verweigert jedoch jede Auskunft; selbstverständlich werde ich die Angelegenheit weiter verfolgen. Ich halte trotzdem eine Vertagung dieses Termins, etwa behufs Verschmelzung der Sache, nicht für erforderlich. Der gegenwärtige Angeklagte haftet als verantwortlicher Redakteur, er hat die volle Verantwortung für die inkriminierten Artikel übernommen und sich außerdem im Audienztermin so benommen, z.B. durch die an den Zeugen Stöcker gestellte Frage: ob letzterer in seinen Schulzeugnissen als lügenhafter Knabe bezeichnet worden sei, daß sich seine Bestrafung vollständig rechtfertigt.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich habe auch deshalb keinen Antrag auf Vertagung zu stellen; meine noch zu stellenden Anträge dürften allerdings schließlich noch eine Vertagung erforderlich machen.

Der Gerichtshof beschloß, die Sache nicht zu vertagen.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich stelle den Antrag auf Bestrafung des Zeugen Stöcker, und zwar auf Grund des § 198 des Strafgesetzbuches. Es handelt sich hier nicht um eine Widerklage, sondern mein Antrag gründet sich auf den Strafantrag des Zeugen Stöcker, der in diesem sagt: „Die große Frechheit der Verleumdungen macht eine exemplarische Strafe notwendig.“ Im weiteren bemerke ich: Der Zeuge Stöcker ker sagte: er habe, indem er sich bei Behandlung des „Kol-Nidre“-Gebetes auf eine talmudische Autorität bezog, den Dr. Morgenstern und nicht den Simon May im Auge gehabt. Nun hat aber Herr Hofprediger Stöcker in einer in der Viktoriabrauerei in der Lützowstraße stattgehabten Versammlung gesagt: er freue sich. von einem Kenner des Talmud seine Bemerkungen über das „Kol-Nidre“-Gebet bestätigt zu finden. Es geschah dies nach einer in jener Versammlung gehaltenen Rede des Simon May.

Hofprediger Stöcker: Das, was der Herr Verteidiger hier anführt, ist richtig, ich habe mich jedoch nicht auf die Autorität des Simon May, sondern auf die des Dr. Morgenstern berufen, wenigstens hatte ich bei meiner bezüglichen Äußerung den Dr. Morgenstern im Auge, denn unter Talmudist versteht man doch jemanden, der sich wissenschaftlich mit dem Talmud beschäftigt.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich habe mir das Zugeständnis des Gerichtshofes notiert, daß ehrenrührige Äußerungen des Zeugen Stöcker gegenüber der liberalen Presse feststehen. Der betreffende Artikel behauptet, daß Herr Stöcker eine „Unzucht der Sprache“ geführt hat, und um dies zu beweisen, lege ich ein Exemplar des „christlich-sozialen Korrespondenzblattes“ vor, welches ein Stenogramm über eine Rede des Zeugen Stöcker enthält. Ich frage Herrn Stöcker ferner, ob er am 12. November 1883 in einer Rede seine Gegner „Lumpengesindel“ genannt hat.

Zeuge Stöcker: Ich kann mich nicht daran erinnern.

Rechtsanwalt Sachs: Es war in einem Prozesse gegen den Schriftsteller Klausner, wo Herr Hofprediger Stöcker als Zeuge vernommen wurde und bereits Zugeständnisse in dieser Beziehung gemacht hat.

Zeuge Stöcker: Ich kann mich nicht daran erinnern, ich weiß absolut nichts davon.

Rechtsanwalt Sachs: Ich lege dem Zeugen dann den Bericht über die betreffende Gerichtsverhandlung vor; darin steht ausdrücklich: es wird zur Vernehmung des Hofpredigers Stöcker geschritten, dieser verweigert aber sein Zeugnis.

Zeuge Stöcker (nachdem er den Bericht durchgelesen): Ja, es ist möglich, daß ich mein Zeugnis verweigert habe. Ich bemerke aber im allgemeinen, daß ich mit jenen Ausdrücken „umgekehrte Kanalisation“ Menschen bezeichnet habe, die mit dem Bewußtsein, daß sie lügen, Unwahrheiten und Verdächtigungen über mich verbreiten.

Rechtsanwalt Sachs: Bitte sehr, lesen Sie nur freundlichst weiter, es kommen noch bessere Stellen.

Zeuge Stöcker (nachdem er gelesen): Ja, das ist ja auch alles Wort für Wort richtig, da ist auch kein Wort zuviel. (Unruhe.)

Vors.: Nun, Herr Zeuge, ich kann nicht umhin, Ihnen nochmals zu bemerken, daß wir uns hier bemühen wollen, möglichst objektiv zu prozedieren und Licht und Schatten möglichst gleichmäßig zu verteilen. Ich selbst habe die Bemerkung gemacht und bin von dem Kollegium darauf aufmerksam gemacht worden, daß Sie nicht immer diese Grenze der Objektivität zu bewahren scheinen. Ich bitte Sie recht dringend, sich nur auf die Tatsachen zu beschränken, Ihre eigenen Urteile aber möglichst zurückzuhalten und dem Gerichtshofe zu überlassen, was er aus den Tatsachen folgern will.

Hofprediger Stöcker: Ich bitte, mir zu verzeihen. Der Prozeß hat die Spitze, mir Unwahrhaftigkeit nachzuweisen, und mir liegt daran, hier immer recht scharf zu betonen, daß ich in meinen jetzigen Äußerungen mich nirgends in Widerspruch setzen will mit meinen früheren Äußerungen. Ich mache darauf aufmerksam, daß ich in einer zweiten Auflage jener Rede, als sich die öffentlichen Zustände gebessert hatten, die stärksten Ausdrücke weggelassen habe.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich beantrage nun, die Stadtverordneten Görcki, Tutzauer, den Restaurateur Kreutz und den aus Berlin ausgewiesenen Stadtverordneten Ewald als Zeugen zu vernehmen. In einer am 24. Januar d.J. stattgehabten Schöffengerichtssitzung in Sachen Görcki und Genossen wider Berndt erschien auch Hofprediger Stöcker als Zeuge. Als ihm in dieser Gerichtssitzung Ewald vorgestellt wurde, da behauptet worden: er habe mit Ewald Unterhandlungen geführt, um mit ihm zu paktieren, sagte Stöcker: Ich sehe Herrn Ewald zum ersten Male. Nun hatte Ewald am 8. Januar 1883 nach dem früheren Lokale des „Neuen Gesellschaftshauses“ (Kottbuser Straße 1) eine Volksversammlung einberufen und zu dieser den Abgeordneten Eugen Richter und Hofprediger Stöcker eingeladen. Eugen Richter hatte nämlich Herrn Ewald den Vorwurf gemacht, er wolle die Arbeiterbewegung in das christlich-soziale Lager führen. In dieser Versammlung erschien Hofprediger Stöcker, sprach dort mit Ewald und hielt in der Versammlung eine längere Rede. Einige Zeit vordem war Ewald in einer in der „Tonhalle“ stattgehabten Versammlung der christlich-sozialen Partei, in der Hofprediger Stöcker den Vorsitz führte. Ewald erhielt auf sein Ersuchen von Stöcker das Wort. Er wurde vielfach unterbrochen, bat Herrn Stöcker um Schutz, und als er sich schließlich als Sozialdemokrat bekannte, wurde er polizeilich sistiert. Es geht mir soeben noch die Mitteilung zu, daß Tischler Beck und Restaurateur Hoppe über dieselbe Angelegenheit Zeugnis ablegen können. Görcki, Tutzauer und Kreutz sind zur Stelle; ich habe den Versuch gemacht, Herrn Ewald, der sich in Brandenburg a.d.H. aufhält, zu laden, ein deshalb an das hiesige Polizeipräsidium gerichtetes Gesuch, Herrn Ewald freies Geleit zu geben, ist jedoch abgelehnt worden. Auf eine sofort an den Minister des Innern gerichtete Beschwerde hat mir der Minister geantwortet, daß er sich nicht veranlaßt fühle, die Verfügung des Berliner Polizeipräsidiums aufzuheben.

Staatsanwalt: Es wird zunächst darauf ankommen, daß wir das Protokoll über jene Schöffengerichtssitzung zur Stelle schaffen.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich bitte darum.

Vors.: Wir wollen doch auch einmal den Zeugen Stöcker hören, jedoch zunächst das betreffende Protokoll verlesen.

Beisitzender Landgerichtsrat Oppert verlas die betreffende Aussage des Hofpredigers Stöcker, die lautete: „Ich sehe heute Herrn Ewald zum erstenmal.“

Stöcker bekundete alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Ich sehe und spreche so viele Menschen in den Versammlungen, daß ich mir diese unmöglich alle meinem Gedächtnis einprägen kann. Ich gebe zu, in einer von Herrn Ewald einberufenen Versammlung einmal gesprochen zu haben, ich habe bei dieser Gelegenheit aber diesen Ewald, der später zum Stadtverordneten gewählt wurde, nicht angesehen. Der Äußerung, die ich in jener Schöffengerichtssitzung getan, erinnere ich mich nicht mehr genau, ich gebe aber zu, daß ich vielleicht gesagt habe: ich sehe diesen Mann als Ewald hier zum ersten Male.

Vors.: Nun, obwohl ich die Sache selbst nicht für sehr erheblich halte, muß ich bemerken, Herr Zeuge, daß Ihre damalige Aussage doch nicht ganz korrekt gewesen ist. Ich würde z.B. in solchem Falle sagen: Soweit ich mich erinnere, sehe ich heute Herrn Ewald zum ersten Male.

Stöcker: Ich erinnere mich des Wortlautes meiner damaligen Aussage nicht mehr.

Vors.: Im amtlichen Protokoll steht aber: „Ich sehe Herrn Ewald hier zum ersten Male.“ Ich will der Sache nicht vorgreifen, ich habe schon gesagt, ich halte die Angelegenheit nicht für so erheblich, ich will nur meinem persönlichen Sentiment Ausdruck geben.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Die Verteidigung hält die Angelegenheit für sehr erheblich, daß sie wohl schwerlich auf Herrn Ewald wird Verzicht leisten können.

Staatsanwalt: Ich habe gegen den Antrag nichts weiter zu erinnern.

Vors.: Ehe wir weitergehen, wollen wir den Zeugen Grüneberg über eine dem Herrn Staatsanwalt eingereichte Mitgliederliste befragen, in der die Namen Hödel und Nobiling als Mitglieder der christlich-sozialen Partei verzeichnet stehen. Bei dem Namen Hödel steht hinterher „genannt Lehmann“ und mit roter Tinter der Vermerk: „Attentäter Sr. Majestät des Kaisers.“ Grüneberg, wer hat diesen Vermerk gemacht? macht?

Zeuge: Ich.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Aus welcher Veranlassung hat Zeuge diesen Vermerk gemacht?

Zeuge: Aus eigenem Antriebe.

Vors.: Erkennen Sie diese Liste, in der sich die Namen Hödel und Nobiling verzeichnet finden, als richtig an?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie sagten doch, Sie hätten die Listen beseitigt, wie erklären Sie nun die Existenz dieser Liste?

Grüneberg: Ich sagte, ich habe die betreffende Liste beseitigt, damit meinte ich, ich habe zurzeit die Listen mit meinen alten Skripturen nach Hause getragen. Als ich nun mit Stöcker in Feindschaft geriet, wurden mir plötzlich alle Skripturen abgeholt, möglich ist, daß unter diesen von mir übergebenen Skripturen die Liste sich befunden hat.

Vors.: Wann machten Sie bei Hödel den Vermerk: „Attentäter Sr. Majestät des Kaisers?“

Zeuge: Ich glaube am selben Nachmittage, an dem das Attentat geschah.

Vors.: Sie sagten bereits, Sie kannten Nobiling nicht persönlich?

Zeuge: Nein, als mir jedoch eine Photographie vorgelegt wurde, da schien es mir, als hätte ich ihn in unserem Bureau gesehen.

Vors.: Nobiling steht eingetragen als „Eduard Nobiling, Albrechtstraße 18“.

Hofprediger Stöcker: Ich möchte behaupten, dieser hier eingetragene Nobiling ist nicht mit dem Attentäter identisch, sondern ein anständiger hiesiger Bürger.

Es wurde alsdann Modelltischler und Stadtverordneter Tutzauer als Zeuge aufgerufen. Dieser äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin katholisch getauft, jetzt aber Dissident. Der Volksversammlung am 8. Januar 1883 habe ich nicht beigewohnt, wohl aber der Schöffengerichtssitzung am 24. Januar 1885, in welcher ich selbst als Kläger auftrat.

In dieser Gerichtssitzung sagte Hofprediger Stöcker wörtlich: „Ich sehe Herrn Ewald heute zum ersten Male.“ Diese Bekundung hat während der Pause sofort zu allgemeinem Erstaunen Veranlassung gegeben. Es wurde allgemein die Bemerkung gemacht: Hofprediger Stöcker hat sich zum mindesten inkorrekt ausgedrückt.

Ein weiterer Zeuge war Stadtverordneter Görcki: Unser Kollege, der ausgewiesene Ewald, war von Eugen Richter im Parlament angegriffen worden. Deshalb hatte Ewald die Versammlung nach dem „Neuen Gesellschaftshause“ berufen und zu dieser die Herren Stöcker und Richter eingeladen. Ewald richtete die Frage an die Versammelten, ob Herr Richter und Herr Stöcker anwesend seien.

Vors.: Wo befand sich Ewald?

Görcki: Ewald stand auf dem Podium und sagte: Herr Hofprediger Stöcker, ich richte an Sie die Frage auf Ehre und Gewissen, bin ich mit Ihnen in Unterhandlung getreten? Darauf antwortete Stöcker: Nein. Stöcker sprach alsdann und warnte vor den Prinzipien der Sozialdemokratie. Als aber darauf der Abgeordnete Max Kayser sprach, wurde die Versammlung aufgelöst.

Als nun Hofprediger Stöcker in der Schöffengerichtssitzung am 24. Januar d.J. sagte: Ich sehe Herrn Ewald hier zum ersten Male, da ging ein allgemeines Kopfschütteln durch die Reihen der Anwesenden.

Vors.: Sie waren also beide räumlich zusammen und haben Aug’ in Auge gestanden?

Zeuge Görcki: Jawohl, Aug’ in Auge.

Vors.: Sind Sie später in der Sache Ewald und Genossen vernommen worden?

Zeuge Görcki: Ich war mit einer der Kläger. Die Verteidigung hatte einen großen Zeugenapparat in Bewegung gesetzt. Berndt hatte geschrieben, wir würden käuflich sein und stünden mit Herrn Stöcker in Unterhandlung. Die Verteidigung glaubte, wenn recht viele Zeugen da wären, würde sich doch etwas Weniges herauspressen lassen. Unter anderen befand sich auch Herr Hofprediger Stöcker unter den Zeugen, der sollte bekunden, daß Ewald mit ihm in Unterhandlung getreten sei. Er sagte: „Ich kenne den Herrn nicht, ich habe nie mit ihm in Unterhandlung gestanden und sehe ihn heute zum ersten Male.“ Ich wurde sofort perplex und hätte Herrn Stöcker auch laut darauf aufmerksam gemacht, jedoch wollte ich eine Szene vermeiden. Man war allgemein furchtbar erregt und fragte, wie das nur möglich sein könnte?

Vors.: Was ist Ewald für eine Persönlichkeit? Hat er scharf prononcierte Züge?

Zeuge Görcki: Er hat ein Gesicht, welches man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Er ist ein Mann mit kräftiger untersetzter Statur, hat einen ausgeschorenen Backenbart.

Vors.: Hat er ein signifikantes Gesicht?

Zeuge Görcki: Das kommt auf die subjektive Auffassung an.

Staatsanwalt: Wann war der Audienztermin?

Zeuge Görcki: Am 24. Januar 1885, die Versammlung konnte ungefähr ein bis eineinhalb, auch zwei Jahre früher gewesen sein.

Rechtsanwalt Sachs: Sie war am 8. Januar 1883. Zeuge Kreutz, den ich auch geladen habe, ist verreist.

Rechtsanwalt Munckel: Es ist nicht nur in unserm Interesse, sondern auch in dem des Herrn Stöcker selbst, daß Ewald vernommen werde. Denn, was Stöcker vor Gericht ausgesagt, daß er Ewald zum ersten Male sehe, war, wenn es sich erweist, daß gerade dieser Ewald in jener Versammlung gewesen, ein offenbarer Meineid, sei es ein wissentlicher oder fahrlässiger. Auf die Persönlichkeit Ewalds kommt alles an, wie ja auch der Herr Vorsitzende schon andeutete. Wir wissen jetzt, daß Stöckers Aussage vor Gericht Sensation erregte, daß auch andere sich über diese Aussage gewundert haben. Dieser Verdacht, daß Stöcker einen Meineid geleistet, wird fortbestehen, wenn der Minister nicht seinen Widerstand aufgibt und Ewald die Rückkehr nach Berlin gestattet. Berlin wird durch die kurze Anwesenheit des Mannes nicht in Gefahr kommen. Andernfalls beantrage ich die kommissarische Vernehmung Ewalds in Brandenburg.

Vors.: Es ist dies ein formeller Antrag, über den ich mich jeder Erklärung enthalte.

Der Staatsanwalt verlangte noch eine Vernehmung Stöckers über die Versammlung in der Tonhalle im Jahre 1881.

Vors.: Wie steht es mit den Vorgängen in der Tonhalle?

Zeuge Stöcker: Es kann sein, daß die Versammlung so verlaufen ist, nur erinnere ich mich nicht, daß irgend einmal jemand durch die Polizei herausgeführt ist.

Rechtsanwalt Munckel: Ich muß bei meinem Antrag bleiben, den Zeugen Ewald zu verhören.

Vors.: Ich möchte den Beschluß des Kollegiums einholen.

Das Kollegium zog sich zur Beratung zurück und lehnte den Antrag ab.

Staatsanwalt: Ich bin soeben in Kenntnis gesetzt worden, daß ein Zeuge, Kriminalkommissar Schöne, in der Lage ist, zu bekunden, daß es noch einen zweiten in der sozialdemokratischen Bewegung tätigen Ewald gibt. Ich bitte, den Zeugen zu vernehmen.

Vors.: Hat die Verteidigung etwas dagegen einzuwenden?

Rechtsanwalt Sachs: Nein.

Zeuge Schöne: Ich habe 1881 und vielleicht auch später zwei unter dem Namen Ewald kennengelernt. Ich weiß genau, daß sich zwei hervorragend mit der Bewegung beschäftigt haben. Dar eine war, glaub’ ich, Vergolder, was der andere war, weiß ich nicht.

Vors.: Welches ist der Vergolder? Ist es der Stadtverordnete?

Zeuge Schöne: Ich glaube, es ist der Stadtverordnete.

Vors.: War der eine lebendiger tätig oder der andere?

Zeuge Schöne: Beide waren tätig und beide standen dringend im Verdacht.

Vors.: Kennen Sie den ausgewiesenen Ewald?

Zeuge Schöne: Ich kenne ihn.

Vors.: Hat er ein signifikantes Gesicht?

Zeuge Schöne: Nein, er hat ein ganz gleichgültiges Gesicht.

Rechtsanwalt Sachs: Ich wollte fragen, ab dieser zweite Ewald öffentlich aufgetreten ist.

Zeuge Schöne: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er tätig war.

Rechtsanwalt Munckel: Ich glaube, dadurch wird die Möglichkeit, daß Herr Stöcker Ewald gekannt hat, bestärkt, so daß die Vorladung Ewalds um so notwendiger ist.

Vors.: Soweit ich weiß, steht nicht im Protokoll, „ich kenne ihn nicht“, sondern „ich sehe ihn zum ersten Male“.

Nach nochmaliger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof sieht durch die Bekundungen der Zeugen Görcki und Tutzauer und durch das Zugeständnis des Hofpredigers Stöcker selbst den Beweis für die von der Verteidigung aufgestellten Behauptungen für erbracht und hat daher beschlossen, den Antrag der Verteidigung abzulehnen.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Ich nehme an, der Gerichtshof ist durch seinen Beschluß der Meinung: der Zeuge Stöcker hat in der Schöffengerichtssitzung vom 24. Januar d.J. ein falsches Zeugnis abgegeben. Sollte der Gerichtshof nicht dieser Meinung sein, so kann ich mich mit dem Beschlusse nicht begnügen, denn ich behaupte: der Zeuge Stöcker hat in jener Schöffengerichtssitzung wider besseres Wissen ein falsches Zeugnis abgegeben. Wenn die Verteidigung nun einen Beweis nach dieser Seite hin antritt, so geschieht es einmal im Interesse des Angeklagten, der, wenn die Behauptung erwiesen wird, nicht auf Grund des § 186, sondern nur auf Grund des § 185 des Strafgesetzbuches verurteilt werden könnte. Die Beweiserhebung liegt ferner im dringenden Interesse des Plädoyers, denn wird die Beweisführung abgeschnitten, dann ist es der Verteidigung nur möglich, zu sagen: „Ich halte den Zeugen Stöcker des wissentlichen Meineides für dringend verdächtig.“

Aber ganz besonders im Interesse des Hofpredigers Stöcker ist die von uns beantragte Beweisführung erforderlich. Kein anständiger Mensch, auch wenn er nicht Geistlicher ist, kann einen solchen Vorwurf sich gefallen lassen.

Vors.: Der Gerichtshof ist nicht in der Lage, seine Auffassung über die hier zur Erörterung gelangenden Fragen bei Beratung eines Antrages kundzugeben. Im übrigen muß ich gestehen, die Verteidigung täte besser, einem Urteil des Gerichtshofes nicht zu präjudizieren. Auch erachte ich die Bemerkungen des Herrn Verteidigers für bloße Deduktionen.

Staatsanwalt: Ich widerspreche dem Antrage des Herrn Verteidigers, der keinerlei neue Tatsachen vorgebracht gebracht hat.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich ergänze den Antrag meines Herrn Mitverteidigers und bemerke, die von uns vorgeschlagenen Zeugen werden bekunden, daß Hofprediger Stöcker Herrn Ewald mehrfach Auge in Auge gegenübergestanden hat.

Vors.: Die Sache macht allerdings den Eindruck, als sei hier eine Schraube ohne Ende, allein wir wollen doch noch einmal den Zeugen Görcki vernehmen.

Görcki: Ich habe von Ewald gehört, daß er mehrfach mit Stöcker konferiert hat.

Staatsanwalt: Ich muß doch bemerken, daß es nicht angeht, wenn die Verteidigung Anträge gewissermaßen aus heiler Haut stellt.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Ich glaube, es ist Sache des Gerichtshofes, zu prüfen, ob unsere Anträge frivol sind, allein ich muß doch dem Herrn Staatsanwalt bemerken, daß es wohl auch nicht selten vorkommt, daß der Herr Staatsanwalt im letzten Moment neue Zeugen vorschlägt.

Staatsanwalt: Der Herr Verteidiger irrt, wenn er der Meinung ist, die Staatsanwaltschaft stelle Beweisanträge, ohne genügende Grundlage zu haben.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Ich erwidere, daß der Herr Staatsanwalt über das, was der Zeuge, Kriminalkommissar Schöne, hier aussagen sollte, in keiner Weise unterrichtet war. Nun ist doch zu erwägen, daß der Herr Staatsanwalt mit dem Herrn Kriminalkommissar Schöne in näherer Beziehung stehen kann, als ich mit dem ausgewiesenen Herrn Ewald.

Der Staatsanwalt überreichte dem Gerichtshof ein Schriftstück, das beweisen soll, daß er das thema probandum, worüber Kriminalkommissar Schöne befragt werden sollte, genau gekannt habe.

Vors.: Obwohl das fortwährende Abtreten des Gerichtshofes vielleicht keinen günstigen Eindruck macht, so ist doch der Gerichtshof genötigt, erneut in Beratung zu treten.

Nach kurzer Beratung beschloß der Gerichtshof: In Erwägung, daß die Behauptungen der Herren Verteidiger in den Bereich der Deduktion gehören, in weiterer Erwägung, daß der neue Beweisantrag des Herrn Rechtsanwalts Sachs nicht genügend substantiiert ist, hat der Gerichtshof beschlossen, die gestellten Beweisanträge abzulehnen.

Da weitere Anträge nicht mehr gestellt wurden, so wurde die Beweisaufnahme für geschlossen erklärt, und es begannen die Plädoyers.

Staatsanwalt Weichert: Der gegenwärtige Prozeß hat unendlich viel Haß, Neid, Mißgunst und Verachtung zutage gefördert. Es ist soviel Schmutz aufgewirbelt, wie er selten einem preußischen Gerichtshofe innerhalb vier Wochen vorgeführt wird. Allein ich freue mich, konstatieren zu können, daß durch die Verhandlungen lungen die Atmosphäre reiner geworden, daß ganz besonders die Verhandlungen ergeben haben, daß die gegen den Hauptzeugen, Hofprediger Stöcker, erhobenen Verleumdungen jeder inneren Berechtigung entbehren. Der größte Vorwurf, der Herrn Hofprediger Stöcker gemacht wird, ist, er solle einen Meineid geleistet haben. Ich möchte den Richter sehen, der den Zeugen Stöcker auch nur des fahrlässigen Meineides für schuldig erachten könnte. Ich gebe ja zu, der Zeuge Stöcker hat sich in jener Schöffengerichtssitzung nicht korrekt ausgedrückt, und unglücklicherweise steht seine Bemerkung: „Ich sehe Herrn Ewald hier zum ersten Male“, im Protokoll. Allein einmal hätte der vorsitzende Richter die Frage an die Zeugen anders stellen müssen, und andererseits kann man bekanntlich in die Lage kommen, einen falschen Eid zu leisten, ohne sich irgendwie strafbar zu machen. Es muß festgehalten werden, daß Hofprediger Stöcker, der alljährlich in Hunderten von Versammlungen spricht und dabei mit vielen Tausenden von Menschen zusammenkommt, unmöglich nach Jahren wissen kann, ob er irgendeinen Menschen einmal in einer Versammlung gesehen hat. Wenn nun der Zeuge Stöcker, angesichts dieser Sachlage, sagte: Ich sehe Herrn Ewald hier zum ersten Male, so muß man doch annehmen, er ist der Überzeugung gewesen, den Ewald noch niemals gesehen zu haben. Ich gehe nun zu der Sache selbst über. Der Angeklagte ist beschuldigt, den Zeugen Stöcker durch eine Reihe von Verleumdungen mittels der Presse beleidigt zu haben. Der angetretene Wahrheitsbeweis ist dem Angeklagten in keiner Weise gelungen. Es wird zunächst behauptet, Hofprediger Stöcker sei ein Mann der Unwahrheit und Lüge; dies soll dadurch bewiesen werden, daß der Zeuge Stöcker die Stadtmission angewiesen habe, das „Berliner Tageblatt“ durch den „Reichsboten“ zu verdrängen. Sie haben gehört, meine Herren Richter, daß dies unwahr ist. Der Zeuge Stöcker hat eine derartige Anweisung niemals gegeben, er hat nur einmal mitgeteilt, daß es einem Berliner Stadtmissionar gelungen sei, das „Berliner Tageblatt“ durch den „Reichsboten“ zu verdrängen. Was die Vorgänge auf der Thüringer Kirchenkonferenz anlangt, so ist behauptet worden, Hofprediger Stöcker habe sich wesentlich an der Diskussion beteiligt, während er eine derartige Beteiligung in Abrede gestellt hat. Nun, wenn jemand eine Bemerkung von vielleicht sechs Worten macht, so kann man dies doch nicht eine wesentliche Beteiligung an der Debatte nennen.

Es leuchtet ein, daß es angesichts der überhäuften Arbeiten des Zeugen Stöcker nicht Wunder nehmen kann, wenn er anfänglich sich überhaupt nicht besinnen konnte, diese sechs Worte gesprochen zu haben. Was die Frage bezüglich der Unterschrift unter die Antisemitenpetition anlangt, so hätte er eigentlich mit Ja und auch mit Nein antworten können, denn tatsächlich hatte er die Petition, um die, wie er glaubte, es sich eigentlich nur handeln konnte, nicht unterzeichnet, er konnte nicht wissen, daß die für die Geistlichen bestimmte Petition schon an die Öffentlichkeit gelangt war. Ganz ähnlich verhält es sich mit seiner Erklärung der Gründerliste. Feststeht ja, daß ein Teil der Kapitalisten den Hexentanz um das goldene Kalb getanzt, und indem der Zeuge Stöcker dieses Gebaren an den Pranger stellte, wandte er die Spitze mehr gegen den Mammonismus, als gegen das Judentum, wie in der Hauptsache sich seine Agitation wohl nach dieser Richtung hin zuspitzt. Im weiteren wird dem Zeugen Stöcker der Vorwurf gemacht, er habe den Stadtverordneten Horwitz einen Juden genannt, obwohl dieser Christ sei. Ich muß bekennen, ich bin in Breslau zu Hause, und dort, wo die jüdische Bevölkerung äußerst zahlreich ist, würde jedermann, wenn er den Namen Horwitz hörte, von vornherein annehmen, daß der Träger ein Jude ist. Ebenso, wie es gewisse jüdische Erscheinungen gibt, so gibt es bekanntlich auch jüdische Namen. Bei dem Professor Schleyden konnte angesichts der von diesem herausgegebenen Schriften der Zeuge Stöcker auch wohl zu der Meinung kommen, daß Schleyden Jude sei. Was den Professor fessor Cassel anbelangt, so hat der Zeuge Stöcker nicht den Professor Paulus Cassel, sondern den Dozenten Cassel, einen Bruder des ersteren, der noch heute Jude ist, gemeint. Dr. Brandes, den Zeuge Stöcker als Juden bezeichnet hat, ist in der Tat Jude, wenn er sich auch zum Atheismus bekennt. Bezüglich des Falles Cremieux hat Stöcker in der Tat behauptet, in einer hiesigen Synagoge sei das Andenken von Cremieux, einem Manne, gefeiert worden, der das Ausweisungsdekret gegen die Deutschen aus Frankreich erlassen hat. Tatsache ist, daß die Feier stattgefunden hat; im übrigen ist der dabei dem Zeugen Stöcker passierte Irrtum um so verzeihlicher, als im Meyerschen Konversationslexikon zu lesen ist, Cremieux habe am 5. September 1870 das Ausweisungsdekret gegen die Deutschen aus Frankreich unterzeichnet. Es ist ferner die Behauptung widerlegt, daß der Zeuge Stöcker bezüglich der Entfernung des Bildnisses der Esther Solymossi eine Unwahrheit gesagt, und ebenso, daß Gelder, für Wohltätigkeitszwecke bestimmt, von ihm zu Agitationszwecken verwendet worden seien. Was den Vorwurf anlangt, Stöcker berufe kriminell bestrafte Subjekte mit voller Kenntnis ihrer dunklen Vergangenheit auf einflußreiche Posten in seiner Parteiagitation, so fällt diese Behauptung doch in sich zusammen, wenn man erwägt, daß Stöcker in seiner Eigenschaft als Geistlicher bemüht sein muß, bestraften ten Personen Gelegenheit zu geben, einen besseren Lebenswandel einzuschlagen. Was nun die inkriminierten Artikel selbst anlangt, so charakterisiert sich schon die Überschrift: „Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner“ als eine Beleidigung, wie sie nicht schlimmer gedacht werden kann. Wenn derartige Mittel angewendet werden, um eine Kandidatur zu bekämpfen, dann hört in der Tat alle anständige Polemik auf. Es dürfte ja allerdings gelingen, den Verfasser der inkriminierten Artikel zu ermitteln, allein der Angeklagte hat für die inkriminierten Artikel die volle Verantwortung übernommen, er hat durch sein ganzes Verhalten während dieser Verhandlung, ganz besonders durch seine an den Zeugen Stöcker gestellte Frage: ob letzterer in seinem Schulzeugnis als lügenhafter Knabe bezeichnet worden ist, sich zweifellos der Mittäterschaft schuldig gemacht. Bei Abmessung der Strafe wird zu erwägen sein, daß der Angeklagte schon mehrfach wegen Beleidigung bestraft ist, andererseits dürften die Angriffe, die der Zeuge Stöcker gegen die liberale Presse gemacht, dem Angeklagten mildernd zur Seite stehen. Ich beantrage angesichts dieser Sachlage eine Gesamtstrafe von fünf Monaten Gefängnis, Publikationsbefugnis für den Beleidigten, Hofprediger Stöcker, und Unbrauchbarmachung der noch vorhandenen Exemplare der inkriminierten Artikel sowie der zur Herstellung dieser gedienten Formen men und Platten.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Hoher Gerichtshof! Am 3. Januar 1878 berief der Hauptzeuge, Hofprediger Stöcker, eine Volksversammlung nach dem Eiskelleretablissement, um die christlich-soziale Partei zu begründen. Wie Herr Stöcker sich ausdrückte, sprang er mutvoll in den Abgrund hinab. 1870 und 1871 kämpfte die gesamte deutsche Nation gegen den übermütigen Feind, der das Vaterland zu vernichten drohte. Kaum war jedoch die christlich-soziale Partei gegründet, da wurde eine Bewegung entfacht, deren Flammen leuchteten bis nach Tisza-Eszlar und Neu-Stettin und mit einer allgemeinen Verhetzung, gegenseitiger Erbitterung und Hepp-Hepp-Rufen endeten. Der Vater dieser Bewegung war Hofprediger Stöcker. Gegen diesen Mann richteten sich die inkriminierten Artikel, die schwere Vorwürfe enthalten gegen einen Mann, der in einer der Stellung eines Priesters nicht entsprechenden Form die Staatsanwaltschaft zu Hilfe rief.

Ich nehme es dem Herrn Staatsanwalt nicht übel, wenn er am Anfang seiner Rede sagte: die Verhandlung hat ergeben, daß die gegen den Hauptzeugen Stöcker erhobenen Vorwürfe jeder inneren Berechtigung entbehren. Der Herr Staatsanwalt befand sich in der seltenen Lage, als Verteidiger auftreten zu müssen, denn in Wirklichkeit steht nicht mein Klient, sondern dern der Hauptzeuge Stöcker auf der Anklagebank. Allein es war nicht besonders geschickt vom Herrn Staatsanwalt, daß er in allen Punkten auf Freisprechung seines Klienten plädierte. Durch ein solches Plädoyer kann man der Sache seines Klienten bisweilen mehr schaden als nützen. Der Herr Staatsanwalt behauptet: der Hauptzeuge Stöcker habe in der Schöffengerichtssitzung vom 24. Januar d.J. durchaus korrekt gehandelt. Es ist ja möglich, daß Stöcker sich nicht gleich zu erinnern wußte, den Ewald schon einmal gesehen zu haben, dann hätte er doch aber sagen müssen: ich erinnere mich nicht, Herrn Ewald schon einmal gesehen zu haben. Es liegt also zum mindesten hier ein fahrlässiger Meineid vor. Der Herr Staatsanwalt sagte: ich möchte die Richter sehen, die den Zeugen Stöcker deshalb verurteilen würden. Nun, ich habe eine höhere Meinung von dem preußischen Richterstande, und ich sage: ich möchte den preußischen Richter sehen, der auf Grund dieses Tatbestandes nicht zu dem Ergebnis gelangen wird, daß zum mindesten ein fahrlässiger Meineid vorliegt. Die Tatsache bleibt bestehen: Herr Stöcker hat geschworen: er habe Ewald nie gesehen, die andere Tatsache steht auch fest: er hat ihn gesehen. Stöcker sagte einmal: Ein Pfarrer bedurfte 16 Stunden, um einen Bauersmann über die Sünde des Meineids aufzuklären. Zum Schluß weigerte sich der Bauer, den Eid zu leisten, da er sich fürchtete, vor den großen gewaltigen Gott hinzutreten und in seinem Namen etwas zu beschwören. Stöcker sagt in seinen Schriften: Es ist etwas Majestätisches, vor den gewaltigen Gott hinzutreten und auf seinen Namen zu versichern, die Wahrheit zu sagen. Wenn also dieser Mann einen Eid leistet, dann verlange ich von ihm doppelte Vorsicht. Zur Charakteristik des Hofpredigers Stöcker will ich sein Auftreten bei Beginn der Verhandlung erwähnen, indem er die Verteidiger perhorreszieren wollte, und er erst vom Vorsitzenden belehrt werden mußte, daß sein Verlangen ein ungesetzliches sei. Zur weiteren Charakteristik des Mannes dient sein Auftreten gegen den Pastor Witte und den Superintendenten Braasch. Ich gehe nun zur Sache selbst über und beginne damit, daß Stöcker den Stadtverordneten Horwitz als Juden bezeichnet hat. Der Herr Staatsanwalt bat hierbei seine subjektive Meinung zum besten gegeben, indem er sagte: In Breslau hält man jeden Menschen, der den Namen Horwitz führt, ohne weiteres für einen Juden. Ich bin der Meinung, man muß sich doch hüten, von derlei äußeren Dingen auf die Konfessionszugehörigkeit eines Menschen zu schließen. Ich kenne z.B. eine Anzahl Leute, die Meyer heißen und dennoch Christen sind. Herr Stöcker zitiert den Professor Cassel, da es sich aber herausstellt, daß das Zitat falsch ist, so sagt er: ich habe nicht den Professor, sondern den Rabbiner ner und Doktor Cassel gemeint. Ähnlich verhält es sich bei Schleyden und Brandes. Bezüglich des ersteren behauptet Stöcker zunächst: er sei Jude. Als ihm das Gegenteil bewiesen wird, sagt er: dann ist er jüdischer Abstammung. Und als ihm nun das Taufzeugnis, ein unzweifelhaft amtliches Dokument, vorgeleg! wird, sagt er, dann ist Schleyden noch viel schlimmer als ein Jude, dann ist er ein Judengenosse.

Dr. Brandes ist nicht Jude, sondern Atheist. Im weiteren passierte es dem Herrn Stöcker, daß nicht ein Jude, sondern ein frommer evangelischer Theologe ihn beschuldigte: er verquicke die Politik mit der Religion. Stöcker stellte diese Tatsache in Abrede mit dem Bemerken: Ein Berliner Stadtmissionar habe nur einmal das „Berliner Tageblatt“ durch den „Reichsboten“ verdrängt. Ich bemerke nun, daß die Stadtmissionare in dem Solde Stöckers stehen und daß Herr Stöcker sagte: er würde es sehr gerne sehen, wenn alle Berliner Tageblätter durch den „Reichsboten“ verdrängt werden könnten. Ich hätte nichts dagegen, wenn Herr Stöcker die Berliner Stadtmissionare mit der Propaganda für ein kirchliches Fachblatt beauftragte. Allein wenn man die Stadtmissionare, und wenn auch nur indirekt, auffordert, für ein so gut redigiertes Parteiblatt, wie der „Reichsbote“ es ist, Propaganda zu machen, so ist das offenbar eine Verquickung von Politik mit Religion. Herr Hofprediger Stöcker hat in Abrede gestellt, auf der am 2. und 3. Mai 1881 zu Eisenach stattgehabten Kirchenkonferenz an der Verhandlung teilgenommen zu haben. Er sagte wörtlich: ich habe an den Verhandlungen mich mit keiner Silbe beteiligt. Als er dieser Äußerung wegen der Unwahrheit geziehen wurde, sagte er: er habe allerdings eine kurze Bemerkung gemacht, eine Tatsache, die er im Drange der Geschäfte vergessen habe, es sei dies aber keine Beteiligung an der Verhandlung gewesen. Nicht ein Jude, sondern ein Amtsbruder, der Superintendent Braasch aus Jena, hat klar und deutlich bekundet: Die Worte, die Stöcker auf jener Kirchenkonferenz zu Eisenach gesprochen, waren eine sehr wesentliche Teilnahme an den Verhandlungen, und daß Stöcker dies vergessen konnte, ist unmöglich, dazu war der Moment, in dem Stöcker sprach, zu bedeutsam. Es steht ferner fest, daß Stöcker dem Grüneberg ein Buch übergeben hat, in dem die Republik als wünschenswerte Einrichtung bezeichnet wurde. Daß der Verfasser des Buches Superintendent geworden ist, will nichts bedeuten. Grüneberg war eben Sozialdemokrat, man konnte ihn deshalb nicht mit Traktätchen bekehren, sondern mußte ihm eine etwas radikale Kost geben. Es wird nun in den inkriminierten Artikeln weiter behauptet: Stöcker habe die ihm zu Wohltätigkeitszwecken übergebenen Gelder zu Agitationszwecken verwendet. Stöcker bezeichnet zeichnet das als unwahr, er habe an Kaisers Geburtstag und am Sedantage mit Hilfe dieser Gelder eine Anzahl armer Leute speisen lassen. Nun weiß aber jeder Mensch in Berlin, daß die Feste, die die christlich-soziale Partei an Kaisers Geburtstag und am Sedantage beging, im vollsten Sinne des Wortes Parteifeste waren. Man war bis dahin gewöhnt, daß Kaisers Geburtstag und der Sedantag von der ganzen Nation gemeinsam gefeiert wurden. Herr Stöcker und seine Partei taten jedoch plötzlich so, als hätten sie nur allein das Recht, Kaisers Geburtstag zu feiern, und als hätten sie die Schlacht bei Sedan allein geschlagen. Auf der Geburtstagsfeier des Kaisers im Jahre 1878 mußte sogar Grüneberg das erste Hoch auf den Kaiser ausbringen, damit Herr Stöcker melden konnte, seine Agitation habe schon derartig gewirkt, daß ein Sozialdemokrat das erste Hoch auf den Kaiser ausgebracht habe. Auch die Behauptung bezüglich der 2000 Mark, die zur Begründung eines Arbeiterasyls gegeben worden sind, hat sich als vollständig wahr erwiesen. Ich will an der Solvenz des Herrn Stöcker nicht zweifeln, jedenfalls sind die 2000 Mark nicht mehr vorhanden, sondern nur noch ein von Herrn Stöcker ausgestellter Schuldschein. Daß Hödel und Nobiling zur christlich-sozialen Partei gehört haben, steht fest. Ich will deshalb Herrn Stöcker keinen Vorwurf machen, allein wenn man erwägt, daß die sozialdemokratische tische Partei unter ein Ausnahmegesetz gestellt wurde, da die genannten Personen ihr als Mitglieder angehört haben sollen, da hätte es Herrn Stöcker die Pflicht gebieten müssen, zu sagen: Auch die christlich-soziale Partei hat es trotz ihrer Tendenzen nicht verhindern können, daß Subjekte, wie Hödel und Nobiling, sich ihr angeschlossen haben. Wer selbst im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Wenn nun Hofprediger Stöcker unaufhörlich gegen die liberale Presse zu Felde zieht und von ihren Redakteuren Reinheit des Charakters usw. verlangt, so ist es eine Ironie des Schicksals, daß der erste Redakteur, den sich Herr Stöcker engagierte, ein Zuchthäusler und der verantwortliche Redakteur seines Leibblattes, des „Christlich-sozialen Korrespondenzblattes“, ein Portier ist. Herr Stöcker hat ferner bewußt die Unwahrheit gesagt, als er im Abgeordnetenhause auf die an ihn gerichtete Frage, ob er die Antisemitenpetition unterzeichnet habe, mit einem Nein antwortete. Ich weiß nicht, was der Herr Staatsanwalt mit einem Zeugen machen würde, der ihm auf eine an ihn gerichtete Frage mit Ja und Nein antwortete. Ich behaupte, dem Hofprediger Stöcker schlug in dem Augenblicke, als er seiner Unterschrift wegen interpelliert wurde, das Gewissen. Er wußte, daß er mit seiner Unterschrift einem Teile der deutschen Staatsbürger das Bürgerrecht verkümmern wollte. Deshalb antwortete er mit Nein. Als ihm nun gesagt wurde: „Das ist nicht wahr, hier im ?Reichsboten? steht, daß Sie unterschrieben haben,“ antwortete er: „Ich habe nur die für die Geistlichen bestimmte Petition unterzeichnet.“ In dieser Verhandlung erfuhren wir, Stöcker habe die Petition, die ja ein Kind seiner Agitation war, zunächst unterzeichnet, alsdann seine Unterschrift wieder zurückgezogen und später wieder unterzeichnet. Jedenfalls hat Stöcker mit seiner verneinenden Antwort eine bewußte Unwahrheit gesagt. Nun aber traten 76 Männer, unter diesen Droysen, Mommsen, Virchow, Rickert usw., zusammen und erließen eine öffentliche Erklärung gegen das Gebaren der antisemitischen Partei. Herrn Stöcker kam es selbstverständlich darauf an, diese Männer zu verunglimpfen. Er erklärte frischweg, ein Viertel jener Notabeln habe den Hexentanz um das goldene Kalb mitgemacht. Aufgefordert, diese Leute namhaft zu machen, bemerkte er, er wolle dies nicht gleich tun, erst nach der Sitzung. Aber Herr Stöcker blieb im Hause isoliert, niemand wollte seine Liste haben. Als er einige Tage später um die Liste angegangen wurde, dauerte es bis zum 10. Dezember, ehe er mit ihr zum Vorschein kam. Ursprünglich sagte Herr Stöcker, er habe eigentlich bloß gemeint, daß zu jenen Notabeln einige Syndici und Direktoren von Aktiengesellschaften gehören. In der gegenwärtigen Verhandlung sagt Herr Stöcker wieder: „Es gab unter diesen 22 Leuten, die den Hexentanz um das goldene Kalb mitgemacht haben, gutartige und bösartige Gründer.“ Der Pfarrer zu Golgatha, Herr Pastor Witte, das Prototyp eines ehrbaren evangelischen Geistlichen, hielt Herrn Stöcker für weniger geeignet, im 6. Berliner Reichstagswahlkreise zu kandidieren, als einen Industriellen, den Fabrikbesitzer Hoppe. Was tut Herr Stöcker? Er verbreitet die Nachricht, Pastor Witte verschaffe jüdischen Leuten gegen Geldgeschenke Titel. Nachträglich behauptet Herr Stöcker, er habe das dem Potsdamer Oberlinverein geschenkte Pianino mit dem Pastor Witte gar nicht in Verbindung gebracht. Ich eile nun zum Schlusse und muß zunächst bemerken, daß meinem Klienten der § 193 des Strafgesetzbuches zur Seite steht. Im weiteren sind die unflätigen Angriffe, die Stöcker geständlich jahrelang gegen die liberale Presse geschleudert und des weiteren in Betracht zu ziehen, daß der Angeklagte Bäcker Jude ist, also der Konfession angehört, die Herr Stöcker seit Jahren mit den schmählichsten Angriffen bedacht hat. Der Umstand, daß der Angeklagte schon mehrfach wegen Beleidigung bestraft worden ist, kann wohl nicht erschwerend ins Gewicht fallen. Bei Vergehen wider das Eigentum usw. kann man wohl die Vorstrafen geltend machen, nicht aber bei Redakteuren, die wegen Beleidigung bestraft sind. Soviel steht fest, sollte der hohe Gerichtshof zu einem Schuldig gelangen, so ist der Angeklagte verurteilt, Stöcker aber gerichtet.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Ich sehe den Herrn Zeugen Stöcker nicht mehr im Saale; ich bedauere das, da möglicherweise noch eine Frage an ihn zu richten wäre; ich weiß nicht, ob der Gerichtshof ihn entlassen hat.

Vors.: Der Herr Staatsanwalt hat mich gefragt, ob ich gegen die Entfernung des Zeugen Stöcker etwas zu erinnern hätte, ich erwiderte, daß von meiner Seite dem nichts entgegenstehe.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Dann nehme ich an, daß Herr Stöcker nunmehr denjenigen Respekt vor der Verteidigung bekommen hat, den wir vorher an ihm vermißt haben. Die Lage, in die wir heute gekommen sind, weit weniger von dem Angeklagten als von dem Hauptzeugen zu hören, ist sehr bezeichnend. Auch der Herr Vorsitzende hat in einer gewissen Vorahnung am Beginn der Verhandlung die Sache eine Stöckersche genannt. Und, meine Herren, das ist sie in der Tat. Allerdings wird diese Stöckersche oder Bäckersche Sache mit einer Verurteilung des Bäcker enden müssen, denn ich bin selbst der Meinung, daß gegen die Anwendung des § 185 des Strafgesetzbuches sich nichts wird vorbringen lassen. Ich rechne nicht die große Reizung, welche gegen die liberale Presse vorausgegangen sein mag. Ich habe es immer so gehalten, nicht auf die Kampfesweise des Gegners hinabzusteigen, wenn dieser mit unwürdigen Mitteln angreift. Daß solch unwürdige Mittel angewendet worden sind, namentlich im Wahlkampfe 1881, ist nicht zu bezweifeln. Von dieser Kampfesweise möchte ich den Ausdruck: „Unzucht der Sprache“ für hübsch erachten; er bedeutet das, wogegen sich der anständige Mensch sträubt aus Widerwillen gegen den Begriff. Derartige Ausdrücke finden sich nicht nur in jener Kanalisationsphrase, sondern auch da, wo von dem Troge gesprochen wurde, aus dem die Tiere fressen – hier die Menschen – Eine Ausdrucksweise, welche sich darin gefällt, die mit Behagen schmutzige Bilder aufsucht, die darf man allerdings als eine solche bezeichnen, die im Munde eines Königlichen Hofpredigers überrascht. Ich will Schärferes nicht sagen. Wenn man dem Angeklagten einen Vorwurf daraus macht, daß er die heterogenen Begriffe Hofprediger und Lügner gegenüberstellt, so wird man gegenüber diesen Widersprüchen, die sich in den eigenen Auslassungen des Herrn Hofpredigers finden, selbst diese Ausdrucksweise als möglich zugegeben, sagen: Wie kann ein Mensch solche Ausdrücke gebrauchen, wenn er nicht muß? Man mag wohl streiten darüber, ob in der Politik jeder Angriff auf politische Gegner als durch den § 195 geschützt angesehen werden kann. Hier handelte es sich um die bevorstehende Wahl, hier war nicht der politische Gegner überhaupt, sondern der Kreis derjenigen hauptsächlich angerufen worden, welche den zweifelhaften Vorzug genossen, die Möglichkeit zu erleben, daß Herr Stöcker als ihr Vertreter gewählt wird. Es handelte sich also um das Recht, das jeder einzelne hat, die Ehre einer solchen Vertretung mit allen Kräften abzuwehren. Dazu gehört aber auch eine etwas derbe Sprache, wenn auch nicht eine solche, in der Herr Stöcker redet. Was ich von seiner Gesellschaft hier gesehen habe – ich bin dem Herrn Staatsanwalt aufrichtig dankbar für die Bekanntschaft von Zeugen wie Lahr, Masche usw. – das verträgt allerdings wohl ein starkes Wort. So tief gehen die Agitatoren der anderen Parteien nicht hinab, und es ist nicht genug anzuerkennen, daß Herr Stöcker in seiner christlichen Barmherzigkeit in die allertiefsten Tiefen hinabgestiegen ist und von dort einige Anhänger mit heraufgebracht hat. Glauben Sie denn nicht, daß es eine große Anzahl von Leuten gibt, welche der Meinung sind, daß es wünschenswert wäre, wenn Herr Virchow im zweiten Berliner Reichstagswahlkreise von Herrn Stöcker abgelöst würde, obwohl der eine Hofprediger ist und der andere nicht. Meinen Sie denn nicht, daß es viele gibt, welche der Hoffnung leben, daß sich die Überzeugung immer weiter verbreiten und einst Allgemeingut werden wird, daß es gut gewesen, wie es gekommen ist? Und wenn man dann in solcher aus ehrlicher Überzeugung entsprungener und darin gerechter Überzeugung einmal die starken Ausdrücke etwas kräftig wählt, so unterwirft man sich dem Strafgesetz und muß Strafe leiden. Aber es ist eine Strafe, die man gern leidet, wenn nur das Ziel erreicht wird. Und ich meine, wenn Sie, meine Herren Richter, wie ich vermute, in die Lage kommen, aus § 185 eine Strafe gegen den Angeklagten auszusprechen, dann kann meiner Überzeugung nach eine Gefängnisstrafe gar nicht in Betracht kommen. Der Angeklagte wird eine Geldstrafe gern zahlen, angesichts dessen, was diese Verhandlung gezeitigt hat. Wenn wir einen Beweis haben wollten dafür, was Herr Stöcker an falschen Tatsachen in seinen Angaben nachgewiesen hat, dann empfehle ich jedem zum Nachlesen das Plädoyer des Herrn Staatsanwalts. Der Herr Staatsanwalt hatte allerdings eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, um die ich ihn nicht beneide. Überall blickte es durch, daß der Beweis der Verteidigung gut geführt war, soweit der § 186 in Frage gestellt ist. Mein Mitverteidiger hat den Fall in Eisenach ausführlich behandelt. Ausreden will sich Herr Stöcker, das versteht er, aber es glückt ihm nicht immer. Er hat gesprochen, und das war entscheidend. Was spricht denn gegen den vernommenen Herrn Superintendenten? Er ist selbst Pastor und hat es wohl empfunden, was in jenem Augenblicke entscheidend war. Herr Stöcker hat’s vergessen. Für manche andere Dinge hat er ein ganz gutes Gedächtnis. Ich würde es ihm ja auch gern glauben, wenn er mit dieser Entschuldigung nicht so ungeheuer oft käme, denn es folgt dann gleich chronologisch die Antisemitenpetition. Ich wüßte nicht, wollte der Herr Staatsanwalt au seinen Hauptzeugen eine Satire abgeben, als er sagte: Herr Stöcker hätte die Frage, ob er die Antisemitenpetition unterzeichnet, mit Ja und Nein beantworten können. Der Herr Staatsanwalt konnte den Hofprediger Stöcker nicht besser charakterisieren. Das ist der Mann mit der Doppelzunge, der Ja und Nein für beides und eine Rechtfertigung stets auf Lager hat. Meine Herren! Jeder ehrliche Mann, jeder politisch anständige Mann, der doch weiß, daß in dieser Sache, die sein Werk ist, er einmal eine Unterschrift gegeben hat, wie der auf eine solche Frage, ob er unterschrieben hat, sagt: Nein, ich habe nicht unterschrieben, weil er bei sich den Vorbehalt, reservatio mentalis nennen es die Jesuiten, zu denen doch bis jetzt Herr Stöcker nicht gehört, weil er den Vorbehalt sich macht, ich habe die Unterschrift wieder weggewischt. Wenn er das, was er vor dem Abgeordnetenhause zu tun die Kühnheit hatte, täte unter Eideszwang, vielleicht brauchte der Herr Staatsanwalt die Richter, die ihn dann verurteilen würden, nicht so weit zu suchen; ich glaube, er könnte sie ganz in der Nähe finden. Und so war es auch mit der Gründerliste, wo er die Leute nicht genannt, aber beschuldigt hat. Herr Stöcker ist ein christlich milder Mann, und deshalb erbarmt er sich ehemaliger Zuchthäusler, um sie zur Erziehung des Volkes in literarischer Beziehung zu verwenden, und entdeckt in braven Portiers plötzlich solche Talente, daß er sie zur Redaktion seines Leiborgans für fähig hält.

Das ist doch geradezu eine Verhöhnung alles dessen, was man sonst auch im allgemeinen journalistischen Leben nicht gerade für sehr nobel hält. Den Anforderungen des politischen Anstandes im Abgeordnetenhause zeigte er sich nicht gewachsen. Aber auch die Anforderungen der redlichen Geschäftsführung hat er nicht erfüllt, denn die Sache mit der durch einen Schuldschein ersetzten 2000 Mark entspricht diesen Anforderungen nicht ganz. Was würde wohl der Herr Staatsanwalt sagen, wenn ein Kassenverwalter, der zu bestimmten Zwecken eine Summe Geldes erhält, diese einfach für sich verwendet und der Revisor dann an Stelle des Geldes einen Schuldschein des Kassenverwalters vorfindet. Wenn somit der Nachweis klipp und klar erbracht ist, daß der Hofprediger Stöcker nicht bloß gegen die gewöhnlichen Anstandspflichten, sondern auch gegen die Anstandspflichten einer ehrlichen und redlichen Geschäftsführung sich vergangen hat, so verschwindet diese Feststellung doch gegen die Tatsache, daß – was bei einem religiös so hoch beanlagten Menschen doppelt schwer ins Gewicht fällt – er sich auch vergangen hat gegen die Eidespflicht, über welche er so schöne Worte gesprochen hat, daß er diesen Eid nicht so respektiert, wie es sonst jeder einfache Mensch für seine Pflicht zu halten pflegt. Er mag sich drehen und wenden wie er wolle, es ist nachgewiesen worden, daß Herr Stöcker einen falschen Eid geleistet hat. Soweit die inkriminierten Artikel Tatsachen enthalten, sind sie Punkt für Punkt festgestellt und müssen als erwiesen gelten. Ich bitte aber dringend, noch folgendes zu erwägen. Die Artikel sind geschrieben aus einem ehrlichen Gefühl heraus, aus dem Abscheu über das Treiben dieses Mannes, aus der Gewissenspflicht, diesem Manne die Maske vom Gesicht zu reißen, der da prätendierte, daß der zweite Berliner Wahlkreis der Ehre teilhaftig würde, durch ihn vertreten zu werden, und der da meinte, einen Mann wie Virchow verdrängen zu können. Die Artikel sind aus dem Gefühl heraus geschrieben, daß der Keulenschlag endlich einmal niederfallen mußte; die Artikel haben dazu Anlaß gegeben, und die Verhandlung hat diese Anregungen in dankenswerter Weise fortgesetzt. Ich bitte deshalb, soweit der Gerichtshof annimmt, daß ein Verstoß gegen den § 185 vorliegt, mit Rücksicht auf das Gute, das der Prozeß gestiftet hat, überall mildernde Umstände walten zu lassen und eine Geldstrafe auszusprechen, die der Ehre desjenigen entspricht, der beleidigt worden ist. Die Höhe der Geldstrafe will ich nicht taxieren, meine Taxe könnte sonst vielleicht etwas gar zu niedrig ausfallen.

Staatsanwalt Weichert: Ich habe es bisher immer für eine hohe Aufgabe der Staatsanwalts sowohl als auch der Verteidigung gehalten, möglichst objektiv zu bleiben und die Leidenschaften zu unterdrücken, anstatt sie zu entfesseln. Deshalb habe ich mein Plädoyer so knapp wie möglich gehalten und auch die einzelnen Punkte so kurz wie möglich berührt. Es hätte mir sonst sehr nahegelegen, auch auf die Kampfesweise derjenigen Presse, welcher der Angeklagte angehört, einzugehen. Ich bedauere, daß die schon so schlechte Atmosphäre in diesem Saale verschlechtert ist, nicht durch den Angeklagten, sondern durch die Art und Weise, wie die Verteidigung jede Gelegenheit benützt, um wieder neue Anklagen auf den abwesenden Zeugen Stöcker zu häufen, Anklagen, die doch notwendigerweise wieder zu neuen Erhebungen und Erörterungen führen müßten. Ich unterlasse es deshalb, darauf zu antworten.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich erwidere dem Herrn Staatsanwalt, daß ich nicht gewohnt bin, Belehrungen anzunehmen, wie ich mich in meinem Plädoyer zu verhalten habe, ebensowenig wie ich dem Herrn Staatsanwalt Belehrungen geben will. Wenn aber der Herr Staatsanwalt meint, daß die Leidenschaften durch die Verteidigung entfesselt worden sind, so weise ich einfach darauf hin, daß der Vorsitzende keine Veranlassung gefunden hat, mich zu rektifizieren. Was das Wort von der Verschlechterung der Atmosphäre betrifft, so ist zum mindesten diese Ausdrucksweise nicht sehr glücklich gewählt, denn sie erinnert einigermaßen an die von uns gerügten Bilder, die sich in den Stöckerschen Redesätzen vorfinden. Nicht unsere Leidenschaft verschlechtert die Atmosphäre, sondern das, was wir aus der Rüstkammer Stöckerscher Journalistik hier auszukramen genötigt waren.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Zu meinem Bedauern ersehe ich aus den Bemerkungen des Herrn Staatsanwalts, daß sich doch ein leiser Anflug von der Stöckerschen Kanalisationsredeweise auch in sein Plädoyer verirrt hat...

Vors. (unterbrechend): Ich glaube von mir behaupten zu können, daß ich mich redlich bemüht habe, aus diesen Verhandlungen im allgemeinen Interesse jede persönliche Heftigkeit möglichst fernzuhalten, und ich glaube, daß, wo hier und da ein hartes Wort aus meinem Munde gekommen sein sollte, dies wohl seine Entschuldigung darin finden kann, daß es ungemein schwer ist, die Ruhe immer dort zu behalten, wo einem das an und für sich schon schwere Amt noch vielfach unnütz schwer gemacht wird. Ich habe beiden Seiten den weitesten Spielraum gelassen und will dem zweiten Herrn Verteidiger nicht verhehlen, daß nach meinem Gefühle der satirische Ton, in welchem er die Verteidigung führte, nicht immer derjenige war, der dem Ernst der Sache ganz entsprach. Seine letzte Bemerkung aber muß ich als verletzend entschieden zurückweisen. Das geht über die zulässige Grenze doch hinaus, und nun bitte ich den Herrn Verteidiger, in dem Tone des Anstands und der Höflichkeit fortzufahren.

Vert. Rechtsanwalt Munckel: Sie haben, Herr Vorsitzender, den Ton, welchen ich angeschlagen habe, in einen gewissen Gegensatz gebracht zu dem Tone der Anständigkeit und Höflichkeit.

Vors.: Das habe ich nicht gesagt.

Rechtsanwalt Munckel: Ich konstatiere, daß Sie es als zulässig erachtet haben, daß mir der Herr Staatsanwalt eine Verschlechterung der Atmosphäre vorwirft. Da Sie diesen Ausdruck zuließen, haben Sie ihn als parlamentarisch anerkannt. Ich habe mich dagegen verwahrt in einer nach meiner Überzeugung mindestens ebenso parlamentarischen Form. Wenn ich nun eine Belehrung empfangen soll über das, was anständig ist, so kommt diese etwas spät. Ich weiß dies seit 25 Jahren bereits so gut wie der Herr Vorsitzende – und ich bin sehr stolz – vielleicht noch etwas besser. Und wenn der Herr Vorsitzende gefunden haben will, daß der von mir angeschlagene Ton dem Ernst der Sache nicht entspricht, dann kennt er eben meinen Ton nicht. Glauben Sie etwa, ich scherze über einen Mann wie Stöcker? O nein, es ist mir bitterer Ernst. Ist es etwa meine Schuld, daß ich meine Meinung über den Zeugen Stöcker in seiner Abwesenheit sagen muß? Ich hätte es ihm am liebsten laut ins Ohr gesagt. Was ich gesprochen, spreche ich nicht zum Scherz, sondern in tiefer sittlicher Entrüstung und vertrete ich vor diesem und jedem anderen Kollegium, wenn mich der Herr Staatsanwalt etwa mit einer Anklage bedenken will.

Staatsanwalt Weichert: Ich habe zu erklären, daß es mir vollständig ferngelegen hat, mich in so unsauberen Phantasien zu bewegen, wie sie mir die Verteidigung unterzulegen scheint. Wenn ich von der Verschlechterung der Atmosphäre gesprochen habe, so war dabei ein rein äußerliches Moment, die große Hitze in diesem Saale, der anregende Faktor. Aber ich erkläre, daß ich es unerträglich finde, wenn die Verteidigung dazu benutzt wird, die Schmähungen noch zu potenzieren.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich bedauere, daß von dem bevorzugten Platz der Staatsanwaltschaft aus solche Klagen gegen die Verteidigung gerichtet werden. den.

Vors.: Ich versichere nochmals, daß es mein Bestreben gewesen ist, Licht und Schatten gleichmäßig zu verteilen. Ich habe nicht behauptet, daß der Ton der Verteidigung die Grenzen des Anstandes überschreite, allein ich muß es aussprechen, daß der sarkastische Ton des zweiten Verteidigers eine gewisse Schärfe enthält.

Vert. Rechtsanwalt Munkel: Das liegt jedenfalls in meiner Natur.

Vors.: Das mag sein. Jedenfalls weiß ich nicht, weshalb der Herr Verteidiger sein Gefühl für Höflichkeit und Anständigkeit, welches er schon seit 25 Jahren kennt, höher stellen will, als mein eigenes.

Rechtsanwalt Munckel: Der Anstand, den ich seit 25 Jahren kenne, ist derjenige, der in Gerichtssälen zu Hause zu sein pflegt, sonst ist mir der Anstand schon seit 48 Jahren bekannt.

Am vierten Verhandlungstage eröffnete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Lüty, die Sitzung mit folgenden Worten: Wie ich bereits am Sonnabend sagte, ist es nicht meine Gewohnheit, anonyme Briefe zur Verlesung zu bringen. Ich habe jedoch gestern einen Brief erhalten, der so charakteristisch ist, daß ich glaube, ihn der Öffentlichkeit nicht vorenthalten zu sollen. Der Vorsitzende ersuchte den Beisitzenden, Landgerichtsrat Markstein, den Brief vorzulesen. Dieser ser lautete etwa folgendermaßen: Herr Präsident, noch ist es Zeit. noch können Sie wählen. Wollen Sie von unserer Partei sehr anständig belohnt sein, oder von unserer nicht zu unterschätzenden Presse gemaßregelt und mit Schmutz beschmissen sein, dann befreien sie den Bäcker vor jeder Strafe und bestrafen Sie den Lügner im Talar und Judenhasser Stöcker, oder machen Sie es umgekehrt. Sie haben also die Wahl. Wählen Sie, ich warne Sie noch rechtzeitig, machen Sie Ihre Sache gut, d.h. bringen Sie den Lügner im Talar dahin, wohin er gehört. Sie möchten es sonst sehr bereuen, und dann bedenken Sie die schönen Geschenke, welche Sie sich verscherzen würden. Also blamieren Sie Stöcker recht sehr und geben Sie ihm einen Tritt, d.h. geben Sie ihm unrecht. Auf alle Fälle machen Sie die ?Freie Zeitung? recht frei, d.h. krümmen Sie unserem Bäcker kein Haar. Wenn Sie etwa glauben sollten, diese Zeilen habe ein Jude geschrieben, so irren Sie sich, das tut kein Jude, die sind dazu zu gewissenhaft. Es ist ein freisinniger Christ, aber keiner von der Stöckerschen Sorte. Paul Müller, Republikaner und Stöcker-Hasser.

N.B. Wir sind eine mächtige Partei, was wir wollen, setzen wir durch.

Vors.: Ich bemerke hierzu: wenn ich mit Schmutz beworfen werde, dann kennt die Öffentlichkeit wenigstens die Ursache. Im übrigen scheint der ?Republikaner ner Müller? einen ganz eigentümlichen Begriff von der Unbestechlichkeit deutscher Richter und von der Selbständigkeit meiner Herren Kollegen zu haben, denn er scheint der Meinung zu sein, daß ich das Urteil selbständig zu fällen habe. Ich werde auch diesen Brief zu den Akten nehmen.

Vert. Rechtsanwalt Sachs: Ich erlaube mir zu bemerken, daß ich ebenfalls mehrere Briefe, in denen ich mit den ärgsten Schimpfworten bedacht worden bin, erhalten habe.

Vors.: Ich glaube Ihnen das gern, Herr Rechtsanwalt. Ich frage nur, sind sonst noch irgendwelche Anträge zu stellen? Da dies von keiner Seite geschah, so erbat sich der Vorsitzende diejenige Nummer der Berl. „Volkszeitung“ vom Rechtsanwalt Sachs, in der ein Bericht aus dem „Staatssozialist“ über eine Rede Stöckers gegen die liberale Presse abgedruckt ist, und die Stöcker im allgemeinen als richtig anerkannt hat. Alsdann zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück.

Nach etwa drei Stunden verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Lüty, folgendes

Urteil:

Ich muß zunächst um Entschuldigung bitten, wenn ich aus Anlaß einer kleinen Indisposition, die wohl weniger eine Folge der langen Verhandlungen als eine Folge der herrschenden großen Hitze ist, vielleicht etwas weniger klar als sonst bei der Urteilsmotivierung bin. Ich werde dennoch bemüht sein, die wesentlichen Gründe des Erkenntnisses mitzuteilen. Das Gesetz schreibt nur vor, daß die wesentlichen Gründe mitgeteilt werden, verlangt aber nicht, daß dies mit der größten Genauigkeit geschehe. Es ist unzweifelhaft, daß der gegenwärtige Prozeß ein Tendenzprozeß, ein Parteiprozeß ersten Ranges ist, in dem, wie die Verhandlungen klar ergeben haben, die Wogen der Leidenschaft und Leidenschaftlichkeit ganz außerordentlich hoch gingen. Es galt eine Persönlichkeit, einen Gegner, einen Hauptgegner zu bekämpfen, ganz besonders zur Zeit seine Wahl zu vereiteln. Dies war der Grund, daß die Sonde zu scharf an die Persönlichkeit und an den Charakter des beleidigten Zeugen Stöcker gelegt wurde. Es war daher eine um so größere Pflicht des Gerichtshofes, bei Beratung der vorliegenden Angelegenheit das Persönliche vom Sachlichen streng zu trennen, die Spreu vom Weizen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Der Gerichtshof ist nach eingehender Beratung zu der Ansicht gelangt, daß der Angeklagte Bäcker, der noch heute verantwortlicher Redakteur der „Freien Zeitung“ ist, für die in den Nummern 239 und 240 der genannten Zeitung vom Oktober 1884 enthaltenen inkriminierten Artikel voll verantwortlich ist, und er ist ferner der Meinung, daß die in den Artikeln enthaltenen Ausdrücke wie „Ehrabschneider“, „Lügner“ usw., ganz besonders aber die Überschrift: „Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner“ Beleidigungen schwerster Art im Sinne des § 185 des Strafgesetzbuches sind. Wenn der Angeklagte hierbei den § 195 des Strafgesetzbuches für sich in Anspruch nimmt, so ist diese Forderung von der Hand zu weisen, da nach einer alten Judikatur die Presse in Wahrnehmung berechtigter Interessen kein größeres Recht hat als jeder Privatmann. Anders verhält es sich in dieser Beziehung, wenn eine Fachzeitung für die Verfechtung gewisser Grundsätze in die Schranken tritt. Jedenfalls gewährt der § 193 keinen Schutz, sobald aus der Form oder aus den Umständen die Absicht, zu beleidigen, hervorgeht. Ich will vorweg bemerken, daß die Behauptung bezüglich der Vorgänge auf der Eisenacher Kirchenkonferenz, der Antisemitenpetition, des Hexentanzes um das goldene Kalb, die Affäre Löschmann, der Konflikt mit Pastor Witte usw. nicht als Beleidigungen im Sinne des § 186 des Strafgesetzbuches ches angesehen worden sind. Der Gerichtshof hat es für festgestellt erachtet, daß der Zeuge Stöcker entweder aus Rachsucht oder aus Ehrgeiz einen Amtsbruder, den Pastor Witte, in öffentlicher Versammlung hat angreifen lassen, weil dieser für die Kandidatur Hoppe im sechsten Berliner Reichstagswahlkreise eintrat. In den inkriminierten Artikeln ist ferner behauptet worden: Hödel und Nobiling seien Mitglieder der christlich-sozialen Partei gewesen, und um dies zu vertuschen, seien die betreffenden Mitgliederlisten beseitigt worden. Daß Hödel Mitglied der christlich-sozialen Partei gewesen, ist durch eine dem Gerichtshof vorgelegte Liste, in der der Name Hödel durchstrichen war, festgestellt worden. Anders liegt jedoch der Fall bezüglich des Nobiling. Ob dieser je Mitglied der christlich-sozialen Partei gewesen, ist nicht bewiesen; der Gerichtshof ist der Meinung, Nobiling war niemals Mitglied der genannten Partei. Der Umstand, daß, als dem Zeugen Grüneberg die Photographie des Nobiling vorgelegt wurde, dieser sich zu erinnern glaubte, den Nobiling einmal im Bureau der christlich-sozialen Partei gesehen zu haben, ist kein Beweis. Der Umstand, daß der in der Mitgliederliste verzeichnet stehende Nobiling angeblich am Elisabethufer wohnte und 9 Monate lang seine Beiträge gezahlt hatte, spricht dafür, daß dieser Nobiling mit demjenigen, der das Attentat gegen Se. Majestät den Kaiser verübt hat, nicht identisch ist. Wenn nun in den inkriminierten Artikeln behauptet wird, die Mitgliederliste sei gefälscht worden, um die Behörde zu täuschen, so ist diese Behauptung offenbar geeignet, den Zeugen Stöcker in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen.

Was die Behauptung anlangt, daß Gelder, die zu mildtätigen Zwecken bestimmt waren, zu Parteizwecken verwendet worden sind, so steht es fest, daß der christlich-sozialen Partei resp. dem Zeugen Stöcker eine Anzahl Gelder übergeben worden sind, um an einem Festtage einigen armen Leuten Speise und Trank verabreichen zu lassen. Zu diesen edlen Gebern zählten auch Ihre Majestät die Kaiserin und Se. K.K. Hoheit der Kronprinz. Wenn nun der Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers als solcher Festtag gewählt wurde und ausschließlich Leute der Stöckerschen Parteirichtung an jener festlichen Bewirtung teilgenommen haben, so ist dem Wunsche der Geber immerhin vollständig entsprochen worden. Wir haben außerdem vom Zeugen Grüneberg gehört, daß die für Wohltätigkeitszwecke bestimmten Gelder von den anderen räumlich vollständig getrennt waren. Wenn nun behauptet wird: Stöcker verwende die ihm zu Wohltätigkeitszwecken übergebenen Gelder zur Verabreichung von Freibier und Zigarren, um sich Wahlstimmen zu erkaufen, so ist das in hohem Maße geeignet, eignet, den Zeugen Stöcker in der öffentlichen Meinung herabzusetzen. Wenn der Gerichtshof den Zeugen Grüneberg, der seine gesammelten Denkwürdigkeiten für 30 Mark verkauft hat, auch nicht gerade für einen klassischen Zeugen hält, so dürfte ihm doch, wenn er als Abtrünniger eine Aussage zugunsten Stöckers macht. Glauben beizumessen sein. Zu der ersten Gruppe gehört ferner die Behauptung bezüglich der 2000 Mark, die der Zeuge Stöcker zur Herausgabe von Parteischriften verwendet haben soll, und die Behauptung: Stöcker habe einen Falscheid geleistet. Dieser letztere Fall kann hier wenig in Betracht kommen, da die inkriminierten Artikel geschrieben sind im Oktober 1884 und der Eid am 24. Januar 1885 geleistet worden ist. Der Angeklagte konnte doch drei Monate vorher die betreffende Eidesleistung nicht kennen. Aus diesem Grunde hat auch der Gerichtshof eine weitere Beweisaufnahme abgelehnt. Diese Angelegenheit könnte höchstens für die Glaubwürdigkeit Stöckers in Betracht kommen. Bei Beurteilung dieses Punktes kommt es aber wesentlich auf die näheren Umstände der Eidesleistung an, eine mildere Beurteilung kann aber der Angeklagte deshalb nicht in Anspruch nehmen. Zur dritten Gruppe gehört der Fall Cremieux und der Fall bezüglich der „Konkordia“, die Übergabe des Buches von Todt an Grüneberg zur Lektüre, das angeblich falsche Zitat von dem Professor sor Paulus Cassel und der Fall Brandes. Was den Fall Cremieux anlangt, so hat der Zeuge Stöcker zugegeben, er habe geglaubt, Cremieux habe das Ausweisungsedikt gegen die Deutschen erlassen, während dies tatsächlich unter dem Kaiserreich geschehen ist. Die Behauptung bezüglich der „Konkordia“ ist durch Stöcker widerlegt worden. Alle anderen genannten Punkte scheiden von der Beurteilung aus, da sie ganz gleichgültiger Natur sind. Dieselbe Auffassung hat der Gerichtshof bezüglich des Falles mit der Esther Solymossy gehabt, wobei dem Zeugen Stöcker selbst nicht ganz klar gewesen, daß behauptet worden, er habe von einer Prostituierten gesprochen. Ebenso unerheblich ist der Fall Horwitz und Schleyden. Es war ein leicht begreiflicher Irrtum, wenn Stöcker diese beiden als Juden bezeichnete. Was die Unterschrift des Zeugen Stöcker unter die Antisemitenpetition anlangt, so hat der Zeuge selbst zugestanden, daß er die Petition zunächst unterschrieben, dann aber auf Auffordern des Dr. Förster, d.h. also nicht freiwillig, seine Unterschrift zurückgezogen und alsdann die an die Superintendanten und Geistlichen versandte Petition unterzeichnet habe. Er hätte deshalb, als er gefragt wurde, ob er die Petition unterzeichnet habe, mit Ja antworten müssen. Ebenso verhält es sich bezüglich der Behauptung des Zeugen Stöcker: ein Viertel der Unterzeichner der sogenannten Notabeln-Erklärung rung habe den Hexentanz um das goldene Kalb mitgemacht. Ein Hexentanz kann niemals ein guter Tanz, d.h. ein Tanz in gutem Sinne sein. Und wenn ihn auch augenblicklich niemand um die Liste der von ihm bezeichneten Gründer anging, so hätten ihm doch Mittel und Wege genug zu Gebote gestanden, um die Liste zu veröffentlichen. Er befand sich aber, als er die Erklärung bezüglich des Hexentanzes machte, offenbar in einem Irrtum, den er nachträglich bereute.

Ferner ist die Behauptung des Professors Dr. Beyschlag: der Zeuge Stöcker verquicke die Politik mit der Religion erwiesen. Wenn auch Stöcker bekundete: er habe den Stadtmissionaren keinen Auftrag gegeben, das „Berliner Tageblatt“ durch den „Reichsboten“ zu verdrängen, so hat er diese Handlungsweise der Stadtmissionare, wie er selbst zugegeben hat, gebilligt. Als erwiesen muß im weiteren angenommen werden, daß sich der Zeuge Stöcker an der Debatte auf der Kirchenkonferenz zu Eisenach beteiligt hat, und zwar in einer so bedeutsamen Weise, daß er diese Beteiligung wohl nicht vergessen konnte. Was endlich die 2000 Mark anbetrifft, die dem Zeugen Stöcker zur Errichtung eines Arbeiterasyls übergeben wurden, und bezüglich deren in den inkriminierten Artikeln behauptet wird: Stöcker habe diese Summe zu Parteizwecken verwendet, so ist durch das eigene Zugeständnis Stöckers festgestellt, daß diese 2000 Mark von Stöcker der Berliner Stadtmission übergeben worden sind, und daß anstatt dieser Summe nur noch ein von Stöcker und dem Berliner Stadtmissionsverein ausgestellter Schuldschein existiert. Erwiesen ist ferner, daß der Zeuge Stöcker einen Portier zum Redakteur seines Blattes und einen mit Zuchthaus bestraften Menschen als Redakteur engagiert hat. Der Umstand, daß Stöcker den Löschmann engagiert hat, um ihn zu bessern, kann an der Tatsache nichts ändern. Was das Strafmaß anlangt, so fällt mildernd ins Gewicht, daß der Angeklagte jüdischer Konfession ist. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß der Angeklagte seinen Glauben und den Glauben seiner Väter nicht lieb haben kann, wenn er durch die Angriffe Stöckers gegen seinen Glauben nicht tief gekränkt und empört wäre, und zwar um so mehr, da diese Angriffe von einem Geistlichen geschehen sind. Mildernd fällt ferner ins Gewicht, daß der Angeklagte Redakteur eines liberalen Blattes ist, also einer Partei und Presse angehört, die der Zeuge Stöcker in der schärfsten Weise angegriffen hat. Der Gerichtshof teilt andererseits vollkommen die Auffassung des Herrn Staatsanwalts, daß dem Geistlichen ein größerer Schutz des Gesetzes als jedem anderen Privatmann zuzugestehen sei, da das Volk mit Ehrfurcht und Achtung zu dem Geistlichen emporschauen soll. Dieser Anspruch auf größeren Schutz erfordert aber selbstverständlich, verständlich, daß der Geistliche sich von aller politischen Parteiagitation fernhält. Wenn sich der Geistliche jedoch in die Brandung der politischen Parteiagitation begibt, dann darf er sich nicht beklagen, wenn er Angriffe erfährt, und er kann alsdann nicht einen größeren Schutz, wie er sonst einem Geistlichen zugestanden wird, beanspruchen. Das Auftreten Stöckers in dieser Verhandlung hat dem Gerichtshof die Überzeugung beigebracht, daß er sehr heftigen Charakters ist. Ich bin vom Gerichtshof ausdrücklich beauftragt worden, zu erklären, daß die Angriffe Stöckers mindestens leichtfertig zu nennen sind. Dies rechtfertigt allerdings die Handlungsweise des Angeklagten nicht; dieser hätte seine Angriffe in eine ganz andere Form, die die Grenzen des Strafgesetzes nicht überschreitet, kleiden können. Durch die grobe Form, die er gewählt, hat er der Sache, die er vertritt, mehr geschadet als genützt. Die gegenwärtige Verhandlung ist bekanntlich nicht arm an persönlichen Ausfällen gewesen, die der Gerichtshof nicht immer zurückweisen konnte, um nicht nach irgendeiner Seite hin zu verletzen. Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, daß der Zeuge Stöcker in demselben Moment, wo er die Hilfe des Richters anrief, selbst das Gesetz verletzte, indem er in seinem Strafantrage schreibt: „Die große Frechheit macht eine recht harte Strafe erforderlich.“ Der Zeuge Stöcker handelte aber offenbar in einem Zustande stande großer Gereiztheit, denn es ist nicht zu verkennen, daß ihm in den inkriminierten Artikeln die ehrenrührigsten Dinge vorgeworfen werden. Es konnte demnach eine Kompensation nicht eintreten. Strafschärfend kommt nun gegen den Angeklagten in Betracht, daß er schon mehrfach, und zwar einmal wegen Majestätsbeleidigung, bestraft ist. Der Gerichtshof war nach eingehender Erwägung nicht in der Lage, auf eine bloße Geldstrafe zu erkennen, er ist jedoch, in Anerkennung aller Tatsachen weit unter das beantragte Strafmaß des Herrn Staatsanwalts heruntergegangen. In der Erwägung alles dessen hat der Gerichtshof im Namen des Königs für Recht erkannt, daß der Angeklagte, Redakteur Heinrich Bäcker, der Beleidigung in drei Fällen schuldig und deshalb zu einer Gefängnisstrafe von drei Wochen zu verurteilen ist. Ferner auf Unbrauchbarmachung der Platten und Tragung der Kosten durch den Angeklagten.

Die Vorgänge in der Provinzial-Arbeitsanstalt zu Brauweiler vor Gericht

(Mundbinde, Zwangsjacke)

In Kriminalmuseen werden die Folterwerkzeuge, die man im Mittelalter gegen Verbrecher anwandte, teils um sie für ihre Missetaten zu bestrafen, teils um sie zu „Geständnissen“ zu bewegen, zur öffentlichen Schau gestellt. Wer mag nicht einen Schauer beim Anblick dieser Marterinstrumente empfinden und sich mit dem Gedanken trösten, daß derartige Vorkommnisse längst überwunden sind!

Allein das ist bedauerlicherweise eine arge Täuschung. Die Vorkommnisse im Aachener Alexianer – Kloster „Mariaberg“ (siehe Band 1), in der „Fürsorgeerziehungsanstalt zu Mieltschin“ (siehe Band 4), die Vorkommnisse in der sogenannten „Blohmschen Wildnis“ und ganz besonders in der „Provinzialarbeitsanstalt“ zu Brauweiler liefern den Beweis, daß unsere vielgerühmte Kultur nur oberflächlich ist und daß die Anschauungen des Mittelalters noch lange nicht überwunden sind. Ist es nicht geradezu beschämend, daß ein so geistig hochstehender Mann, ein Wissenschaftler ersten Ranges, wie der Geheime Justizrat Prof. Dr. jur. et theol. Kahl, ordentlicher licher Professor an der Berliner Universität, auf dem letzten (September 1912) zu Wien stattgefundenen deutschen Juristentag, für Beibehaltung der Todesstrafe eingetreten ist, weil – nun „weil die große Mehrheit des deutschen Volkes die Beibehaltung der Todesstrafe verlangt.“ Und noch beschämender ist es, daß die große Mehrheit des deutschen Juristentages sich für die Beibehaltung der Todesstrafe erklärt hat. Zunächst ist es grundfalsch, sehr geehrter Herr Professor, daß die große Mehrheit des deutschen Volkes die Beibehaltung der Todesstrafe verlangt. Die letzten Reichstagswahlen haben den unwiderleglichen Beweis geliefert, daß ein sehr erheblicher Teil des deutschen Volkes sozialdemokratischen Anschauungen huldigt. Daß diese Leute nicht für die Beibehaltung der Todesstrafe stimmen, ist sicher. Aber angenommen, die Mehrheit des deutschen Volkes wäre für Beibehaltung der Todesstrafe, so würde dieser Umstand die Haltung des deutschen Juristentages noch durchaus nicht rechtfertigen. Eine Körperschaft wie der deutsche Juristentag soll sich nicht von der Volksmeinung leiten lassen, sondern dem Volke zur Kultur und Zivilisation die Wege ebnen. Wenn das Volk für Wiedereinführung der Prügelstrafe, des Feuertodes und ähnlicher mittelalterlicher Martern wäre, dann müßte, nach der Logik des Herrn Professors Kahl, der deutsche Juristentag sich auch hierfür erklären. Glücklicherweise herrscht in weiten Schichten des deutschen Volkes eine andere Anschauung, die trotz rückständiger Universitätsprofessoren und sonstiger reaktionärer, weltfremder Juristen, es verhindern wird, daß mittelalterliche Einrichtungen in unserem Vaterlande wieder Eingang finden. Herr Professor Kahl scheint eine Anzahl Stammtisch-Bierphilister für das deutsche Volk zu halten. Wenn Herr Professor Kahl und diejenigen Mitglieder des deutschen Juristentages, die seinen Ausführungen zustimmten, nur ein einziges Mal einer Hinrichtung beigewohnt hätten – ich war beruflich genötigt, etwa einem Dutzend Hinrichtungen beizuwohnen – dann wäre ihre Ansicht vielleicht eine andere gewesen. Ist den Herren nicht bekannt, daß vor Einführung des deutschen Strafgesetzbuches (1870) in mehreren deutschen Staaten, wie Anhalt, Oldenburg, Bremen und Königreich Sachsen, die Todesstrafe abgeschafft war und daß sie vom Januar 1866 bis August 1878 in Preußen nicht angewendet wurde? Im Januar 1866 wurde in Berlin der Zuhälter Louis Grothe, der 1864 in einer Kellerwohnung am Oranienplatz den Lehrer der italienischen Sprache, Professor Gregy, ermordet und beraubt hatte, hingerichtet. Von da ab weigerte sich König Wilhelm I., ein Todesurteil zu unterschreiben. Erst am Morgen des 16. August 1878 wurde in Preußen wieder eine Hinrichtung, und zwar an dem 21jährigen Klempnergesellen Max Hödel vollzogen. Hödel hatte bekanntlich am Nachmittag des 12. Mai 1878, als Kaiser Wilhelm I. mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise von Baden im offenen Wagen aus dem Berliner Tiergarten die Straße Unter den Linden entlang fuhr, mit einem Revolver auf den greisen Monarchen geschossen. Obwohl der Schuß fehlgegangen war, zumal er, wie der Kgl. Hofbüchsenmacher August Barella begutachtete, mit diesem Sechsmark-Revolver gar nicht hätte treffen können, so wurde Hödel am 10. Juli 1878 vom Preußischen Staatsgerichtshof wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Der alte Kaiser war am 2. Juni 1878 von Dr. Karl Nobiling Unter den Linden mit Schrot in den Kopf geschossen worden und lag in sehr bedenklichem Zustande zu Bett. Er hatte die Regentschaft seinem Sohne, dem damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, Vater des jetzigen Kaisers Wilhelm II., übertragen. Der Kronprinz weigerte sich, das Todesurteil wider Hödel zu unterschreiben. Der damalige Reichskanzler Fürst Otto v. Bismarck drang aber derartig in den Regenten, daß er sich schließlich zur Unterschrift herbeiließ. Seit dieser Zeit hat die Todesstrafe in Preußen und auch im übrigen Deutschland wieder praktische Gestalt angenommen. Jeder Kriminalist weiß, daß fast alle Mörder die Todesstrafe der lebenslänglichen Zuchthausstrafe vorziehen. Abgesehen von den vielen vorgekommenen Justizmorden, ist die Hinrichtung eine solch grausame Strafart, daß alle Gesitteten mit vollster Energie für die schleunige Aufhebung dieses mittelalterlichen Strafmittels eintreten müßten.

Ich kehre nun zu meinem eigentlichen Thema zurück. Die heutige Gesetzgebung beschränkt sich nicht auf Gefängnisse und Zuchthäuser, sie hat auch „Fürsorgeerziehungsanstalten“ und Arbeitshäuser geschaffen. Die Fürsorgeerziehungsanstalten sind als Erziehungsinstitute für jugendliche Personen beiderlei Geschlechts bis zum 21. Lebensjahre gedacht, sobald diese jungen Menschen der elterlichen und auch sonstigen Erziehung ermangeln und die Gefahr besteht, daß sie Schädlinge der menschlichen Gesellschaft werden könnten. Die Arbeitshäuser sind eine alte Einrichtung, in die ältere Leute beiderlei Geschlechts zur Besserung überwiesen werden, insbesondere Prostituierte, Zuhälter und Bettler. Bis zur Einführung des Fürsorgegesetzes kamen auch Kinder ins Arbeitshaus. Beide Einrichtungen sind keine Strafanstalten, sondern nur als Besserungsanstalten gedacht. Ob aber aus diesen Anstalten schon jemals ein Insasse gebessert hervorgegangen ist, kann mit Recht bezweifelt werden. Schuld hieran haben die Beamten dieser Anstalten, die zumeist ihre Aufgabe vollständig zu verkennen scheinen. Die Brutalitäten eines „Pastors“ Breithaupt und anderer Hausväter mit ihren Schergen, genannt Aufseher oder gar „Erzieher“, bilden leider keine Ausnahme. Dies ist wohl auch die Ursache, daß die Angeklagten nicht das Gefängnis oder Zuchthaus, wohl aber die „Fürsorgeerziehungsanstalt“ und noch mehr das Arbeitshaus fürchten. Lieber ins Zuchthaus, als in die „Fürsorgeanstalt“ oder ins Arbeitshaus, diesen Ausspruch kann man fast täglich in den Gerichtssälen hören. Und das ist keine landläufige Redensart, sondern bitterer Ernst. Pflicht der Behörden wäre es, in dieser Beziehung schleunigst energischen Wandel zu schaffen.

In der Nähe der rheinischen Metropole Köln befindet sich die Provinzialarbeitsanstalt Brauweiler, in der stets mehrere hundert „Korrigenden“ beiderlei Geschlechts Aufnahme finden. Der Direktor Schellmann, der gleich dem Pastor Breithaupt die christliche Barmherzigkeit stets auf den Lippen hatte, schien ebenfalls noch nicht die Anschauungen des finsteren Mittelalters überwunden zu haben, sondern der Ansicht zu sein, daß man durch Prügel, Hunger und Marter aller Art die Menschen bessern könne. Eines Tages wurde einem jungen Mädchen, namens Wodtke, das Herrn Direktor Schellmann zum Zwecke der Besserung überwiesen war, „wegen Renitenz“

eine Mundbinde

angelegt. Dieses „Besserungsmittel“ hat die Wirkung, daß es jede Luftzufuhr abschneidet und daß das zu bessernde Individuum nach kurzer Zeit ersticken muß. So erging es auch der jungen Wodtke. Dieses Mädchen hatte Elternliebe niemals kennengelernt, denn es war „unehelich“ geboren. Es hatte, noch ein Kind, hart arbeiten müssen, um nicht zu verhungern. Da es ein hübsches Gesicht und eine schöne Figur hatte, wurde es frühzeitig verführt und – der Prostitution in die Arme getrieben. Nachdem es wegen Übertretung der sittenpolizeilichen Bestimmungen und wegen gewerbsmäßiger Unzucht bestraft war, wurde das Mädchen der Arbeitsanstalt Brauweiler „zwecks Besserung“ überwiesen. Hier benahm sich das sonst gutmütige Mädchen gegen eine Aufseherin widerspenstig. Es wurde ihm deshalb die Mundbinde angelegt. Das junge Mädchen befürchtete, zu ersticken. Es erhob bittend ihre Hände, – die Sprache war ihr versagt – sie doch zu befreien, sie wollte ja wieder gehorsam sein. Allein ihre flehentlichen Bitten wurden nicht beachtet. Sie wurde, mit der Mundbinde angetan, in eine finstere Zelle gesperrt. Dadurch wurde es verhindert, daß selbst ein leises Wimmern nicht hörbar wurde. Als man nach einigen Stunden die Zelle öffnete, war

das Mädchen tot.

Dieses entsetzliche Vorkommnis führte zur Erhebung einer Anklage gegen den Direktor Schellmann und den Anstaltsarzt Dr. Bodet wegen fahrlässiger Tötung. tung. Die zweite Strafkammer des Kölner Landgerichts sprach jedoch am 1. März 1895 beide Angeklagte frei. Die in Köln erscheinende sozialdemokratische „Rheinische Zeitung“ brachte im Anschluß an diese Gerichtsverhandlung einen Leitartikel, in dem Direktor Schellmann der Tötung und Mißhandlung von Gefangenen beschuldigt und ihm vorgeworfen wurde, daß er gegen die ihm unterstellten Beamten seine Amtsgewalt mißbrauche. Es hieß in dem Artikel u.a. „Von seinem Vorgesetzten und von verschiedenen anderen Seiten wird Schellmann als das Ideal eines musterhaften Beamten gefeiert. Aber leider hat bis jetzt noch niemand danach gefragt, welcher Mittel sich dieser Mann bedient, um seine Triumphe zu feiern. Die Anstalt soll glänzen innen und außen, es werden dafür keine Unkosten gescheut. Arme Künstler und Arbeitskräfte sind genug zur Verfügung. Aber die armen Gefangenen werden durch die rohesten Mittel zur Arbeit angetrieben. Alte Leute von 60 und 70 Jahren werden durch Hungerleiden bis zum Umfallen, durch Schläge, durch Anlegen einer Zwangsjacke oder Handeisen zur Arbeit angetrieben. Es kann sich niemand einen Begriff machen, wie viele arme Geschöpfe durch diese Behandlung ihren frühen Tod gefunden haben. Ein Gefangener, der es wagt, gegen diesen Menschen vorzugehen, hat schon seine Hungerkur unterschrieben, die ihn ins Jenseits befördert. Der Beamte, der nur eine Miene gegen den Direktor verzieht, kann sich auch schon um andere Arbeit umsehen. Es ist nicht zuviel behauptet, daß es keinen Zuchthäusler gibt, der soviel Menschenunglück auf seinem Gewissen hat, als der Direktor dieser Besserungsanstalt“, wenn er auch überzeugt sein mag, pflichtgemäß gehandelt zu haben. Alsdann wurde dem Landesdirektor der Rheinprovinz, Geh. Oberregierungsrat Dr. Klein unter anderem zum Vorwurf gemacht, er habe es an der ordnungsmäßigen Überwachung der Provinzialarbeitsanstalt zu Brauweiler fehlen lassen und habe, als er am 1. März in dem Prozeß, in dem Schellmann und Dr. Bodet wegen fahrlässiger Tötung angeklagt waren, als Zeuge erschien, seine Aussage wissentlich so eingerichtet, daß dadurch die mangelhafte Erfüllung seiner Aufsichtspflicht verborgen blieb. Endlich wurde in dem Leitartikel behauptet: „Ein Korrigende, namens Widder, wurde, obwohl er schon halbtot war, noch in eine Zelle gebracht, woselbst er sehr bald verstorben sei.“

Landesdirektor Geh. Oberregierungsrat Dr. Klein und der Brauweiler Arbeitsanstaltsdirektor Schellmann stellten deshalb gegen den verantwortlichen Redakteur der „Rheinischen Zeitung“, den jetzigen Reichstagsabgeordneten für Köln, Adolf Hofrichter,

Strafantrag wegen einfacher und verleumderischer Beleidigung.

Hofrichter hatte sich deshalb vom 13. bis 20. Dezember 1895 vor der zweiten Strafkammer des Kölner Landgerichts, auf Grund der §§ 185, 186 und 187 des Strafgesetzbuches zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Reichensperger. Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Nacke. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Oestreich. Direktor Schellmann und Landesdirektor Dr. Klein hatten sich der Anklage als Nebenkläger angeschlossen und mit ihrer Vertretung Rechtsanwalt Gammersbach betraut.

Der Verhandlung gegen Hofrichter ging eine gegen den früheren Aufseher, späteren Bauwächter Joh. Szaplewski voran. Dieser war wegen Sittlichkeitsvergehens, vorsätzlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung vorbestraft. Er war von 1882 bis 1889 Gendarm und von 1889 bis 1892 Aufseher in der Arbeitsanstalt Brauweiler. Er wurde beschuldigt, in mehreren Fällen die Häuslinge in der Arbeitsanstalt vorsätzlich körperlich mißhandelt zu haben. Verteidiger dieses Angeklagten war Rechtsanwalt Dr. Schrammen. Der Angeklagte bemerkte auf Vorhalt des Vorsitzenden: Er sei mehrfach in Brauweiler disziplinarisch bestraft worden; dies komme aber daher, daß er von dem Direktor Schellmann verfolgt wurde.

Vors.: Dieser Einwand scheint nicht glaubhaft, zumal Sie von dem Direktor Schellmann, trotz Ihrer Vorstrafen, eine Vertrauensstellung in Brauweiler erhalten haben.

Auf das dem Angeklagten zur Last gelegte Vergehen äußerte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er erinnere sich nicht, jemals Häuslinge vorsätzlich körperlich mißhandelt zu haben; allerdings war er bisweilen genötigt, sobald die Häuslinge renitent wurden, fest zuzugreifen. Daß er aber die Häuslinge mit dem Seitengewehr blutig geschlagen habe, sei ihm nicht erinnerlich.

Direktor Schellmann bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Angeklagte Szaplewski habe sich bei ihm im Juli 1889 als Hilfsaufseher um eine Anstellung beworben. Er habe sich zunächst bei der früheren vorgesetzten Behörde des Szaplewski über dessen Vorleben erkundigt. Von den Vorstrafen des Szaplewski habe er (Schellmann) keine Kenntnis erhalten. Es sei ihm nur mitgeteilt worden, daß Szaplewski wegen Trunkenheit im Dienst und respektwidrigen Verhaltens gegen seine Vorgesetzten ohne Pension entlassen worden sei. Er habe, da Szaplewski zivilversorgungsberechtigt war, ihn zunächst als Hilfsaufseher, später als Aufseher angestellt. Szaplewski habe sich verschiedener Vergehen im Amte schuldig gemacht, weswegen er disziplinarisch bestraft und schließlich im Jahre 1892 entlassen worden sei. Er (Schellmann) habe erst, nachdem Szaplewski schon längst entlassen war, von den hier zur Anklage stehenden Mißhandlungen gehört.

Vert.: Herr Direktor, Sie haben, als Sie von diesen Mitteilungen hörten, keine Anzeige gemacht?

Zeuge: Nein.

Vert.: War dies nicht Ihre Pflicht?

Zeuge: Nein.

Vert.: Sind die Aufseher berechtigt, von der Prügelstrafe Gebrauch zu machen?

Zeuge: Keineswegs.

Vert.: Sind die Aufseher berechtigt, die Häuslinge disziplinarisch zu bestrafen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Worin bestehen diese Disziplinarstrafen?

Zeuge: In der Entziehung der warmen Kost, in einem Geldabzug oder in der Verhängung von Arrest. Schlagen dürfen die Aufseher die Häuslinge nur dann, wenn sie durch Angriffe bedroht werden. In solchen Fällen haben die Aufseher aber sofort dem Direktor Anzeige zu machen.

Vert.: Gehört nicht zu den Disziplinarstrafen in Brauweiler auch die Prügelstrafe?

Zeuge: Nein.

Vert.: Dann beantrage ich, aus den Akten festzustellen, daß Direktor Schellmann in einer anderen Sache als Zeuge bekundet hat, zu den Disziplinarstrafen fen gehört in Brauweiler auch die Prügelstrafe.

Vors.: Herr Verteidiger, ich bin der Meinung, daß diese Frage für die gegenwärtige Verhandlung unerheblich ist.

Vert.: Ich muß diese Frage deshalb stellen, um zu beweisen, daß der Angeklagte nicht das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatte.

Zeuge: Die Prügelstrafe, wie sie in den Zuchthäusern als Disziplinarstrafe besteht, daß Gefangene über einen Bock geschnallt und geschlagen werden, ist in Brauweiler unzulässig, dagegen ist laut Allerhöchster Kabinettsorder von 1825 und durch ausdrückliche Verordnung der Königlichen Regierung zu Köln schulpflichtigen Häuslingen gegenüber das Züchtigungsrecht in Brauweiler gestattet.

Der folgende Zeuge war Fabrikdirektor Schaper (Jülich): Eine Anzahl Brauweiler Häuslinge werden in einer Fabrik während der Zuckerkampagne beschäftigt. Diese Häuslinge arbeiten unter Aufsicht mehrerer Aufseher der Arbeitsanstalt Brauweiler. Er habe einmal einen Arbeiter mit furchtbar zerschlagenem Kopf gesehen und habe gehört, daß dieser Mann von dem Aufseher Szaplewski mit dem Seitengewehr geschlagen worden sei.

Es erschien alsdann der ehemalige Häusling Haarhaus, ein kleiner, schwacher Mann von 63 Jahren, als Zeuge. Er bekundete: Als er in der Zuckerrübenfabrik zu Jülich arbeitete, habe ihn ein Aufseher, weil er angeblich sein Bett nicht gut gemacht hatte, mit dem Degen derartig auf den Kopf geschlagen, daß er furchtbar blutete und mehrere große Löcher im Kopfe hatte.

Vors.: Wer war dieser Aufseher?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: War es dieser Angeklagte?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen, ich kenne den Mann nicht mehr wieder.

Vors.: Haben Sie dem Aufseher widersprochen oder sich widerspenstig gezeigt?

Zeuge: Nein.

Vors.: Der Aufseher hat Sie also ohne weiteres mit seinem Degen geschlagen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wo wurde denn diese Wunde geheilt?

Zeuge: In Brauweiler.

Vors.: Sind Sie vollständig wieder geheilt?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Haben Sie diese Mißhandlung zur Anzeige gebracht?

Zeuge: Da hätte ich mich schön gehütet, da hätte ich ja noch viel mehr Schläge bekommen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Wurde Ihnen zuviel Arbeit zugemutet?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen, ich bin an harte Arbeit gewöhnt. Man muß auch schon tüchtig arbeiten, sonst bekommt man nichts zu essen.

Vors.: Sind Sie auch einmal mit Kostentziehung bestraft worden?

Zeuge: Nein, man bekommt dort überhaupt nur halbsatt zu essen.

Aufseher Wenner: Er habe einmal gehört, daß Szaplewski einen Häusling mit einem Hirschfänger furchtbar auf den Kopf geschlagen habe. Er habe den Szaplewski deshalb zur Rede gestellt und ihm gesagt, wenn dies noch einmal vorkomme, werde er ihn anzeigen.

Häusling Gatzen: Er sei kränklich gewesen und habe einmal sein Bett nicht ordentlich machen können. Deshalb sei er von Szaplewski mit dem Seitengewehr geschlagen worden. Erheblich seien diese Schläge nicht gewesen. Er habe auch gesehen, daß andere Häuslinge von Aufsehern gestoßen worden seien.

Häusling Wittgen: Er habe einmal gesehen, wie der Angeklagte einen alten Häusling blutig geschlagen habe.

Fabrikverwalter Schröder (Jülich): Der Angeklagte habe stark dem Schnapsgenusse gefrönt und sei gegen Mittag bereits stets betrunken gewesen. In solchem Zustande sei der Angeklagte gegen die Häuslinge furchtbar grob gewesen. Der Angeklagte habe sich nicht darum gekümmert, ob die Häuslinge arbeiteten, sondern habe ohne jede Veranlassung die Häuslinge beschimpft. Er habe deshalb auch den Angeklagten einmal zur Rede gestellt und ihm mit Anzeige bei der vorgesetzten Behörde gedroht.

Oberaufseher Lemm (Jülich): Er habe einmal gesehen, wie ein Aufseher einen Häusling furchtbar geschlagen habe. Er glaube, daß der Aufseher sich dabei eines Stockes bedient habe. Wer dieser Aufseher war, könne er nicht sagen.

Ein junges Mädchen, Elise Fischer, bekundete: Sie sei einmal mit dem Angeklagten zusammen von Lövenich nach Brauweiler gefahren. Der Angeklagte, der ihr gegenübersaß, habe sich derartig unanständig benommen, daß sie die anderen Mitreisenden um Schutz bitten mußte.

Pensionierter Aufseher Fischer: Er habe von der Beleidigung, die seiner Tochter durch den Angeklagten zugefügt worden, Herrn Direktor Schellmann Anzeige gemacht. Der Angeklagte habe deshalb auf Befehl des Direktors Schellmann am folgenden Tage seine Tochter um Verzeihung gebeten und dabei geäußert: „Ich werde dem Direktor Schellmann etwas einbrocken, daß er daran denken soll.“

Es wurde darauf die Aussage des kommissarisch vernommenen ehemaligen Häuslings Grüne verlesen. Danach hatte dieser bekundet: Er habe mehrfach gesehen, wie Szaplewski einen kränklichen 64jährigen Häusling, namens Bechtold, weil dieser nicht gehörig arbeitete, mit schweren Rüben in den Rücken geworfen habe. Bechtold sei so krank und schwächlich gewesen, daß er wohl beim besten Willen nicht mehr zu arbeiten vermochte. Ein anderer kleiner buckliger Häusling jammerte oftmals, daß er von Szaplewski schlecht behandelt werde.

Verteidiger: Herr Direktor Schellmann, hielten Sie sich auf Grund der erwähnten Kabinettsorder berechtigt, auch erwachsenen Häuslingen gegenüber das Züchtigungsrecht anzuwenden.

Schellmann (nach längerem Zögern): In gewissen Fällen, wenn alle anderen Disziplinarstrafen sich als unzureichend erwiesen, allerdings.

Vert.: Wem stand alsdann das Züchtigungsrecht zu?

Schellmann: Mir.

Vert.: Hatten nicht auch die Aufseher das Züchtigungsrecht?

Schellmann: Nein. Die Aufseher hatten nur, wenn sie angegriffen wurden, das Recht, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

Vert.: Dann beantrage ich, aus den Akten zu konstatieren, daß Herr Direktor Schellmann in einem anderen Falle doch anders ausgesagt hat.

Schellmann: Der Oberaufseher Schmitts hat allerdings einmal einen erwachsenen Häusling gezüchtigt. Als er, deshalb zur Rede gestellt, sagte: Diese Züchtigung sei auf meine Anweisung geschehen, gab ich die Möglichkeit zu.

Der Staatsanwalt hielt fünf Mißhandlungsfälle für erwiesen und beantragte, mit Rücksicht auf die gesamte Sachlage, drei Monate Gefängnis.

Der Verteidiger plädierte für Freisprechung, da einmal der Beweis nicht strikte geführt und andererseits dem Angeklagten das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht innegewohnt habe.

Nach kurzer Beratung verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten unter Zubilligung mildernder Umstände zu drei Monaten Gefängnis.

Nach einer längeren Pause begann die Verhandlung gegen Hofrichter. Dieser bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei nicht der Verfasser des inkriminierten Artikels, übernehme jedoch die Verantwortung und verweigere die Nennung des Verfassers.

Der Vorsitzende verlas alsdann den inkriminierten Artikel.

Hofrichter: Es seien schon lange vor dem Erscheinen des inkriminierten Artikels bzw. der Veröffentlichung des Briefes eines Reichstagsabgeordneten verschiedene Gerüchte über die Brauweiler Arbeitsanstalt in Umlauf gewesen. Als er den Brief erhielt, habe er Nachforschungen angestellt und als er sich von der Richtigkeit des Inhaltes des Briefes überzeugt, habe er keinen Anstand genommen, ihn zu veröffentlichen, um derartige Zustände einmal öffentlich zur Sprache zu bringen. Er halte auch heute noch alle in dem Briefe enthaltenen Behauptungen aufrecht und wolle dafür den Beweis der Wahrheit führen.

Staatsanwalt: Ich ersuche, dem Angeklagten zu fragen, bei wem er sich über die Richtigkeit der in dem Briefe enthaltenen Behauptungen informiert hat?

Angekl.: Ich bin selbst mehrere Male in Brauweiler gewesen und habe mich informiert. Im übrigen waren die Vorgänge in Brauweiler in Köln Tagesgespräch. In allen Wirtshäusern bildeten sie das einzige Gesprächsthema, so daß ich aus diesen Unterhaltungen mich ebenfalls über die Richtigkeit der in dem Briefe enthaltenen Behauptung informieren konnte.

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit zu sagen, daß, im Gegensatz zu anderen derartigen Prozessen, das ganze Beweismaterial so rechtzeitig dem Gericht und der Staatsanwaltschaft übermittelt worden ist, daß die Staatsanwaltschaft sehr wohl in der Lage war, Ermittelungen über die Richtigkeit dieses Beweismaterials anzustellen. Der Angeklagte ist also mit größter Offenherzigkeit vorgegangen. Von einer Überrumpelung, wie dies zumeist in derartigen Prozessen der Fall ist, kann also keine Rede sein. Ich bemerke noch, daß gestern abend die „Köln. Ztg.“ einen Artikel brachte, in dem für den Direktor Schellmann und gegen den Angeklagten Stimmung gemacht wurde. Ich halte ein solches Verfahren noch vor Beginn der Verhandlung für absolut ungehörig. Ich habe mit dem Angeklagten in fortwährender Verbindung gestanden und hätte ihm Material aus den Akten liefern können, um ebenfalls für sich Stimmung zu machen. Der Angeklagte hat jedoch davon Abstand genommen.

Es wurden hierauf die Strafanträge verlesen.

Verteidiger: Ich halte den Strafantrag des Landesdirektors Dr. Klein für unzulässig. Die Angriffe richten sich nicht gegen den Landesdirektor, sondern gegen den Dezernenten, Landesrat Brandts. Für diesen hat aber der Landesdirektor keinen Strafantrag gestellt.

Der Staatsanwalt erwiderte, daß er die gestellten Strafanträge aufrechterhalte.

Der erste Zeuge, Arbeitsanstaltsdirektor Schellmann, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei seit 1882 Direktor der Provinzialarbeitsanstalt zu Brauweiler. Als er sein Amt antrat, seien in der Anstalt etwa 80 Beamte gewesen. Die Zahl der Korrigenden sei im Jahre 1885 bis auf 1728 gestiegen. Diese Zahl sei alsdann zurückgegangen und betrage jetzt etwas über 1000. Nach der Zahl der Korrigenden richte sich auch die Zahl der Beamten. Die Arbeitsanstalt stehe unter Aufsicht des Landesdirektors der Provinz. vinz. Von diesem und dem Provinzialausschuß werden die Oberbeamten, alle anderen Beamten, mit Ausnahme der Hilfsbeamten, von dem Landesdirektor allein, die Hilfsbeamten dagegen von ihm (Zeugen) angestellt. Letztere werden von ihm nach Bedürfnis angestellt und ebenso auch entlassen. Im allgemeinen seien die Korrigenden gesunde Leute, in vereinzelten Ausnahmen werden auch Kranke eingeliefert, die alsdann ins Lazarett gebracht werden. Es werden in der Arbeitsanstalt alle möglichen Arbeiten verrichtet, leichte und schwere. Es werden Leute mit Gartenarbeit, in der Schusterei, Schneiderei, Weberei usw. beschäftigt. Es werde keinem Korrigenden mehr Arbeit zugemutet, als er leisten könne. Die Mehrzahl der Korrigenden verrichte nicht nur ihr Pensum, sondern mache noch Überstunden. Die Korrigenden müssen im Sommer um halb fünf, im Winter um halb sechs Uhr morgens aufstehen. Eine halbe Stunde werde für Waschen, Ankleiden, Bettmachen usw. gerechnet. Alsdann beginne die Arbeit. Nach anderthalb Stunden werde denn Korrigenden eine warme Suppe und Brot gereicht und eine Viertelstunde Pause gemacht. Nachdem werde bis neun Uhr gearbeitet. Zu dieser Zeit tritt wiederum eine Viertelstunde Pause ein. Nun können sich diejenigen, die durch Überstunden Ersparnisse gemacht haben, etwas kaufen. Nach Beendigung der viertelstündigen Pause, die für alle Korrigenden eintrete, trete, werde bis halb zwölf oder zwölf Uhr mittags gearbeitet. Alsdann werde eine einstündige Pause gemacht und das Mittagsmahl, bestehend aus warmen Bohnen, Erbsen, Linsen oder Reis nebst Brot verabreicht. Es werde alsdann wiederum bis drei Uhr nachmittags gearbeitet. Alsdann trete eine viertelstündige Pause für alle Korrigenden ein, und es erhalten diejenigen, die sich durch gute Arbeit ausgezeichnet, Überstunden gemacht oder besonders schwere Arbeit haben, Kaffee und Brot. Es werde darauf bis halb sieben oder sieben Uhr gearbeitet. Alsdann werde wiederum eine warme Suppe und Brot gereicht. Alsdann werde aufgeräumt und die Leute in die Schlafsäle geführt. Korrigenden, die ihr Pensum nicht verrichten, werden ihm (dem Zeugen) vom Arbeitsinspektor vorgeführt. Wenn die Leute einwenden, daß sie wegen Kränklichkeit das Pensum nicht zu liefern vermöchten, so werde der Anstaltsarzt um ein Gutachten ersucht. Wenn die Nichtverrichtung des Pensums nicht durch Kränklichkeit geschehen sei, so trete Entziehung der warmen Kost und Arreststrafe ein. Die Korrigenden erhalten alsdann nur 625 Gramm Brot täglich. Die Arreststrafe betrage 24 bis 48 Stunden. Es trete auch bisweilen Nachtarrest ein. In solchem Falle erhalten die Arrestanten keine Pritsche, sondern lediglich eine wollene Decke. Im Falle der Verweigerung der Arbeit trete eine permanente Arreststrafe von sieben ben Tagen nebst Entziehung der warmen Kost ein. Am vierten Tage erhalten jedoch die Detinierten wiederum einen Strohsack und die übliche warme Kost.

Der Verteidiger hielt dem Zeugen vor, daß er in der Gefängniskonferenz zu Düsseldorf gesagt habe: Es gebe in der Arbeitsanstalt zu Brauweiler Krüppel, Epileptiker und mindestens 72, die eigentlich geisteskrank seien. Er (Vert.) frage, was mit diesen Leuten geschehe, ob diese auch zur Arbeit angehalten werden.

Zeuge: Es gibt allerdings in Brauweiler mehrere Krüppel, Leute, die nur einen Arm oder einen Fuß usw. haben, diese sind aber durchaus arbeitsfähig. Leute, die wiederholt epileptische Anfälle haben, werden dem Ortsarmenverbande überwiesen. Auf Vorhalten des Rechtsanwalts Gammersbach bemerkte der Zeuge im weiteren: Fleisch erhalten die Korrigenden nur an den drei hohen Festtagen, Weihnachten, Ostern und Pfingsten und an Kaisers Geburtstag. Auf seinen (des Zeugen) Antrag erhalten jedoch die warmen Speisen sämtlich einen gewissen Fettzusatz. Allerdings sei die Körperkonstitution der Korrigenden im allgemeinen eine schwächere als die der Zuchthäusler usw., die Rationen seien jedoch im allgemeinen größer als die in den dem Ministerium des Innern unterstehenden Strafanstalten. Während in diesen Anstalten täglich 550 Gramm Brot gereicht werden, erhalten die Korrigenden in Brauweiler 625 Gramm. Die Häftlinge in den Kgl. Strafanstalten erhalten zum Frühstück 1/2, mittags 1 bis 1 1/4 und abends 3/4 Liter warmes Essen. In Brauweiler dagegen 1/4 Liter, mindestens 1 1/4 Liter und 1 Liter warmes Essen. Es gebe auch für Kranke und alte Korrigenden, die sich gut geführt haben und darum bitten, eine sogenannte Mittelkost. Diese bestehe aus 120 Gramm Fleisch dreimal in der Woche und Graubrot anstatt Schwarzbrot.

Auf Befragen des Angeklagten, ob die Geisteskranken einer Irrenanstalt überwiesen worden seien, sagte der Zeuge: Der Anstaltsarzt sei psychiatrisch vorgebildet. Dieser habe zu entscheiden, ob ein Geisteskranker einer Irrenanstalt zu überweisen sei. Nach einer Verfügung des Ministers des Innern seien auch Geisteskranke, wenn der Anstaltsarzt es für zulässig halte, mit leichter Arbeit zu beschäftigen und detentionsfähig. Wie viele Geisteskranke im verflossenen Jahre einer Irrenansalt überwiesen wurden, könne er augenblicklich nicht angeben.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Die Sterblichkeit in der Arbeitsanstalt Brauweiler betrage etwa zwei Prozent. Die Todesursachen bestehen zumeist in Lungenschwindsucht, Lungenkrankheiten usw. Zur Zeit der Influenza sei die Sterblichkeitsziffer allerdings größer gewesen. Es schwebe ihm so vor, daß in den Königl. Anstalten die Sterblichkeit und auch die Krankheitsfälle größer seien als in Brauweiler. Die Beamten seien verpflichtet, jeden Korrigenden, der ihn (Zeugen) sprechen bzw. sich beschweren wolle, ihm vorzuführen. Von diesem Recht werde von den Korrigenden vielfach Gebrauch gemacht. Es werden ihm täglich Korrigenden zu diesem Zwecke vorgeführt. Wenn sich Korrigenden mit seinem Bescheid nicht einverstanden erklären und den Wunsch äußern, sich an einer höheren Stelle zu beschweren, so werde dies zu Protokoll genommen und beim Erscheinen des Landesdirektors oder des Landesrats diesem vorgelegt. Die Besuche der letzteren geschehen in der Regel unangemeldet, ohne daß er (Zeuge) davon vorher unterrichtet sei. Bisweilen werde er allerdings ersucht, einen Wagen an den Bahnhof zu schicken, in solchem Falle werde er von dem Erscheinen vorher benachrichtigt.

Auf Befragen des Verteidigers äußerte der Zeuge: Der Landesdirektor sei im letzten halben Jahre zweimal in Brauweiler gewesen. Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden bekundete der Zeuge: Er habe das Recht, die Beamten mit einer Geldstrafe bis zu zehn Mark oder mit Schmälerung der freien Dienststunden zu bestrafen. Die Beamten seien berechtigt, sich beschwerdeführend an den Landesdirektor zu wenden. Der Zeuge gab noch eine Erklärung über die Ursachen der Beamtenentlassungen. Viele Beamte scheiden aus, da ihnen das frühe Aufstehen nicht passe. Im Sommer werden mehr Beamte gebraucht wie im Winter, es werden daher mit Beginn des Winters mehrere Hilfsbeamte entlassen.

Verteidiger: In einer von Direktor Schellmann zu den Akten gegebenen Erklärung sagt dieser mit Beziehung auf den Angeklagten, daß letzterer kein Pflicht- und Ehrgefühl besitze. Er stelle daher auf Grund des § 198 des Strafgesetzbuches im Namen des Angeklagten gegen Schellmann den Strafantrag.

Der Vorsitzende bemerkte, daß er diesen Antrag zu Protokoll nehmen werde.

Am zweiten Verhandlungstage war auf Ladung des Vertreters des Nebenklägers, Rechtsanwalts Gammersbach, Geh. Regierungsrat Dr. Krone (Berlin) vom Ministerium des Innern als Zeuge und Sachverständiger erschienen.

Vorsteher des Landarmenhauses zu Trier, Zietschmann: Er sei von 1882-1893 Arbeitsinspektor und stellvertretender Direktor in Brauweiler gewesen. Direktor Schellmann sei wohl ein sehr strenger, aber ein sehr gerechter Mann gewesen, der ganz besonders wohlwollend gegen die ihm unterstellten Beamten war. Direktor Schellmann sorgte für die pekuniäre Besserstellung der Beamten, für gute Wohnungen usw. Wenn in den Familien der Beamten Krankheitsfälle fälle vorkamen, so sorgte Schellmann für kräftiges Essen und schickte den Kranken Wein. Er (Zeuge) könne nur sagen: Direktor Schellmann war ein selten guter Mann. Die Häuslinge fürchteten wohl die Strenge des Direktors Schellmann, sie waren ihm aber andererseits für sein Wohlwollen, das er gegen sie an den Tag legte und auch seiner Gerechtigkeit wegen zugetan. Ganz besonders nahm sich Schellmann bei der Entlassung der Korrigenden an und sorgte für Unterkommen, Arbeit usw. Den Häuslingen stand das Beschwerderecht an den Direktor Schellmann zu, es hatten sich täglich Häuslinge zum Rapport vor den Direktor führen lassen.

Rechtsanwalt Gammersbach: Diese Bemerkung könnte zu Irrtümern Veranlassung geben. Haben sich täglich Korrigenden vorführen lassen, um Beschwerden vorzubringen, oder waren es nicht zumeist Gesuche, die die Korrigenden vorzutragen hatten?

Zeuge: In den meisten Fällen waren es allerdings Gesuche. Auf ferneres Befragen bekundete der Zeuge: Das Arbeitspensum in Brauweiler sei im allgemeinen nicht größer gewesen als in dem jetzt von ihm in Trier geleiteten Landarmenhause.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach äußerte der Zeuge, daß ihm niemals eine Klage von den Beamten oder Häuslingen über Willkür des Direktors Schellmann bekannt geworden sei.

Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen: Es werden Häuslinge auch zu Land- und Straßenbauarbeiten verwendet. Die Häuslinge verrichten diese Arbeiten sehr gern, da sie dadurch in die frische Luft kommen. Die Häuslinge werden in solchen Fällen unter Führung von Aufsehern kolonnenweise zur Arbeit gebracht. Die entfernteren Kolonnen wurden betreffs des Essens, der Wohnungen usw. alle zwei Monate, die näheren allmonatlich von dem Direktor Schellmann oder ihm revidiert. Daß die Häuslinge in großer Kälte in unzulänglicher Kleidung mit nur einer Art Sack bekleidet im Freien arbeiten mußten, sei unrichtig. Die Leute seien sämtlich warm gekleidet gewesen. Bei Rübenbauten wurde ihnen allerdings eine Art Sack übergeworfen, damit die Kleidung nicht allzusehr beschmutzt würde. Die Häuslinge in Jülich erhielten täglich von der Zuckerrübenfabrik 1 Mark und außerdem hatte die Fabrik für Essen und Unterkommen der Leute zu sorgen. Wenn ein Häusling sagte, daß er das ihm zugewiesene Arbeitspensum nicht zu leisten imstande sei, dann wurde er ärztlich untersucht, und wenn der Arzt den Mann für zu schwach befand, das Arbeitspensum herabgesetzt.

Gutsbesitzer und Assesor a.D. Pauli: Er beschäftige seit Jahren Brauweiler Häuslinge auf seinem Gute. Er habe sich aus psychologischen Gründen mehrfach mit einzelnen Häuslingen unterhalten. Diese haben ihm übereinstimmend gesagt: Direktor Schellmann sei wohl ein sehr strenger, aber auch ein sehr gerechter Mann. Er habe, außer einmal von dem gestern verurteilten Szaplewski, niemals beobachtet, daß die Häuslinge von den Aufsehern schlecht behandelt oder geschlagen worden seien.

Gutsbesitzer Pingen, der ebenfalls seit mehreren Jahren Brauweiler Häuslinge auf seinem Gute beschäftigte, schloß sich im wesentlichen den Bekundungen des Vorzeugen an. Er könne nur sagen: Direktor Schellmann lege eine geradezu väterliche Fürsorge für die Korrigenden an den Tag, so daß er (Zeuge) oftmals zu seiner Frau geäußert habe: Die Häuslinge haben es besser als viele freie Arbeiter.

Landesrat Brandts (Düsseldorf): Die Brauweiler Arbeitsanstalt unterstehe der Aufsicht des Direktors Schellmann, ferner der des Landesdirektors, des Provinzialausschusses und endlich des Provinziallandtages. Die Brauweiler Arbeitsanstalt unterstehe speziell seinem Dezernat. Er habe die Anstalt etwa vier-bis fünfmal im Jahre revidiert.

Vors.: Geschahen diese Revisionen unvermutet?

Zeuge: Etwa zur Hälfte wohl. Bisweilen habe ich mit Direktor Schellmann etwas zu besprechen, dann schreibe ich ihm eine Karte, mit der Bitte, zu Hause zu bleiben. Wenn Schellmann am Abend die Karte bekam, dann traf ich gewöhnlich am folgenden Vormittag mittag gegen elf Uhr in Brauweiler ein. Das Brauweiler Arbeitshaus ist derartig groß, daß, wenn ich das Haus betrete, nach einer Stunde das ganze Haus von meiner Anwesenheit Kenntnis erhalten kann. Insofern ist allerdings die Revision nicht eine vollständig unvermutete.

Verteidiger: Warum wurde deshalb die Anstalt nicht von mehreren Beamten revidiert?

Zeuge: Dazu lag bisher keine Veranlassung vor.

Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Es bestehe die Bestimmung, daß sowohl die Beamten als auch die Häuslinge berechtigt seien, sich dem revidierenden Beamten behufs Vorbringung von Beschwerden vorführen zu lassen. Dies scheinen auch die Häuslinge gewußt zu haben, denn es haben sich jedesmal 4-5 vorführen lassen. Die vorgebrachten Beschwerden waren aber geradezu lächerlicher Natur. Über Mißhandlungen, schlechte Beköstigung oder Arbeitsüberlastung seien ihm niemals Beschwerden vorgebracht worden. Er habe sich nicht nur die Beschwerdeführenden vorführen, sondern sich auch die Zellen selbst aufschließen lassen, um die Häuslinge, sowohl weibliche als auch männliche, persönlich zu befragen. Er habe endlich auch die Außenkommandos revidiert. Die Korrigenden seien auch berechtigt, nach ihrer Entlassung sich schriftlich oder mündlich bei dem Landesdirektorium zu beschweren. Während aus anderen, der Provinzialverwaltung unterstehenden Anstalten vielfach Beschwerden eingehen, sei von den Brauweiler Häuslingen nur in sehr wenigen Fällen Beschwerde geführt worden. Die Brauweiler Beamten haben sich ebenfalls niemals mit einer erheblichen Beschwerde an ihn gewandt. Auf Befragen des Staatsanwalts bekundete der Zeuge noch: Es sei richtig, daß Schellmann den gestern erwähnten Fettzusatz für die den Brauweiler Häuslingen zu verabreichenden Speisen und auch die Einführung der Mittelkost beantragt und endlich verschiedene Anträge zur Besserstellung der Beamten, wie Gewährung von freier Heizung für die in der Anstalt wohnenden Beamten an das Landesdirektorium gestellt habe.

Auf Befragen des Verteidigers äußerte der Zeuge: Er erledige als Dezernent wohl die Arbeiten für die Brauweiler Anstalt, er halte aber über alle Einzelheiten dem Landesdirektor Vortrag und dieser müsse alles genehmigen.

Verteidiger: Seit wann ist der Herr Landesrat bei der Provinzialverwaltung beschäftigt?

Zeuge: Seit Juni 1889.

Vert.: War dem Herrn Landesrat vor dem Fall Wodtke bekannt, daß, trotz eines Ministerialreskripts von 1872, laut welchem die Anlegung des Maulkorbs oder der Mundbinde untersagt war, der Korrigendin Wodtke der Maulkorb angelegt wurde?

Zeuge: Ich vermag hierüber nichts zu bekunden, da der Fall Wodtke im Mai 1893 passierte, ich aber das Dezernat erst im November 1893 übernahm.

Vert.: Ist es möglich, Herr Landesrat, daß die beabsichtigten Revisionen durch andere Personen in der Brauweiler Anstalt bekannt geworden sind?

Zeuge: Das kann ich nicht wissen, möglich ist es ja.

Es wurde hierauf die Aussage des kommissarisch vernommenen Brauweiler Anstaltsarztes Dr. Bodet verlesen. Dieser hatte bekundet: Sobald Mißhandlungen von Häuslingen seitens der Aufseher ihm gemeldet wurden, habe er gegen die Aufseher sofort Anzeige erstattet. Epileptiker werden mit Bromkali behandelt. Die Zwangsjacke werde nur auf seine ausdrückliche Anweisung angelegt. Erst nach dem Fall Wodtke habe er von dem Ministerialreskript, wonach die Anwendung der Mundbinde sowie der Hand- und Fußfesseln untersagt sei, Kenntnis erhalten. Wegen Kostentziehung sei er niemals befragt worden. Wenn jedoch mit der Kostentziehung Arreststrafe verbunden sei, dann untersuche er vorher den Körperzustand des betreffenden Häuslings, um festzustellen, ob dieser imstande sein werde, die über ihn verhängte Strafe, ohne an seiner Gesundheit Schaden zu nehmen, auszuhalten. Es sei ihm nicht bekannt, daß krankhafte Häuslinge in eine Arrestzelle statt in das Lazarett geschafft schafft wurden, es sei denn, daß er solche Häftlinge als Simulanten erklärt hatte. Er habe stets seine diesbezüglichen Urteile selbständig abgegeben. Er lasse sich in seine ärztlichen Gutachten oder Anordnungen nicht hineinreden, allerdings dienen ihm die Angaben des Direktors oder der Aufseher zum Teil als Grundlage. Es sei ihm nicht bekannt, daß Korrigenden wegen Kostentziehung oder Mißhandlungen gestorben seien. Die Korrigenden seien vielfach durch übermäßigen Alkoholgenuß und durch das unregelmäßige, schlechte Leben, das sie vor Einlieferung in die Anstalt gewöhnlich führen, so sehr geschwächt, daß der Tod vielfach sehr schnell eintrete. Daß mit einem Gummischlauch oder mit einem Seil in Brauweiler geschlagen worden, sei ihm nicht bekannt. Es habe niemals ein Häusler geklagt, daß ihm Löcher in den Kopf geschlagen worden seien. Der Häusling Haarhaus habe ihm allerdings einmal geklagt, daß er von dem Aufseher Machler auf den Kopf geschlagen worden sei. Machler sei auf seine (des Zeugen) Anzeige deshalb auch bestraft worden. Er habe niemals an einer Leiche Spuren von Hand- oder Fußfesseln wahrgenommen. Es sei einmal von Häuslingen und einem Werkmeister über große Kälte im Webesaale Klage geführt worden. Er habe dies dem Direktor Schellmann mitgeteilt. Infolgedessen wurde der Webesaal Tag und Nacht geheizt. Die Bekleidung der Häuslinge war eine vollständig zweckentsprechende.

Es erschien alsdann der Zeuge Dr. med. Bardenheuer. Er sei von Anfang 1888 bis April 1893 an der Anatomie in Bonn beschäftigt gewesen. Dieser Anatomie seien Leichen aus Werden, Brauweiler und anderen Anstalten eingeliefert worden. Er könne sich auf die aus Brauweiler gekommenen Leichen nicht speziell erinnern. Im allgemeinen könne er aber sagen, er habe bei keiner Leiche wahrgenommen, daß der Tod durch Kostentziehung oder Mißhandlung erfolgt sei.

Vert.: Ich verzichte auf einen weiteren Beweis nach dieser Richtung.

Auf Befragen des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, erklärte Direktor Schellmann: Die in Brauweiler Verstorbenen werden, wenn sie nicht an ansteckenden Krankheiten gestorben oder von den Angehörigen nicht reklamiert werden, sämtlich der Anatomie in Bonn überwiesen, wenn nicht gerade Universitätsferien seien.

Staatsanwalt: Wird nun behauptet, daß die wegen Kostentziehung oder Mißhandlung Verstorbenen gerade während der Universitätsferien gestorben sind?

Vert.: Es wird diesseits behauptet, daß diejenigen Leichen, bei denen der Tod durch Kostentziehung oder Mißhandlung erfolgt war, nicht nach Bonn geschafft wurden.

Vors.: Dann behaupten Sie also, daß Direktor Schellmann die Unwahrheit gesagt hat?

Vert.: Allerdings!

Der folgende Zeuge war Dr. med. Wolters. Dieser, der ebenfalls an der Anatomie in Bonn beschäftigt war, bekundete: Die Leichen, die aus Brauweiler kamen, seien zumeist sehr muskulös gewesen, so daß sie den Zwecken der anatomischen Untersuchung sehr förderlich waren.

Der dritte Arzt der Bonner Anatomie Dr. Clasen vermochte sich auf Einzelheiten nicht zu erinnern. Soweit ihm erinnerlich sei, habe der Obduktionsbefund des Brauweiler Häuslings Widder ergeben, daß dieser an Delirium patatorum gelitten und auch daran gestorben sei. Wenn die von dem Anstaltsarzt bescheinigte Todesursache mit dem Obduktionsbefunde nicht übereinstimme, dann werde dies dem betreffenden Anstaltsarzt sofort mitgeteilt.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach äußerte Direktor Schellmann: Es sei ihm nicht bekannt, daß jemals derartige Berichtigungen von den Bonner obduzierenden Ärzten eingegangen seien.

Hierauf wurde die Aussage des im Juni d.J. vor dem Amtsgericht zu Dirschau kommissarisch vernommenen Werkmeisters Wessel verlesen: Danach hatte dieser bekundet: Er sei einige Zeit auf Betreiben seiner Ehefrau, mit der er in Scheidung lag, vom Amtsgericht zu Köln für geisteskrank erklärt und entmündigt digt worden. Diese Entmündigung sei aber längst wieder aufgehoben. Er sei eine Zeitlang in Brauweiler als Werkmeister beschäftigt gewesen und habe gehört, daß insbesondere vor dem Fall Wodtke vielfach die Häuslinge geschlagen worden seien. Ein Aufseher Schiefer habe sich dessen ausdrücklich gerühmt. Es wurden mehrfach Häuslinge mit Arbeiten überlastet. Konnten diese das Pensum nicht leisten, dann wurde ihnen auf drei Tage die warme Kost entzogen, oftmals trat noch Dunkelarrest hinzu. Einem Häusling, namens Schmidt, der sein Pensum beim besten Willen nicht bewältigen konnte, habe er (Zeuge) geraten, sich krank zu melden. Schmidt habe dies aber nicht gewagt, er sei deshalb mit Kostentziehung und Arrest bestraft worden. Ein Häusling, namens Schäfer, habe auf ihn den zweifellosen Eindruck eines Irrsinnigen gemacht. Der Mann habe außerdem an epileptischen Anfällen gelitten. Er habe einmal mit einem Meißel nach ihm (dem Zeugen) geworfen, so daß er am Kopfe arg verwundet wurde. Er sei daher genötigt gewesen, dies dem Direktor Schellmann zu melden. Letzterer habe ihn gefragt, ob er die Bestrafung des Mannes verlange. Dies habe er verneint mit dem Bemerken, daß der Mann augenscheinlich geisteskrank sei. Auf Anordnung des Direktors Schellmann sei Schäfer sechs Wochen in die „Cachotte“ gesperrt worden und habe nur jeden vierten Tag warme Kost erhalten. Schäfer sei außerdem geschlagen und gefesselt worden. Er habe in dieser Behandlung ein großes Unrecht gesehen, zumal Schäfer seiner Meinung nach vollständig geisteskrank war und in eine Irrenanstalt gehörte. Nachdem Schäfer aus der „Cachotte“ herauskam, sei er einige Tage darauf verstorben.

Sanitätsrat Dr. Laudahn: Werkmeister Wessel sei infolge Anzeige seiner Frau von ihm untersucht und beobachtet worden. Wessel, der nach Angabe seiner Frau die unglaublichsten Dinge gemacht, sei infolge übermäßigen Alkoholgenusses Epileptiker geworden. Er habe ihn als dauernd für geisteskrank erklärt und sei der Überzeugung, daß er auch jetzt noch geisteskrank sei.

Vors.: Wessel ist vom Amtsgericht in Dirschau als Zeuge vernommen worden und hat über die Brauweiler Anstalt eine längere Aussage gemacht. Halten Sie diese für glaubwürdig?

Zeuge: Ich gebe die Möglichkeit zu, daß der Mann auch lichte Augenblicke hat. Im übrigen ist mir zu Ohren gekommen, daß Wessel im August dieses Jahres gestorben ist.

Alsdann sollte Geh. Medizinalrat Dr. Michelsen (Düsseldorf) als Zeuge und Sachverständiger vernommen werden.

Der Verteidiger protestierte gegen die Vernehmung des Geheimen Rats Dr. Michelsen als Sachverständiger. ger. Als Zeuge bekundete letzterer: Er sei im Nebenamt Arzt der Rheinischen Provinzialverwaltung und in deren Auftrage habe er vor einiger Zeit die Brauweiler Anstalt, und zwar ohne vorherige Anmeldung, besichtigt. Er habe sämtliche Räume, die Arbeitssäle, Schlafsäle usw. und ebenso die Wäsche und Kleidung der Häuslinge in größter Sauberkeit gefunden. Er habe allerdings auch zwei Zwangsjacken und Handschellen gefunden. Letztere waren aber von innen gepolstert, so daß eine Grausamkeit bei ihrer Anwendung ausgeschlossen war. Eine Mundbinde habe er nicht gefunden.

Darauf wurde als Sachverständiger Geh. Medizinalrat Professor Dr. Pelman (Bonn), Direktor der Rheinischen Provinzialirrenanstalt vernommen. Der Vorsitzende bemerkte dem Sachverständigen: Werkmeister Wessel sei von dem Amtsgericht in Dirschau als Zeuge kommissarisch vernommen worden. Das Gericht habe am Schlusse des Protokolls die Bemerkung gemacht, daß der Zeuge einen vollständig glaubwürdigen Eindruck machte.

Sachverständiger: Als Wessel zwecks Beobachtung in meine Anstalt gebracht wurde, kam es darauf an, zu prüfen, ob die Angaben der Frau oder die seinigen wahr seien. Hatte die Frau recht, dann war der Mann verrückt. Daß der Mann Alkoholiker war, war zweifellos. Er war außerdem herzleidend und wohl infolgedessen folgedessen ein sehr reizbarer, heftiger Mensch, der ganz besonders von der Wahnidee befangen war, daß seine Frau eheliche Untreue begehe. Diesen Wahn hatte er auch noch in der Anstalt. Da er aber dort keine Alkoholika bekam, wurde er allmählich ruhiger. Ich interessierte mich für ihn, da er ein sehr ausgebildetes Ehrgefühl hatte. Immerhin war Wessel ein Mann, der maßlos heftig war.

Vors.: Ist es möglich, Herr Geheimrat, daß Wessel über Dinge, die zwei Jahre zurückliegen, als Zeuge vernommen, das Gegenteil sagt?

Sachverständiger: Möglich ist das schon. Wessel ist das Kind eines Augenblicks, dem die Gedanken furchtbar durcheinandergehen. Ich will nicht sagen, daß Wessel lügenhaft ist, es entspricht aber seinem ganzen Charakter, daß er die Dinge verwechselt und schließlich das Gegenteil von dem wirklich Geschehenen bekundet.

Vors.: Ist Wessel als genesen entlassen worden?

Sachverständiger: Nein.

Vors.: Ist er nicht aus der Anstalt durchgebrannt?

Sachverständiger: Das schwebt mir allerdings so vor.

Vors.: Was machte Frau Wessel für einen Eindruck auf Sie?

Sachverständiger: Die Frau machte auf mich einen durchaus glaubwürdigen Eindruck. Der Sachverständige dige bekundete im weiteren: Wessel klagte ihm nach seiner Entlassung, daß er, da er in einer Irrenanstalt gewesen, nirgends mehr Arbeit bekommen könne. Er (Sachverständige) habe ihm gesagt, er wolle ihm zur Erlangung von Arbeit behilflich sein, er solle sich evtl. auf ihn berufen. Schließlich habe er ihn an Direktor Schellmann in Brauweiler empfohlen.

Vert.: Nachdem Wessel zwei Jahre in Freiheit und in Arbeit war, ist es dann nicht anzunehmen, daß, wenn er unter seinem Eid vor Gericht eine Aussage macht, auch die Wahrheit sagt?

Sachverständiger: Das ist etwas viel, was da von mir auf einmal verlangt wird. Ich bemerke also, daß ich Wessel seit zwei Jahren nicht gesehen habe, ich habe also kein bestimmtes Urteil über seinen jetzigen Geisteszustand. Ich kann nur sagen: Wessel sieht durch die Brille seines eigenen Affekts und es entspricht seiner Geistesverfassung, irrtümlich das Gegenteil von der Wirklichkeit auszusagen.

Sanitätsrat Dr. Laudahn: Er müsse bekunden, daß Wessel zu Dr. Udenthal einmal sagte: „Wenn ich Sie ersteche, so kann mir nichts passieren, denn ich bin ja als geisteskrank erklärt.“

Vert.: Ist dieser Dr. Udenthal nicht derselbe, den Wessel im Verdacht hatte, daß er mit seiner Frau verbotenen Verkehr unterhalte.

Sanitätsrat Dr. Laudahn: Das hat Wessel mir gegenüber genüber entschieden in Abrede gestellt.

Es wurde hierauf von dem Dolmetscher der englischen Sprache, Kanzleigehilfen Gottschalk, die Aussage des in London kommissarisch vernommenen Zeitungskorrespondenten Politt verlesen. Danach hatte dieser bekundet: Er habe sich mit Hilfe eines Dolmetschers dem Direktor Schellmann als englischer Journalist vorgestellt und diesen gebeten, ihm die Einrichtungen der Anstalt zu zeigen. Direktor Schellmann habe ihn sehr freundlich empfangen. Er habe ihm mitgeteilt, daß die Männer mittels Zwangsjacke und eisernen Fesseln, die Weiber durch Anlegung eines Maulkorbes bestraft werden. Er habe dies für kaum glaublich gehalten. Er habe alsdann die Leute beim Essen beobachtet und von Schellmann gehört, daß diejenigen Korrigenden, die ihr Morgenpensum nicht aufgearbeitet haben, kein Mittagsmahl erhalten. Schellmann habe ihm mitgeteilt, daß die Korrigenden Gefangene seien. Er habe, wenn die Korrigenden nach ihrer Entlassung keine Arbeit finden, das Recht der Wiederarretierung. Schellmann habe ihn u.a. in eine Zelle geführt, wo ein junger Mann mit der Fabrikation von Strohhüten beschäftigt war. Direktor Schellmann habe den jungen Mann wie einen Schulbuben am Ohr genommen und ihm mitgeteilt, daß der junge Mann an demselben Morgen gezüchtigt worden sei. Er (Zeuge) habe im Hofe der Anstalt Leute arbeiten sehen, die mit einem sackartigen Gegenstande bekleidet waren, so daß man die Haut sehen konnte. Es war damals gerade sehr kalt und er gewann den Eindruck, daß die Leute sehr unter der Kälte litten. Im übrigen habe er nicht wahrgenommen, daß die Korrigenden mit Roheit und Hartherzigkeit behandelt wurden, zumal wenn man erwäge, daß eine strenge Ordnung doch aufrechterhalten werden müsse.

Es erschien hierauf als Zeugin die achtzehnjährige Korrigendin Anna Zimmer. Auf Antrag des Verteidigers ersuchte der Vorsitzende den Direktor Schellmann, während der Vernehmung dieser Zeugin den Saal zu verlassen. Die Zeugin, die einen sehr unsicheren und befangenen Eindruck machte, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei seit 17 Monaten in der Brauweiler Arbeitsanstalt. Sie sei zunächst mit Hemdennähen beschäftigt gewesen. Sie sollte täglich sechs Hemden nähen, d.h. nur „reihen“, sie habe das Pensum aber nur zur Hälfte erledigen können, deshalb sei sie drei Tage mit Kostentziehung bestraft worden. Alsdann habe sie Tütenmachen gelernt und sollte täglich 750 Tüten machen. Da sie auch dies Pensum nicht erledigen konnte, sei sie wiederum mit drei Tagen Kostentziehung bestraft worden. Darauf habe sie das Bürstenmachen und zuletzt das Spulen gelernt und habe auch dabei das Pensum nicht machen können. Sie sei auch deshalb mit Kostentziehung und Arrest, rest, das letztemal mit 36 Stunden, bestraft worden.

Vors.: Sind Sie nicht auch wegen anderer Vergehen bestraft worden?

Zeugin (nach längerem Zögern): Ich habe schließlich die Arbeit verweigert.

Vors.: Weshalb verweigerten Sie die Arbeit?

Zeugin: Weil ich immer ein so großes Pensum zu arbeiten bekam.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Sie habe einmal aus Versehen eine Fensterscheibe zerbrochen, deshalb sei sie von dem Pastor Peiner mit einem Seil geschlagen worden. Pastor Peiner habe dies außerdem dem Direktor Schellmann angezeigt. Letzterer habe sie zu fünf Tagen Arrest verurteilt und ihr auch noch die Kosten für die zerbrochene Scheibe abgezogen.

Vors.: Haben Sie sich über die erlittenen Strafen bei den Herren aus Düsseldorf beklagt?

Zeugin: Nein.

Vors.: Wußten Sie, daß Sie das Recht haben, sich zu beschweren?

Zeugin: Ja.

Vors.: Wer hatte Ihnen das gesagt?

Zeugin: Herr Direktor Schellmann.

Vors.: Sie haben sich aber trotzdem nicht beschwert?

Zeugin: Nein.

Vors.: Hielten Sie Ihre Bestrafung für gerecht?

Zeugin: Ja.

Angekl. Hofrichter: Haben Sie nicht befürchtet, daß Sie sich durch eine Beschwerde bei den Düsseldorfer Herren Unannehmlichkeiten machen könnten?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Erhielten Sie, wenn Sie nicht Kostentziehung hatten, zur Genüge zu essen?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: War die Kleidung ausreichend?

Zeugin: Jawohl.

Rechtsanwalt Gammersbach: Ich überreiche hier die Personalakten. Danach ist die Zeugin nicht mit fünf Tagen, sondern mit 24 Stunden bestraft worden.

Direktor Schellmann, der hierauf wieder in den Saal gerufen wurde, bemerkte: Die Zimmer sei nicht wegen Zerbrechens der Scheibe, sondern wegen Ungehorsams mit einem Tag Arrest bestraft worden. Dieser eine Tag sei aber auf fünf Tage ausgedehnt worden, da die Zeugin noch vier Tage wegen Arbeitsverweigerung abzusitzen hatte. Die Zimmer gehörte zu den Mädchen, die ungeheuer faul waren.

Die folgende Zeugin war die 17jährige Korrigendin Katharina Henn. Diese bekundete auf Befragen: Sie sei mehrfach mit Kostentziehung bestraft worden, weil sie ihr Pensum nicht machen konnte. Sie habe deshalb die Arbeit überhaupt verweigert und sei infolgedessen gedessen noch mit Arrest bestraft worden. Sie habe einmal aus Wut, weil ihr die Kost entzogen wurde, eine Glasscheibe zerschlagen. Es seien ihr deshalb Handschellen angelegt worden.

Vert.: Haben Sie nicht deshalb die Arbeit verweigert, weil Sie, trotzdem Sie arbeiteten, keine warme Kost bekamen?

Zeugin: Jawohl.

Auf weiteres Befragen äußerte die Zeugin: Sie sei niemals geschlagen worden. Auch sei die Kost, wenn sie nicht Kostentziehung hatte, ausreichend gewesen, ebenso sei die Kleidung und Heizung hinreichend gewesen.

Die 34jährige Zeugin Katharina Transfeld bekundete: Sie habe nur einmal vier Wochen „Cachotte“ „wegen Frechheit“ gehabt. Sonst sei sie niemals bestraft worden, sie habe auch niemals gehört, daß Korrigendinnen in Brauweiler geschlagen wurden. Die Beköstigung und Bekleidung sei ausreichend gewesen. Sie wußte, daß sie sich bei den Herren aus Düsseldorf beschweren könne. Der Herr Landrat sei einmal selbst in ihre Zelle gekommen und habe sie gefragt, ob sie eine Beschwerde habe.

Die ehemalige Korrigendin Katharina Hoffmann erzählte des längeren, daß sie mit einer Aufseherin einmal einen heftigen Streit gehabt habe. Die Aufseherin habe sie furchtbar gestoßen und sie habe infolgedessen gedessen ein Waschbecken genommen und die Aufseherin mit Wasser begossen. Die Aufseherin habe ihr mit Schlägen gedroht, sie habe ihr aber erwidert, daß sie ihr sofort ein paar Ohrfeigen zurückgeben würde. Direktor Schellmann habe sich ihr gegenüber ganz liebevoll gezeigt.

Die ehemalige 23jährige Korrigendin Gertrud Neulenz bekundete auf Befragen: Sie habe einmal mit einer anderen Korrigendin Zank gehabt und sei deshalb mit sieben Tagen „Cachotte“ bestraft worden. Auch wegen Nichterledigung des Pensums habe sie „Cachotte“ bekommen.

Vors.: Ist es in der „Cachotte“ kalt?

Zeugin: Das ist je nachdem. Wenn man in der „Cachotte“ Skandal macht, dann wird die Heizung abgestellt.

Auf Befragen des Verteidigers bekundete die Zeugin noch: Sie habe einmal, als sie aus der Kirche kam, bemerkt, daß eine Korrigendin, namens Heimson, geschwollene Hände hatte. Auf ihr Befragen habe sie ihr gesagt, daß sie in der vergangenen Nacht Handschellen angehabt habe. Eine Korrigendin, namens Heinrich, habe einmal die Hände mit eisernen Ringen auf den Rücken geschnallt gehabt.

Vors.: Wußten Sie, daß Sie sich beschweren können?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Haben Sie sich beschwert?

Zeugin: Nein.

Vors.: Hatten Sie keine Ursache dazu?

Zeugin: Ich wurde einmal mit einer Arbeitskollegin vor Herrn Direktor Schellmann geführt. Letzterer sagte zu meiner Kollegin: Sie haben hier nicht soviel zu reden, sonst erhalten Sie noch drei Tage länger Kostentziehung.

Schellmann: Dies ist absolut unwahr.

Auf Befragen des Verteidigers sagte die Zeugin: Wenn eine Korrigendin vor den Direktor geführt werden wolle, dann müsse sie der Aufseherin genau angeben, worüber sie sich beschweren wolle.

Auf Befragen des Angeklagten bekundete die Zeugin noch: Eine in der Waschküche beschäftigte Epileptikerin sei einmal in Krämpfe gefallen. Die Aufseherin habe das junge Mädchen mit Wasser bespritzt, die Krämpfe ließen aber nicht nach. Das Mädchen sei infolgedessen vor den Arzt geführt worden. Dieser habe erklärt, daß das Mädchen eine Simulantin sei. Daraufhin sei dem Mädchen die Mittelkost, die es bis dahin bekam, entzogen und es in Arrest gebracht worden. Das Mädchen habe ihr gegenüber jedoch beteuert, daß es sich nicht verstelle, sondern seit Kindheit an Krämpfen leide.

Eine andere Korrigendin sei so schwach geworden, daß sie dreimal vor den Arzt geführt wurde. Das Mädchen sei aber erst ins Lazarett gekommen, nachdem es sich mehrere Male erbrochen hatte. Dort sei sie nach zwei Tagen gestorben.

Eine 60jährige Korrigendin sei in der Waschküche vor Schwäche zusammengebrochen. Sie sei infolgedessen mehrfach vor den Arzt geführt worden. Dieser habe sich aber geweigert, die alte Frau ins Lazarett aufzunehmen. Die Frau sei bald darauf gestorben. Es sei einmal, um Seife zu sparen, Petroleum zum Waschen verwendet worden. Infolgedessen liefen Klagen über die Wäsche ein. Darauf sagte Direktor Schellmann: Wenn noch einmal eine Klage wegen der Wäsche einläuft, dann werden den in der Waschküche beschäftigten Korrigendinnen Geldabzüge gemacht.

Direktor Schellmann: Er habe in einer Fachzeitung gelesen, daß mit einem Löffel Petroleum die Wäsche besser werde. Es sei infolgedessen einmal ein solcher Versuch gemacht worden. Es seien allerdings einige Male Klagen über die Wäsche eingelaufen. Es sei möglich, daß er infolgedessen die von der Zeugin bekundete Äußerung getan habe.

Das 19jährige Dienstmädchen Heimson bekundete: Sie habe einmal, als sie in Brauweiler war, von einer Aufseherin etwas verlangt. Da ihr dies nicht gewährt wurde, habe sie verschiedene Gegenstände zerschlagen. Daraufhin seien ihr Handschellen angelegt worden, d.h. es seien ihr mittels zweier eiserner Ringe die Hände auf den Rücken geschnallt worden. In dieser Situation habe sie von 5 Uhr nachmittags bis 10 1/2 Uhr abends verbleiben müssen. Die Handgelenke seien ihr infolgedessen angeschwollen. Außerdem habe sie einmal von dem Herrn Pastor wegen Ungehorsam ein paar Ohrfeigen erhalten. Einige Male sei sie wegen Nichterfüllung des Pensums mit Kostentziehung bestraft worden.

Tagelöhner Lindemann: Er habe mehrfach gesehen, wie Arbeiter von Aufsehern geschlagen wurden. Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach bemerkte der Zeuge, Direktor Schellmann habe das Schlagen nicht geduldet.

Schlosser Ermanns: Er sei zweimal längere Zeit in Brauweiler gewesen und sei niemals bestraft worden. Er habe einmal gesehen, wie ein Aufseher den Korrigenden Schlosser Nehrmann derartig auf den Kopf geschlagen habe, daß dieser ein großes Loch in den Kopf erhielt und ihm das Blut in heftiger Weise übers Gesicht lief. Als Nehrmann sich bei Direktor Schellmann beschwerte, erhielt er noch sieben Tage Arrest hinzu, da er sich nach den erhaltenen Schlägen dem Aufseher widersetzt hatte. Er (Zeuge) habe gesehen, daß Korrigenden Hand- und Faustschellen angelegt wurden. Eines Tages sei er mit dem Aufseher Esser bei einer „Cachotte“ vorübergegangen. Aus dieser vernahm man ein heftiges Schreien. Aufseher Essert sagte: „Gebt doch dem Kerl eins über den Kopf.“ Der Insasse dieser „Cachotte“ sei bald darauf verstorben. Da die Leiche noch mit Fußschellen gefesselt war, wurde er von dem Meister Fürschdegen aufgefordert, der Leiche diese Schellen abzumeißeln. Er weigerte sich aber, dies zu tun, infolgedessen habe Meister Heinrich Lange mittels Hammer und Meißel die Leiche von den Fußschellen befreit.

Am dritten Verhandlungstag wurde Landesrat Klausner (Düsseldorf) als Zeuge vernommen: Er habe von 1882 bis 1890 das Dezernat über die Brauweiler Anstalt geführt. Er habe vier- bis fünfmal jährlich, und zwar stets die ganze Anstalt, revidiert. Nach geschehener Revision habe ihm Direktor Schellmann diejenigen Häuslinge in das Sprechzimmer vorgeführt, die eine Beschwerde vorzubringen hatten. Diese Beschwerden beliefen sich in den meisten Fällen auf die von der Landespolizeibehörde gegen die Häuslinge verhängte Nachhaft. Direktor Schellmann beschwerte sich fast jedesmal über die Roheiten, Frechheiten und den Zynismus der Häuslinge. Er sei allerdings niemals allein, sondern stets unter Führung des Direktors Schellmann oder eines anderen höheren Beamten der Anstalt durch letztere gegangen. Er habe aber die Häuslinge vielfach persönlich angesprochen und diese gefragt, ob sie ein Anliegen haben. Er glaube bestimmt, die Häuslinge wußten, daß ihnen das Beschwerderecht zustand. Während seines Dezernats sei niemals eine sogenannte Nachbeschwerde von entlassenen Brauweiler Häuslingen bei dem Landesdirektorium eingegangen. Direktor Schellmann habe eine Verbesserung der Kost für die Häuslinge durch einen größeren Fettzusatz, die Vermehrung des Aufsichtspersonals usw. bei dem Landesdirektorium beantragt. Es habe sich niemals ein Anhall dafür ergeben, daß der von Direktor Schellmann vorgeschlagene Etat nicht vollständig zur Ausführung gelange. Direktor Schellmann habe auch, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, eine ganz besondere Fürsorge für entlassene Häuslinge an den Tag gelegt. Beschwerden über Mißhandlungen, Überarbeitung usw. seien ihm niemals zugegangen. Er habe auch nicht wahrgenommen, daß derartige Dinge in der Anstalt vorkommen. Er habe persönlich die verschiedenen Arbeitssäle in Augenschein genommen, die Häuslinge persönlich befragt und weder jemals eine Beschwerde über Arbeitsüberlastung gehört, noch wahrgenommen, daß jemandem eine zu schwere oder zuviel Arbeit zugemutet wurde.

Vert.: Haben sich Häuslinge über Mißhandlungen von Aufsehern beklagt?

Zeuge: Nein.

Vert.: Ich bemerke, daß während des Dezernats des Herrn Zeugen zwei Aufseher wegen Mißhandlung bestraft straft worden sind. Direktor Schellmann hat laut Akten darüber an das Landesdirektorium berichtet, diese Vorkommnisse sind doch mithin dem Zeugen amtlich bekannt geworden?

Zeuge: Darauf erinnere ich mich jetzt, ich wiederhole aber, daß mir Beschwerden von Häuslingen über ihnen von Aufsehern zugefügte Mißhandlungen nicht zugegangen sind.

Angekl. Hofrichter: War dem Herrn Landesrat das Ministerialreskript vom 20. März 1871 bekannt, wonach die Anwendung der Mundbinde verboten ist?

Zeuge: Nein, dies Ministerialreskript war mir nicht bekannt.

Angekl.: Dann frage ich den Herrn Landesrat, in welcher Weise ihm seine amtlichen Pflichten bei Übernahme des Dezernats bekanntgemacht wurden?

Zeuge: Es wurde mir die Hausordnung, die Generel- und Personalakten der Anstalt usw. vorgelegt.

Auf Befragen des Staatsanwaltes sagte der Zeuge noch: In staatlichen Anstalten wird meines Wissens nach die Mundbinde heute noch angewendet, daraus geht doch hervor, daß das erwähnte Ministerialreskript noch sehr wenig bekannt ist.

Der Vorsitzende verlas hierauf einen Teil der freisprechenden Erkenntnisse gegen Schellmann und Dr. Bodet vom 1. März 1895. Daraus ging hervor, daß im Jahre 1873 die Kgl. Strafanstalt zu Aachen das Direktorium torium in Brauweiler um Übersendung des Modells der Mundbinde ersuchte. Das Brauweiler Direktorium lehnte jedoch dieses Gesuch, mit dem Hinweis auf das erwähnte Ministerialreskript, ab. Nach dieser Zeit sei aber das Ministerialreskript weder in Brauweiler noch bei der Düsseldorfer Provinzialverwaltung bekannt gewesen. Erst im Frühjahr dieses Jahres sei das Reskript bei dem Oberpräsidium zu Koblenz aufgefunden worden.

Vert.: Wie werden wohl Ministerialreskripte, Regierungsverfügung usw. den Aufsichtsbeamten bekanntgemacht?

Zeuge: Ob letzteres geschieht, weiß ich nicht, jedenfalls werden alle Ministerialreskripte den der Provinzialverwaltung unterstehenden Anstalten abschriftlich mitgeteilt.

Direktor Schellmann bekundete darauf als Zeuge: Der Häusling Widdor sei im Januar d.J. von einem Polizeibeamten aus Stolberg eingeliefert worden. Der Polizeibeamte habe ihm, unter Übergabe des gerichtlichen Urteils, wonach Widdor wegen Arbeitsscheu, Vernachlässigung seiner Familie usw. zur Unterbringung in eine Besserungsanstalt verurteilt war, mitgeteilt, daß Widdor Simulant sei. Er sei zunächst zwei Tage in eine Beobachtungszelle gebracht und vom Anstaltsarzte Dr. Bodel untersucht worden. Da letzterer ihn für gesund und arbeitsfähig erklärte, wurde er zur Arbeit kommandiert. Er habe sich aber geweigert, zu arbeiten, deshalb wurde er in eine Arrestzelle gesperrt. Am folgenden Nachmittage sei ihm mitgeteilt worden, daß Widdor in der Zelle erkrankt sei. Er (Schellmann) habe sich sofort in die Zelle begeben und dort den Widdor auf dem Strohsack liegen sehen. Es habe ihm geschienen, daß der Mann an epileptischen Krämpfen leide. Er habe sofort angeordnet, dem Manne ein Kopfkissen zu bringen, und Dr. Bodet benachrichtigt. Letzterer ordnete sofort die Überführung des Mannes in das Lazarett an. Diese erfolgte auch noch am selben Abend. Am folgenden Tage nachmittags sei ihm mitgeteilt worden, daß Widdor gestorben sei.

Polizeisergeant Graf: Widdor sei ein notorischer Trunkenbold gewesen, der wiederholt wegen Arbeitsscheu bestraft wurde. Als er den Auftrag erhielt, Widdor nach Brauweiler zu transportieren, habe dieser den größten Widerstand entgegengesetzt. Da sich der Mann entschieden weigerte, nach Brauweiler zu gehen, habe er ihn schließlich auf einer Karre nach Brauweiler fahren müssen.

Stadtsekretär Burger (Stolberg): Widdor sei ihm seit langer Zeit als Trunkenbold bekannt gewesen.

Gefängnisarzt Dr. Thelen: Ich hatte den Widdor zu untersuchen, ob seine Körperkonstitution die Überführung nach Brauweiler gestattete. Ich stellte fest, daß Widdor wohl ein notorischer Säufer, aber arbeitsfähig war. Widdor beteuerte, daß er zu schwach zum Arbeiten sei. Um eine Probe zu machen, sagte ich mit lauter Stimme: „Der Mann kann nicht nach Brauweiler geschickt werden, machen Sie, daß Sie rauskommen.“ Widdor lief darauf eiligst aus dem Zimmer. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Dr. Bodet hatte bei seiner kommissarischen Vernehmung bekundet: Widdor sei am Delirium patatorum und Herzlähmung gestorben. Der Mann habe an chronischem Alkoholismus gelitten. Auch haben sich bei dem Manne Spuren einer Rippenfellentzündung vorgefunden. Der Mann hatte sich beklagt, daß er von dem Polizeibeamten auf dem Transport einen Tritt in den hinteren Körperteil erhalten habe. Der objektive Befund habe aber dafür keinen Anhalt ergeben.

Sanitätsrat Dr. Thelen, als Sachverständiger vernommen, bekundete: Es scheine ihm nicht, daß der Transport, das Einsperren in die Zelle usw. den Tod des Widdor herbeigeführt bzw. wesentlich gefördert habe. Eher habe es den Anschein, daß der Mann am Delirium tremens gestorben sei. Es sei ja bekannt, daß das Delirium tremens bei Gewohnheitstrinkern auch auftrete ohne unmittelbar vorhergehenden starken Schnapsgenuß. Auch große Erregung könne bei Gewohnheitstrinkern das Delirium tremens herbeiführen und es sei wohl nicht zweifelhaft, daß der Transport port nach Brauweiler Widdor sehr aufgeregt habe.

Auf Befragen des Verteidigers verneinte Schellmann, daß er gesehen, wie Widdor auf dem Hofe, als er ihm vorgeführt wurde, geschlagen worden sei.

Lazarettaufseher Nengroda schloß sich im wesentlichen den Bekundungen des Direktors Schellmann an. Widdor hatte wohl einen schwankenden Gang, im übrigen habe er sehr gut gehen können. Dr. Bodet habe für Widdor, als dieser ins Lazarett gebracht wurde, sofort Kognak und Wein angeordent. Darüber habe sich Widdor sehr gefreut. Er habe niemals wahrgenommen, daß Häuslinge in Brauweiler mißhandelt wurden, ebensowenig habe er an Leichen, mit Ausnahme derjenigen, die an Lungenkrankheiten gestorben waren, eine besondere Entkräftung wahrgenommen und auch nicht, daß Leichen mit Fuß- oder Handschellen gefesselt waren. Es sei ihm nicht bekannt, daß Leute aus der „Cachotte“ ins Lazarett zur Auffütterung gebracht wurden, weil die Leute in der „Cachotte“ zu sehr entkräftet waren. Im Winter 1894/95 seien niemals über sechs Patienten wegen erfrorener Gliedmaßen im Lazarett gewesen. Alle Verordnungen im Lazarett treffe der Anstaltsarzt; Direktor Schellmann habe niemals eine Änderung dieser Anordnungen vorgenommen. Letzterer komme alle acht bis zehn Tage ins Lazarett und spreche alsdann mit jedem einzelnen Kranken.

Auf Befragen des Nebenklägers Direktors Schellmann bekundete der Zeuge noch: Ein Kranker habe einmal epileptische Krämpfe gehabt. Er habe ihm Priemtabak hingelegt und den Saal verlassen. Der Patient habe während dieser Zeit, trotz seiner vorgeblichen epileptischen Krämpfe, den Priemtabak sich angeeignet. Ein anderer Häusling habe ihm erzählt, daß er, um beim Betteln größere Erfolge zu haben, allerlei Gebrechen simuliere.

Gutsverwalter Stemmler: Er habe wohl einige Male gesehen, daß Häuslinge von Aufsehern gestoßen worden seien, Mißhandlungen habe er aber niemals wahrgenommen.

Gutsbesitzer Pauli: Er habe mehrfach mit den Häuslingen gesprochen und wahrgenommen, daß letztere Herrn Direktor Schellmann sehr zugetan waren. Schellmann sei wohl strenger, aber gerechter und wohlwollender den Häuslingen gegenüber gewesen, als sein Vorgänger.

Vert.: Haben Ihnen Häuslinge gesagt, daß sie gern nach Brauweiler zurückgehen? (Lautes Gelächter im Zuhörerraum.)

Vors.: Ich muß das Publikum dringend zur Ruhe ermahnen. Die Verhandlung ist wahrlich nicht dazu da, das Publikum zu amüsieren.

Zeuge Pauli bemerkte alsdann: Eine solche Äußerung hat allerdings niemals ein Häusling getan, ich habe auch nur sagen wollen, daß es den Häuslingen, den Umständen angemessen, in Brauweiler gefallen habe.

Direktor Zietschmann: Den Häuslingen werde bei ihrer Einlieferung die Hausordnung vorgelesen, in der das Beschwerderecht mitgeteilt sei. Letzteres werde den Häuslingen noch allmonatlich extra bekannt gemacht.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie einmal Herrn Direktor Schellmann mit einem Revolver bedroht haben?

Zeuge: Das ist vollständig unwahr.

Vors.: Haben Sie denn mit Herrn Direktor Schellmann Differenzen gehabt?

Zeuge: Ich hatte wohl einige Male Differenzen mit Herrn Direktor Schellmann, diese wurden jedoch sämtlich sehr bald friedlich beigelegt.

Es erschien als Zeuge der katholische Anstaltsgeistliche von Brauweiler, Pastor Peiner. Er sei 31 Jahre Anstaltsgeistlicher in Brauweiler und habe niemals Mißhandlungen von Häuslingen wahrgenommen. Zwei Häuslinge haben sich allerdings bei ihm über Mißhandlungen von Aufsehern beklagt, er habe die Aufseher deshalb zur Anzeige gebracht. Er habe einmal der Korrigendin Zimmer wegen Ungehorsams mit einem Reitstock ein paar Schläge versetzt. Die Häuslinge haben sich niemals über schlechte Behandlung lung seitens des Direktors Schellmann beklagt. Er habe auch niemals wahrgenommen, daß Häuslinge an Entkräftung oder infolge von Mißhandlungen gestorben seien.

Vors.: Haben Sie sich einmal bei dem Landesdirektorium über Direktor Schellmann beschwert?

Zeuge: Nein, niemals.

Vors.: Sie sollen einmal zu einem Aufseher gesagt haben: „Vor Schellmann hat kein Mensch Achtung, der Mann ist nur gefürchtet?“

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich, das kann ich auch nicht gesagt haben.

Der hierauf vernommene evangelische Anstaltsgeistliche van de Loo schloß sich im wesentlichen den Bekundungen des Vorzeugen an. Direktor Schellmann sei sowohl den Häuslingen als auch den Beamten gegenüber sehr wohlwollend gewesen.

Vert.: Es wird morgen vor dem hiesigen Schwurgericht gegen einen Arbeiter Jaffka wegen vorsätzlicher Brandstiftung verhandelt werden. Dieser Mann ist aus Brauweiler durchgebrannt und hat darauf einen Schober in Brand gesteckt, um ins Zuchthaus oder ins Gefängnis anstatt nach Brauweiler zu kommen. Ich beantrage, diesen Mann morgen hier als Zeugen zu vernehmen. Dem Herrn Staatsanwalt wird die Sache bekannt sein, da sie in der Anklageschrift steht.

Der Gerichtshof beschloß, dem Antrage des Verteidigers digers stattzugeben.

Der Vorsitzende teilte hierauf mit, daß der Arzt der Königlichen Regierung, Medizinalrat Dr. Meyhöfer die Bitte geäußert habe, der Verhandlung beiwohnen zu dürfen. Der Vorsitzende genehmigte sofort dies Gesuch.

Es wurde alsdann der bereits vorhandelte Fall Szaplewski erörtert. Bekanntlich ergab die Verhandlung gegen den früheren Aufseher, Bauwächter Szaplewski, daß dieser den 63jährigen Häusling Haarhaus bei Gelegenheit der Zuckerkampagne in Jülich wegen schlechten Bettmachens so furchtbar mit dem Säbel auf den Kopf geschlagen hatte, daß der Häusling stark blutete und mehrere liefe Löcher im Kopfe hatte. Szaplewski wurde deshalb bekanntlich zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Haarhaus: Er habe infolge der erlittenen Verwundung sich den Kopf verbinden und lange Zeit in dieser Weise arbeiten müssen; auch die Heilung habe lange Zeit gedauert.

Vors.: Als Sie nach Brauweiler zurückkamen, hatten Sie da auch noch den Kopf verbunden?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Haben Sie sich der Mißhandlung wegen bei Herrn Direktor Schellmann beschwert?

Zeuge: Nein.

Vors.: Weshalb taten Sie das nicht?

Zeuge: Weil ich Furcht hatte, daß es mir dann noch schlechter gehen würde.

Schellmann: Es sei nicht möglich, daß Haarhaus mit verbundenem Kopfe nach Brauweiler zurückgekommen sei, er hätte dies sonst zweifellos wahrgenommen. Die Personalakten ergeben lediglich, daß der Zeuge einmal wegen Schwäche einige Tage im Lazarett war.

Vert.: Wie war die Kost in Brauweiler?

Haarhaus: In Brauweiler war sie schlecht und zu wenig, in Jülich war sie besser.

Vors.: Die Kost in Brauweiler war auch nicht ausreichend?

Zeuge: Man bekam in Brauweiler so wenig zu essen, daß, wenn ich noch vierzehn Tage in Brauweiler hätte bleiben müssen, ich vor Entkräftung gestorben wäre. Ich war gar zu schwach.

Rechtsanwalt Gammersbach: Wie war denn die Beköstigung im Lazarett?

Zeuge: Die war gut.

Aufseher Wenner bekundete noch, daß er mehrfach, vor einiger Zeit sogar mit einer Rübengabel von Häuslingen bedroht worden sei. Er habe die Mißhandlung des Szaplewski nicht zur Anzeige gebracht, sondern diesem nur gesagt, daß er es im Wiederholungsfalle tun werde. Es sei ein alter Befehl, die Häuslinge nicht zu schlagen, dieser Befehl werde auch von Zeit zu Zeit erneuert.

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Herr Direktor Schellmann, weshalb haben Sie, als Sie von der von Szaplewski verübten Mißhandlung hörten, nicht Anzeige erstattet?

Schellmann: Ich erfuhr von dieser Mißhandlung erst nach zwei Jahren. Inzwischen war sowohl Szaplewski als auch der betr. Häusling längst entlassen.

Staatsanwalt: Szaplewski war, als Schellmann von der Mißhandlung erfuhr, nicht mehr Beamter. Schellmann hatte infolgedessen weder Veranlassung, noch war er verpflichtet, Anzeige zu machen.

Vert.: Ich habe aus folgendem Grunde die Frage gestellt: Herr Direktor Schellmann zeigte den Fall Szaplewski nicht an. Als wir jedoch Szaplewski als Zeugen vorschlugen, erstattete Schellmann Anzeige, um einen unbequemen Zeugen unglaubhaft zu machen.

Staatsanwalt: Ich bin der Meinung, daß das ins Plädoyer gehört.

Rechtsanwalt Gammersbach: Ich bitte festzustellen, daß, als Direktor Schellmann von der Szaplewskischen Mißhandlung erfuhr, er den Namen des betreffenden Häuslings nicht kannte. Es steht in den Akten bloß: „ein Häusling“.

Aufseher Esser: Die Häuslinge wußten, daß sie sich beschweren können. Direktor Schellmann habe alle Beschwerden mit Ruhe angehört.

Vors.: Wenn Sie glauben, durch Beantwortung einer Frage sich einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, haben Sie das Recht, Ihr Zeugnis zu verweigern. Wenn Sie aber antworten, dann müssen Sie die volle Wahrheit sagen. Sie sollen einmal mit dem Häusling Schlosser Kehrmann bei einer Arrestzelle vorübergekommen sein; da soll ein Insasse heftig geschrien und Sie darauf zu Kehrmann gesagt haben: Geben Sie doch dem Kerl eins auf den Kopf, damit er ruhig wird.

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Wissen Sie, daß ein Mann in der Arrestzelle gestorben ist, der als Leiche mit Fußschellen gefesselt war?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Wurden die Häuslinge von den Aufsehern geschlagen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wurden nicht die in der Cachotte befindlichen Arrestanten geschlagen?

Zeuge: Ja, die Arrestanten erhielten bisweilen Ohrfeigen.

Vors.: Hing nicht in jeder Cachotte ein Seil?

Zeuge: Ja.

Vors.: Welchen Zweck hatte das Seil?

Zeuge: Um den Gefangenen eins überzuziehen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Hing das Seil so, daß es Direktor Schellmann sehen konnte?

Zeuge: Nein, das Seil war in dem Flur in einem Kästchen, auf dem ein Gebetbuch lag, aufbewahrt.

Vors.: Haben Sie auch einmal einen Gefangenen mit dem Seil geschlagen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie haben nur schlagen sehen?

Zeuge: Ja.

Vors.: Wieviel Male haben Sie wohl schlagen sehen?

Zeuge: Vier bis fünfmal.

Vors.: Sind Sie der Meinung, daß der Direktor davon Kenntnis hatte?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Rechtsanwalt Gammersbach: Aus welchem Grunde geschah das Schlagen mit dem Seil?

Zeuge: Wegen Frechheit und Widersetzlichkeit.

Vors.: Das war doch aber kein Grund zum Schlagen, da war doch noch Zeit, eine Anzeige zu machen.

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Direktor Schellmann soll Sie einmal aufgefordert haben, einem Knaben, namens Wernitzki, 25 Hiebe zu geben?

Zeuge: Jawohl. Direktor Schellmann sagte mir: Oben ist ein Junge, namens Wernatzki, den wollen wir erst einige Stunden sitzen lassen und ihm alsdann 25 Hiebe versetzen. Ich habe geantwortet, daß mir das widerstrebt. Auf seine Frage, wer dies wohl tun würde, empfahl ich den Bäckermeister Kulartz. Dieser hat auch dem Knaben die 25 Hiebe gegeben.

Vors.: Waren Sie dabei?

Zeuge: Nein, ich stand unten auf dem Flur, hörte schlagen und den Knaben furchtbar schreien.

Vors.: Womit mag wohl geschlagen worden sein?

Zeuge: Ich glaube mit einem Seil.

Vors.: Wie alt war wohl der Knabe?

Zeuge: 9-10 Jahre.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach bekundete der Zeuge: Der Knabe Wernitzki, Sohn eines pensionierten Aufsehers, habe im Verdacht gestanden, ihm (dem Zeugen) eine goldene Uhr und Kette gestohlen zu haben, zumal die Kette bei dem Knaben gefunden worden sei.

Vert.: Ist es richtig, daß Direktor Schellmann bei der Züchtigung zugegen war und die Schläge zählte?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Direktor Schellmann sei wohl den Beamten gegenüber sehr streng gewesen, es sei aber doch auszukommen mit ihm gewesen.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie einmal geäußert haben: Direktor Schellmann sei in Brauweiler so gefürchtet, daß, wenn Schellmann zu Hause sei, die Spatzen sich zu zwitschern fürchten?

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Vert.: Der Zeuge ist, als er das letztemal hier als Zeuge erschienen war, in meinem Bureau gewesen und hat sich Zeugengebühren erbeten. Bei dieser Gelegenheit hat er mir das erzählt.

Vors.: Nun, Esser, ist das richtig?

Zeuge: Ich erinnere mich darauf nicht.

Vert.: Ich erkläre, daß meine Mitteilung vollständig wahr ist.

Vors.: Das glaube ich schon.

Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen: Es sei Leuten, die zur Cachotte verurteilt waren, einige Male die Zwangsjacke angelegt worden. Die Zwangsjacke bestand aus Leder und ließ sich derartig zuziehen, daß der Mann kaum noch atmen konnte. Schienen habe die Zwangsjacke, die er angelegt, nicht gehabt. Der Arzt wurde nicht gefragt, ob die Zwangsjacke angelegt werden dürfe. Er habe aus eigenem Antriebe die Zwangsjacke etwas gelockert, damit der Mann nicht ersticken konnte.

Angekl.: Ist es richtig, daß den Arrestanten beim Anlegen der Zwangsjacke auf die Knie getreten wurde, um die Zwangsjacke fester anziehen zu können?

Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt.

Vors.: War bei dem Anlegen der Zwangsjacke stets ein Oberaufseher dabei?

Zeuge: Jawohl.

Auf ferneres Befragen bekundete Aufseher Esser noch: Es sei allerdings nicht immer in den Arbeitssälen genügend warm gewesen. Die Säle konnten nicht so sehr geheizt werden, da dabei der Etat genau berücksichtigt werden mußte.

Meister Versteegen stellte in Abrede, daß er den Schlosser Ermanns aufgefordert habe, einem verstorbenen Arrestanten die Fußschellen abzumeißeln.

Schlosser Ermanns, nochmals als Zeuge vernommen, hielt seine Bekundung mit voller Entschiedenheit aufrecht. Er wiederholte: Aufseher Esser habe Schlosser Kehrmann, als einmal ein furchtbares Geheul aus einer Zelle ertönte, aufgefordert, dem Insassen eins auf den Kopf zu geben. Ob Kehrmann dies getan, wisse er nicht.

Esser, der hierauf dem Ermanns gegenübergestellt wurde, bestritt wiederholt ein solches Vorkommnis.

Lazarettaufseher Weber: Vor etwa sieben Jahren wurden Arrestanten bisweilen Fußschellen angelegt. Es sei aber niemals vorgekommen, daß Kranke oder Verstorbene mit Fesseln in das Lazarett gekommen seien. Er habe niemals wahrgenommen, daß Kranke an Entkräftung infolge Kostentziehung gestorben seien.

Schreinermeister Valentin: Werkmeister Wessel sei ein sehr tüchtiger, ordentlicher Mann und durchaus kein Trunkenbold gewesen.

Aufseherin Scharf: Wessel habe sich beschwert, daß der Mann, der in Brauweiler nach ihm mit dem Meißel geworfen, von dem Direktor nur mit sechs Wochen Arrest bestraft worden sei.

Dasselbe bekundete Werkmeister Derichs.

Dieser Zeuge bekundete noch auf Befragen: Es werde in Brauweiler von keinem Häusling mehr Arbeit verlangt, als er zu leisten imstande sei. Jeder Arbeiter müsse in der Freiheit doppelt soviel leisten, als von den Häuslingen in Brauweiler in der dritten Klasse verlangt werde.

Vert.: Wie erklärt es sich alsdann der Zeuge, daß kein Häusling wieder noch Brauweiler zurück will?

Zeuge: Darüber kann ich allerdings keinen Aufschluß geben. Der Zeuge bekundete im weiteren: Direktor Schellmann habe jede Beschwerde von den Häuslingen sofort entgegengenommen und streng untersagt, einen Häusling zu schlagen. Direktor Schellmann habe jede Ohrfeige mit mindestens fünf Mark geahndet. „Direktor Schellmann ist ein sehr strenger, aber ebenso gerechter Mann, ich kann nur sagen, daß ich Herrn Direktor Schellmann zu großem Dank verpflichtet bin.“ (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Ferner sagte der Zeuge auf Befragen: Es sei unwahr, wahr, daß, wie vom Angeklagten behauptet wird, der Häusling Lander 482mal bestraft worden sei. Lander sei allerdings furchtbar faul und frech gewesen und habe oftmals die Arbeit verweigert. Einen anderen Häusling, namens Schäfer, hatte er (Zeuge) im starken Verdacht, daß dieser den Politurspiritus trinke.

Im weiteren Verlauf bemerkte Direktor Schellmann, daß der englische Zeitungskorrespondent Politt sich etwa eine Stunde in Brauweiler aufgehalten habe. Er habe dem Engländer die Hauptbetriebe gezeigt – die ganze Anstalt zu zeigen, hätte mindestens drei Stunden in Anspruch genommen.

Am vierten Verhandlungstage bekundete Materialienverwalter Strunk als Zeuge: Er habe mit dem Werkmeister Wessel oftmals Differenzen gehabt. Wessel habe mehrfach über die Frechheit und Faulheit des Epileptikers Schäfer geklagt, „der gar nicht genug bestraft werden könne.“ Wessel habe auch vielfach auf die Häuslinge geschimpft und sie sehr barsch behandelt, so daß es ihn (den Zeugen) gewundert habe, daß sich nicht mehrere Häuslinge an Wessel vergriffen haben. Geschlagen habe Wessel die Häuslinge nicht. Direktor Schellmann sei sehr streng, aber gerecht.

Es wurde alsdann der 21jährige Untersuchungsgefangene Jaffka vorgeführt. Dieser hatte sich vor dem Kölner Schwurgericht wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu verantworten. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei im Juni d.J. nach Brauweiler gekommen. Die Arbeit, die er dort zu verrichten hatte, sei zu bewältigen gewesen. Das Essen und auch die Bekleidung sei gut gewesen, mißhandelt sei er in Brauweiler nicht worden, er habe aber einige Male beobachtet, daß Aufseher andere Häuslinge gestoßen und geschlagen haben. Er sei aus Brauweiler entwichen, um wieder in der Freiheit zu sein.

Vors.: Haben Sie gesagt, Sie wollen lieber ins Zuchthaus, als nach Brauweiler zurück?

Zeuge: Das habe ich gesagt.

Vors.: Wie kamen Sie zu dieser Bemerkung, Sie wissen doch noch nicht, wie es im Zuchthause ist? Der Zeuge schwieg.

Vors.: Haben Sie das von anderen Häuslingen gehört?

Zeuge: Ja.

Auf Befragen des Verteidigers bekundete der Zeuge: Als er die Brandstiftung beging, sei er in Gefahr gewesen, wieder ergriffen und nach Brauweiler zurückgebracht zu werden, deshalb habe er den Schober in Brand gesteckt.

Direktor Schellmann: Als der Zeuge eingeliefert wurde, sagte er ihm, daß er Gärtner sei, aber die Gärtnerei nicht ordentlich gelernt habe. Er (Schellmann) habe dem Zeugen gesagt, daß er ihn gründlich in der Gärtnerei werde ausbilden lassen.

Der Zeuge gab dies als richtig zu.

Hilfsaufseher Korte: Ihm sei es nicht bekannt, daß ein Hilfsaufseher einmal plötzlich entlassen worden sei. Die Hilfsaufseher werden von dem Direktor Schellmann ebenso wie Aufseher behandelt.

Werkmeister Faßbender: Das Arbeitspensum in seiner Station wurde von 2/3 der Häuslinge um 1/3 überschritten. Auch in anderen Stationen werde das Pensum vielfach überschritten. Jedenfalls sei das Pensum in Brauweiler im allgemeinen um etwa 1/3 geringer als das übliche Pensum der freien Arbeiter. Es bestehe in Brauweiler der strikte Befehl, daß die Häuslinge nicht geschlagen werden dürfen. Er könne über Direktor Schellmann absolut nicht klagen, er habe niemals von ihm einen Verweis erhalten.

Es erschien alsdann als Zeugin die 30jährige Korrigendin Anna Kranen: Sie sei das erste Mal zehn Monate in Brauweiler gewesen und sei einige Male wegen Widerspenstigkeit bestraft worden. Ein zweites Mal sei sie zwei Jahre in Brauweiler gewesen. Sie sei mit Nähen beschäftigt gewesen und habe das Pensum gut bewältigen können. Sie habe täglich 30 Hemden und 120 Knopflöcher und Knöpfe mit der Hand nähen müssen. Sie sei einmal von der Aufseherin aufgefordert worden, Staub auf dem Flur zu wischen. Sie habe jedoch der Aufseherin erwidert, daß sie nur zu nähen brauche. Die Aufseherin habe sie deshalb „Saumensch“ geschimpft, sie sechs Wochen in die Arrestzelle gesperrt und ihr eine Zwillichjacke angezogen, so daß sie kaum Luft bekam.

Vors.: Aus welchem Grunde wurde Ihnen die Zwangsjacke oder Zwillichjacke, wie Sie sie nennen, angezogen?

Zeugin: Ich hatte an die Zellentür geklopft.

Vors.: Wie lange mußten Sie die Jacke anhaben?

Zeugin: Sechs Wochen lang, Tag und Nacht.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Sie sei noch mehrfach wochenlang in die Arrestzelle gesperrt und in die Zwangsjacke gesteckt worden.

Vors.: Weshalb geschah das?

Zeugin: Ich wurde von den Aufseherinnen immer beschimpft, da wurde ich so aufgeregt, ich glaube, das ist meine Krankheit.

Vors.: Haben Sie sich deshalb einmal vor den Arzt führen lassen?

Zeugin: Jawohl, der sagte, es ist nicht so schlimm.

Die Zeugin bekundete im weiteren: Sie sei, als sie zum zweiten Male aus Brauweiler entlassen war, zum dritten Male vom Amtsgericht zu Krefeld wegen Nichtinnehaltung der Kontrollvorschriften nach Brauweiler geschickt worden, wo sie sich jetzt noch befinde.

Direktor Schellmann: Die Kranen sei das schlimmste Frauenzimmer, das in Brauweiler je gewesen sei. Nicht die Aufseherinnen, sondern sie habe unaufhörlich getobt und geschimpft und täglich gegen die Hausordnung gefehlt.

Vors.: Ich muß Sie ersuchen, Herr Direktor, das, was Ihnen berichtet worden und das, was Sie selbst wahrgenommen haben, streng auseinanderzuhalten.

Schellmann: Das kann ich schwer auseinanderhalten. (Lachen im Zuhörerraum.)

Vors.: Die Zeugin ist augenscheinlich eine sehr aufgeregte Person, haben Sie einmal ihren Geisteszustand untersuchen lassen?

Schellmann: Jawohl, Herr Dr. Bodet hat sie untersucht, dieser hält sie aber auch heute noch nicht für geisteskrank. Schellmann bekundete des weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: In der Cachotte gebe es weder ein Bett noch ein Kopfkissen, noch überhaupt ein Möbelstück. Die Cachottinsassen müssen auf dem Fußboden schlafen, behalten ihre Sachen an und wechseln nur die Wäsche. In der Cachotte gebe es nur jeden vierten Tag warme Kost; im übrigen gebe es nur Brot. Die Zwillichjacke sei keine Zwangsjacke, sondern ein sogenannter Bastanzug. Dieser wurde der Zeugin angelegt, weil sie ihre Sachen zerrissen hatte.

Vors.: Kranen, ist das richtig, haben Sie Ihre Sachen zerrissen?

Zeugin: Ich habe einmal ein Kleid zerrissen?

Vors.: Deshalb wurde Ihnen sechs Wochen lang der Bastanzug angelegt?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Es soll Ihnen auch einmal der Maulkorb angelegt worden sein?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Wann und wo geschah das?

Zeugin: Ich saß in der Cachotte und klopfte.

Vors.: Wie lange hatten Sie den Maulkorb an?

Zeugin: Zwei Stunden. Ich war, nachdem mir der Maulkorb abgenommen war, ganz blau im Gesicht, hatte heftiges Nasenbluten und Schmerzen im Halse.

Vors.: Wurden Sie alsdann aus der Cachotte entlassen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Konnten Sie, als Ihnen der Maulkorb angelegt war, schreien oder atmen?

Zeugin: Ich konnte weder schreien noch atmen.

Vors.: Wer hat Ihnen den Maulkorb angelegt?

Zeugin: Fräulein Scherf und Fräulein Medder.

Vors.: War Direktor Schellmann dabei?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben Sie sich darüber beschwert?

Zeugin: Nein.

Vors.: Ist nicht einmal ein Herr aus Düsseldorf bei Ihnen in der Cachotte gewesen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben Sie nicht einmal dem Direktor Schellmann gesagt, Sie wollen sich in Düsseldorf beschweren?

Zeugin: Ja, das habe ich gesagt. Herr Direktor Schellmann bemerkte: Schreiben Sie nur, ich werde den Brief abschicken.

Vors.: Haben Sie geschrieben?

Zeugin: Nein.

Vors.: Weshalb nicht?

Zeugin: Ich dachte, der Brief wird doch nicht abgeschickt.

Vors.: Haben Sie sich bei dem Direktor Schellmann beschwert?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Was hat der gesagt?

Zeugin: Er sagte, ich müsse die Strafe aushalten.

Vors.: Ist einmal Dr. Bodet bei Ihnen in der Cachotte gewesen?

Zeugin: Ein einziges Mal.

Vors.: Ist sonst einmal jemand bei Ihnen gewesen?

Zeugin: Nein, es hat sich niemand um mich gekümmert.

Die Zeugin bekundete ferner auf Befragen: Sie habe etwa zehnmal den Maulkorb angelegt bekommen (Bewegung im Zuhörerraum). Auch anderen Korrigendinnen sei in der Cachotte der Maulkorb angelegt worden.

Einer Korrigendin sei in der Nebenarrestzelle der Maulkorb angelegt worden. Fräulein Medder sagte zu Fräulein Scherf: „Legen Sie dieser Person einmal ordentlich den Maulkorb an!“ Als die Korrigendin weinte, furchtbar schrie und bat, ihr den Maulkorb doch nicht anzulegen, sie müsse alsdann sterben, versetzte die Medder: „Ach was, durch das Anlegen des Maulkorbes ist noch niemand gestorben.“

Nach einiger Zeit ist die Medder wieder in die Cachotte gekommen und rief: Wodtke, stehen Sie doch auf! Fräulein Medder rief mehrere Male, die Korrigendin war aber inzwischen gestorben.

(Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Angekl. Hofrichter: Haben Sie die Beschwerde nicht deshalb unterlassen, weil Sie sich sagten, das hat doch keinen Zweck?

Zeugin: Jawohl.

Vertreter der Nebenkläger

Rechtsanwalt Gammersbach: Von wem wissen Sie, daß Sie blau im Gesicht waren?

Zeugin: Der Maulkorb wurde mir am Samstag angelegt und als ich des Sonntags zur Kirche ging, sagten es mir die anderen Korrigendinnen.

Rechtsanwalt Gammersbach: Wodurch wissen Sie, daß die verstorbene Wodtke blau im Gesicht war?

Zeugin: Das hat mir die Korrigendin Zander gesagt.

Vert.: Ich beantrage, die Zander als Zeugin zu laden.

Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Direktor Schellmann: Er glaube, daß die Zander gestern ins Lazarett gekommen sei. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Wenn sich eine solche Kundgebung des Publikums noch einmal wiederholen sollte, dann werde ich den Zuhörerraum räumen und im Interesse der Ordnung niemanden mehr hineinlassen.

Es wurde hierauf beschlossen, die Zander als Zeugin zu laden und auf Antrag des Angeklagten auch je ein Exemplar der in Brauweiler zur Anwendung gelangten Zwangsjacken zur Stelle zu schaffen.

Die folgende Zeugin war die frühere Aufseherin Sauer: Sie habe der Kranen gut zugeredet, diese habe aber ohne jede Veranlassung förmliche Wutanfälle bekommen und in solchen Fällen alles zerschlagen. Der Arzt sei einige Male zu ihr gerufen worden, dieser habe aber gesagt: „Was soll ich da machen, sie gibt mir doch keine Antwort.“ Wenn es schließlich mit der Kranen nicht auszuhalten war, sei sie in die Isolierzelle gebracht worden. Einmal sei die Kranen wegen einer fieberartigen Lungenentzündung ins Lazarett gekommen.

Vors.: Sie sollen einmal, als eine Korrigendin die epileptischen Anfälle bekam, gesagt haben, man solle der Korrigendin mit einer Stecknadel in die Fußsohlen stechen, dann werde man sehen, daß sich die Person nur verstelle.

Zeugin: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Sind Sie nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß die Kranen geistig nicht normal sei?

Zeugin: Gewiß, ich sagte mehrfach, die Kranen muß verrückt sein, sonst könnte sie derartige Dinge nicht machen. Es kam fast täglich vor, daß ich ganz ruhig mit ihr redete, und kaum war ich zur Tür hinaus, da zerbrach sie alles.

Vors.: Haben Sie auch einmal Herrn Dr. Bodet gesagt, daß die Kranen augenscheinlich geisteskrank ist?

Zeugin: Jawohl, sogar mehrfach.

Vors.: Was antwortete Dr. Bodet?

Zeugin: Er antwortete nichts.

Vors.: Haben Sie dasselbe auch Herrn Direktor Schellmann gesagt?

Zeugin: Nein.

Schellmann: Haben Sie mir nicht häufig über die große Frechheit der Kranen geklagt?

Zeugin: Jawohl.

Auf Vorhalt des Verteidigers bemerkte die Zeugin, daß ihr von der Mundbinde nichts bekannt sei.

Aufseherin Scherf: Der Kranen mußte der Bastanzug angelegt werden, da sie alle anderen Kleider zerrissen habe. Sie konnte aber in diesem Bastkleide noch vollständig atmen. Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Sie habe von den Wutanfällen nicht Herrn Direktor Schellmann, sondern nur der Oberaufseherin Anzeige erstattet.

Vors.: Haben Sie Korrigendinnen die Mundbinde angelegt?

Zeugin: Das kann sein.

Vors.: Besinnen Sie sich, ich möchte eine bestimmte Antwort haben.

Zeugin (nach längerem Zögern): Ja, ich habe mehrfach die Mundbinde angelegt.

Vors.: War Ihnen bekannt, daß das Anlegen der Mundbinde durch Ministerialreskript verboten war?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben sich die Korrigendinnen gegen das Anlegen der Mundbinde gewehrt?

Zeugin: Einige Male allerdings, gewöhnlich aber nicht. Die Korrigendinnen wußten, daß sie die Mundbinde doch anbekamen.

Vors.: Wie lange war die Mundbinde gewöhnlich angelegt?

Zeugin: Eine Stunde.

Vors.: Haben Sie sich, nachdem die Mundbinde angelegt war, um das weitere Schicksal der betreffenden Personen bekümmert?

Zeugin: Jawohl, ich ging an die Zelle und hörte, ob die Person etwas spreche.

Vors.: Wenn die Personen die Mundbinde anhatten, dann konnten sie doch nicht sprechen?

Zeugin: Ich wollte sagen, ich hörte, ob die Bestrafte ein Lebenszeichen von sich gab.

Vors.: Wenn Sie die Mundbinde nun abgenommen hatten, hatten alsdann die Bestraften blaue Flecke oder sonstige körperliche Nachteile?

Zeugin: Ich habe niemals eine solche Wahrnehmung gemacht. Ich wurde sogar immer von den Bestraften gebeten, die Mundbinde noch eine Stunde anzulassen.

Vors.: Das ist nicht glaublich, ich ermahne Sie, Ihre Worte genau zu prüfen und nicht Dinge zu sagen, die niemand glauben kann.

Die Zeugin schwieg.

Vors.: Haben Sie auch der Wodtke die Mundbinde angelegt?

Zeugin: Jawohl, ich und Fräulein Medder.

Vors.: Hat sich die Wodtke gewehrt?

Zeugin: Jawohl, die hat sich sehr gewehrt.

Vors.: War diese blau im Gesicht, als Sie ihr die Mundbinde abnahmen?

Zeugin: Dessen erinnere ich mich nicht mehr.

Vors.: Haben Sie, nachdem Sie der Wodtke die Mundbinde angelegt, sich noch um diese gekümmert?

Zeugin: Jawohl, ich ging zu ihr in die Zelle.

Vors.: Und was sahen Sie da?

Zeugin: Die Wodtke lag auf der Erde und machte Handbewegungen, die darauf schließen ließen, daß sie bat, sie von der Mundbinde zu befreien.

Vors.: Sie gewährten ihr aber diese Bitte nicht?

Zeugin: Nein.

Vors.: Wer nahm nun der Wodtke schließlich den Maulkorb ab?

Zeugin: Fräulein Medder und ich.

Vors.: Und als Sie den Maulkorb der Wodtke abgenommen hatten, war sie tot?

Zeugin: Ja. (Allgemeine Bewegung.)

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Sind beim Anlegen der Mundbinde oder infolge des Anlegens Ohnmachtsanfälle vorgekommen?

Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.

Vert.: Einer Korrigendin soll nach Abnahme der Mundbinde der Schaum vor den Mund getreten sein und Sie sollen ihr deshalb ein Glas Wasser gebracht haben?

Zeugin: Das ist möglich.

Vors.: Kranen, wurde Ihnen, wenn Ihnen die Mundbinde abgenommen wurde ein Glas Wasser gebracht?

Kranen: Ich glaube manchmal.

Es wurde hierauf das Strafregister der Kranen verlesen. Danach war diese vielfach wegen Frechheit, Zerreißens der Kleider, Zerschlagens von Gegenständen, den, unanständigen Benehmens, Arbeitsverweigerung, wegen Verweigerung, die Kirche zu besuchen usw. in Brauweiler mit Cachotte und Kostentziehung bestraft worden.

In der Nachmittagssitzung wurde Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Pelmann (Bonn) als Sachverständiger vernommen. Die Angelegenheit der Mundbinde ist mir um so mehr bekannt, da diese dem Medizinalkollegium der Rheinprovinz, dessen Mitglied ich bin, vorgelegen hat. Es ist kein Zweifel, daß die Wodtke infolge Anlegens der Mundbinde verstorben ist. Allein ich muß es in Abrede stellen, daß die Mundbinde an sich ein gefährliches Instrument ist, das geeignet wäre, den Tod herbeizuführen. Das geht schon daraus hervor, daß die Mundbinde in vielen anderen Anstalten eingeführt war und wohl Hunderte, vielleicht Tausende von Malen, ohne daß der Tod herbeigeführt wurde, angewendet worden ist. Das ministerielle Verbot ist jedenfalls aus ethischen Gründen ergangen; es ist auch dabei auf irgendwelche Gefährlichkeit nicht hingewiesen worden. Die Todesursache der Wodtke ist noch nicht aufgeklärt. Es ist möglich, daß die Mundbinde zu sehr auf die Nase, vielleicht auch zu sehr auf den Kehlkopf gedrückt hat. Es ist auch noch eine andere Todesursache möglich. Ein Professor der Physiologie in Bonn, dem ich die Sache erzählte, sagte mir, ich finde die Sache aus physiologischen Gründen ganz erklärlich. So lassen sich z.B. Experimente, die man mit allen anderen Hunden vornehmen kann, niemals mit englischen Bulldoggen machen. Diese Tiere sind derartig bösartig, daß solche Experimente gewöhnlich ihren Tod herbeiführen. Eine ähnliche Todesursache ist bei der Wodtke, die vielleicht ebenfalls nach Anlegung der Mundbinde sehr erregt war, möglich. Der Umstand, daß in tausenden Fällen durch das Anlegen der Mundbinde der Tod nicht erfolgt ist, beweist, daß die Mundbinde weder objektiv noch subjektiv ein gefährliches Werkzeug ist, das geeignet ist, den Tod herbeizuführen. Wenn ich vor dem Anlegen der Mundbinde gefragt worden wäre, dann hätte ich gesagt, ich finde die Anwendung der Mundbinde nicht für schön und es empfiehlt sich überhaupt, von der Anwendung derartiger mittelalterlicher Instrumente Abstand zu nehmen, eine Todesgefahr ist jedoch ausgeschlossen.

Vert.: Ich muß hervorheben, daß die Herren Kreisphysici Dr. Langgard und Dr. Eschwald und auch das Gutachten des Medizinalkollegiums sich doch anders äußern.

Vors.: In der Verhandlung gegen Schellmann und Dr. Bodet wurde von den als Sachverständigen vernommenen Ärzten bekundet: Der Tod der Wodtke ist wohl durch Ersticken eingetreten, eine Fahrlässigkeit beim Anlegen der Mundbinde ist jedoch nicht zu konstatieren statieren gewesen. Das Medizinalkollegium hat lediglich über den Sektionsbefund der Leiche, nicht aber über die Gefährlichkeit der Mundbinde ein Obergutachten abgegeben.

Auf Antrag des Staatsanwalts und des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, wurde das freisprechende Erkenntnis gegen Schellmann und Dr. Bodet vom 1. März d.J. in seinem ganzen Umfange verlesen.

Alsdann erschien als Zeugin Haushälterin Witwe Kulatz: Sie sei Aufseherin in Brauweiler gewesen. Wie ihr die Aufseherin Medder erzählt, habe die Wodtke sich beim Anlegen des Maulkorbes heftig gesträubt. Sie (Zeugin) sei bei der Anlegung des Maulkorbes der Wodtke nicht zugegen gewesen, habe aber anderen Korrigendinnen einige Male den Maulkorb angelegt. Es sei allgemein üblich gewesen, den Maulkorb eine Stunde anzulassen. Gewöhnlich sei nach Abnahme des Maulkorbes den Korrigendinnen Wasser gereicht worden; bisweilen seien auch die Korrigendinnen, ohne Wasser zu erhalten, an die Arbeit gegangen. Sie habe mehrfach Korrigendinnen durch Anlegen des Maulkorbes bestraft, wenn diese sich gegenseitig ihren früheren unsittlichen Lebenswandel vorwarfen. Ihr gegenüber habe sich niemals eine Korrigendin beklagt, daß sie durch das Anlegen der Mundbinde Atemnot und andere Nachteile davongetragen tragen habe. Auch habe keine derartig bestrafte Korrigendin jemals verlangt, vor den Arzt geführt zu werden.

Auf Befragen des Verteidigers sagte die Zeugin noch: Die Medder habe ihr erzählt, die Wodtke habe sich beim Anlegen der Mundbinde mit Händen und Füßen heftig gewehrt. Man habe aber der Wodtke die Hände und Füße gebunden und ihr hierauf die Mundbinde angelegt. Die Wodtke habe sich darauf zur Erde fallen lassen und sei auch nicht mehr aufgestanden.

Auf Befragen des Vorsitzenden und des Rechtsanwalts Gammersbach bekundete die Zeugin: Sie habe niemals irgendwelche Mißhandlungen in Brauweiler wahrgenommen. Direktor Schellmann, der ein sehr strenger, aber gerechter Mann sei, habe weder jemals direkt noch indirekt Befehl zu irgendeiner Mißhandlung gegeben.

Es wurde darauf Witwe Wernitzki als Zeugin vernommen: Mein verstorbener Mann war Aufseher in Brauweiler. Ich habe acht Kinder. Der Knabe, von dem gestern die Rede war, war mein Stiefsohn. Als mein Mann auf Außenkommando war, brachte mir einmal mein Stiefsohn ein Stück Kette, das er gefunden haben wollte. Dieses Stück Kette gehörte dem Aufseher Esser, dem angeblich eine goldene Uhr und Kette gestohlen war. Esser beschuldigte meinen Sohn des Diebstahls. Letzterer bestritt dies aber entschieden. den. Ich redete meinem Sohne streng ins Gewissen, untersuchte alles ganz genau, der Knabe aber blieb dabei, daß er nichts gestohlen habe. Da Esser aber dies fortgesetzt behauptete, so verklagte ich ihn beim Schiedsmann. Ich besaß jedoch nicht die nötigen Mittel, um die Sache weiter zu verfolgen. Inzwischen spielte mein Sohn „Steigvogel“. Letzterer flog in den Garten der Baumschule. Mein Sohn ging in den Garten und pflückte sich einige Äpfel ab. Ich habe, als ich davon hörte, den Knaben gezüchtigt. Bald darauf wurde ich jedoch zu Herrn Direktor Schellmann gerufen. Dieser sagte zu mir: „Wenn Sie Ihre Kinder nicht züchtigen können, dann werde ich Ihren Mann entlassen.“ Ich erschrak furchtbar, denn ich habe eine große Familie. Der Direktor sagte zu mir: „Am besten, Sie schicken den Jungen einmal zu mir.“ Ich kam dieser Aufforderung nach. Ich glaubte, der Direktor werde den Jungen vielleicht auf eine halbe Stunde einsperren und war sehr erstaunt, als der Junge heftig weinend nach Hause kam und klagte, daß er furchtbar geschlagen worden sei.

Vors.: Klagte der Knabe über Schmerzen?

Zeugin: Jawohl, er klagte mehrere Tage über heftige Schmerzen in den Beinen.

Vors.: Nachteilige Folgen hat der Knabe aber nicht davongetragen?

Zeugin: Nein. Die Zeugin bekundete weiter: Als mein Mann nach Hause kam und von dem Vorgefallenen hörte, war er furchtbar aufgebracht, so daß ich alle Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Mein Mann wollte zunächst gerichtliche Schritte gegen Direktor Schellmann unternehmen, er sagte aber schließlich: Der Knabe wird die Schläge vergessen, ich würde dagegen, wenn ich gegen Schellmann etwas unternähme, sofort meine Stellung verlieren.

Vert.: Klagte Ihr Mann über den Direktor?

Zeugin: Jawohl, sehr häufig. Mein Mann kam bisweilen abends nach Hause und weinte vor Wut über die ihm vom Direktor zuteil gewordene Behandlung. Eines Tages erzählte mir mein Mann, er sei vom Direktor wie ein Hund mit einem Ausdruck vor die Tür geworfen worden, den ich hier nicht wiederholen kann. Unter anderem hat der Direktor meinen Mann beschimpft, weil er ihm nicht den jüngsten Familienzuwachs gemeldet hatte. Mein Mann entschuldigte sich und sagte: Er habe es unterlassen, da er zur Zeit nicht zu Hause, sondern auf Kommando war.

Vors.: Wie lange ist Ihr Mann tot?

Zeugin: Vier Jahre.

Vors.: Woran ist Ihr Mann gestorben?

Zeugin: An der Lungenschwindsucht.

Es erschien hierauf der jetzt 17jährige Wernitzki, ein hübscher, aufgeweckter Bursche als Zeuge. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Meine Eltern wohnten in Brauweiler. Vor etwa 7 bis 8 Jahren fand ich auf einem Mäuerchen ein Stück Kette, ein Uhrwerk und ein zerbrochenes Uhrglas. Ich zeigte dies meinen Geschwistern und anderen Kindern. Gleich darauf sagte mir meine Mutter, der Aufseher Esser behauptet, ich hätte ihm Uhr und Kette gestohlen. Ich hatte dies aber nicht getan. Den anderen Tag spielte ich mit anderen Knaben „Steigvogel“. Mein Steigvogel flog in den Garten der Baumschule. Ich ging in den Garten, holte mir meinen Steigvogel und pflückte mir zwei Äpfel ab. Gleich darauf wurde ich zum Herrn Direktor geholt. Letzterer gab mir zunächst ein paar Ohrfeigen, sagte mir, daß ich dem Aufseher Esser Uhr und Kette gestohlen habe, und sperrte mich mehrere Stunden lang in eine dunkle Zelle. Schließlich wurde ich von dem Bäckermeister Kulatz aus der Zelle in ein Zimmer geführt, dort wurden mir die Hosen angespannt. Kulatz legte mich über sein Knie und schlug mich heftig mit einem Stock. Als ich fünf Schläge erhalten hatte, bat ich den Herrn Direktor um Verzeihung und bat ihn, mich doch nicht weiterschlagen zu lassen. Der Herr Direktor sagte jedoch zu Kulatz: Schlagen Sie nur weiter!

Bäckermeister Kulatz: Direktor Schellmann habe ihm gesagt, der Junge habe gestohlen, er solle deshalb den Jungen einmal züchtigen, da die Mutter dies nicht tue. Er habe darauf dem Jungen etwa zehn Hiebe versetzt, setzt, es können auch einige mehr oder weniger gewesen sein, gezählt habe er die Hiebe nicht. Daß der Knabe nach den ersten fünf Schlägen um Verzeihung gebeten habe, sei unwahr.

Aufsehersfrau Drews: Ihr Mann sei noch jetzt Aufseher in Brauweiler. Frau Wernitzki habe zu ihr gesagt: Sie werde zu dem Direktor gehen und ihn bitten, ihren Knaben züchtigen zu lassen, sie könne den Jungen nicht mehr bändigen. Als der Junge die Prügel bekommen hatte, sagte Frau Wernitzki zu mir: Ich freue mich, daß der Direktor meinen Knaben hat züchtigen lassen, wenn ich meine Kinder schlage, dann treten sie nach mir.

Frau Wernitzki: Das ist alles nicht wahr, es hat noch keines meiner Kinder nach mir getreten.

Vors.: Ich nehme das zur Ehre Ihrer Kinder an.

Frau Drews: Ich sage die Wahrheit, der Junge, den ich am anderen Tage fragte, bejahte dies mit lachender Miene. Frau Wernitzki sagte darauf: Es hat ihm nichts geschadet.

Frau Wernitzki und deren Sohn bezeichneten diese Bekundung mit großer Entrüstung als vollständig erfunden.

Die Zeugin Drews versetzte darauf: Ich sage die Wahrheit. Ich habe den Wernitzkischen Kindern oftmals Essen gegeben, da sie von ihrer Mutter mit Kostentziehung bestraft wurden.

Direktor Schellmann: Der Junge war sehr nichtsnutzig, da die Mutter ihm alles nachsah und der Vater zumeist abkommandiert war. Ich schickte den Vater auf Kommando mit Rücksicht auf seine zahlreiche Familie da er dadurch eine größere Einnahme hatte. Ich habe den Jungen selbst etwa drei Stunden lang in die Cachotte gesperrt und ihm alsdann einige Hiebe geben lassen. Daß ich den Mann schlecht behandelt habe, bestreite ich. Ich habe im Gegenteil den Mann, der lungenkrank war, mit Tuberkulin im Lazarett behandeln lassen.

Der frühere Aufseher, jetzige Bauwächter Szaplewski, der bekanntlich wegen Mißhandlung eines Häuslings zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde bekundete auf Befragen: Die Häuslinge seien in Brauweiler und auch in Jülich mehrfach mißhandelt worden. Die Kost war bisweilen nicht ausreichend, das Arbeitspensum sehr groß und die Heizung in den Arbeitssälen nicht immer genügend. Widerspenstige Häuslinge wurden in die Cachotte gesperrt. In dieser waren ein Seil und ein Gummischlauch vorhanden. Ob damit geschlagen worden, wisse er nicht.

Er habe selbst mehrfach Häuslingen die Zwangsjacke angelegt. Die Häuslinge haben sich gegen das Anlegen der Zwangsjacke stets heftig gewehrt. Ein Häusling, namens Tausend, habe sich einmal krank gemeldet. Er (Zeuge) habe ihn zu Dr. Bodet geführt. Dieser habe ihn aber für gesund erklärt. Der Mann mußte weiterarbeiten und sei nach drei Tagen gestorben. Einen anderen Häuslings, namens Schumacher, habe er dem Direktor als krank gemeldet. Der Mann mußte aber trotzdem weiterarbeiten, und da er dies nicht konnte, wurde er in die Cachotte gesperrt, wo er auch gestorben sei. Es seien auch Häuslinge mit Anlegen von Hand- und Fußschellen bestraft worden. Es sei richtig, daß Häuslinge geäußert hätten, sie wären lieber im Zuchthaus, als in Brauweiler. Ein Häusling habe zu diesem Zwecke einmal eine Anzahl Möbel demoliert. Er selbst sei von dem Direktor Schellmann wegen der geringsten Vergehen bestraft worden. Auf Befehl oder auch nur mit Wissen des Direktors Schellmann sei dagegen niemals jemand mißhandelt worden.

Auf Befragen des Angeklagten Hofrichter gab der Zeuge zu, daß einmal ein kleiner buckliger Mensch zum Rübenbau nach Jülich kommandiert worden sei.

Am fünften Verhandlungstage wurde zunächst Polizeiarzt Dr. Wolff vernommen: Er habe in seiner Eigenschaft als Polizeiarzt diejenigen Personen zu untersuchen, die nach Brauweiler geschickt werden sollen. Schwache, kranke, insbesondere lungenkranke Personen und auch schwangere werden nach Brauweiler nicht gesandt. Er habe die Leute, die aus Brauweiler kommen, vielfach gesehen und sei stets erstaunt gewesen über das gute Aussehen der Leute, die dort zweifellos nicht gedarbt haben. Leute, die aus der Sommerfrische kommen, sehen vielfach nicht so gut aus, als die aus Brauweiler Kommenden.

Vert.: Herr Doktor, Sie sagen, lungenkranke Personen würden nach Brauweiler nicht gesandt. Nun besagen die Obduktionsprotokolle und Herr Direktor Schellmann hat es auch bekundet: die meisten Brauweiler Häuslinge sterben an Tuberkulose!

Dr. Wolff: Selbstverständlich können nur derartige Lungenkranke von der Verschickung nach Brauweiler ausgeschlossen werden, bei denen diese Krankheit erkennbar ist.

Es wurde hierauf die Aussage des kommissarisch vernommenen 44jährigen Tagelöhners Auweiler verlesen. Danach hatte dieser bekundet: Er sei im Brauweiler Arbeitshause gewesen. Direktor Schellmann habe ihm einmal fünf Tage Arrest diktiert. Er habe infolgedessen bemerkt, daß er dann lieber sechs Wochen Arrest haben wolle. Direktor Schellmann habe seine Personalakten nachgesehen und alsdann gesagt: Gut, dann erhalten Sie sechs Wochen Arrest, Sie bleiben also bis zu Ihrer Entlassung im Arrest. Er sei nun in Arrest gebracht worden. Einige Tage darauf sei er von dem Aufseher Tappert aus seiner Arrestzelle in den Flur geführt, von diesem mit dem Kopf niedergedrückt worden und nun habe er, während er von Tappert pert festgehalten wurde, 12 Hiebe mit einem Rohrstock erhalten. Er gebe zu, daß er gegen einige Aufseher frech gewesen sei. Ob Direktor Schellmann den Befehl zu dieser Prozedur gegeben habe, wisse er nicht.

Aufseher Tappert: Direktor Schellmann sei ein strenger, aber gerechter Mann. Dieser habe den Beamten oftmals eingeschärft, die Häuslinge nicht zu schlagen, ihnen ordentlich zu essen zu geben, sie gut zu behandeln und auch die Arbeitssäle gut zu heizen. Eines Tages habe er von dem Oberaufseher Schmitz den Auftrag erhalten, den Häusling Auweiler aus der Arrestzelle zu führen, da dieser Hiebe bekommen müsse. Er habe den Auweiler auf den Flur geführt, ihm den Kopf niedergedrückt, ihn festgehalten und nun habe Oberaufseher Schmitz dem Auweiler mit einem Rohrstock 12 Hiebe versetzt.

Vors.: Wissen Sie, weshalb Oberaufseher Schmitz den Mann schlug?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wußte Herr Direktor Schellmann von dieser Mißhandlung?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Was war das für ein Rohrstock, mit dem Schmitz den Mann schlug?

Zeuge: Ein Rohrstock, der zum Kleiderausklopfen benutzt wurde.

Vors.: Ist nicht in den Arrestzellen auch ein Gummischlauch?

Zeuge: Nur eine 1/2 Zentimeter dünne Gummischnur.

Vors.: Was geschieht mit dieser Gummischnur?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sind sonst noch Mißhandlungen vorgekommen?

Zeuge: Nein, nur ganz junge Leute sind noch geschlagen worden.

Vors.: Haben Sie diese jungen Leute geschlagen?

Zeuge: Jawohl, im Auftrage des Oberaufsehers.

Vors.: Wieviel mal haben Sie jugendliche Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Ein- oder zweimal.

Vors.: Wie alt waren diese Jungen?

Zeuge: 12 bis 14 Jahre.

Vors.: Wußten Sie, was die Knaben verbrochen hatten?

Zeuge: Nein.

Vors.: In welcher Weise wurden die Knaben geschlagen?

Zeuge: In derselben Weise wie Auweiler.

Vert.: Hielten Sie sich zu solchen Mißhandlungen berechtigt?

Zeuge: Ich habe nur den Befehl meines direkten Vorgesetzten ausgeführt.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Sie Befehle Ihrer Vorgesetzten nur ausführen dürfen, die nicht strafbar sind?

Auf Anregung des Staatsanwalts machte der Vorsitzende den Zeugen wiederholt aufmerksam, daß er die Antwort verweigern könne, wenn er glaube, sich einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen.

Der Zeuge bemerkte aber: Er habe geglaubt, daß er den Befehl seines Vorgesetzten auszuführen habe.

Vert.: Herr Direktor Schellmann hat wiederholt untersagt, die Häuslinge zu schlagen. Haben Sie sich infolgedessen nicht verpflichtet gefühlt, von der von dem Oberaufseher Schmitz verübten Mißhandlung dem Herrn Direktor Mitteilung zu machen?

Zeuge: Ich war der Meinung, daß der Oberaufseher Herrn Direktor Schellmann vorher davon Mitteilung gemacht hat.

Der folgende Zeuge war Oberaufseher Schmitz. Dieser bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er wisse, daß das Schlagen der Häuslinge nur gestattet sei, wenn die Aufseher tätlich angegriffen werden. Aus diesen Gründen habe er einige Male Züchtigungen vorgenommen.

Vors.: Sie sollen auch einmal den Häusling Auweiler geschlagen haben?

Zeuge: Auweiler war wiederholt furchtbar frech, tobte, beschimpfte und bedrohte die Beamten, so daß ich ihn zum Rapport vor den Herrn Direktor führen ließ. Da er auch dort wieder frech war, sagte Herr Direktor zu mir: Sie müssen doch dem Manne ein paar überziehen. Ich ließ deshalb den Auweiler von dem Aufseher Tappert aus der Zelle holen. Letzterer drückte den Häusling mit dem Kopfe nieder, hielt ihn fest und ich versetzte ihm auf den Hinterteil seines Körpers zwölf Hiebe mit einem Rohrstock. Ich sagte dann zu dem Häusling: Nun, Auweiler, werden Sie wohl nicht mehr so frech sein.

Vors.: Haben Sie sonst noch erwachsene Häuslinge geschlagen oder schlagen lassen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Haben Sie jugendliche Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wieviel mal haben Sie wohl jugendliche Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Etwa fünf- bis sechsmal.

Vors.: Womit schlugen Sie?

Zeuge: Zunächst mit einer Gummischnur, später mit einem Rohrstock.

Vors.: Weshalb vertauschten Sie den Rohrstock mit der Gummischnur?

Zeuge: Weil der Direktor anordnete, die Gummischnur nicht mehr zu verwenden.

Vors.: Wußte Herr Direktor Schellmann von den Mißhandlungen der jugendlichen Häuslinge?

Zeuge: Ich züchtigte die jugendlichen Häuslinge nur in direktem Auftrage des Herrn Direktors Schellmann.

Vors.: Aus welchem Grunde wurden die jugendlichen Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Weil sie frech waren, in ihrer Isolierzelle alles zerbrachen usw.

Angekl.: Bis zu welchem Lebensalter werden die Häuslinge als jugendliche behandelt?

Zeuge: Bis zum 19. oder 20. Lebensjahre.

Auf Antrag des Verteidigers wurde festgestellt, daß gegen den Zeugen ein Strafverfahren wegen Mißhandlung geschwebt, dies aber eingestellt worden sei, weil angenommen wurde, daß der Zeuge bzw. Angeschuldigte nicht das Bewußtsein der Strafbarkeit gehabt habe.

Rechtsanwalt Gammersbach: War der Zeuge sich bewußt, daß die von ihm vorgenommenen Züchtigungen Mißhandlungen waren?

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Ich widerspreche dieser Fragestellung, darüber kann doch lediglich das Gericht entscheiden.

Der Gerichtshof beschloß, dem Zeugen die Frage vorzulegen.

Vert.: Dann beantrage ich, dem Szaplewski dieselbe Frage vorzulegen.

Der Staatsanwalt widersprach diesem Antrage.

Der Gerichtshof beschloß: den Antrag des Verteidigers abzulehnen, da es für das Gericht nicht zweifelhaft ist, daß Szaplewski sich der Mißhandlung schuldig gemacht habe.

Früherer Hilfsaufseher Heller: Er habe wohl gehört, daß in Brauweiler mehrfach geschlagen worden sei, gesehen habe er es nicht. Die Aufseher Schiefer und Schellenbach haben, wie er gehört, einen Häusling einmal mißhandelt, als letzterer aus dem Abort kam. Er sei im Lazarett stationiert gewesen und habe dort einmal einen Fußklotz gesehen; wem dieser Fußklotz angeschnallt war, wisse er nicht. Er selbst habe niemals einem Häusling in der Cachotte die Zwangsjacke angelegt.

Vert.: War bei dem Anlegen der Zwangsjacke der Arzt zugegen?

Zeuge: Nein. Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Ein Häusling wurde als Simulant ins Lazarett gebracht. Der Mann aß sechs Tage nichts. Der Arzt meinte, der Mann verstelle sich nur und ordnete an, daß der Mann in die Cachotte gesperrt werde. Der Häusling habe, als er ins Lazarett kam, sehr heftig aus Mund und Nase geblutet. Aufseher Esser habe sich später geäußert, daß er ein Seil ins Wasser getaucht und damit dem aus dem Lazarett in die Cachotte gebrachten Häusling einige tüchtige Hiebe übergezogen habe. Ein Landarmer, namens Lipke, der in das Lazarett gebracht wurde, habe sich dort erhängt.

Direktor Schellmann: Auweiler sei ein selten frecher Mensch gewesen, der alles zerschlug, die Beamten beschimpfte und bedrohte. Er wurde deshalb mit Cachotte bestraft und da er auch dort furchtbar ungebärdig war, so wurde er ihm zum Rapport vorgeführt. In seiner Gegenwart benahm sich Auweiler wieder ungemein frech, schimpfte und drohte. Er (Schellmann) sagte deshalb zu dem Oberaufseher Schmitz: „Es wird nichts weiter übrigbleiben, als dem Mann ein paar überzuziehen.“ Er hielt diese Züchtigung für eine Vorbeugungsmaßregel, denn er habe auch die Pflicht, Exzessen vorzubeugen.

Szaplewski, der hierauf nochmals vernommen wurde, bekundete: Ein Häusling sei einmal in der Cachotte definiert gewesen. Der Mann sei augenscheinlich geisteskrank gewesen, denn er habe Tag und Nacht geschrien, so daß man es bis im Dorfe hören konnte; er habe auch seinen eigenen Kot gegessen.

Vors.: Sind Sie der Meinung, daß Herr Direktor Schellmann davon Kenntnis hatte?

Zeuge: Das glaube ich wohl, Direktor Schellmann besucht fast täglich alle Arrestzellen. Im Lazarett sind meiner Meinung nach verschiedene Geisteskranke gewesen, die jedoch nicht entlassen wurden, da der Arzt sie für Simulanten erklärte.

Direktor Schellmann: Sobald Häuslinge Spuren von Geistesgestörtheit zeigen, werden sie ins Lazarett gebracht, und wenn der Anstaltsarzt die Geisteskrankheit festgestellt hat, wird bei der Königlichen Regierung die Überführung des Kranken in eine Irrenanstalt beantragt; derartige Unterhandlungen nehmen jedoch oftmals viel Zeit in Anspruch.

Es wurde hierauf Geh. Oberregierungsrat Dr. Krone (Berlin) vom Ministerium des Innern als Zeuge und Sachverständiger vernommen. Dieser äußerte sich etwa folgendermaßen: Ich habe am 25. Oktober d.J. im Auftrage des Herrn Ministers des Innern, in Gemeinschaft mit dem Herrn Oberregierungsrat Brandt vom Ministerium des Innern und unter Führung des Herrn Landesdirektors Geh. Oberregirungsrats Dr. Klein, des Herrn Landesrats Brandts und des Herrn Direktors Schellmann die Provinzialarbeitsanstalt zu Brauweiler besichtigt. Ich bemerke zunächst, daß ich die größte Sauberkeit und Ordnung fand. Die Schlaf-und Arbeitsräume waren gut gelüftet, diese Räume haben einen Raum von je 10 Kubikmetern. Die Lüftungs- und Heizungsvorrichtungen sind vorzüglich; für gehörige Absonderung der Auswurfstoffe ist gesorgt. Ebenso vorzüglich sind die Kocheinrichtungen. Das Lazarett ist den hygienischen Anforderungen entsprechend eingerichtet, die Kranken sind gut gebettet. Aus den Arbeitsbüchern ging hervor, daß das Arbeitspensum pensum dasselbe ist, wie es in den Königlichen Strafanstalten verlangt wird. Eine ganz besondere Sorgfalt erblickte ich darin, daß die jugendlichen von den erwachsenen Häuslingen streng gesondert sind und daß die Jugendlichen in Isolierzellen schlafen. Daraus entnehme ich, daß die Verwaltung auch auf die sittliche Hebung der jugendlichen Häuslinge bedacht ist. Wir haben uns fast jede einzelne Zelle der jugendlichen Häuslinge aufschließen lassen und haben mit den jungen Leuten gesprochen. Welche Fürsorge Herr Direktor Schellmann für die jugendliche Abteilung an den Tag legt, entnehme ich aus dem Umstande, daß Direktor Schellmann nicht bloß jeden einzelnen Knaben mit Namen kannte, sondern auch alle Verhältnisse der Knaben bis aufs genaueste wußte und auch, welche Pläne er mit jedem einzelnen hatte. Ich gewann aber auch den Eindruck, daß sowohl der Landesdirektor und ebenso der dezernierende Landesrat eine ganz besondere Fürsorge den jugendlichen Häuslingen zuteil werden ließ. Ich gewann nicht den Eindruck, daß die Häuslinge schlecht oder auch nur barsch behandelt werden. Auch die Arrestzellen, die 21-28 Kubikmeter Raum haben und sämtlich, mit guten Heizeinrichtungen versehen sind, entsprechen den gesundheitlichen Anforderungen. Wir ließen uns auch verschiedene Arrestzellen aufschließen. Ein Mann in der Arrestzelle beschwerte sich sogleich bei Herrn Direktor Schellmann mann über ihm zugefügtes Unrecht. Letzterer versprach, die Angelegenheit zu untersuchen. Ich gewann also die Überzeugung, daß die Anstalt sehr gut geleitet wird und daß in einer Weise für die Anstalt Aufwendungen gemacht werden, wie dies vielleicht der Staat nicht tun würde. Sowohl die Anstaltsleitung, als auch die Provinzialverwaltung sind bemüht, die Anstalt zu einer Musteranstalt zu machen. Dieselbe Fürsorge, die Herr Direktor Schellmann den Häuslingen gegenüber an den Tag legt, beobachtet er auch den Beamten gegenüber. Zu tadeln wäre bloß die Größe der Anstalt. Es ist bei einer Anstalt von 1000 Köpfen einem Direktor kaum möglich, alles zu übersehen. Ich würde es für richtiger finden, wenn die Anstalt geteilt wäre. Ich kann aber nur wiederholen, daß ich die Anstalt als eine Musteranstalt gefunden habe; ich habe auch in dieser Weise meinem Herrn Chef berichtet.

Vors.: Geschah diese Revision unvermutet?

Geh. Rat Dr. Krone: Nein, ich muß aber bemerken, daß dieses „unvermutet“ im allgemeinen überschätzt wird. Es war selbstverständlich notwendig, daß das Ministerium von der beabsichtigten Revision dem Oberpräsidenten und dieser dem Landesdirektor Mitteilung machte. Dadurch war die Revision zwei bis drei Tage früher bekannt. Allein ein Fachkundiger merkt sofort, ob etwas für den Revidenten zurechtgemacht ist.

Auf Befragen des Vert. äußerte der Sachverständige: Für die Disziplinarmittel sei das Reglement maßgebend. Ob eine Strafe zu hart sei, könne ein Außenstehender schwer beurteilen. Die Zwangsjacke und der Bastanzug seien auch in staatlichen Strafanstalten zulässige Strafmittel. Bei dieser Gelegenheit müsse er bemerken, es sei ein Irrtum, daß die Mundbinde noch in staatlichen Anstalten angewandt werde.

Auf Befragen des Verteidigers, ob in Arbeitsanstalten, die dem Dezernat des Ministeriums unterstehen, wegen Frechheit oder Wider spenstigkeit die Prügelstrafe zulässig sei, bemerkte der Sachverständige: Das Ministerium habe über einige Arbeitshäuser nur die Oberaufsicht, er könne also hierüber keinen Aufschluß geben. Jedenfalls sei die Prügelstrafe nur in Zuchthäusern unter gewissen Umständen gestaltet, in den Gefängnissen dagegen ausdrücklich verboten. Wenn ein Gefängnisbeamter dennoch einen Gefangenen schlage, so habe der Beamte selbstverständlich die Folgen zu tragen.

Es erschien alsdann als Zeuge der frühere Hilfsaufseher Enscheid: Viele Häuslinge seien nicht imstande gewesen, das Pensum in Brauweiler zu bewältigen. Ein Häusling habe einmal geäußert: Er wolle lieber lebendig in die Anatomie nach Bonn geschafft werden, als noch länger in Brauweiler bleiben. Die Häuslinge müssen dort in kalten, d.h. ungenügend geheizten ten Räumen arbeiten. Ein 48jähriger Häusling, der als Kehrmann beschäftigt wurde, sei, weil er die ihm zugewiesene Arbeit nicht leisten konnte, mit vier Wochen Arrest und Kostentziehung bestraft worden. Ein anderer Häusling, namens Paulus, sei am Mastdarm derartig krank gewesen, daß der Kot ihm widerwillig abging. Er habe den Mann krank gemeldet, dieser sei aber nicht ins Lazarett aufgenommen worden. Direktor Schellmann habe verlangt, daß die Beamten, ehe sie des Sonntags zur Kirche geführt wurden, 3/4 Stunden lang in strengster Kälte auf dem Hofe stehen.

Direktor Schellmann: Die evangelischen Beamten mußten des Sonntags warten, bis der katholische Gottesdienst zu Ende war. Er selbst hatte ebenfalls des Sonntags unter der Kälte auf dem Hofe zu leiden, da er sich bei diesem Versammeln zum gemeinschaftlichen Kirchgang nicht ausschloß. Bei schlechtem Wetter habe er aber die Beamten ins Haus treten lassen.

Bürstenfabrikant Abler: Er lasse in Brauweiler arbeiten. Das Arbeitspensum in Brauweiler sei um ein Drittel geringer als bei den freien Arbeitern. Politt sei nicht Zeitungskorrespondent, sondern Agent einer amerikanischen Fabrik. Dieser habe vor Gericht in London die Unwahrheit gesagt.

Auf Befragen des Verteidigers, ob es wahrheitsliebend sei, daß er (Zeuge) seine Fabrik zum Verkauf angeboten habe, obwohl er eine solche nicht besitze, antwortete der Zeuge: Er besitze jedenfalls ein Patent und seine Fabrik habe er in Brauweiler. (Große allgemeine Heiterkeit.)

Silberarbeiter Heinrichs: Er sei früher Lazarettgehilfe in Brauweiler gewesen. Es sei einmal ein Häusling ins Lazarett gebracht worden, der schon auf dem Transport gestorben sei. Dieser war an den Füßen mit einem Klotz gefesselt. Meister Versteegen habe der Leiche diesen Klotz abgemeißelt.

Schuhmachermeister Figge bekundete ebenfalls, daß das Arbeitspensum ein Drittel geringer als bei den freien Arbeitern sei.

Auf Antrag des Verteidigers wurde noch ein Schwurgerichtserkenntnis verlesen, laut welchem ein ehemaliger Brauweiler Häusling deshalb wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist, weil er geäußert hatte, er habe die Brandstiftung begangen, um nicht wieder nach Brauweiler zu kommen.

Die Nachmittagsverhandlung wurde von dem Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Reichensperger, mit folgenden Worten eröffnet: Wie wohl in fast allen derartigen Prozessen, so tritt auch in dem gegenwärtigen der Unfug zutage, daß dem Vorsitzenden anonyme Briefe zugehen. Ich will bloß bemerken, daß sowohl für die Sache als auch für den Ausgang des Prozesses nichts ungeeigneter ist, als derartige anonyme Schreiben.

Es wurde alsdann Landesrat Förster (Düsseldorf) als Zeuge vernommen. Er habe im Auftrage des Landesdirektors zweimal die Kasse der Brauweiler Anstalt und auch die Anstalt selbst unvermutet revidiert. Er habe bei der Kassenrevision keine Ausstellung von Bedeutung zu machen gehabt. Er sei früher in der Provinzialverwaltung der Provinz Sachsen tätig gewesen und müsse sagen: er sei von der Brauweiler Anstalt durch die Exaktheit ihrer ganzen Einrichtung sowie durch die Großartigkeit des Betriebes geradezu überrascht gewesen.

Direktor Schellmann habe mehrere Aufseher wegen Mißhandlung von Häuslingen bestraft. Die beiden Aufseher Machner und Eichstädt wurden wegen Mißhandlung von Häuslingen der Staatsanwaltschaft angezeigt, vom Landgericht zu Köln jedoch freigesprochen, infolge eingelegter Revision aber vom Landgericht zu Düsseldorf verurteilt.

Der Verteidiger hob hervor, daß Direktor Schellmann in einem Schreiben an das Landesdirektorium ausgedrückt habe: er habe geglaubt, die Aufseher würden freigesprochen werden). Er (Verteidiger) hebe dies deshalb hervor, um zu beweisen, daß Direktor Schellmann, wenn auch streng gegen seine Beamten sei, so doch, wenn es sich um Mißhandlung von Häuslingen handle, den Aufsehern gegenüber nachsichtig sichtig war.

Auf weiteres Befragen bekundete Landesrat Forster noch: Es sei allgemein bekannt, daß Direktor Schellmann sowohl gegen seine Beamten als auch gegen die Brauweiler Häuslinge wohl sehr streng, aber doch sehr gerecht war. Auf ferneres Befragen äußerte der Zeuge: Er habe den kommissarisch vernommenen Arbeitsinspektor Schäfer einmal vernommen. Dieser habe zunächst bekundet, daß in Brauweiler die Zwangsjacke und die Handeisen angewandt wurden. Das zweite Mal sagte jedoch Schäfer, er müsse bei seiner ersten Vernehmung mißverstanden worden sein, die Zwangsjacke sei während seiner Amtszeit in Brauweiler niemals angewendet worden, wohl aber die Hand- und Fußschellen.

Vert.: Bei dieser Gelegenheit möchte ich an den Herrn Staatsanwalt die Frage richten, wie es kam, daß Herrn Direktor Schellmann jede einzelne Zeugenaussage in Abschrift zugestellt worden ist?

Staatsanwalt: Ich weiß nicht, ob die Frage des Herrn Verteidigers eine Kritik von Maßnahmen der Staatsanwaltschaft bezweckt. Wenn dies der Fall sein sollte, dann enthalte ich mich jeder Auskunft.

Vert.: Ich bin weit entfernt, an den Maßnahmen der Staatsanwaltschaft Kritik zu üben. Ich wünsche nur Aufschluß, aus welchem Grunde Herrn Direktor Schellmann, der doch selbst in dem gegenwärtigen Prozeß Zeuge ist, alle Zeugenaussagen in Abschrift sofort mitgeteilt wurden. Wäre das nicht geschehen, dann könnten verschiedene Zeugen hier auf Widersprüche aufmerksam gemacht werden.

Staatsanwalt: Nach der Erklärung des Herrn Verteidigers, er wolle an den Maßnahmen der Staatsanwaltschaft keine Kritik üben, will ich bemerken, daß infolge des inkriminierten Artikels die Staatsanwaltschaft bemüht war, bezüglich der erwähnten Straftaten ein Ermittelungsverfahren einzuleiten. Wir waren daher genötigt, Herrn Direktor Schellmann über verschiedene Dinge zu fragen und ihn zu informieren. Es ist Herrn Direktor Schellmann der Vorfwurf gemacht worden, daß er nichts tat, um strafbare Handlungen nachträglich zur Anzeige zu bringen. Ich bemerke jedoch, daß Herrn Direktor Schellmann die Strafregister und die polizeiliche Hilfe nicht so zu Gebote standen, wie der Staatsanwaltschaft, er mithin die Namen der Häuslinge nicht kannte und gar nicht in der Lage war, Anzeige zu machen.

Vert.: Ich würde es doch für korrekter gefunden haben, wenn die Zeugenaussagen dem Herrn Vertreter des Direktors Schellmann und nicht ihm selbst mitgeteilt worden wären.

Staatsanwalt: Das ist doch aber vollständig gleichgültig.

Landesrat Klausner bekundete nunmehr: Der Landesdirektor desdirektor habe wohl in vielen Dingen bloß seine Unterschrift zu geben, die Personalsachen bearbeite jedoch der Anstaltsdirektor selbst. Die Arbeitsanstalt Brauweiler habe im Etatsjahre 1894/95 einen Zuschuß von 82959 Mark von der Provinz erhalten, es waren das etwa 18400 M. weniger als im Vorjahre. Die Brauweiler Anstalt habe durch Vermehrung der Betriebe, wie Einrichtung einer Druckerei, Dütenfabrik usw. größere Einnahmen, anderseits aber auch weniger Ausgaben gehabt. Ein Landarmer, namens Lipken, habe absichtlich vielfach sein Bett verunreinigt, und zwar augenscheinlich, um den Aufseher zu ärgern. Er wurde deshalb sowohl von den Häuslingen und auch einmal von dem Wärter Saal, angeblich sehr heftig, gezüchtigt. Lipken habe sich darauf am Fensterkreuz seiner Zelle mittels seines Halstuches erhängt. Er (Zeuge) habe einem Häusling, der bei dem Selbstmord zugegen war, gefragt, weshalb er nicht verhütet habe, daß sich der Mann erhängte. Der Häusling habe ihm die frivole Antwort gegeben: der Mann kann mit seinem Leben machen, was er will. Der Aufseher Saal wurde der erwähnten Züchtigung wegen von der Zentralstelle zu zwanzig Mark Geldstrafe verurteilt.

Früherer Arbeitsinspektor Schäfer: Er habe einmal gehört, daß Direktor Schellmann bezüglich des ihm vorgeführten Häuslings Auweiler sagte: „Dem Mann müssen ein paar übergezogen werden.“ Schlagen habe er persönlich niemals gesehen. Die Zwangsjacke sei gegen Widerspenstige nicht angewandt worden, wohl aber wurden bei Arbeitsverweigerung die Handeisen angelegt. Andere Strafmittel waren die Cachotte und Kostentziehung. Wegen Nichterfüllung des Pensums wurden gewöhnlich drei Tage Arrest mit Kostentziehung, bisweilen auch ohne Kostentziehung verhängt. Er habe auch einmal einen Maulkorb gesehen. Die Korrigendin Kranen sei ungemein frech gewesen; er hatte die Überzeugung gewonnen, daß die Kranen geistesgestört sei. Das Arbeitspensum sei nicht zu hoch gewesen. Fleißige und gesunde Leute konnten das Arbeitspensum sehr gut bewältigen.

Auf Befragen des Direktors Schellmann bekundete der Zeuge, wenn Schellmann sich überzeugt hatte, daß ein Häusling das Pensum nicht leisten könne, so sei dies heruntergesetzt worden.

Staatsanwalt: Ist Ihnen genau bekannt, daß bei Arbeitsverweigerung die Handeisen angelegt wurden, die Leute konnten doch alsdann nicht arbeiten?

Zeuge: Ich kann mit voller Bestimmtheit bekunden, daß Arbeitsverweigernden die Handeisen angelegt wurden. Diese Häuslinge sollten gar nicht arbeiten.

Direktor Schellmann: Er müsse bemerken, daß die Anlegung von Handeisen nur als Vorsichtsmaßregel angewendet wurde. Es geschah das lediglich, um einen Exzeß zu verhüten; es war mithin nur eine Vorsichtsmaßregel.

Vert.: Wie kommt es, Herr Direktor Schellmann, daß Sie bis jetzt das Anlegen von Handeisen bestritten haben?

Schellmann: Es ist mir nicht erinnerlich, daß ich das bestritten habe.

Rechtsanwalt Gammersbach: Meines Wissens nach ist Herr Direktor Schellmann darüber noch gar nicht gefragt worden.

Vert.: Doch ist dies geschehen, Herr Direktor Schellmann hat dies aber bisher ebenso bestritten, wie, daß auf seine Anordnung Häuslinge geschlagen wurden.

Schellmann: Auch danach bin ich bis jetzt nicht gefragt worden.

Landesrat Brandts: Alle von dem Direktor Schellmann über die Häuslinge verhängten Strafen werden, nebst den Ursachen der Bestrafungen, genau gebucht und dem Landesdirektorium vorgelegt. Letzteres habe gegen diese Strafen niemals etwas zu erinnern gehabt.

Hausierer Klee: Er sei zunächst als Korrigend, später als Landarmer in Brauweiler gewesen. Er habe als Landarmer einmal den Direktor Schellmann um Urlaub ersucht. Der Direktor habe ihm deshalb so furchtbar gestoßen, daß er drei Tage nicht schlucken konnte. Er sei infolgedessen zum Anstaltsarzt gegangen, gangen, dieser habe ihn aber hinausgejagt. Einige Zeit darauf habe er einen Ausschlag am Bein gehabt. Er sei wiederum zum Arzt gegangen, letzterer habe ihn aber auch diesmal hinausgejagt.

Vors.: Als Sie nun aus der Anstalt entlassen waren, haben Sie sich alsdann über Direktor Schellmann beschwert?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wußten Sie, daß Ihnen das Beschwerderecht zustand? Sie sind doch mehrfach in Brauweiler gewesen?

Zeuge: Wir werden in Brauweiler dumm gehalten. Wenn die Herren aus Düsseldorf kamen, war das Essen besser, sonst war es schlecht. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Der Zeuge bekundete im weiteren: Er habe einmal in früher Morgenstunde im Viehstall einen Besen gesucht. Als er ihn gefunden hatte, wurde dieser ihm von dem Aufseher Korte aus der Hand gerissen und er damit heftig geschlagen.

Vors.: Was veranlaßte den Aufseher, Sie zu schlagen?

Zeuge: Das weiß ich nicht. Der Zeuge bekundete noch: Er habe einmal, als er auf Außenarbeit war, gesehen, wie Aufseher Trappert einen jungen Häusling, weil dieser nicht arbeiten wollte, heftig mit einem Stock geschlagen habe. Eine andere Mißhandlung habe er nicht wahrgenommen.

Direktor Schellmann bestritt, den Zeugen gestoßen zu haben.

Häusling Meyer: Er sei das fünfte Mal in Brauweiler, er habe, als er wiederum als Obdachloser aufgegriffen und der Landespolizeibehörde überwiesen wurde, gebeten, ihn wieder nach Brauweiler zu schicken, da er dort mit der Arbeit bereits vertraut sei. Er könne das Pensum in Brauweiler sehr gut bewältigen und sei auch im übrigen ganz zufrieden. Er habe niemals etwas von Mißhandlungen anderer Häuslinge wahrgenommen.

Möbelfabrikant Füller: Die freien Arbeiter leisten gewöhnlich ein Drittel mehr als die Häuslinge in Brauweiler.

Am sechsten Verhandlungstage wurde zunächst der frühere Hilfsaufseher Zimmermann als Zeuge vernommen.

Es sei ihm bei seinem Eintritt nicht mitgeteilt worden, daß er sich bei dem Landesdirektorium beschweren könne. Als ihm gekündigt gewesen, habe er um Urlaub nachgesucht, um sich eine andere Stellung zu suchen. Da dieser ihm vom Oberaufseher Schmitz nicht bewilligt worden sei, habe er sich beschwerdeführend an den Landesdirektor gewandt. Direktor Schellmann habe ihn deshalb zur Rede gestellt und ihn aus diesem Anlaß sofort entlassen. Er habe einmal gesehen, daß Oberaufseher Schmitz einen etwa 16jährigen rigen Knaben, der gerade in die Kirche geführt werden sollte, mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe. Aus welchem Grunde der Knabe geschlagen worden sei, wisse er nicht.

Verteidiger Rechtsanwalt Östreich: Ist es richtig, Herr Direktor Schellmann, daß Sie den Herrn Landesdirektor einmal ersucht haben, er möge höheren Orts Schritte tun, daß die Prügelstrafe wieder eingeführt werde?

Schellmann: Das ist richtig. Ich wollte, daß die Prügelstrafe, wie sie in den Zuchthäusern zulässig, auch für Brauweiler eingeführt werde.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte Schellmann: Auf der Rheinisch-Westfälischen Gefängniskonferenz, deren Mitglied er sei, sei einstimmig beschlossen worden, dahin zu wirken, daß die Prügelstrafe als Disziplinarstrafe eingeführt werde. Da nun zu jener Zeit in Brauweiler ungemein viele Widersetzlichkeiten und Unbotmäßigkeiten vorgekommen waren, habe er einen entsprechenden Antrag an den Herrn Landesdirektor gestellt. Dieser habe sich an den Oberpräsidenten gewandt. Letzterer habe geantwortet, daß zur Zeit der Antrag nicht opportun sei und daher vorläufig abgelehnt werden müsse.

Landesrat Brandts: Er erinnere sich, daß der erwähnte Antrag an das Landesdirektorium gekommen sei. Dieses sei einstimmig der Ansicht gewesen, daß infolge der vielen Widersetzlichkeiten, Unbotmäßigkeiten und Unempfindlichkeit gegen die zulässigen Strafmittel in Brauweiler für diese Anstalt die Zulässigkeit der Prügelstrafe als Strafmittel sehr notwendig sei. Der Landesdirektor habe sich deshalb an den Oberpräsidenten gewandt. Letzterer habe zunächst das Schreiben unbeantwortet gelassen. Er (Brandts) habe nach längerer Zeit nochmals an den Oberpräsidenten geschrieben. Darauf sei der mündliche Bescheid erfolgt: Man möge vorläufig der Sache keinen weiteren Verfolg geben, da der Antrag zur Zeit nicht opportun sei.

Vert.: Herr Direktor Schellmann, sind noch andere erwachsene oder jugendliche Häuslinge in ähnlicher Weise wie Auweiler geschlagen worden?

Schellmann: Das ist mir nicht erinnerlich.

Vert.: Geben Sie die Möglichkeit zu, daß noch mehrere solche Fälle vorgekommen sind?

Schellmann: Die Möglichkeit gebe ich zu.

Vert.: Zu welcher Zeit mögen solche Prügelstrafen wohl vorgekommen sein?

Schellmann: Das kann ich unmöglich sagen.

Der Verteidiger beantragte aus vorzulegenden Akten zu konstatieren, daß ein Häusling, namens Oppermann, aus Brauweiler entwichen und alsdann einen Strohbau angezündet habe, um nicht wieder nach Brauweiler, sondern ins Zuchthaus zu kommen. men.

Vors.: Wenn auf solch weit zurückliegende Fälle zurückgegriffen werden soll, dann dauert die Verhandlung noch drei Wochen.

Vert.: Ich bedauere, Herr Vorsitzender, daß ich auf diesen Antrag nicht verzichten kann; es wäre das schon der dritte Fall, daß ein Häusling ein Verbrechen begangen hat, um lieber ins Zuchthaus, als nach Brauweiler zu kommen.

Vors.: Das hätte doch alles früher geschehen können.

Vert.: Wenn mir dieselben Mittel zu Gebote gestanden hätten, wie dem Herrn Staatsanwalt, dann würde ich jedenfalls noch ein ganz anderes Beweismaterial zur Stelle geschafft haben.

Staatsanwalt: Ich weiß nicht, ob das ein Vorwurf sein soll, daß die Staatsanwaltschaft etwas unterdrückt hätte?

Vert.: Einen solchen Vorwurf habe ich keineswegs erheben wollen, ich bin aber der Meinung, daß zwei mehr finden können, als einer. Ich werde im übrigen für heute nachmittag den Rechtsanwalt Heilbronn laden, der im Jahre 1888 den Häusling Oppermann vor dem hiesigen Schwurgericht verteidigt hat.

Der Beschluß über den Antrag des Verteidigers wurde infolge der letzten Erklärung ausgesetzt und mit der Zeugenvernehmung fortgefahren.

Es erschien als Zeuge der frühere Aufseher, jetzige Kaufmann Hüwerstahl: Ich habe zweimal gesehen, wie der Aufseher Pürvenich Häuslinge, die in der Cachotte waren, mit einem Seile heftig geschlagen hat. Aus welchem Grunde dies geschehen ist, weiß ich nicht. Als ich mit Pürvenich eines Sonntags in die Kirche ging, fragte ich ihn, ob er denn die Genehmigung des Direktors zum Schlagen der Häuslinge habe, da der Direktor das Schlagen doch streng verboten habe. Pürvenich antwortete, er mache von jeder Züchtigung dem Direktor sofort Anzeige. Auf meine Frage, was der Direktor wohl dazu sage, versetzte Pürvenich: Der Direktor sagt gar nichts, gibt mir aber durch Kopfnicken zu verstehen, daß ich recht handle.

Vors.: Haben Sie auch ein solches Kopfnicken des Direktors wahrgenommen?

Zeuge: Direkt nicht, aber wenn der Direktor die Akten der Häuslinge las, so schien es mir, als gebe er durch Kopfnicken zu verstehen, daß die Bestrafungen seine Zustimmung haben.

Der folgende Zeuge, frühere Aufseher Pürvenich, der hierauf als Zeuge erschien, gab derartig unbestimmte und ausweichende Antworten, daß er wiederholt vom Vorsitzenden, unter Hinweis auf den geleisteten Eid, zur Wahrheit ermahnt wurde. Den Aussagen dieses Zeugen war zu entnehmen: Es sei verboten gewesen, die Häuslinge zu schlagen, nur bei persönlichen chen Angriffen durften die Aufseher von ihrer Waffe Gebrauch machen. Direktor Schellmann habe ihm gesagt, daß er, wenn er gerufen werde, auch in der Frauenabteilung Hilfe leisten müsse. Er habe einmal einer widerspenstigen Frau die Zwangsjacke angelegt und auch einige Male widerspenstige Frauenspersonen geschlagen.

Vors.: Womit schlugen Sie?

Zeuge: Mit einem Seil, das ich in der Tasche bei mir führte.

Vors.: Sie führten also immer ein Seil bei sich?

Zeuge: Nicht immer, nur einige Male trug ich es in der Tasche.

Vors.: Haben Sie auch männliche Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wie oft kam das vor?

Zeuge: Das kam mehrfach vor.

Vors.: Weshalb schlugen Sie die Leute?

Zeuge: Weil ich angegriffen wurde.

Vors.: Sie behaupten also, Sie seien in allen Fällen, in denen Sie Häuslinge geschlagen haben, von diesen angegriffen worden?

Zeuge: Jawohl, in einem Falle wurde mir sogar ein Stück meines Rockes abgerissen, ein anderes Mal wurde ich auf dem Hofe von acht Häuslingen gemeinschaftlich angegriffen.

Vors.: Wieviel mal haben Sie wohl Häuslinge geschlagen?

Zeuge: Das ist häufig vorgekommen.

Vors.: Womit schlugen Sie?

Zeuge: Mit einem Seil.

Vors.: Das Sie bei sich trugen?

Zeuge: Ich trug das Seil nur einige Male bei mir.

Vors.: Haben Sie von diesen Züchtigungen dem Herrn Direktor Mitteilung gemacht?

Zeuge: Jawohl, das habe ich stets sofort getan.

Vors.: Herr Direktor Schellmann soll Ihnen durch Kopfnicken zu verstehen gegeben haben, daß Sie die Häuslinge schlagen sollen?

Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt.

Vors.: Hüwerstahl, treten Sie einmal vor. Sagen Sie es dem Pürvenich ins Gesicht, daß er Ihnen gesagt, der Direktor gebe durch Kopfnicken zu verstehen, daß er mit dem Schlagen der Häuslinge einverstanden ist.

Hüwerstahl: Das weiß ich ganz genau, erinnern Sie sich nur, Pürvenich, Sie sagten mir das, als wir eines Sonntags in die Kirche gingen.

Pürvenich: Das ist nicht wahr, das habe ich nicht gesagt. Der Direktor hat mir nur einmal gesagt: Nehmen Sie sich vor den Leuten, die Sie in die Cachotte abführen, in acht, diese sind gefährlich.

Auf weiteres Befragen bemerkte Pürvenich: Direktor Schellmann sei wohl sehr streng, aber gerecht gewesen. wesen.

Frau Pürvenich, die Gattin des Vorzeugen, bekundete: Sie habe mehrfach gesehen, daß Häuslinge von Aufsehern geschlagen worden seien. Sie habe auch mehrfach Häuslinge, die in der Cachotte eingesperrt waren, schreien hören, so daß sie den Eindruck gewann, daß die Leute geschlagen wurden. Sie habe zwei Zwangsjacken und eine Mundbinde gesehen. Pastor Auler habe einmal fremden Herren die Anstalt gezeigt und diesen gesagt, daß die Zwangsjacke und die Mundbinde nicht mehr angewendet werden dürfen, da zuviel Unfälle dabei vorgekommen seien. Es sei richtig, daß ihr Mann einige Male von Häuslingen angegriffen worden sei. Sie habe auch einige Häuslinge mit Fußschellen gesehen. Diese Fußschellen bestanden aus einer großen Kette, die länger und dicker sei als eine Kuhkette. Diese werde mit einem eisernen Bande an den Fuß befestigt und sei so lang, daß der Gefesselte den an der Kette hängenden eisernen Klotz nachschleppen müsse. Wenn die Häuslinge saßen, konnten sie auch mit den Fußfesseln arbeiten. Sie habe mehrfach gesehen, daß alte Häuslinge, die schwere, volle Nachtkübel hinunterzutragen hatten, die Treppen hinuntergestürzt seien und sich dabei arg verletzt haben.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte die Zeugin: Es sei auch möglich, daß die hinuntergestürzten Leute epileptische Anfälle bekommen haben. Direktor Schellmann sei bedeutend strenger als der frühere Direktor Müller gewesen, sie hatte durch die Strenge des Direktors viel Ärger.

Auf Befragen des Angeklagten Hofrichter bekundete die Zeugin noch: Ein auf Außenarbeit beschäftigter Häusling habe sich einmal krank gemeldet, der Mann sei aber nicht ins Lazarett aufgenommen worden. Der Mann sei am folgenden Tage im Chausseegraben gestorben.

Vors.: Wodurch wissen Sie das?

Zeugin: Das ist allgemein erzählt worden.

Früherer Hilfsaufseher Hönig: Er habe zweimal gesehen, daß Oberaufseher Schmitz Häuslinge geschlagen habe.

Vors.: Haben Sie sonst noch schlagen sehen?

Zeuge: Nein, aber gehört habe ich, daß viel geschlagen wurde.

Vors.: Haben Sie von den Mißhandlungen des Oberaufsehers Herrn Direktor Schellmann Anzeige erstattet?

Zeuge: Nein, Oberaufseher Schmitz war mein Vorgesetzter, da durfte man nichts sagen. Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe gehört, daß in der Cachotte vielfach geschlagen worden sei. Ein Häusling sei einmal aus Brauweiler entwichen. Nach drei Monaten sei er wieder eingefangen, alsdann sechs Wochen unter Kostentziehung in die Cachotte gesperrt und furchtbar durchgeprügelt worden.

Vors.: Haben sich die Häuslinge über die ihnen zuteil gewordene Behandlung bei dem Direktor beschwert?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wußten die Häuslinge, daß ihnen das Beschwerderecht zustand?

Zeuge: Das wußten sie wohl, aber sie beschwerten sich nicht, denn dann hätten sie noch mehr Strafe bekommen.

Vors.: Wodurch wissen Sie das?

Zeuge: Wenn der Aufseher dem Direktor berichtete, dann gab der Direktor doch stets dem Aufseher recht.

Vors.: Haben Sie das persönlich erfahren?

Zeuge: Nein, ich habe es aber von Häuslingen mehrfach gehört. Auf ferneres Befragen bekundete der Zeuge noch: Einige alte Häuslinge hatten sich bei ihm beschwert, daß sie ihr Pensum nicht bewältigen könnten.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach gab der Zeuge zu, daß, wenn er dieses Vorkommnis dem Direktor gemeldet, das Pensum herabgesetzt worden wäre.

Der pensionierte Lehrer Busemas bekundete: Er hatte einmal einen 17- bis 18jährigen Schüler wegen Ungehorsams bestraft. Dieser Junge habe sich nachher in die Schule geschlichen und ihn (den Zeugen) hinterrücks mit einem Schusterhammer auf den Kopf geschlagen. Er sei zunächst betäubt und längere Zeit in ärztlicher Behandlung gewesen, weitere nachteilige Folgen habe er aber nicht gehabt. Er habe selbstverständlich den Knaben zur Anzeige gebracht. Sonst seien in seiner Schule nur noch Widersetzlichkeiten vorgekommen, wie sie in jeder Schule passieren.

Der pensionierte Hausvater Gralky bekundete: Wenn Besuche angemeldet waren, dann wurden die Häuslinge nicht umgekleidet, dies konnte auch gar nicht so schnell ausgeführt werden. Wenn Häuslinge auf Außenarbeit gingen, dann bekamen sie auch den Sonntagsanzug mit.

Die Aufseher Ries und Becker bestritten, daß sie Häuslinge geschlagen hätten, auch sei ihnen nicht bekannt, daß andere Aufseher Häuslinge geschlagen haben.

Eine weitere Zeugin war ein junges Mädchen, namens Heß: Sie sei eine Zeitlang als Korrigendin in Brauweiler gewesen, sie selbst sei wohl nicht geschlagen worden, die anderen Mädchen haben jedoch häufig geklagt, daß sie geschlagen worden seien. Sie glaube, die Mädchen haben ihr erzählt, daß der Direktor mehrfach bei den Züchtigungen zugegen war. Ein Mädchen habe ihr einmal erzählt, daß der Direktor es um die Ohren geschlagen habe. Die Zwangsjacke und auch die Mundbinde seien mehrfach Mädchen angelegt worden. Sie habe sich einmal mit zwei anderen Mädchen unterhalten. Darauf sei ihr und auch den zwei anderen Mädchen eine Stunde lang die Mundbinde angelegt worden.

Vors.: Da werden Sie doch wohl noch etwas anderes begangen, als eine bloße Unterhaltung gepflogen haben?

Zeugin: Herr Vorsitzender, ich werde hier, wo ich geschworen habe, nichts Falsches aussagen. Wir haben weiter nichts getan, als uns unterhalten.

Vors.: Diese Unterhaltung wird wohl ziemlich laut gewesen sein?

Zeugin: Wir haben uns auch nicht einmal laut unterhalten.

Vors.: Haben Sie sich bei dem Anlegen der Mundbinde gesträubt?

Zeugin: Nein, ich wußte, daß das nichts nützt.

Vors.: Wissen Sie, ob von dieser Bestrafung Direktor Schellmann Kenntnis halte?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vors.: Welche Folgen hatten Sie durch das Anlegen der Mundbinde.

Zeugin: Mein Mund war furchtbar angeschwollen und ich hatte drei Tage lang dicke Striemen an den Händen.

Vors.: Weitere nachteilige Folgen haben Sie aber nicht davongetragen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Weshalb mögen wohl die anderen Mädchen geschlagen worden sein?

Zeugin: Weil sie ihr Pensum nicht machten.

Vors.: Haben Sie immer Ihr Pensum gemacht?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Welche Empfindungen hatten Sie, als Sie die Mundbinde angelegt bekamen?

Zeugin: Ich kann nur sagen, daß das die schrecklichste Strafe ist, die ich jemals erlitten habe. Es wurden mir zunächst die Hände ganz fest auf den Rücken gebunden und alsdann die Mundbinde angelegt. Man bekommt dadurch furchtbare Atemnot und glaubt, man muß jeden Augenblick ersticken.

Vors.: Haben Sie einmal von anderen Mädchen gehört, daß diese sich aus dem Anlegen der Mundbinde nichts Besonderes machten?

Zeugin: Nein, im Gegenteil, die Mädchen fürchteten sich alle vor dem Anlegen der Mundbinde; diese Strafe ist auch gar zu schrecklich.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden bekundete die Zeugin: Sie habe einmal gesehen, wie einem Mädchen, namens Henn, die Handfesseln angelegt wurden. Sie könne nicht klagen, daß es in ihrer Arbeitsstube nicht warm genug gewesen sei, andere Mädchen haben sich aber sehr darüber beschwert und gesagt, es sei in ihren Zellen so kalt, daß sie nicht nähen können. Wenn die Mädchen Sonntags zur Kirche geführt wurden, dann mußten sie stets eine halbe Stunde auf dem Hofe, dem Wetter schutzlos preisgegeben, stehen. Eine alte, in der Flickstube beschäftigte Frau habe sich krank gemeldet, sei aber im Lazarett nicht aufgenommen worden, sondern mußte weiterarbeiten. Am folgenden Tage sei die alte Frau vor Schwäche niedergefallen und habe sich alsdann in eine Kiste gelegt. Eine Aufseherin, die bald darauf hinzukam, befahl der alten Frau, aufzustehen. Die anderen Korrigendinnen sagten jedoch zu der Aufseherin: „Sehen Sie denn nicht, daß die Frau stirbt?“ Nach kurzer Zeit war die Frau tot. (Bewegung im Zuhörerraum.) Es sei ihr einmal erzählt worden, daß eine Korrigendin in Krämpfe gefallen sei. Da habe die Aufseherin Sauer befohlen, dem Mädchen mit einer Stopfnadel in die Fußsohle bis ans Öhr hineinzustechen. Wenn alsdann das Mädchen zucke, dann sei der Beweis geliefert, daß es sich nur verstelle.

Vors.: Diese Geschichte haben Sie nur vom Hörensagen?

Zeugin: Jawohl.

Ein fernerer Zeuge war der 50jährige Kellner Lander. Dieser bekundete auf Befragen: Er sei zunächst zwei Jahre als Korrigend und später einige Monate als Landarmer in Brauweiler gewesen. Er sei vielfach mit Cachotte bestraft worden, weil er sein Pensum nicht liefern konnte. Als er einmal aus dem Arrest gekommen war – er war kaum eine Viertelstunde im Arbeitssaal –, da wurde ihm von dem Aufseher Eichstedt gesagt, daß er von neuem sechs Wochen Cachotte bekomme. Er wurde sofort in eine kalte Zelle geführt, in der sich nicht einmal eine Decke befand. Er bat den Aufseher, ihm eine Decke zu bringen. Der Aufseher mußte eine Decke erst holen und als er diese brachte, schlug er ihn derartig mit der Faust ins Gesicht, daß er (Zeuge) heftig aus Mund und Nase blutete.

Vors.: Was hatten Sie denn getan, daß Sie von neuem sechs Wochen lang in die Cachotte gesperrt wurden?

Zeuge: Nicht das geringste hatte ich begangen.

Vors.: Wußte Direktor Schellmann davon?

Zeuge: Nachdem die sechs Wochen um waren, kam Direktor Schellmann zu mir in die Zelle und fragte mich, aus welchem Grunde ich in der Cachotte sei. Als ich es ihm erzählte, sagte er zu dem Aufseher: Dann lassen Sie den Mann wieder hinaus.

Vors.: Da waren also die sechs Wochen noch nicht um?

Zeuge: Doch, die sechs Wochen waren um.

Vors.: Dann bedurfte es doch keines besonderen menschlichen Rührens, um Sie aus der Cachotte zu lassen?

Vors.: Haben Sie sich da nicht beschwert?

Zeuge: Nein, das ist mir gar nicht eingefallen, das nützt ja doch nichts.

Vors.: Wußten Sie, daß Sie das Recht hatten, sich zu beschweren?

Zeuge: Das wußte ich wohl, aber wenn ich das getan, dann hätte ich wohl noch mehr Strafe bekommen.

Vors.: Während Sie in Brauweiler waren, sind doch jedenfalls mehrere Male die Herren aus Düsseldorf nach Brauweiler gekommen; haben Sie sich bei diesen nicht beschwert?

Zeuge: Nein, das hätte ja doch nichts genutzt.

Vors.: Woher wußten Sie das?

Zeuge: Das war meine feste Überzeugung.

Vors.: Irgendeine Unterlage haben Sie aber nicht dafür?

Zeuge: Nein, ich habe aber diese Überzeugung noch heute.

Der Zeuge bekundete im weiteren: Aufseher Korte habe ihm einmal ohne jede Veranlassung einen heftigen Stoß in den Rücken versetzt.

Vors.: Haben Sie diesen Aufseher angezeigt?

Zeuge: Das habe ich auch nicht getan, ich sagte mir: der Mann wird vielleicht mit ein paar Mark bestraft straft und ich habe es dann um so schlimmer. Ferner bekundete der Zeuge: Er habe einmal gesehen, wie Aufseher Korte und ein Kehrmann auf einem Häusling, namens Wilde, knieten. Korte habe den Mann an der Gurgel gepackt und schlug ihn unaufhörlich mit der Faust ins Gesicht und auf den Kopf. Wilde blutete bereits aus Kopflöchern. Während der Mißhandlung kam Direktor Schellmann hinzu und fragte, was da los sei. Daraufhin wurde der Mann losgelassen, ins Lazarett geführt und alsdann in die Cachotte gesperrt. Er habe vielfach gehört, daß Häuslinge mißhandelt worden seien. Als er in der Cachotte war, habe er einmal wahrgenommen, daß Aufseher Esser in der Nebenarrestzelle einen Knaben mit dem Seil furchtbar geschlagen habe. Der Knabe habe sehr gejammert. Auch habe er einmal gehört, wie einem Häusling die Zwangsjacke angelegt worden sei. Der Häusling habe furchtbar geschrien und gebeten, ihm die Zwangsjacke doch wieder abzunehmen, da er zu heftige Schmerzen habe und ersticken müsse. Einem jungen Schreiber sei einmal die Mundbinde angelegt worden. Er habe viele Häuslinge mit Fußeisen gefesselt gesehen. Aufseher Eichstedt habe einmal einen Häusling, namens Böhm, so furchtbar mit der Faust ins Gesicht geschlagen, daß dieser aus Nase und Mund heftig blutete. Ein vollständig erblindeter Häusling, namens Krähmer, sei an der Druckmaschine beschäftigt worden. den. Sobald dieser nicht sein volles Pensum gemacht hatte, wurde er ebenfalls bestraft. Ein 20jähriger hinkender Mann sei wegen Nichterfüllung des Pensums gerade an den Pfingstfeiertagen in Arrest gekommen. Es sei überhaupt üblich gewesen, gerade während der Feiertage die Leute in die Arrestzellen zu sperren. Der junge Mann habe sich, als er aus dem Arrest kam, erhängt. Als er (Zeuge) das letzte Mal entlassen wurde, habe ihm Direktor Schellmann beim Abschied gesagt: „Hüten Sie sich, wieder nach Brauweiler zu kommen, Sie kommen alsdann nach Köln nicht mehr zurück.“

Direktor Schellmann: Lander sei einer der arbeitsscheuesten Menschen, die es in Brauweiler je gegeben habe. Dem Manne sei zunächst die leichteste Arbeit und ein verhältnismäßig geringes Pensum gegeben worden. Der erblindete Krähmer sei, als er in die Anstalt kam, augenleidend gewesen. Er sei deshalb ärztlich behandelt worden, und wenn er sich recht erinnere, so sei Krähmer sogar von einem Spezialarzt behandelt worden. Da ihm nichts weiter fehlte, so sei er am Raddrehen bei der Druckmaschine beschäftigt worden. Als Krähmer erblindet war, sei er dem Landarmenhause überwiesen worden, woselbst er sich jetzt noch befinde. Lander sei ein notorischer Faulenzer gewesen, es habe bei ihm an gutem Willen gefehlt, deshalb sei er vielfach bestraft worden. Lander habe früher angegeben, daß er 180 Tage Kostentziehung gehabt habt habe, jetzt behauptet er: es seien 300-400 Tage gewesen.

Vert.: Lander behauptet, es seien sogar noch mehr gewesen.

Schellmann: Laut Akten sei Lander mit 93 Tagen Kostentziehung und 61 Nächten Arrest bestraft worden. Als Lander entlassen wurde, habe er ihn, wie es seine Pflicht sei, ermahnt, einen ordentlichen Lebenswandel anzufangen und ihm gesagt: wenn er wiederkomme, dann werde die Strafe schärfer.

Vert.: Lander hatte ja bereits die höchste gesetzlich zulässige Strafe von zwei Jahren.

Schellmann: fortfahrend: Über die von Lander bekundeten Einzelheiten könne er sich augenblicklich nicht äußern, da er dazu seine Akten einsehen müsse. Er erinnere sich eines Exzesses, wisse aber nicht, wer diesen begonnen und was er (Schellmann) deshalb verfügt habe. Daß es in Brauweiler üblich sei, die Korrigenden mit „Du“ anzureden, bestreite er. Es sei das wohl bisweilen vorgekommen, aber gebräuchlich sei es keineswegs.

Vert.: Die Mädchen sollen aber auch geduzt worden sein.

Vors.: Das ist bisher nicht bekundet worden.

Vert.: Zum mindesten ging das aus den Vernehmungen der Mädchen hervor.

Schellmann bemerkte noch: Er habe sich des Lander der sehr angenommen.

Lander bekundete noch, daß ein Krüppel in Brauweiler mit Steineklopfen beschäftigt wurde.

Direktor Zietschmann schloß sich im wesentlichen den Bekundungen Schellmanns an. Der erblindete Krähmer sei jetzt in seiner Anstalt in Trier. Während sonst Blinde sich gewöhnlich zur Arbeit drängen, sei dieser weder durch barsche Worte noch durch gütliches Zureden zur Arbeit zu bewegen. Krähmer, der jetzt vollständig erblindet sei, tue gar nichts.

Rechtsanwalt Heilbronn, der hierauf als Zeuge erschien, bekundete: Er habe den erwähnten Oppermann wegen vorsätzlicher Brandstiftung verteidigt. Dieser sei geständig gewesen und habe gesagt: Er habe in Brauweiler derartig arbeiten müssen, daß er wunde Hände bekommen habe. Er sei infolgedessen entwichen. Als ihm Gefahr drohte, habe er eine Brandstiftung begangen, um ins Zuchthaus und nicht wieder nach Brauweiler zu kommen.

Schellmann: Derartige Redensarten werden, wie ich festgestellt habe, von allen Arbeitshäuslern gemacht.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach bemerkte Rechtsanwalt Heilbronn, daß Oppermann bereits mehrfach mit Zuchthaus bestraft worden sei.

Gerichtsassessor Fröhlen bekundete als Zeuge: Er habe Pürvenich vernommen und glaube bestimmt, daß ihn dieser bei Vorlesung des Protokolls nicht mißverstanden habe. Er sei einmal in Brauweiler gewesen. Als ihm Direktor Schellmann die Anstalt zeigte, habe er einen Häusling, der in einer Arrestzelle eingesperrt war, furchtbar schreien und schimpfen hören. Direktor Schellmann erzählte ihm, daß der Mann wegen Gotteslästerung sechs Wochen Cachotte bekommen habe. Der Direktor ließ den Mann aus der Zelle treten und nun schimpfte der Mann auf den Direktor und sagte u.a.: „Sie L ..., was verstehen Sie von Gotteslästerung, wissen Sie denn, ob es überhaupt einen Gott gibt?“ Direktor Schellmann ließ den Mann wieder in die Zelle führen. Er (Zeuge) bat hierauf den Direktor, ihn einmal in eine Zelle zu sperren und dunkel zu machen. Als dies geschehen war, hatte er ein Gefühl, daß er die Überzeugung gewann: er hätte es eine halbe Stunde lang nicht ausgehalten.

Haushälterin Julie Gellert: Sie sei 1 1/2 Jahre als Korrigendin in Brauweiler gewesen. Sie habe zunächst einmal drei Tage Arrest nebst Kostentziehung gehabt. Als sie aus dem Arrest kam, sei gerade der Direktor zugegen gewesen. Sie habe den Kopf in den Nacken geworfen. Daraufhin habe ihr Direktor Schellmann ein paar Ohrfeigen gegeben. Sie habe darauf zu Schellmann gesagt: „Schlagen Sie Ihre Kinder, Sie haben kein Recht, mich zu schlagen.“ Daraufhin sei sie auf drei Wochen in strengen Arrest gekommen kommen und es sei ihr täglich der Maulkorb angelegt worden. Das erste Mal habe sie sich furchtbar gesträubt, es haben daher ein Aufseher und fünf Aufseherinnen mit aller Gewalt ihr den Maulkorb angelegt. Das erste Mal habe sie den Maulkorb zehn Minuten lang angehabt, die anderen Male je eine Stunde. Der Maulkorb sei ihr jedesmal fester angelegt worden.

Vert.: Einmal haben Sie zwei Stunden lang den Maulkorb angehabt?

Zeugin: Jawohl, einmal ist das Abnehmen des Maulkorbes vergessen worden.

Vert.: Sie sollen einmal ohnmächtig durch das Anlegen des Maulkorbes geworden sein?

Zeugin: Jawohl, das war auch kein Wunder.

Vors.: Haben Sie durch das Anlegen des Maulkorbes nachteilige Folgen gehabt?

Zeugin: Jawohl, ich bin seit dieser Zeit kopfleidend. Die Zeugin zeigte dem Gerichtshof das linke Handgelenk, an dem noch Spuren der Fesselung zu beobachten waren.

Vors.: Haben Sie sich über die Ihnen zuteil gewordene Behandlung beschwert?

Zeugin: Nein.

Vors.: Weshalb taten Sie das nicht?

Die Zeugin schwieg.

Vors.: Sie hätten sich doch zum mindesten nach Ihrer Entlassung aus Brauweiler beschweren können.

Zeugin: Das wußte ich nicht. Die Zeugin bekundete des weiteren: Eine andere Korrigendin, namens Gräte, habe ihr ebenfalls erzählt, daß sie von Aufseherinnen geschlagen worden sei.

Direktor Schellmann: Die Zeugin war eine der schlechtesten Frauenzimmer, die wir in Brauweiler hatten. Sie war furchtbar frech, widerspenstig und gehörte zu den sogenannten „Freundschaftsschwestern“, d.h. sie schloß mit anderen Mädchen Freundschaft und verübte des Nachts mit ihnen Unsittlichkeiten. Selbstverständlich mußte sie deshalb bestraft und isoliert werden. Er gebe die Möglichkeit zu, daß er der Zeugin ein paar Ohrfeigen gegeben habe. Soweit er sich erinnere, habe das Mädchen einen Angriff auf ihn versucht. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vert.: Zeugin Gellert, haben Sie nicht deshalb die Beschwerde unterlassen, weil Sie annahmen, daß Direktor Schellmann dieselbe Bekundung wie heute machen würde und Sie alsdann doch nicht Recht bekämen?

Zeugin: Jawohl.

Aufseher Giesenkirchen bekundete, daß der Landarme Maaßen Aufseher belästigt habe.

Ein weiterer Zeuge war der Journalist Michels: Er sei Mitarbeiter der „Rheinischen Zeitung“ und habe im Auftrage des Angeklagten Hofrichter eine Reihe von Leuten aufgesucht, um den Nachweis zu erbringen, gen, daß die in dem inkriminierten Artikel enthaltenen Behauptungen auf Wahrheit beruhen. Im Auftrage Hofrichters habe er den Leuten sämtlich gesagt: sie sollen ihm nur das mitteilen, was sie vor Gericht beeiden können.

Maler Ansbach: Er sei wegen Bettelns verhaftet und nach Brauweiler gebracht worden. Er und noch andere Häuslinge seien wiederholt von dem katholischen Anstaltsgeistlichen geschlagen worden. Er habe einmal gesehen, wie ein alter Mann ohne jede Veranlassung von einem Aufseher einen Tritt bekam, daß er zur Erde fiel. Einmal habe er gesehen, wie ein alter buckliger Mann von dem katholischen Anstaltsgeistlichen ein paar Ohrfeigen bekam. Das Essen sei sehr schlecht, das Brot halbschimmelig gewesen. Er habe eine Anzahl Leute gesehen, die mit Ketten an den Füßen zur Arbeit geführt wurden. Diese mußten den Schubkarren stoßen. Unter diesen Leuten befand sich auch ein Korrigend, der nur einen Arm hatte.

Vors.: Hat dieser Mann denn den Schubkarren stoßen können?

Direktor Schellmann: Das ist richtig; der Einarmige arbeitete bedeutend besser, als so mancher Zweiarmige. Im übrigen frage ich den Zeugen: weshalb er sich bei mir nicht beschwert hat?

Zeuge: Das habe ich unterlassen, weil mir bekannt war, daß Leute, die sich bei Herrn Direktor Schellmann mann beschwert hatten, mit Kostabzug und Zusatzhaft bestraft wurden.

Schellmann bezeichnete das als unwahr.

Maurer Scheuren: Er sei Häusling in Brauweiler gewesen und einmal mit sieben Tagen Arrest und Kostentziehung bestraft worden, weil er seine Arbeiten nicht gut gemacht hatte. Er selbst sei nicht geschlagen worden, er habe aber gesehen, daß Aufseher Felten einmal einen Häusling ohne jede Veranlassung geschlagen habe.

Ein weiterer Zeuge war der Hausvater des Brauweiler Arbeitshauses Müller: Er habe wohl gesehen, wie Häuslinge gestoßen wurden und Ohrfeigen bekamen, ein eigentliches Schlagen habe er aber nicht wahrgenommen.

Vors.: Was soll das bedeuten, halten Sie Ohrfeigen nicht für Schlagen?

Der Zeuge schwieg und drückte sich im weiteren Verlauf so unsicher aus, daß der Vorsitzende ihm bemerkte: seine Aussage mache einen sehr schlechten Eindruck. Der Zeuge stellte im weiteren in Abrede, daß er selbst geschlagen habe und meinte, daß in den letzten fünf Jahren überhaupt nicht geschlagen worden sei.

Maurer Jülich: Er habe auf einer Villa in Schlenderhan gearbeitet und habe mehrfach gesehen, wie dort in der Nähe arbeitende Brauweiler Häuslinge von Aufsehern heftig geschlagen wurden. Ein kleiner Krüppel, der nicht einmal klaren Geistes und kaum zum Kartoffelschälen fähig war, mußte schwere Arbeiten verrichten.

Auf Befragen des Vorsitzenden, warum er von seinen Wahrnehmungen keine Anzeige gemacht habe, bemerkte der Zeuge: Er habe befürchtet, daß er sich dadurch Unannehmlichkeiten machen werde.

Werkmeister Weiße: Er sei früher Werkmeister in Brauweiler gewesen und sei weggegangen, weil Direktor Schellmann ihn benachteiligt habe. Das Pensum in Brauweiler sei für den gesunden und gelernten Arbeiter nicht zuviel gewesen, für alte Leute und solche, die die betreffende Arbeit nicht gelernt haben, sei das Pensum etwas groß. Schlagen habe er nicht gesehen, er habe aber gehört, daß die Leute in der Cachotte vielfach geschlagen werden. Ferner habe er gehört, daß der katholische Anstaltsgeistliche einen Korrigenden geschlagen und Direktor Schellmann einen Korrigenden unschuldig bestraft habe.

Rendant Wintz: Er sei Vertreter des Direktors, habe die Außenkommandos zu kontrollieren; mit einer einzigen winzigen Ausnahme seien ihm aber niemals Klagen über Mißhandlungen bekannt geworden.

Auf Befragen des Direktors Schellmann bekundete der Zeuge noch, daß er von einer Korrigendin einmal mit einem Messer angegriffen worden und auch in unbedeutender bedeutender Weise verletzt worden sei.

Aufseher Schieferl, gegen den ein Strafverfahren wegen Mißhandlung eines Häuslings schwebte, gab auf die Frage, ob sich Häuslinge über ihn bei dem Direktor beschwert haben, keine Antwort. Der Vorsitzende machte den Zeugen aufmerksam, daß er, mit Rücksicht auf das gegen ihn schwebende Verfahren, sein Zeugnis verweigern könne.

Auf Befragen des Verteidigers an Direktor Schellmann, weshalb Schiefer trotz des gegen ihn schwebenden Strafverfahrens auf Außenkommando geschickt worden sei, bemerkte Schellmann: Der Mann könne in Brauweiler ebenso, ohne daß es bemerkt werde, schlagen, wie auf Außenkommando.

Schuhmacher Metz, ein vom Angeklagten geladener Zeuge, bekundete: Er habe niemals in Brauweiler eine Ungehörigkeit wahrgenommen und müsse bemerken, daß Direktor Schellmann ein hochachtbarer Mann sei.

Angekl. Hofrichter: Der Zeuge habe ihm in Gegenwart anderer die unglaublichsten Dinge erzählt.

Fünf Werkmeister bekundeten, daß die Arbeitspensen in Brauweiler nicht zu hohe waren. Die Häuslinge machen sogar noch zumeist Überstunden.

Zuschläger Puls: Er sei auf Außenarbeit mit Ofeneinsetzen beschäftigt gewesen. Diese Arbeit sei eine so schwere gewesen, daß freie Arbeiter sich weigerten, ten, sie auszuführen. Er habe bei 40 Grad Hitze arbeiten müssen. Er hätte die Arbeit auch nicht leisten können, wenn er nicht ein so robuster Mann wäre. Es sei ihm das Zeugnis eines sehr fleißigen Mannes gegeben worden. Dennoch habe Aufseher Eich einmal zu ihm geäußert: Wenn er jemanden als faul melde, dann werde dieser bestraft und wenn er noch so fleißig sei. Ein Häusling, der in Brauweiler als Koch beschäftigt wurde, sei von dem Aufseher Eich einmal wegen eines ganz geringfügigen Versehens derartig mißhandelt worden, daß der Mißhandelte ausrief: Ich wünschte, ich wäre im Zuchthause, anstatt in Brauweiler. Außerdem habe er (Zeuge) zwei andere Häuslinge von Aufsehern mißhandeln sehen.

Der frühere Häusling Walter berichtete ebenfalls über ihm in Brauweiler zugefügte Mißhandlungen.

Direktor Schellmann gab dem Puls das Zeugnis eines ordentlichen und sehr fleißigen Mannes.

Am siebenten Verhandlungstage wurde wiederum Direktor Schellmann vernommen. Er bekundete: Er könne sich über alle Einzelheiten nicht äußern, da er sich innerhalb der kurzen Zeit nicht informieren konnte. Auf den von Lander erzählten Vorgang, wonach Aufseher Korte nebst einem Kehrmann auf einem Häusling gekniet haben, erinnere er sich. Er habe die Angelegenheit untersucht und festgestellt, daß dieser Vorgang durch eine Prügelei zwischen dem Korrigenden den und dem Kehrmann, auch einem Häusling, entstanden sei, und daß Aufseher Korte nur bemüht war, die Prügelnden auseinanderzubringen. Jedenfalls habe den Aufseher keine Schuld getroffen. Der Häusling Wendland, dem, laut Bekundung des Lander, die Zwangsjacke angelegt worden, sei ein Seitenstück zu Lander gewesen, d.h. er war ein ebensolcher Faulenzer wie dieser.

Pastor Peiner: Es kommen täglich etwa 600 Menschen in seine Schreibstube. Diese legen in den meisten Fällen eine derartige Unbotmäßigkeit an den Tag, daß er oftmals gesagt habe: Er wolle lieber Schweine hüten, als in Brauweiler Geistlicher sein. Es sei selbstverständlich, daß er solchen Leuten ernsthafte Vorstellungen gemacht habe, er erinnere sich aber nicht, daß er gegen jemanden tätlich geworden sei.

Vors.: Haben Sie Leuten Vorhaltungen gemacht, weil sie nicht in vorschriftsmäßiger Weise Weihwasser genommen haben?

Zeuge: Jawohl, das ist in einigen Fällen geschehen.

Vors.: Haben Sie bei dieser Gelegenheit die Leute geschlagen?

Zeuge: Es ist möglich, daß ich einigen Jugendlichen auch eins versetzt habe.

Vors.: Erinnern Sie sich, daß Sie diese Züchtigung auch auf Leute ausgedehnt haben, die schon die Grenzen der Jugendlichkeit überschritten hatten?

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich.

Tagelöhner Maaßen: Im Jahre 1888 sei er in Brauweiler über die Mauer gesprungen und entwichen, da er dort furchtbar geschlagen und mit Kostentziehung bestraft worden sei. Er sei einige Zeit darauf wieder aufgegriffen und nach Brauweiler gebracht worden; dort sei er wiederum von dem Aufseher Jung mißhandelt worden. Er habe dies dem Direktor Schellmann mitgeteilt; der Direktor habe gesagt, er werde den Aufseher bestrafen.

Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen, in Berücksichtigung seines Geisteszustandes, nicht zu vereidigen.

Ein weiterer Zeuge war Tagelöhner Hansen. Er sei in Brauweiler als Viehwärter engagiert gewesen. Er habe einmal ein furchtbares Geschrei, das aus dem Viehstall kam, gehört. Er habe darauf die Stalltür geöffnet und einen Häusling am Boden liegen sehen, den ein Aufseher mit den Füßen trat. Außerdem habe er von verschiedenen Leuten gehört, daß ein Aufseher den Häusling Malzkorn so furchtbar mit einem Besen geschlagen habe, daß letzterer den ganzen Rücken mit roten Striemen bedeckt hatte. Er habe diesen letzten Fall nicht selbst gesehen, Malzkorn habe ihm aber den verwundeten, vollständig blutrünstigen Rücken gezeigt. Infolge dieser Vorgänge habe er (Zeuge) sich veranlaßt gefühlt, seine Stellung zu kündigen, da er befürchtete, obwohl er kein Häusling war, auch einmal geschlagen zu werden.

Vert.: Landesrat Klausner hat bekundet, der verstorbene Häusling Lipken habe absichtlich sein Bett verunreinigt. Der Zeuge Heller hat aber diese Absichtlichkeit in Abrede gestellt und gesagt: Er habe die Überzeugung, daß diese Verunreinigung unabsichtlich, infolge einer Mastdarmkrankheit geschehen sei; außerdem ist bekundet worden, daß Lipken deshalb doch mehr als einige Schläge von dem Aufseher Saal erhalten habe; bekanntlich ist er ja auch kurze Zeit nach erfolgter Züchtigung gestorben. Kann Herr Landesrat Klausner diese Widersprüche aufklären?

Landesrat Klausner: Diese Sache ist acht Jahre her, ich kann mich infolgedessen des Falles nicht mehr genau erinnern. Das Obduktionsprotokoll ergibt aber, daß Lipken nicht infolge der erhaltenen Züchtigung gestorben ist.

Auf Anregung des Staatsanwalts und des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, bemerkte noch Direktor Schellmann: Er habe, als ihm über die ungenügende Erwärmung des Websaales berichtet worden, sofort alles getan, um den Saal ordentlich erwärmen zu lassen. Die Oberaufseherin sei aufs strengste angewiesen gewesen, vor Anlegung der Mundbinde, die gleich der Zwangsjacke lediglich ein Bändigungsmittel war, seine Genehmigung einzuholen. len. Bis vielleicht auf einen Fall, der ihm nach geschehener Anlegung gemeldet wurde, sei seine vorherige Genehmigung stets eingeholt worden. Vor Anlegung der Zwangsjacke sei wohl nicht immer eine ärztliche Untersuchung vorgenommen, aber stets ein Gutachten des Anstaltsarztes eingeholt worden. Auf Grund der Allerhöchsten Kabinettsorder von 1825 und einer Verfügung der Königlichen Regierung zu Köln habe er sich zur Ausübung des Züchtigungsrechts gegen schulpflichtige Häuslinge für berechtigt gehalten.

Vert.: Die Kabinettsorder sagt aber ausdrücklich, daß sich das Züchtigungsrecht nur auf die Schuldisziplin bezieht.

Schellmann: Ich bin der Meinung, daß mir das Züchtigungsrecht auch über die Schulzucht hinaus zusteht.

Der Verteidiger protestierte dagegen, daß der Zeuge ein Gutachten abgebe.

Der Staatsanwalt und der Vertreter der Nebenkläger erklärten, daß der Zeuge wohl berechtigt sei, zu erklären, in welcher Weise er sich für befugt halte, das ihm zugestandene Züchtigungsrecht anzuwenden.

Der Gerichtshof schloß sich dieser Auffassung an, worauf Schellmann seine Bemerkung wiederholte.

Auf Befragen des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, äußerte Landesrat Klausner: Der Provinzialverwaltung ist das Vorhandensein densein der Mundbinde bekannt gewesen. Die Provinzialverwaltung hat die Anlegung der Mundbinde als Bändigungsmittel, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch stillschweigend genehmigt.

Landesrat Brandts: Ihm sei die Züchtigung der jugendlichen Häuslinge nicht bloß bekannt gewesen, sondern er habe mit den Oberbeamten in Brauweiler auch ausdrücklich darüber gesprochen und stets betont, daß das Züchtigungsrecht nicht bloß in der Schule, sondern überhaupt gegen jugendliche Häuslinge anzuwenden und jedenfalls unentbehrlich sei.

Auf Befragen des Verteidigers bemerkte Landesrat Brandts: Er sei der Überzeugung, daß dies auch die Ansicht der Proviniziallandesverwaltung sei.

Landesrat Klausner: Der Landesdirektor Klein habe ihm heute morgen gesagt: Er halte das Züchtigungsrecht in den Arbeitshäusern für unentbehrlich. Wenn dies nicht mehr gestattet sein sollte, dann sei es besser, die Arbeitshäuser aufzuheben, deren alsdann sei die Ordnung und Disziplin in den Arbeitshäusern nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Auf Befragen des Verteidigers, ob dies ein Privatgespräch oder eine offizielle Erklärung des Landesdirektors sei, äußerte Landesrat Klausner: Der Landesdirektor habe ihm gesagt: Wenn Sie heute danach gefragt werden sollten, so sind Sie ermächtigt, in meinem Namen eine solche Erklärung abzugeben.

Landesrat Brandts bekundete noch: Er habe vor einiger Zeit die verschiedensten Außenkommandos revidiert, habe die Wäsche, die Kleidung, die Arbeitsräume, die Betten, das Essen usw. aufs genaueste untersucht, letzteres sogar gekostet, und keinerlei Anlaß zu irgendeiner Ausstellung gefunden.

Auf Befragen des Verteidigers äußerte Direktor Schellmann: Nach dem Fall Wodtke seien eingehende Untersuchungen angestellt worden. Bei dieser Gelegenheit habe er ein Schreiben seines Vorgängers Müller vom 17. Juli 1875 gefunden, worin dieser der Verwaltung der Strafanstalt zu Aachen mitteilte, er könne das verlangte Mundbindemodell nicht übersenden, da die Anlegung der Mundbinde laut Ministerialreskript verboten sei. Vordem habe er (Schellmann) von dem Verbot keine Kenntnis gehabt.

Darauf wurde Direktor Schellmann, dessen Vereidigung ausgesetzt war, vereidigt. Der Vorsitzende erklärte alsdann die Beweisaufnahme für geschlossen.

In der Nachmittagssitzung des siebenten Verhandlungstages nahm sogleich das Wort Staatsanwalt Nacke: Am 1. März d.J. waren der Anstaltsarzt Dr. Bodet und der Direktor der Arbeitsanstalt Brauweiler, Schellmann, vor derselben Strafkammer angeklagt, die fahrlässige Tötung der Korrigendin Wodtke durch die dieser angelegte Mundbinde verschuldet zu haben. Die Verhandlung ergab jedoch die Schuldlosigkeit der damaligen Angeklagten, und es erfolgte deren Freisprechung. An diese Gerichtsverhandlung schloß sich ein Artikel der „Rheinischen Zeitung“ vom 6. März d. J., der jetzt zur Anklage steht. Es wurde in diesem Artikel ein Brief abgedruckt, von dem behauptet wurde, daß er schon vor dem 1. März der Redaktion vorgelegen habe. Verantwortlich für den Artikel ist der Angeklagte Hofrichter. In dem Artikel wird dem Direktor Schellmann vorgeworfen, die Insassen des Arbeitshauses Brauweiler in grausamster Weise behandelt zu haben. Es heißt wörtlich in dem Artikel: Alte Leute über sechzig Jahre werden durch Schläge, Arrest, Kostentziehung, Anlegung der Mundbinde, der Zwangsjacke usw. zur Arbeit angetrieben. Es wird dem Direktor Schellmann ferner vorgeworfen, daß er durch seine unmenschliche Behandlung die Leute langsam zu Tode hetze. Direktor Schellmann, so wird in dem Artikel bemerkt, habe eine große Anzahl unglücklicher Menschen auf dem Gewissen, und weiter: „Schellmann behandle seine Beamten ebenfalls in hartherziger Weise, so daß, wenn diese nur eine Miene verziehen, sie sich schon nach anderer Arbeit umsehen können.“ Dadurch hat sich der Angeklagte im Sinne des § 186 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht denn dieser Artikel ist zweifellos geeignet, den Direkte Schellmann verächtlich zu machen und ihn in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Der Angeklagte hat gewiß nichts unversucht gelassen, den Beweis der Wahrheit zu führen. Seitens des Gerichts ist seinen Anträgen, sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Hauptverhandlung im weitesten Maße entsprochen worden; es sind selbst Zeugen zugelassen worden, von denen gar nicht angegeben war, was sie bekunden sollten. Aber auch seitens der Staatsanwaltschaft ist nichts unversucht geblieben, um zur Ermittellung der Wahrheit beizutragen. Beim Eingehen der Beweiswürdigung wird selbstverständlich in erster Reihe das zu prüfen sein, was dem Direktor Schellmann zur Last zu legen sei. Daß Direktor Schellmann eine große Strenge beobachtet hat, ist selbstverständlich. Es wird jedem einleuchten, daß ohne Strenge die Disziplin und Ordnung in einer solchen Anstalt nicht aufrechtzuerhalten ist. Daß die Korrigenden zur Arbeit anzuhalten sind, ist ebenfalls selbstverständlich. Nun wird in dem inkriminierten Artikel behauptet: Die Korrigenden wurden durch die großen Arbeitspensa übermäßig angestrengt und waren nicht imstande, sie zu bewältigen. Ein Beweis hierfür ist jedoch nicht erbracht worden. Es ist im Gegenteil festgestellt worden, daß die Arbeitspensa nicht größer waren, als in den Königlichen Strafanstalten. Wäre die Arbeit eine so übermäßig große gewesen, dann hätte die Anstalt einen Überschuß erzielt. Die hier vernommenen Landesräte haben aber bekundet, daß die Anstalt von der Provinzialverwaltung eines erheblichen Zuschusses bedurfte. Die Behauptung, daß die Korrigenden, ehe sie ihr Pensum nicht erledigt hatten, kein Mittagessen bekamen, ist lediglich von dem Engländer Politt bekundet worden. Im übrigen hat die Beweisaufnahme ergeben, daß, wenn ein Korrigend das Pensum nicht leistete, Direktor Schellmann zunächst eine Untersuchung vornahm, ob der betreffende Korrigend das Pensum nicht leisten konnte. Erst wenn die Untersuchung ergab, daß die Nichtleistung des Pensums auf Faulheit zurückzuführen war, kamen die Strafmittel zur Anwendung.

Es ist behauptet worden, die Bändigungsmittel sind auch als Strafmittel in Anwendung gekommen. Ein Beweis hierfür ist nicht erbracht worden. Ich komme nun zu dem Hauptkapitel in diesem Prozesse, zu der Frage: Sind in Brauweiler Korrigenden geschlagen worden? Ich nehme keinen Anstand, dies zuzugeben. Es ist von dem Aufsichtspersonal mehrfach geschlagen worden, ganz besonders ist erwiesen worden, daß in den Cachottes geschlagen wurde. Der verstorbene Justizminister Dr. v. Friedberg sagte einmal: „Die Zuchthausinsassen sind distinguierte Leute gegen die Insassen eines Arbeitshauses.“ Zweifellos ist das Material derjenigen Leute, die das Arbeitshaus bevölkern, das denkbar schlechteste. Die Leute, die ins Arbeitshaus kommen, sind rohe, moralisch gesunkene, arbeitsscheue Individuen. Aber auch mit sehr wenigen Ausnahmen besteht das Aufsichtspersonal eines Arbeitshauses naturgemäß aus dem schlechtesten Material. Die Aufsichtsbeamten rekrutieren sich in den meisten Fällen aus zivilversorgungsberechtigten Leuten. Der Dienst der Aufsichtsbeamten ist ungemein anstrengend und schwierig. Es ist daher erklärlich, daß das beste Material der Zivilversorgungsberechtigten sich um Anstellungen bewirbt, wo der Dienst ein angenehmerer ist, und daß das schlechteste Material der Zivilversorgungsberechtigten in den Arbeitshäusern Verwendung findet. Wenn man diese Umstände in Betracht zieht, dann wird es niemanden wundern, wenn in einem solchen Arbeitshause Mißhandlungen vorgekommen sind. Kommen doch selbst, trotz der strengsten Vorschriften, Mißhandlungen im Heere und in den Schulen vor. In keiner Weise ist aber der Beweis erbracht worden, daß die Mißhandlungen mit Wissen und Willen des Direktors Schellmann vorgenommen wurden. Es ist im Gegenteil der Beweis geführt worden, daß Direktor Schellmann das Schlagen aufs strengste untersagt, und wo dies zu seiner Kenntnis gekommen, die betreffenden Aufsichtsbeamten entweder zur Anzeige gebracht oder disziplinarisch bestraft hat. Wenn man nun erwägt, daß in den letzten Jahren 20 bis 30 Mißhandlungen vorgekommen sind, so wird man, angesichts der gesamten Umstände, etwas Absonderliches nicht darin erblicken können. Der Zeuge Pürvenich vermochte seine bei dem Untersuchungsrichter abgegebene Erklärung: Direktor Schellmann habe ihm durch Kopfnicken zu verstehen gegeben, daß er mit den Mißhandlungen einverstanden sei, in der Hauptverhandlung nicht aufrechtzuerhalten. Das Züchtigungsrecht des schulpflichtigen Korrigenden stand dem Direktor Schellmann zweifellos zu. Ich persönlich stehe auf dem Standpunkte, daß das durch die Allerhöchste Kabinettsorder gewährte Züchtigungsrecht nicht willkürlich über das schulpflichtige. Aller, d.h. über das vierzehnte Lebensjahr hinaus ausgedehnt werden dürfe. Allein wenn diese Altersgrenze einige Male überschritten worden, so ist das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit in dieser Beziehung keineswegs erwiesen. Nun hat Schellmann zugegeben, daß er in zwei bis drei Fällen das Züchtigungsrecht an Erwachsenen hatte vornehmen lassen. Allein die Verhandlung hat ergeben, daß die betreffenden Korrigenden die Beamten bedroht haben; die Korrigenden waren in anderer Weise nicht zu bändigen und von Angriffen abzuhalten. Es lag mithin in diesen Fällen ein Akt der Notwehr vor, in welchem die Anwendung des Züchtigungsrechts gestattet war. Geh. Rat Dr. Krone hat gesagt: Ein Angriff ist auch schon dann anzunehmen, wenn der Korrigende sich weigert, einen waffenartigen Gegenstand aus der Hand zu legen. Der Fall Wernitzki ist nur zur Illustration angeführt worden, mit der vorliegenden Angelegenheit hat er jedenfalls nicht das mindeste zu tun.

Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß sowohl die Zwangsjacke als auch die Mundbinde nur als Bändigungsmittel angewendet wurden. Es ist ferner erwiesen worden, daß sowohl die Zwangsjacke, als auch die Mundbinde in vorschriftsmäßiger Weise zur Anwendung kamen. Es ist gerichtlich festgestellt worden, daß selbst in dem Falle Wodtke den Direktor Schellmann und auch Dr. Bodet keine Schuld trifft. Die Mundbinde ist in zahlreichen Fällen ohne nachteilige Folgen angewendet worden. Direktor Schellmann konnte daher nicht voraussetzen, daß in diesem einen Falle ein solcher Unglücksfall sich ereignen werde. Die Anlegung der Hand- und Fußschellen war ebenfalls auf Grund der Hausordnung zulässig. Es ist ferner erwiesen worden, daß das Essen in Brauweiler gut und ausreichend war.

Ja, es ist erwiesen worden, daß Schellmann bemüht war, das Essen durch einen Antrag bei dem Landesdirektorium, einen größeren Fettzusatz zu bewilligen, schmackhafter zu machen. Das Essen im Lazarett ist allgemein als gut bezeichnet worden. Es ist ferner erwiesen worden, daß die Heizung, Schlafräume und Kleidung vollständig ausreichend waren. Daß in Brauweiler Leute zu Tode gekommen sind, ich erinnere re an den Fall Widdor, ist dem Direktor Schellmann in keiner Weise zur Last zu legen. Daß in einem Arbeitshause Selbstmorde vorkommen, finde ich für keine Absonderlichkeit. Warum sollen nicht in einem Arbeitshause ebensogut Selbstmorde passieren, wie außerhalb eines solchen. Es ist somit in keiner Weise erwiesen, daß Direktor Schellmann irgendwie auch nur der Vorwurf der Vernachlässigung seiner Amtspflichten trifft. Es ist im Gegenteil der Beweis erbracht worden, daß Direktor Schellmann eine geradezu väterliche Fürsorge für die Korrigenden an den Tag gelegt hat. Dieselbe Fürsorge hat Schellmann seinen Beamten gegenüber bewiesen. Er war in geradezu väterlicher Weise für ihr wirtschaftliches Wohl bedacht. Der Angeklagte hat sich mithin im Sinne des § 186 des Strafgesetzbuchs schuldig gemacht. Es entsteht nun die Frage: Steht dem Angeklagten der § 193 des Strafgesetzbuchs zur Seite. Zunächst bemerke ich, daß laut Reichsgerichtsentscheidung der Presse kein größeres Recht als jedem Privatmann zusteht. Wohin sollte es auch führen, wenn die Presse berechtigt wäre, unter dem Schutze des § 193 die Ehre anderer öffentlich herabzusetzen. Daß der Angeklagte ein persönliches Interesse an der Brauweiler Arbeitsanstalt hat, ist nicht einmal behauptet worden. Wenn man aber selbst annehmen wollte, dem Angeklagten stehe der § 195 zur Seite, so geht zweifellos aus der Form die Absicht der Beleidigung hervor. Es heißt in dem Artikel: „Kein Zuchthäusler hat soviel Menschenglück auf seinem Gewissen als Direktor Schellmann.“ Es sollte wohl heißen „Menschenunglück“. Durch diesen Satz sind zweifellos die Grenzen des § 193 weit überschritten. Eine nicht geringere Beleidigung wird in dem Artikel gegen den Landesdirektor Klein geschleudert. Diesem wird Mangel an Aufsicht und ferner vorgeworfen, daß er seine eidliche Aussage so eingerichtet hat, um den Direktor Schellmann zu entlasten. Die Verhandlung hat ergeben, daß Landesdirektor Klein es an der erforderlichen Aufsicht nicht im geringsten hat fehlen lassen. Daß Landesdirektor Klein zur Stellung des Strafantrages berechtigt war, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Bei der Strafzumessung dürfte einmal die Schwere der Beleidigungen und ferner zu berücksichtigen sein, daß diese geschehen sind, einmal gegen den obersten Beamten der Provinz und zweitens gegen einen Mann, der auf eine langjährige ehrenvolle Beamtenlaufbahn zurückblicken kann. Es wird ferner zu erwägen sein, daß der Artikel erschien in einer Zeitung, die zumeist in den Kreisen der ärmeren Bevölkerung gelesen wird und daß mithin durch diesen Artikel eine große Erbitterung gegen die Arbeitsanstalt hervorgerufen bzw. diese Erbitterung, wo sie etwa schon vorhanden, vergrößert wird. Es wird dadurch dem Zwecke, den der Staat bei Errichtung von Arbeitshäusern im Auge hat, direkt entgegengearbeitet. Ob dem Angeklagten ein solches Motiv bei Aufnahme des Artikels zugrunde gelegen hat, will ich unerörtert lassen. Mit Rücksicht aller dieser Erwägungen beantrage ich eine Gefängnisstrafe von acht Monaten.

Vertreter der Nebenkläger Rechtsanwalt Gammersbach: Der Herr Staatsanwalt hat in so eingehender Weise sine ira et studio die Anklage begründet, daß ich mich in allen Punkten ihm nur anschließen kann. Ich sehe daher für jetzt von einer längeren Ausführung ab und behalte mir vor, nach der Rede des Herrn Verteidigers auf einige sachliche Punkte einzugehen.

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Als die gegenwärtige Anklage erhoben wurde, ahnte ich nicht, welchen Umfang und Bedeutung die Sache annehmen wird. Deshalb habe ich dem Angeklagten nicht widerraten, das gesamte Beweismaterial der Staatsanwaltschaft zu übermitteln. Ich muß mir daher den Vorwurf machen, daß ich dem Angeklagten einen schlechten Rat gegeben habe, denn dadurch ist die Staatsanwaltschaft in der Lage gewesen, ein noch größeres Gegenbeweismaterial zur Stelle zu schaffen. Infolgedessen ist aber eine Verwischung der Sachlage bewirkt worden. Allein dadurch hat der Angeklagte andererseits den Beweis geliefert, daß es ihm nicht darum zu tun war, einen Sensationsartikel zu schreiben, sondern öffentliche Mißstände nicht nur zur öffentlichen, sondern auch zur behördlichen Kenntnis zu bringen. Ich bemerke zunächst, ich habe die Überzeugung, daß der Beweis der Wahrheit in vollem Umfange geführt ist und daß der Angeklagte freigesprochen werden muß. Allein mit Rücksicht auf das von dem Herrn Staatsanwalt beantragte hohe Strafmaß will ich mich zunächst mit einigen Worten über dieses verbreiten. Der Angeklagte hat zweifellos in gutem Glauben gehandelt und lediglich beabsichtigt, die ihm zu Ohren gekommenen Mißstände zu rügen. Der Angeklagte hat sich daher im Interesse der Menschlichkeit und Humanität ein großes Verdienst erworben. Man kann ja über den Nutzen der Arbeitshäuser verschiedener Meinung sein. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob es nicht besser wäre, das Geld, das zur Errichtung und Unterhaltung von Arbeitshäusern verwendet wird, für Beschaffung von Arbeit in der Freiheit zu verwenden. Allein wir haben es hier mit einer lex lata zu tun, und da ist es doch zweifellos, daß durch den inkriminierten Artikel und diese Verhandlung schreiende Mißstände öffentlich zur Sprache gebracht wurden, die wohl auch zur Abstellung kommen dürften und daß auch die Schuldigen, die zum Teil durch das Verdienst des Angeklagten schon bestraft wurden und zum Teil in Untersuchung sich befinden, sämtlich von der Staatsanwaltschaft zur Verantwortung werden gezogen werden. Daß die Mundbinde und die Zwangsjacke mittelalterliche Marterwerkzeuge sind, die unserer heutigen Kultur Hohn sprechen, ist von dem Rechtsanwalt Dr. Löwenstein in der in Berlin erscheinenden „Kritik“ treffend ausgeführt worden und dürfte wohl von niemandem bestritten werden. Der Angeklagte hat keineswegs beabsichtigt, eine Erbitterung gegen die Arbeitshäuser hervorzurufen, sondern durch seine Kritik eine Abstellung der in dem Arbeitshause bestehenden Übelstände zu beseitigen.

Auf Ersuchen des Vorsitzenden brach der Verteidiger hier ab.

Am achten Verhandlungstage fuhr der Verteidiger Rechtsanwalt Östreich in der Verteidigungsrede fort: Meine Herren! Es kann nicht meine Aufgabe sein, Ihnen sämtliche Zeugenaussagen zu wiederholen. Ich habe das um so weniger nötig, da ich vor einem Richterkollegium stehe. Wenn ich bei Beleuchtung der Einzelheiten etwas vergessen sollte, so bitte ich Sie, meine Herren Richter, das zugunsten des Angeklagten zu ergänzen. Ich bin genötigt, mich auf einen ganz anderen Standpunkt zu stellen, als der Herr Staatsanwalt. Der Herr Staatsanwalt hat die einzelnen Sätze des inkriminierten Artikels aus dem Zusammenhange gerissen. Man kann aber nur dann ein klares, objektives Bild gewinnen, wenn man den Artikel in seiner Totalität betrachtet. Der Herr Staatsanwalt hob unter anderem den Satz in dem inkriminierten Artikel hervor: „Kein Zuchthäusler hat soviel Menschenglück bzw. Menschenunglück auf seinem Gewissen“, der Herr Staatsanwalt hat jedoch ermangelt, den Nachsatz zu zitieren: „wenn er auch der Ansicht sein mag, daß er seine Pflicht getan hat“. Dieser Nachsatz gehört doch aber hinzu und gibt dem Artikel ein ganz anderes Bild. Es kann nicht darauf ankommen, ob alle Behauptungen wahr sind, es genügt vollständig, wenn im großen und ganzen der Beweis der Wahrheit geführt ist. Ich befinde mich mit dieser Ansicht in Übereinstimmung mit dem Reichsgericht, das in dem Prozeß Mellage am 18. Nov. d.J. in diesem Sinne entschieden hat. Wenn ich nun auf die Sache selbst eingehe, dann muß ich dieselbe Bahn betreten, wie der Herr Staatsanwalt. Dieser hat verschiedene Zeugenaussagen, wie die des Szaplewski bemängelt. Ich muß ebenfalls Zeugenaussagen bemängeln und behaupte: Herr Direktor Schellmann hat hier nicht die Wahrheit gesagt. Es ist das vielleicht eine etwas harte Behauptung, ich bin aber in der Lage, sie zu beweisen. Herr Direktor Schellmann ist mehrfach in dieser Angelegenheit als Zeuge vernommen worden. Er hat stets und auch in dieser Verhandlung in Abrede gestellt, daß auf seine Anordnung oder auch nur mit seinem Wissen jemals geschlagen worden sei. Als jedoch die Zeugen Auweiler, Schäfer und Tappert unter ihrem Eide bekundet hatten, es sei auf Anordnung des Direktors Schellmann geschlagen worden, da änderte Direktor Schellmann schließlich sein Zeugnis, dann gab er zu, daß auf seine Anordnung geschlagen worden sei.

Meine Herren! Wenn ein Angeklagter eine Tatsache bestreitet und sie schließlich zugibt, nachdem eine Reihe einwandfreier Zeugen dies bekundet haben, dann wird der Richter sagen, der Angeklagte hat schließlich eingestanden, weil er durch die Zeugenaussagen überführt wurde, weil er nicht länger leugnen konnte. Allein ein solcher Mann, der erst sein Zeugnis ändert unter dem Druck der Verhältnisse, unter der Wucht der Tatsachen, weil er nicht länger sein Zeugnis aufrechterhalten kann, ich wiederhole, ein solcher Mann verdient keinen Glauben.

Der Vorsitzende bemerkte dem Verteidiger, daß frühere Gerichtsverhandlungen, in denen Direktor Schellmann als Zeuge vernommen worden ist, nicht Gegenstand der Verhandlung waren.

Verteidiger: Dann berufe ich mich darauf, daß dies gerichtsnotorisch ist.

Meine Herren! Der Herr Staatsanwalt wies auf den Charakter der Häuslinge hin. Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei daß die Brauweiler Häuslinge nicht die besten Charaktere sind. Allein die Häuslinge haben hier unter allen Einzelheiten in glaubwürdigster Weise über vorgekommene Mißhandlungen berichtet, die nicht widerlegt worden sind. Die Gegenzeugen haben nur bemerkt: Es sei ihnen nicht erinnerlich. Angesichts dieser Tatsachen wird man zu der Überzeugung gelangen müssen, die Häuslinge haben die Wahrheit gesagt. Es ist zweifellos der Beweis geführt worden, daß mittelalterliche Marterwerkzeuge zur Anwendung gekommen sind, die der Kultur des 19 Jahrhunderts Hohn sprechen. Ich habe bereits bemerkt, daß das Reichsgericht entschieden hat, es ist nicht erforderlich, den Wahrheitsbeweis in allen Einzelheiten zu führen, es genügt, wenn nur der Wahrheitsbeweis im allgemeinen geführt wird.

Meine Herren Richter! Der gegenwärtige Prozeß erinnert unwillkürlich an den Aachener Alexianerprozeß. Es wird mir aber jeder Unbefangene zugeben, daß in diesem Prozeß doch noch ganz andere Dinge zutage getreten sind als in dem Aachener Alexianerprozeß. Die Alexianerbrüder in dem Kloster „Mariaberg“ haben nicht im entferntesten derartige Grausamkeiten begangen, wie sie in Brauweiler vorgekommen sind. Das, was wir hier gehört haben, führt zu der Überzeugung, daß nur der kleinste Teil der vorgekommenen Mißhandlungen zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist. Es ist einleuchtend, daß es gar nicht möglich war, all die Häuslinge zur Stelle zu schaffen, die in Brauweiler gemißhandelt worden sind. Ein sehr großer Teil der Häuslinge ist inzwischen in die Welt gegangen und war nicht mehr habhaft zu werden. Direktor Schellmann und seine Beamten hatten kein Recht, die Häuslinge zu schlagen. Wenn sie es dennoch taten, dann handelten sie eben gegen die Bestimmungen des § 340 des Strafgesetzbuches. Und der Umstand, daß Direktor Schellmann das Prügeln eidlich in Abrede stellte, anstatt zu sagen: in einzelnen Fällen ist es vorgekommen, führt mich zu der Überzeugung, daß in bedeutend mehr Fällen geschlagen worden ist. Den Häuslingen stand allerdings das Beschwerderecht zu. Allein wie die Häuslinge über das Beschwerderecht dachten, haben sie uns bekundet. Die Ausrede, daß die Aufseher und Direktor Schellmann einen Angriff befürchtet haben, kann doch wohl kaum ernsthaft genommen werden. Es ist nur in zwei Fällen bekundet worden, daß wirkliche Angriffe von Häuslingen stattgefunden haben. Angriffe gegen Bewaffnete kommen doch wohl von einem Häusling kaum vor. Im übrigen hatten, im Falle des Angriffs, die Aufseher das Recht, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen, nicht aber mit einem Rohrstock, einem Seil, oder einem Gummischlauch zu prügeln. Und auch jugendlichen Korrigenden gegenüber ist laut Kabinettsorder nur ein leichtes Züchtigen gestattet. Wenn aber ein Aufseher einem Knaben den Kopf zwischen die Beine klemmt und ein anderer Aufseher den Knaben mit einem Seil oder Gummischlauch den Hinterteil heftig bearbeitet, so ist das doch keine leichte Züchtigung.

Meine Herren! Wenn Sie ein solches Prügeln als zulässig anerkennen wollen, dann sind Sie nicht mehr in der Lage, einen Lehrer wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts zu verurteilen. Wie der Landesdirektor Klein dazu kommt, hier erklären zu lassen, ohne die Prügelstrafe kann die Disziplin und Ordnung in den Arbeitshäusern nicht aufrechterhalten werden, ist mir unverständlich. Wie kommt der Herr Landesdirektor dazu, eine solche Erklärung abgeben zu lassen? Dies sieht ja so aus, wie eine Beeinflussung des Gerichts. Ich muß diese Erklärung des Herrn Landesdirektors mit aller Entschiedenheit zurückweisen und habe die Überzeugung, der hohe Gerichtshof wird eine solche Beeinflussung weit von sich weisen und auf Grund der Beweisaufnahme sein Urteil selbständig zu finden wissen. Ich komme nun zu dem Arbeitspensum. Es kann hier nur der Umstand in Betracht kommen, daß die Arbeitspensa diejenigen der Zuchthäuser und Gefängnisse nicht überschreiten. Allein wenn dem so ist, dann sind eben die Häuslinge nicht in der Lage, die Arbeitspensa zu bewältigen. Die Insassen der Arbeitshäuser sind keine Verbrecher – ich spreche hier nur von den männlichen –, sondern sie sind wegen Bettelns und Landstreichens, das heißt also wegen Übertretungen ins Arbeitshaus gebracht worden, damit sie dort wieder arbeiten lernen und gebessert werden. Diese Leute sind aber naturgemäß sämtlich durch Not und Entbehrung körperlich geschwächt und heruntergekommen. Diese Leute können eben nicht ein hohes Arbeitspensum leisten, sie können es um so weniger, da sie, sobald sie einmal das Pensum nicht bewältigen konnten, sofort mit der Cachotte und Kostentziehung bestraft wurden. Ich will vorläufig von der Mundbinde nicht sprechen, diese ist inzwischen abgeschafft worden; allein die Zwangsjacke, wie sie hier vor uns liegt, kommt noch zur Anwendung.

Meine Herren! Im nächsten Jahrhundert wird man es nicht glauben, daß am Ende des 19. Jahrhunderts eine Zwangsjacke angewendet wurde, die zu den Folterwerkzeugen des Mittelalters gehört. Wir haben gehört, daß im Falle der Arbeitsverweigerung männliche und weibliche Insassen bis sechs Wochen in die Cachotte gesperrt wurden – in eine dunkle Zelle, in der es lediglich eine Decke, keinen Strohsack und kein Kopfkissen gibt, in der die Inhaltierten nicht einmal den Kopf anlegen können und in der es nur jeden vierten Tag warmes Essen, sonst aber nur trockenes Brot und Wasser gibt. Sie haben gehört, meine Herren, daß Herr Assessor Fröhlen sagte: die Cachotte ist eine ganz furchtbare Strafe, er wäre nicht imstande, auch nur eine halbe Stunde in der Cachotte auszuhalten. Ich erinnere an die schweren Folgen der Mundbinde, an den Fall Widdor, an die 60jährige Frau, der die Aufnahme ins Lazarett und die ärztliche Hilfe verweigert wurde und in einer Kiste gestorben ist, ich erinnere an die Hand- und Fußschellen usw.

Meine Herren! Alle diese Tatumstände lassen doch keinen Zweifel, daß das, was in dem inkriminierten Artikel steht, wahr ist, daß der Beweis der Wahrheit vollständig geführt ist. Der Fall Wernitzki, der hier vorgeführt worden ist, sollte, wie der Herr Staatsanwalt sehr richtig sagte, nur als Kolorit dienen. Es sollte gezeigt werden, daß einem Mann, der einen 9jährigen fremden Knaben ohne jede Berechtigung derartig prügeln läßt, auch zuzutrauen ist, daß er ebenso die ihm unterstellten Häuslinge prügelt und prügeln läßt. Es ist aber auch in dem inkriminierten Artikel behauptet, daß Direktor Schellmann gegen seine Beamten als Tyrann gehandelt hat. Eine Reihe von noch in Brauweiler stationierten Aufsehern hat allerdings bekundet: Herr Direktor Schellmann war streng, aber gerecht. Aber eine Reihe ehemaliger Aufseher und die gewiß einwandfreie Zeugin, verwitwete Aufsehersfrau Wernitzki, haben die Behauptungen des inkriminierten Artikels vollständig bestätigt. Ich komme nun zu der angeblichen Beleidigung des Landesdirektors Klein. Ich bestreite, daß dieser zur Stellung des Strafantrages berechtigt war. Der Landesdirektor hatte die Aufsicht der Brauweiler Arbeitsanstalt Herrn Landesrat Brandts übertragen. Wenn der Aufsichtsbehörde Vorwürfe gemacht wurden, so konnten sich diese nur auf Herrn Landesrat Brandts beziehen, für diesen hat aber der Landesdirektor keinen Strafantrag gestellt. Auch wenn man den Dolus eventualis anwenden wollte, könnte man den Landesdirektor nicht zum Strafantrag berechtigt ansehen. Der Verteidiger erörterte noch in eingehender Weise diesen Punkt und fuhr alsdann fort:

Allen Umständen nach unterliegt es keinem Zweifel, daß die Mundbinde lange Zeit in Brauweiler in Anwendung war. Und wenn auch Direktor Schellmann und Dr. Bodet wegen fahrlässiger Tötung Freigesprochen wurden, so sind sie doch moralisch für den Tod der Wodtke verantwortlich. Man brauchte bloß die behördlichen Verfügungen einmal durchzusehen, dann hätte man das Ministerialreskript gefunden, wonach die Anlegung der Mundbinde untersagt war. Und der Umstand, daß die Provinzialverwaltung die Anwendung der Mundbinde duldete, kann den Direktor Schellmann nicht entlasten. Die Beamten der Provinzialverwaltung müssen sich allerdings sämtlich den Vorwurf machen, daß sie alle das Ministerialreskript nicht gekannt haben. Es ist daher sehr erklärlich, lich, daß die Beamten der Provinzialverwaltung, die hier als Zeugen vernommen wurden, bemüht waren, den Direktor Schellmann in möglichst günstigem Lichte darzustellen. Alles in allem genommen, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Beweis der Wahrheit in allen Punkten geführt ist.

Jedenfalls steht aber dem Angeklagten der Schutz des § 193 des Strafgesetzbuches zur Seite. Wenn der Presse keine größere Berechtigung zugestanden wird als jeder Privatperson, so handelte der Angeklagte jedenfalls in Wahrnehmung seiner eigenen Interessen. Der Angeklagte ist Bewohner der Rheinprovinz, er ist Redakteur eines sozialdemokratischen Blattes.

Vors.: Herr Rechtsanwalt, ich habe es grundsätzlich vermieden, den politischen Parteistandpunkt des Angeklagten, der mit der gegenwärtigen Angelegenheit absolut nichts zu tun hat, zur Sprache zu bringen. Der Herr Staatsanwalt hat dasselbe getan. Ich bitte Sie, diesem Beispiele Folge zu leisten.

Vert.: Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Direktor, ich will bloß bemerken: Mein Klient sagte mir: Wenn ihm die sozialdemokratische Partei einmal den Stuhl vor die Tür setzt, so würde er bei keiner anderen Zeitung mehr Anstellung finden. Er ist vermögenslos und kann alsdann in die Lage kommen, den Wanderstab zu nehmen, beim Betteln aufgegriffen und nach Brauweiler gebracht zu werden. Insofern handelte der Angeklagte geklagte in Wahrnehmung persönlicher Interessen. Er wollte es bewirken, daß, wenn er einmal nach Brauweiler kommen sollte, nicht ebenfalls geprügelt usw. werde. Aber der Angeklagte handelte auch in Wahrnehmung der Interessen der armen Häuslinge, die nicht in der Lage sind, ihre Interessen selbst zu vertreten. Wenn auch das Reichsgericht den Ausspruch des Aachener Landgerichts: Mellage hat als Mandatar der Menschheit gehandelt, nicht hat gelten lassen, so erkannte doch das Reichsgericht an, daß Mellage als Mandatar des hilflosen Forbes gehandelt hat. Mit demselben Rechte ist der Angeklagte als Mandatar der armen hilflosen Häuslinge anzusehen. Nun sagte der Herr Staatsanwalt: der Angeklagte hätte von den Vorgängen der Behörde Anzeige machen müssen. Allein hätte der Angeklagte dies getan, dann würde er das nicht erreicht haben, was er erreichen wollte und, ich behaupte, auch erreicht hat und noch ferner erreichen wird, denn dann wäre dieselbe Behörde, die von einer Verantwortung der Mißstände in Brauweiler nicht freizusprechen ist, mit der Untersuchung dieser Mißstände betraut worden. Nun hat der Herr Staatsanwalt gesagt: Jedenfalls geht aus der Form die Absicht der Beleidigung hervor. Aus dem ganzen Artikel ist jedoch zweifellos zu ersehen, daß es dem Angeklagten lediglich darauf ankam, das System und nicht die Person anzugreifen. Wenn dabei dem Angeklagten ein etwas starker Ausdruck entschlüpft ist, so ist damit die Absicht der Beleidigung noch keineswegs erwiesen. Ich schließe, indem ich die Überzeugung ausspreche, Sie werden den Angeklagten freisprechen.

Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Gammersbach: Der Herr Verteidiger sagte: der Angeklagte habe nicht die Person, sondern das System treffen wollen. Wenn der Angeklagte diese Absicht gehabt hätte, dann würde er nicht die Person des Direktors Schellmann in den Vordergrund gestellt haben. Ebenso bestreite ich, daß der Angeklagte in gutem Glauben gehandelt hat. Ich kann den Angeklagten nicht für so naiv halten, daß er Wirtshausgespräche von entlassenen Aufsehern und ehemaligen Häuslingen für wahr gehalten hat. Er mußte sich sagen, daß diese Quelle eine sehr trübe ist, auf Grund deren ein gewissenhafter Redakteur nicht derartige Behauptungen in die Welt setzen darf. Der ganze Brief, der in dem Artikel abgedruckt ist, richtet sich nicht gegen das System, sondern trägt den Stempel der Rachsucht und persönlichen Gehässigkeit an der Stirn. Es werden nicht die Zustände in Brauweiler, sondern in erster Reihe die Person des Direktors Schellmann, seine Einnahmen, seine Herkunft usw. behandelt. Ja, man scheute sich selbst nicht, Herrn Direktor Schellmann als Zuchthäusler und als Tyrann zu bezeichnen und ihn der öffentlichen fentlichen Verachtung preiszugeben. Der Herr Verteidiger verwies auf den Mellage-Prozeß in Aachen. Ich muß bekennen, wäre dem Landgericht Aachen nicht solch einseitiges Material vorgelegt worden, dann wäre das Urteil gegen Mellage und Genossen zweifellos anders ausgefallen. Uns ist es glücklicherweise erspart geblieben, ein ähnliches Zerrbild vorgeführt zu erhalten. Der Herr Verteidiger hat einfach die Behauptung aufgestellt: Herr Direktor Schellmann hat hier vor Gericht die Unwahrheit gesagt. Er nennt selbst diese Behauptung eine kühne. Ja, ich muß bekennen, diese Behauptung ist sehr kühn und leider ist ihr, infolge des § 193, strafrechtlich nicht beizukommen. Der Herr Verteidiger hat diese Behauptung aufgestellt auf Grund einer Tatsache, die, weil sie nicht Gegenstand der Verhandlung war, hier nicht festgestellt werden kann und auf Grund einer bereits im Laufe der Verhandlung zurückgewiesenen Behauptung: Herr Direktor Schellmann hätte in Abrede gestellt, daß in Brauweiler geschlagen worden sei. Herr Direktor Schellmann hat aber lediglich in Abrede gestellt, daß in Brauweiler die Prügelstrafe als Disziplinarstrafe in Anwendung war. Daß geschlagen wurde, ist festgestellt worden. Die Beweisaufnahme hat lediglich 20 Fälle festgestellt, die innerhalb zehn Jahren stattgefunden haben. Wenn man nun erwägt, daß innerhalb dieser Zeit mindestens 10000 Korrigenden durch die Brauweiler Anstalt gegangen sind, dann kann das doch nicht als so etwas Abnormes betrachtet werden. Daß Herr Direktor Schellmann selbst geschlagen hat, ist nicht festgestellt worden. In den Fällen, in denen das Schlagen auf seine Anordnung stattgefunden hat, waren die Beamten durch Angriffe bedroht. Daß einige Korrigenden von dem Beschwerderecht keinen Gebrauch machen wollten, kann doch Herrn Direktor Schellmann nicht zur Last gelegt werden. Es ist eine Reihe von Zeugen aufgetreten, die bekundet haben: die Beschwerden seien von Herrn Direktor Schellmann stets sofort aufs genaueste untersucht und die Schuldigen von ihm bestraft worden. Es ist von einwandfreien Zeugen bekundet worden: Direktor Schellmann kam alle acht Tage ins Lazarett, sprach mit jedem einzelnen Kranken, erkundigte sich nach seinen Wünschen usw. Auf den Außenstationen, die Schellmann alle vier Wochen besuchte, fragte er jeden Häusling, ob er eine Beschwerde oder einen Wunsch habe. Daß die Häuslinge eventuell durch Strafen zur Arbeit angehalten werden mußten, war die Pflicht des Direktors. Charakteristisch war insbesondere die Bekundung der Zeugin Hoffmann, die wiederholt in Brauweiler war. Diese klagte über Mißhandlungen der Aufseherinnen, sagte aber: „Der Herr Direktor war zu mir liebevoll, obwohl ich es nicht verdient habe.“ Daß es mit der Cachotte nicht so schlimm war, geht doch aus dem Umstande hervor, daß ein Häusling einmal sagte: ich gehe lieber in die Cachotte, als zur Arbeit. Für die Behauptung, daß Direktor Schellmann seinen Aufsehern gegenüber ein Tyrann gewesen ist, liegt nicht der Schatten eines Beweises vor. Eine große Reihe von Aufsehern ist 30 Jahre und darüber in Brauweiler, aber auch eine große Anzahl früherer Aufseher hat bekundet: Herr Direktor Schellmann war für ihr Wohl besorgt, er war streng, aber gerecht. Das Zeugnis der Frau Wernitzki, die eine Mitteilung von ihrem seinerzeit schwerkranken Manne machte, kann gegenüber den vielen entgegengesetzten Zeugenaussagen kaum in Betracht kommen. Der Herr Kollege Östreich ist über die erwähnte Entscheidung des Reichsgerichts falsch unterrichtet.

Das Reichsgericht hat am 18. November in dem Mellage-Prozeß entschieden: Wenn auch der Beweis der Wahrheit nicht vollständig geführt ist, so steht doch dem Angeklagten der § 193 zur Seite. Dieser Schutz kann aber dem gegenwärtigen Angeklagten nicht zuteil werden, denn der Beweis kann nicht als geführt erachtet werden, und eine Kritik ist laut Reichsgerichtsentscheidung nur insoweit gestattet, als dadurch nicht die persönliche Ehre eines Dritten verletzt wird.

Der Vertreter der Nebenkläger ersuchte nach noch längeren Ausführungen: dem Antrage des Staatsanwalts walts stattzugeben.

Vert. Rechtsanwalt Östreich: Charakteristisch sei, daß etwa fünf Häuslinge, die bereits im Zuchthaus waren, geäußert haben: sie wollen lieber ins Zuchthaus als nach Brauweiler und zu diesem Zwecke ein Verbrechen begingen. Im übrigen sei bekundet worden, daß Direktor Schellmann auch einige Male persönlich geschlagen und befohlen habe, zu prügeln, wo von Angriffen nicht geredet werden konnte.

Angekl. Hofrichter: Ich habe den Artikel veröffentlicht, weil ich die Zustände in Brauweiler für eine öffentliche Gefahr gehalten habe. Die Arbeitsanstalt Brauweiler ist eine Besserungsanstalt, in der arbeitsscheue Menschen wieder zur Arbeit gewöhnt und dadurch nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden sollen. Durch die Prügelstrafe wird aber jedes Ehr- und Schamgefühl erstickt, die aus Brauweiler Entlassenen dürften daher für die menschliche Gesellschaft eine Gefahr werden. Ich habe nicht auf Grund von Wirtshausgesprächen den Artikel veröffentlicht, die Wirtshausgespräche dienten mir nur als Grundlage meiner Nachforschungen. Ich habe mit meinem Material nicht zurückgehalten, ich bin offen aufgetreten, ich habe all mein Material dem Gericht und der Staatsanwaltschaft ausgeliefert. Dies spricht doch zweifellos dafür, daß ich in gutem Glauben handelte und daß es mir lediglich darum zu tun war, der Menschheit im allgemeinen und den Häuslingen im besonderen einen Dienst zu leisten.

Nach etwa einstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Reichensperger, unter lautloser Stille des zahlreichen Publikums folgendes

Urteil:

Es kann selbstverständlich in so später Abendstunde nicht meine Aufgabe sein, all die Fälle, die uns acht Tage lang hier beschäftigt haben, nochmals zu erörtern. Soviel steht fest, durch den ganzen inkriminierten Artikel zieht sich wie ein roter Faden die Absicht, nicht das System, sondern die Person des Direktors Schellmann persönlich anzugreifen. Wenn auch zugegeben werden muß, daß eine Anzahl Mißstände durch die Beweisaufnahme festgestellt worden sind, so richten sich doch die Angriffe in erster Reihe gegen Direktor Schellmann persönlich. Der Angeklagte hat sich daher im Sinne des § 186 des StGB. schuldig gemacht. Dem Angeklagten kann der Schutz des § 193 des StGB. nicht zugestanden werden. Denn einmal sind die gegen den Direktor Schellmann gerichteten Angriffe nicht gerechtfertigt und andererseits überschreiten Ausdrücke wie „Zuchthäusler“ und „Tyrann“ die Grenzen der berechtigten Kritik.

Der Gerichtshof hat außerdem den Landesdirektor Klein, der der unmittelbare Vorgesetzte des Direktors Schellmann ist, zur Stellung des Strafantrages für berechtigt gehalten. Wenn auch die Form der gegen den Landesdirektor Klein gerichteten Angriffe an sich nicht beleidigend ist, so sind doch die darin enthaltenen Tatsachen unwahr. Aus diesem Grunde konnte dem Angeklagten auch bezüglich dieses Punktes der Schutz des § 193 des StGB. nicht zugebilligt werden. Der Gerichtshof hat bei der Strafzumessung alle von dem Verteidiger und dem Angeklagten hervorgehobenen Gesichtspunkte in Betracht gezogen, er hat sich aber nicht dazu verstehen können, von einer Freiheitsstrafe Abstand zu nehmen. Die Autorität der Beamten ist in einer Weise angegriffen worden, die eine strenge Bestrafung erheischt. Mit Rücksicht auf den Umstand, daß der Angeklagte bereits zweimal wegen Beleidigung bestraft ist, hat der Gerichtshof auf eine

Gefängnisstrafe von drei Monaten

erkannt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens: einschließlich der durch die Nebenklage entstandenen Kosten, zur Last gelegt. Der Gerichtshof hat außerdem auf Publikationsbefugnis für die Beleidigten in der „Rheinischen Zeitung“, der „Kölnischen Zeitung“ und „Köln. Volkszig.“ und endlich auf Unbrauchbarmachung aller noch vorhandenen Exemplare des inkriminierten Artikels nebst der zu seiner Herstellung gedienten Platten und Formen erkannt.

Der Angeklagte wurde beim Austritt aus dem Gerichtsgebäude richtsgebäude von einer großen Menschenmenge mit stürmischen Hochrufen empfangen und unter dem Gesange der Audorffschen Marseillaise nach seiner Wohnung begleitet.

Der Zaubermord am Teufelssee vor dem Schwurgericht zu Potsdam

(22. und 23. Juni 1900)

Unter dem Titel: „Das spiritistische Medium Anna Rothe“ habe ich bereits im ersten Bande darauf hingewiesen, daß in der Hauptstadt des Deutschen Reiches, die man auch als „Metropole der Intelligenz“ bezeichnet, das Kartenlegen ungemein verbreitet ist. Das Kartenlegen, das nicht bloß von Frauen, sondern auch von Männern betrieben wird, soll selbst in Berlin noch ein sehr lukratives Geschäft sein. Es gibt in Berlin eine Anzahl Kartenlegerinnen, bei denen der Andrang so groß ist, daß sie elegante geräumige Wohnungen mit zwei großen Empfangszimmern haben. Eine elegant gekleidete „Empfangsdame“ mit weltstädtischen Manieren macht die Honneurs. Diese Dame sortiert die Eintretenden mit Kennerblick nach ihrer Zahlungsfähigkeit, da ein Empfangszimmer für die Wohlhabenden, ein zweites für die Minderbemittelten bestimmt ist. „Sind Sie angemeldet und zu welcher Zeit?“ fragt die Empfangsdame die Eintretenden. Wenn diese Frage von einer Dame oder Herrn, die als minder zahlungsfähig erscheinen, verneint wird, dann erhalten sie gewöhnlich zur Antwort: „Sie werden alsdann dann sehr lange warten müssen, wenn Sie es nicht vorziehen, sich für einen späteren Tag anzumelden.“

Es soll in Berlin Kartenlegerinnen geben, die nicht nur ein großes Haus führen, die auch ihre Söhne das Gymnasium besuchen, studieren und als Einjährig-Freiwillige dienen lassen. Der Sohn einer dieser Berliner „Sibyllen“ soll an der Berliner Börse vereideter Makler sein. Solange sich der Hokuspokus auf das Kartenlegen beschränkt, ist er verhältnismäßig harmlos, so bedauerlich es auch ist, daß im zwanzigsten Jahrhundert weite Volkskreise noch so tief im Aberglauben stecken. Oftmals haben aber auch „harmlose Kartenlegerinnen“ junge Frauen und Mädchen durch ihre Sehergabe in den Tod getrieben, weil aus den Karten die Untreue des Gatten oder Bräutigams zu ersehen war. Weniger harmlos ist es, wenn einer armen Frau der Rat erteilt wird: sie müsse, wenn sie haben wolle, daß ihr erkranktes Kind oder erkrankter Gatte wieder genesen solle, ein Bett verbrennen, oder der „Sibylle“ eine größere Summe Geldes opfern. Vor kurzer Zeit hatte sich eine Sibylle in Berlin von einer armen Frau dreihundert Mark geben lassen, da sich alsdann die Untreue des Mannes wieder in glühende Liebe verwandeln werde. Daß armen Näherinnen, Dienstmädchen und ähnlichen Proletarierinnen ihre sauer erworbenen Spargroschen abgeschwindelt werden, da sie nur durch Erlegung einer größeren Geldsumme summe sich die Liebe und ewige Treue ihres Bräutigams erhalten können, ist allbekannt.

Vor noch nicht langer Zeit sprach bei einem Dienstmädchen in einer kleinen Stadt in Deutsch-Böhmen eine Zigeunerin vor. Das liebedurstige Mädchen ließ sich von der klugen Frau sogleich die Karten legen und auch aus den Handlinien die Zukunft prophezeien. Die Zigeunerin sagte dem Mädchen: Es sei ihr ein Graf als Gatte beschieden. Das Mädchen müsse ihr aber sechshundert Kronen in Gold geben. Dieses Geld werde sie (die Zigeunerin) in einen Beutel einhüllen und einen Talisman um den Beutel wickeln und endlich einen Laubfrosch in das Bierglas setzen. Alsdann werde sie die Zauberformel sprechen. Daraufhin müsse das Mädchen das Bierglas an einem verborgenen Ort aufbewahren und strengstes Stillschweigen beobachten. Nach vierzehn Tagen werde aus dem Laubfrosch ein

engelschöner junger Graf

entstehen und das Mädchen nach seinem feenhaften Schloß als Gattin heimführen. Für diese Prozedur sollte das Mädchen der Zigeunerin drei Kronen zahlen.

Sechshundert Goldkronen betrugen die Ersparnisse des Mädchens. Diese holte es und noch drei Kronen eiligst herbei. Die Zigeunerin hatte im Handumdrehen den Hokuspokus vollendet. Nachdem sie dem abergläubischen gläubischen Mädchen nochmals eingeschärft hatte, das Bierglas an einem ganz verborgenen Ort aufzubewahren, niemandem etwas von der Angelegenheit mitzuteilen und erst nach Ablauf von vollen vierzehn Tagen das Glas zu öffnen, verabschiedete sie sich. Das einfällige Mädchen sah sich schon im Geiste als Gattin an der Seite eines engelschönen, jungen Grafen in einem feenhaften Grafenschlosse, das von Wäldern umgeben, von Seen durchrauscht war. Nachdem vierzehn Tage vergangen, begab sich das Mädchen herzklopfend an den verborgenen Ort, an dem es das Bierglas aufbewahrt hatte. Allein zur großen Betrübnis des Mädchens hatte sich der Laubfrosch noch immer nicht in einen jungen Grafen verwandelt. Das Mädchen wartete nochmals vierzehn Tage. Als aber auch nach dieser Zeit die heißersehnte Verwandlung nicht eingetreten war, stiegen dem Mädchen doch Bedenken auf. Es öffnete das Glas und gewahrte zu seinem Schreck, daß in dem Beutel anstatt der sechshundert Kronen eine Anzahl – Bleiknöpfe enthalten waren. Das Mädchen lief mit dem Bierglas zur Polizei. Die Polizeibeamten konnten sich des lauten Lachens nicht enthalten, als ihnen das Mädchen die Geschichte erzählte und laut jammerte, daß der Laubfrosch sich nicht in einen jungen Grafen verwandeln wolle. Es gelang nach einiger Zeit, die betrügerische Zigeunerin festzunehmen. Die sechshundert Kronen waren jedoch für immer verschwunden. Als das Mädchen, laut weinend, im Gerichtssaal als Zeugin erschien, suchte es die Zigeunerin mit den Worten zu trösten: Die Verwandlung des Laubfrosches in einen jungen Grafen habe nur eine Verzögerung erlitten, sie werde aber sicherlich, wenn auch erst nach einiger Zeit, erfolgen. Der Staatsanwalt und die Richter konnten sich bei dieser Versicherung eines Lächelns nicht erwehren. Die Zigeunerin wurde zu zwanzig Monaten Gefängnis verurteilt.

Daß ein solcher geradezu unglaublicher Blödsinn nicht bloß in Böhmen möglich ist, davon legte folgendes Vorkommnis Zeugnis ab, das vor einigen Jahren vor den Toren Berlins passierte. Wir stecken eben leider noch mit einem Fuß im Aberglauben des Mittelalters. Wenn heute ein Mann wie Johann Tetzel Ablaßbriefe verkaufte, dann würde er selbst in Berlin, und zwar bei den Angehörigen aller Konfessionen zahlreiche Abnahme finden.

Im Potsdamer Forst fließt, von dichtem Wald umgeben, ein kleiner Bach, genannt

der Teufelssee.

Obwohl in dieser idyllischen Gegend sich ein Försterhaus befindet, so liegt doch das Gewässer etwas abseits, so daß nur wenige Spaziergänger ihre Schritte in diese Gegend lenken. Anfangs April 1900 wurde am Ufer des Teufelssees eine weibliche Leiche gefunden. den. Der Leichnam war zum Teil schon in Verwesung übergegangen. Offenbar hatten Füchse bereits den Leichnam angefressen, denn es fehlten die Ohrmuscheln und die Finger der linken Hand. Man glaubte, die Verstorbene habe Selbstmord begangen. Sehr bald wurde jedoch festgestellt, daß die Verstorbene, ein Fräulein Luise Bergner aus Berlin, einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Fräulein Bergner war Schneiderin. Sie war 32 Jahre alt. Sie wohnte in Berlin in der Reichenbergerstraße 177 im Hinterhause. Sie war ungemein fleißig und lebte vollständig zurückgezogen. Nur hin und wieder ging sie zu einer in der Naunynstraße wohnenden Kartenlegerin. Dort lernte sie den 23jährigen Töpfergesellen Eugen Jänicke kennen. Dieser betrieb auch das einträgliche Gewerbe des Kartenlegens. Er redete der abergläubischen Bergner vor: Seine Sehergabe beschränke sich nicht aufs Kartenlegen. Er sei auch Zauberer. Es sei ihm ein leichtes, mittels Zauberformel eine halbe Million Gold ihr zu Füßen zu zaubern. Er habe auch ein untrügliches System, durch dessen Anwendung große Lotteriegewinne sich aus dem Glücksrade hervorzaubern lassen. Er verstehe es auch, glühende Liebe herbeizuzaubern, wo bisher starke Abneigung vorhanden war. Fräulein Bergner versuchte es zunächst mit dem Zauber des Lotteriegewinns. Allein, trotz großer Geldaufwendung versagte dieser Zauber. Trotzdem ließ sich Fräulein Bergner bewegen, am Morgen des 21. März 1900 mit Jänicke nach dem Teufelssee zu fahren. Jänicke nahm sich seinen zehnjährigen Pflegesohn, namens Bruno Misch, mit. Als sie alle drei in die Nähe des Teufelssees angelangt waren, verschwand Jänicke plötzlich in einem Waldesdickicht. Sehr bald erschien er in einer Mönchskutte und einer Larve angetan, mit einem Zauberbuch in der Hand. Er sprach laut einige Zauberformeln und breitete segnend die Hände über Fräulein Bergner aus. Alsdann gab er ihr ein weißliches Pulver mit dem Bemerken: Sie werde, sobald sie das Pulver verschluckt habe, in einen tiefen Schlaf verfallen. Nach einigen Stunden werde sie aufwachen. Alsdann werden Engel um sie herumtanzen und ein Berg von Gold werde zu ihren Füßen liegen.

Fräulein Bergner nahm das Pulver. Kaum war sie darauf wenige Schritte gegangen, da fiel sie, laut stöhnend, zur Erde. Sie geriet in konvulsivische Zuckungen und war nach wenigen Minuten tot. Jänicke nahm der Leiche das Geld, Wertsachen und die Wohnungsschlüssel ab und fuhr mit seinem Pflegesohn nach Berlin zurück. Er begab sich sogleich in die Wohnung der Bergner und stahl dort alles, was nicht niet-und nagelfest war. Hausbewohnern sagte er auf deren Befragen, er sei von Fräulein Bergner beauftragt, Arbeit fortzutragen. Der Kriminalpolizei gelang es sehr bald, festzustellen, daß Jänicke der Mörder der Bergner sei. Jänicke wurde verhaftet und die

Anklage wegen Mordes und Raubes

gegen ihn erhoben. Am 22. und 23. Juni 1900 hatte er sich vor dem Schwurgericht in Potsdam zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsrat Rademacher. Die Anklage vertrat Erster Staatsanwalt Dr. v. Ditfurth. Die Verteidigung führte in Vertretung des Justizrats Aßmy Gerichtsassessor Dr. Baum. Es war erklärlich, daß der Andrang des Publikums zu dieser eigenartigen Verhandlung ungeheuer war. Jänicke, ein schlank gewachsener junger Mann mit etwas melancholischem Gesichtsausdruck, gab auf Befragen des Vorsitzenden an:

Er sei am 2. September 1876 zu Nowawes, wo seine Eltern noch leben, geboren. Er war früher Töpfer und habe sich zuletzt als Arbeiter ernährt. Er sei evangelischer Religion, nicht Soldat gewesen, verheiratete und einmal wegen Diebstahls mit sieben Tagen, einmal wegen Körperverletzung, mit einem Tage Gefängnis bestraft.

Der Vorsitzende stellte jedoch fest, daß der Angeklagte außerdem im Jahre 1895 zu Potsdam wegen Diebstahls an einem Bett mit einer Woche, in Hamburg 1897 wegen Diebstahls an zwei Jacketts, in demselben Jahre wegen Bodendiebstahls mit sechs Monaten, außerdem wegen Körperverletzung mit einem Tag Gefängnis bestraft war.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte der Angeklagte weiter: Er sei seit Juli 1899 verheiratet; seit dem 1. Oktober 1899 versehe er in Berlin eine Portierstelle, wofür er freie Wohnung und drei Mark wöchentlich erhalte. Daneben arbeitete er von Weihnachten bis Februar in der Gewehrfabrik von Ludwig Löwe, bis seine Frau krank wurde.

Vors.: Sie haben Annoncen erlassen, wonach Sie sich zum Kartenlegen erbieten. Konnten Sie denn Karten legen?

Angekl.: Jawohl! Ich lege Karten und sage aus dem Ei wahr.

Vors.: Wie machen Sie denn das?

Angekl.: Ich schlage das Ei ins Wasser.

Vors.: Wann haben Sie die Luise Bergner kennengelernt?

Angekl.: Ich lernte sie im Februar kennen. Sie wollte Karten gelegt haben, das tat ich.

Vors.: Was haben Sie ihr denn prophezeit?

Angekl.: Aus den Karten war zu sehen, daß sie bald neue Arbeit erhalten werde, und das ist auch eingetroffen.

Vors.: Hat Fräulein Bergner Ihnen Geld bezahlt?

Angekl.: Jawohl. Sie hat mir nachher mehr bezahlt, weil sie von mir Aufschlüsse über die Kartenlegerin Frau Cordus haben wollte, mit welcher sie Lotterie spielte.

Vors.: Sie haben ja wohl dann selbst mit der Bergner Lotterie spielen sollen. Wie kam das?

Angekl.: Weil ich aus ihrer Hand und aus den Karten ersah, daß sie Glück habe.

Vors.: Sie hat Ihnen 40 Mark für ein Los der preußischen Lotterie gezahlt. Das Geld haben Sie aber für sich verwendet?

Angekl.: Ja.

Vors.: Glaubten Sie denn mit der Bergner zu gewinnen?

Angekl.: Ja, ich habe mit ihr Aachener Lotterie gespielt und ein Sympathiemittel zum Gewinnen angewendet.

Vors.: Was ist denn das für ein Mittel?

Angekl.: Die Lose müssen Dämpfen aus Stechapfelblättern, Myrrhen und Weihrauch ausgesetzt werden.

Vors.: Wer hat Ihnen denn zu diesen Narrenspossen geraten?

Angekl.: Ich kenne dieses Mittel schon von früher.

Vors.: Das Räuchern half aber nichts?

Angekl.: Nein. Später kam die Bergner öfter zu mir und ich zu ihr.

Vors.: Sie haben ihr dann noch ein Sympathiemittel angegeben unter der Vorspiegelung, daß sie daraus ersehen könne, ob Frau Cordus gegen sie etwas unternehmen nehmen würde. Was war das nun wieder?

Angekl.: Sie sollte sich vor den Spiegel stellen und Schwefel und Weinspiritus anzünden. Wenn sie dann etwas im Spiegel sehen würde, könnte sie annehmen, daß Frau Cordus gegen sie etwas vornehmen werde.

Vors.: Sie hatten wohl mit Ihrer Wahrsagerei überhaupt viel zu tun?

Angekl.: Ja, sehr viel, ich hatte den ganzen Tag zu tun, von morgens früh bis abends spät. Die Herrschaften bezahlten, ohne daß ich etwas forderte.

Aus mehreren hierauf zur Verlesung gelangten Briefen, die am Kopfe ein mystisches Sympathiezeichen trugen, ging hervor, daß der Angeklagte der Bergner die tollsten Sachen einzureden verstand. In einem Briefe vom 6. März sagte er, es tue ihm sehr leid, ihr mitteilen zu müssen, daß er Frau Cordus noch nicht aufgefunden habe. Er glaube, man werde schweren Stand mit der Frau haben; er bitte um ihren (der Bergner) Besuch.

Ein Brief der Bergner an den Angeklagten sprach unter anderem davon, daß sie mit der „Flamme“ keine große Mühe gehabt habe. In einem Briefe vom 9. März bat Jänicke um Geld. „Er brauche es wirklich dringend. Wenn sie morgen zu ihm komme, dann solle sie seiner Frau nichts sagen und nichts von den Geschäften sprechen, sonst gelinge es nicht, man müsse zu jedem Dritten stillschweigen, das sei Bedingung.“ gung.“ Er verlangte 16 Mark und 4 Mark für seine Auslagen.

Darauf muß Fräulein Bergner wohl mißtrauisch gegen die angebliche Zauberei des Angeklagten geworden sein, dafür sprach ein Antwortbrief des letzteren, in welchem er sehr unangenehm wurde. Jänicke schrieb: Was sie eigentlich von ihm denke, sie habe ihn außerordentlich gekränkt; wenn sie nicht Abbitte leiste, dann wolle er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er gebe ihr zu erwägen, was sie tun wolle. Er sei imstande, sie wohlhabend zu machen und überlasse ihr nun, was sie unternehmen wolle. Entweder vertraue sie ihm und schicke ihm das, was er brauche, oder aber sie rechne auf, was sie ihm bis dahin gegeben, und ihre Verbindung sei abgebrochen.

Der Angeklagte erklärte, daß er nur deshalb zornig auf Fräulein Bergner gewesen sei, weil sie ihm gesagt habe, die Cordus scheine doch besser zaubern zu können als er.

In einem ferneren Briefe teilte er der Bergner mit, daß er ihr ein Serienlos vom Zigeunerhauptmann Petermann verschaffen könne. Sie solle ihm 60 Mark schicken und könne sicher sein, daß sie mindestens 10000 Mark darauf gewinnen würde. Davon beanspruche er ein Drittel und ein Drittel der Mann, der das Glücksrad drehe. Diesem müsse er doch als Handgeld auch die 60 Mark zahlen.

Es lag dann auch noch ein letzter Brief von der Hand der Bergner vor, in welchem sie schrieb, sie werde kommen und 40 Mark mitbringen.

Vors.: Nun kommen wir zu dem kritischen Tage, an welchem Sie den Hokuspokus am Teufelssee ausführten. Sie sagen, Sie haben ein Zauberbuch gelesen, in welchem von Pygmäen die Rede war. Wissen Sie denn, was Pygmäen sind?

Angekl.: Zwerge. Ich habe solche Zwerge selbst am Teufelssee gesehen.

Vors.: Sie haben wirklich Zwerge am Teufelssee gesehen?

Angekl.: Ganz bestimmt, Herr Präsident.

Vors.: Sie haben nun mit dem Hausdiener Just und der Bergner die Fahrt nach dem Teufelssee und die Beschwörung besprochen. Just hat wohl schon öfter Beschwörungen mit Ihnen vorgenommen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Was wollten Sie denn durch Jene Beschwörung erzielen?

Angekl.: Die Bergner sollte viel Geld gewinnen, und andererseits sollte sie zur Liebe für Just bewogen werden.

Vors.: Die Bergner hatte einen hohen Grad von Gläubigkeit Ihnen gegenüber bewiesen, Just scheint darin noch weiter gegangen zu sein.

Angekl.: Just hat oft meinen Beschwörungen beigewohnt. wohnt.

Vors.: Sie haben also alle drei den Plan verabredet und sind wohl auf den Teufelssee gekommen, weil sie diesen rings von Bergen umgebenen, düsteren See kannten. Wann wollen Sie denn die Zwerge gesehen haben?

Angekl.: Schon als Junge.

Vors.: Haben Sie denn niemals von Ihren wunderbaren Erlebnissen jemandem etwas erzählt?

Angekl.: Nein.

Vors.: Kamen denn die Zwerge aus der Luft oder aus dem Wasser oder woher? Was machten sie denn?

Angekl.: Sie spielten umher.

Vors.: Wollen Sie uns wirklich solche törichten Dinge glauben machen? Sollten die Zwerge Ihnen nun das Geld ohne weiteres durch die Beschwörung schaffen?

Angekl.: Die Geister sollten das rohe Gold uns zu Füßen legen.

Vors.: Weshalb ist denn der kleine Misch mit bei der Partie gewesen? Bruno Misch war Ihnen von seinem Vater in Pflege gegeben worden?

Angekl.: Ja. Bruno Misch hat öfter solche Beschwörungen mitgemacht und wollte gern auch am Teufelssee dabei sein.

Auf weiteres Befragen erzählte der Angeklagte: Nach Verabredung sei er mit der Bergner und dem Bruno Misch – Just sei nicht erschienen – am 21. März, 6 Uhr morgens von Berlin mit der Wannseebahn weggefahren und sei um 7 Uhr in Potsdam angekommen. Sie seien am Observatorium vorbei die Telegraphenstangen entlang gegangen nach dem kleinen Ravensberge. Dort am kleinen Turm sei eine Einleitungsbeschwörung vorgenommen worden. Er habe den mitgenommenen Mantel ausgebreitet, mit einem großen, dem Just gehörigen Zaubermesser einen Kreis gezogen und die Bergner dort hinein treten lassen. Er habe sich eine Maske vorgebunden und habe Zauberformeln gesprochen.

Vors.: Sie hatten zwei Flaschen mitgenommen. Was enthielten diese?

Angekl.: Die eine enthielt Strychnin, die andere Blausäure, daraus sollte eine Mixtur gebraut werden, welche die Bergner trinken sollte.

Vors.: Aber konnten Sie als Mensch mit gesunden Sinnen sich denn nicht sagen, daß eine solche Mixtur tödlich sein müsse?

Angekl.: An der Flasche mit Blausäure sollte die Bergner bloß riechen, die Schädlichkeit des Strychnins sollte durch die Blüte von Heidekraut, Fichtennadeln und Harz gemildert werden.

Vors.: Was sollte denn das Riechen an der Blausäure bezwecken?

Angekl.: Das sollte die Sinne anregen.

Vors.: Haben Sie denn derartige Beschwörungen mit Blausäure schon öfter vorgenommen?

Angekl.: Nein, zum ersten Male.

Vors.: Wie kamen Sie dazu?

Angekl.: Weil wir es so verabredet hatten.

Vors.: Haben Sie denn der Bergner gesagt, daß sie Strychnin schlucken sollte?

Angekl.: Jawohl, sie hat es gewußt.

Vors.: Wußte sie überhaupt, was Strychnin ist?

Angekl.: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sie behaupten, daß Sie die Beschwörung, so wie Sie sie ausgeführt haben, in einem Zauberbuch „Kabale und Liebe oder Dr. Fausts Zaubertrank“ gelesen haben?

Angekl.: Das ist richtig. Ich habe aber auch schon vorher mehrfach mit Giften Zaubereien betrieben.

Vors.: Nennen Sie uns doch einmal einen solchen Fall.

Angekl.: Ich habe einmal einer Frau, die wegen Untreue ihres Mannes zu mir kam, Arsenik gegeben; das hat sie auf Schokolade gesprenkelt, und die Schokolade hat ihr Mann gegessen.

Vors.: Hat das Mittel denn geholfen?

Angekl.: Jawohl!

Vors.: Sie behaupten, daß Sie am Teufelssee einen Zauberspruch abgelesen, den Sie aus Zauberbüchern zusammengestellt haben. Hier liegt vor uns eine Anzahl zahl von Büchern, die bei Just gefunden worden sind und seltsame Titel tragen, wie „Höllenzwang“, „Das 6. und 7. Buch Mosis“, „Zaubersalon von Bellachini“, „Ludwig von Cyprian, des Weltweisen Höllenzwang“, „Faustae Höllenzwang von Dr. Joh. Faust“, „Vollständige Sammlung gedruckter und ungedruckter Geheimmittel“.

Über die weiteren Vorkommnisse am Teufelssee erzählte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Am See angelangt, habe er einen großen Mantel an einem großen Baum ausgebreitet, und man habe sich, ohne ein Wort zu sagen, gesetzt. Die Bergner habe ihr Portemonnaie weglegen müssen, da man bei dem Zauber Papier und Geld nicht bei sich tragen dürfe. Dann habe er mit dem Zaubermesser einen Kreis gezogen, und Misch mußte in einer Schale aus dem See Wasser holen. Er und die Bergner tranken das Wasser fast aus, gewissermaßen um sich innerlich zu reinigen. Mit dem Rest des Wassers besprengte er den Kreis. Dann mußte der kleine Misch nochmals Wasser holen. Er mischte die Zaubermixtur in die Schale. Die Bergner mußte dreimal die vorgeschriebene Beschwörungsformel sprechen und dann die Schale in drei Absätzen leeren. Dann ging man in den Wald hinaus. Nach etwa siebzehn Schritten fiel Fräulein Bergner auf das Gesicht. Er habe sie umgedreht, ihre Taille aufgemacht und sie angerufen, ohne daß sie noch ein Lebenszeichen von sich gab. Er habe sich alsdann ihr Portemonnaie, ihre Schlüssel und einen Talisman, den sie um den Hals trug, angeeignet. Letzteren habe er wieder weggeworfen, als er sah, daß es wertloses Papier war. Dann habe er die Schale, die Kutte und die Larve weggeworfen und sei, ohne sich um die am Boden liegende Bergner weiter zu bekümmern, mit dem kleinen Misch schleunigst nach Berlin gefahren.

Vors.: So schlug Ihnen das Gewissen! Und in Ihrer unendlichen Geldgier sind Sie in Berlin sofort in die Wohnung der Bergner geeilt, haben diese mit dem in Ihrem Besitz befindlichen Schlüssel geöffnet und dort nach Herzenslust geplündert?

Angekl.: Der kleine Misch, welcher in meinem Auftrage tags vorher bei der Bergner gewesen war, hatte mir erzählt, daß in der Küche noch viel Geld liege, und da dachte ich, es wäre doch schade darum, wenn ich das Geld liegen lasse.

Vors.: Von der Beschwörung war bei Ihnen nun nichts mehr zurückgeblieben. Sie dachten jetzt nur noch an sehr Reales: an Geld und Geldeswert. Sie holten sich das Geld aus der Küche der Bergner, nahmen die Stoffe, aus denen Röcke angefertigt werden sollten, in einem großen Bündel an sich, stahlen ferner einen Pfandschein, auf den die Bergner einmal einen Regulator versetzt hatte, und versetzten diese Sachen schleunigst bei einem Pfandleiher.

Darauf kam Just, dem Sie vorgeredet hatten, daß bei ihm eine Beschwörung mit einer weißen Taube stattfinden müsse, um die Bergner in ihn verliebt zu machen. Was haben Sie Just gesagt?

Angekl.: Ich sagte ihm, ich sei mit der Beschwörung am Teufelssee nicht sehr zufrieden. Just konnte an diesem Tage nicht mit hinausfahren, und so sollte die Beschwörung mit der weißen Taube am nächsten Tage vor sich gehen.

Vors.: Wollten Sie nicht etwa den Just auch beiseite bringen, da er Ihnen ein unbequemer Zeuge sein konnte?

Angekl.: Nein.

Vors.: Hatten Sie nicht etwa auch wieder eine Flasche Blausäure oder Strychnin bei sich?

Angekl.: Nein.

Vors.: Na, in die Tasche konnte Ihnen niemand sehen. Sie sind nun mit Just ganz dicht in die Nähe des Ortes gekommen, wo Ihre Beschwörung mißlang. Haben Sie den geringsten Versuch gemacht, sich nach dem Schicksal der armen Bergner zu erkundigen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Wohl aber haben Sie den Mut gehabt, jetzt noch den Hokuspokus mit Just vorzunehmen, der Ihnen wahrscheinlich sehr unbequem werden konnte. Wollten Sie denn wirklich eine Beschwörung mit der Taube vornehmen?

Angekl.: Jawohl. Die Taube sollte geopfert werden.

Vors.: Was wurde denn aus der Taube?

Angekl.: Die hat Just aus Versehen fliegen lassen, und dann sind wir nach Hause gefahren.

Vors.: Sie haben dem Just über das Schicksal der Bergner alles mögliche vorgeschwindelt und ihm aufgebunden: der Geist sei zornig geworden und habe die Bergner in einer Flamme davongetragen.

Angekl.: Jawohl.

Der Angeklagte gab auf weiteres Befragen des Vorsitzenden zu: daß er beim Verlassen der Bergnerschen Wohnung den Verdacht der dort wohnenden Frau Beck und des Hauswirts erregt hatte, daß Frau Beck ihn eines Tages begleitete, er aber auf dem Wege ihr entwischte, und daß er dann schleunigst von Berlin nach Dalmin zu seinen Eltern abgereist sei.

Der Vorsitzende stellte fest, daß der Angeklagte sich mit dem Gedanken getragen habe, in Kopenhagen, Christiania oder in der Schweiz Arbeit zu suchen, und daß er durch einen schlauen Coup, nämlich einen nach Berlin geschickten, angeblich von seiner Frau herrührenden, aber von ihm selbst geschriebenen Brief versucht habe, falsche Gerüchte über seinen Verbleib zu verbreiten. Der Angeklagte blieb dabei, daß er die Beschwörungsformel aus einem von Just erhaltenen Buche entnommen habe. Bei seiner Abreise se von Berlin hatte er das Pflegekind Misch und außerdem noch ein zweites (Säuglings-) Pflegekind mitgenommen.

Auf Befragen des Vorsitzenden bezeichnete der Angeklagte ein bestimmtes Buch, aus welchem er die Beschwörungsformel entnommen habe. Diese zur Verlesung gebrachte Formel war eine Zusammenstellung des unglaublichsten Unsinns. Als Rezept zur Herstellung des Steins der Weisen wurde angegeben: „Nimm einen ganz neuen irdenen Topf, mische hinein Scheidewasser und lasse es eine halbe Stunde kochen, dann drei Unzen Grünspan und 2 1/2 Unzen Arsenik. Koche es eine halbe Stunde auf, 3 Unzen Eichenrinde und 1 Pack Rosenwasser. Lasse es wieder eine Viertelstunde kochen, ferner 3 Unzen Rauchschwarz und stecke in die Mixtur einen Nagel. Wenn er rostet, dann ist es gut, dann gibt es 1 1/2 Pfund Gold.“

Der Verteidiger teilte unter Vorbehalt eines Antrages mit, daß dem Universitätsprofessor Dr. Levin ein Fall aus dem Mittelalter bekannt sei, daß zu einem Zaubertrank strychninhaltige Krähenaugen verwendet worden seien. Zwischen den mittelalterlichen und den heutigen Zauberbüchern bestehe eine Kontinuität.

Der Angeklagte erklärte auf eine Frage des Vorsitzenden, daß Kartenlegen, Sympathiemittel und derartige Weisheiten in seiner Familie erblich seien.

Kreisphysikus Sanitätsrat Dr. Passauer und Dr. med. Schlichtling gaben Auskunft über den Befund der Leiche bei ihrer Auffindung. Die Obduktion hatte einen besonderen Anhalt für eine Vergiftung nicht gegeben; als Todesursache war Erfrieren angenommen. Dr. Passauer hatte auch den Angeklagten, der angab, wiederholt an epileptischen Anfällen zu leiden, auf seinen Geisteszustand untersucht, aber keine Spur einer ernsteren Störung feststellen können. Eine längere Beobachtung des Geisteszustandes hielt Dr. Passauer nicht für geboten.

Der Verteidiger hielt es, angesichts der ganzen Sachlage und mit Rücksicht auf die von dem Angeklagten behaupteten Anfälle, für geboten, noch einen Psychiater mit einer längeren Beobachtung des Angeklagten zu betrauen.

Vors.: Jänicke, trauen Sie sich denn selbst einen unklaren Verstand zu?

Angekl.: Weiter nicht, als daß ich die Geister gesehen habe.

Der als Zeuge vernommene Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Gillischewski bekundete, daß er während der ganzen Dauer der Voruntersuchung keinerlei Bedenken bezüglich der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten gehabt habe. Der Verteidiger stellte den bestimmten Antrag auf psychiatrische Untersuchung des Angeklagten. Der Gerichtshof behielt sich die Beschlußfassung über den Antrag bis nach Schluß der Beweisaufnahme vor.

Gerichtschemiker Dr. Bischof (Berlin) gab eine Darstellung von der Methode, wie er in der Leiche nach ihrer Exhumierung Strychnin in solcher Menge gefunden habe, daß schon die Hälfte des Quantums tödlich wirken mußte. Er hielt es für möglich, daß nicht das erste Hinfallen der Bergner ihren Tod bedeutet habe, sondern daß dieser erst nach 10 bis 15 Minuten eingetreten sein dürfte. Die von ihm gleichfalls untersuchte Schale hatte ebenfalls Spuren von Strychnin ergeben, aber keine Spuren anderer Zutaten, wie Heidekrautblüten, Fichtennadeln usw.

Als erster Zeuge wurde der zehnjährige Bruno Misch, der bei Jänicke in Pflege war, vernommen. Der Knabe, der ein ziemlich intelligentes Äußere hatte, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei mehrfach vom Angeklagten zur Bergner geschickt worden, um Geld zu holen, er habe auch solches bekommen. Er sei auch einmal mit bei Just gewesen und habe gesehen, daß dort mit einer Flüssigkeit, die aus einer Flasche gegossen wurde, geräuchert worden sei. Als Jänicke die Partie nach dem Teufelssee machte, habe Frau Jänicke ihn (den Jungen) mitgeschickt, damit dem Angeklagten nichts passiere. Von der „Vorbeschwörung“ am Teufelssee wisse er nichts. Bei der richtigen Beschwörung habe Jänicke die Kutte und die Maske angelegt, und als er in die kleine, ne, mit Wasser gefüllte Schale das weiße Pulver hineinstreute, habe er sich erst nach der Bergner umgesehen, damit diese nichts sähe. Jänicke habe dann die Schale der Bergner gereicht und gesagt, sie solle aber auch alles austrinken und keinen Tropfen darin lassen. Sie tat es; sie mußte die Schale über ihren Rücken werfen und ihm folgen. Nach etwa fünfzehn Schritten sei die Bergner niedergestürzt. Jänicke habe gesagt, sie werde wohl ein Gespenst gesehen haben. Jänicke habe ihr etwas vom Halse abgebunden, was schwarz aussah und aus Zeug bestand, und habe es weggeworfen, indem er sagte, davon sei sie gewiß ohnmächtig geworden. Sie seien alsdann beide von der Bergner weggelaufen und nach Berlin gefahren. Unterwegs habe ihn Jänicke gefragt, ob die Bergner Geld habe, und wo es liege. Sie seien dann sofort in die Bergnersche Wohnung gegangen. Jänicke habe das Geld genommen; er (der kleine Zeuge) habe ihm beim Wegschaffen der Sachen nach der Pfandleihe, wo Jänicke etwa 28 Mark erhielt, geholfen. Er sei von Jänicke aufgefordert worden, nichts von dem Vorgefallenen zu sagen, sonst käme er auch ins Gefängnis. Er habe 1,05 Mark von dem Angeklagten erhalten. Aus Furcht habe er bei seiner ersten Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter nicht gleich die Wahrheit gesagt.

Diener Hermann Just, augenblicklich außer Stellung, lung, bekundete: Er habe Jänicke im Februar infolge einer Annonce kennengelernt, in welcher er sich als „Zigeuner Jänicke“ zum Kartenlegen und Eideuten anpries. Er glaubte, ein Mittel zu erhalten, um Frauen und Mädchen Liebe zu sich einzuflößen. Der Angeklagte sagte, daß er das machen könne, und gab ihm ein rötliches Pulver, womit er einen Brief schreiben und den Brief einen Tag liegen lassen sollte. Außerdem sollte er eine Blume in eine rötliche Flüssigkeit stecken und trocknen lassen und sie in den Brief legen. Er habe 5 oder 6 Mark dafür bezahlt.

Vors.: Haben Sie das Mittel auch probiert?

Zeuge: Ja, mit einem Mädchen in der Perleberger Straße, es hat aber nichts genutzt. (Heiterkeit.)

Vors.: Was geschah nun, als das Mittel versagte?

Zeuge: Dann gab mir Jänicke ein Pulver, welches nach Naphthalin roch, und das ich auf die Treppenstufen streuen sollte.

Vors.: Haben Sie es auch getan?

Zeuge: Jawohl, mit einer älteren reichen Dame, aber es hat nicht gewirkt. (Heiterkeit.)

Vors.: Was geschah dann?

Zeuge: Jänicke sagte, dann müssen wir die Geister beschwören, wenn ich Mut habe. Er räucherte mit einer Flüssigkeit, ich mußte „Mephisto“ sagen, aber der Geist kam nicht.

Vors.: Warum denn nicht?

Zeuge: Er sagte, ich müßte den Geist erzürnt haben, und es müsse nochmals versucht werden. Ich mußte mit Blut einen Zettel schreiben, der etwa folgenden Wortlaut hatte: „Lieber Geist, ich wünsche von Dir, daß Frau Friederike v.B. von dieser Stunde an bis ans Ende mich liebt über alles und alle meine Wünsche sofort erfüllt. Sie soll für mich sorgen und mir sofort aus Liebe zu mir 150 Mark schenken. Später sollen Frau H. und Frau G. mich lieben mit der ganzen Glut ihres Herzens. Diese drei Weiber sollen keinen anderen lieben als mich allein. Lieber Geist, wenn du es machst, daß alle diese Weiber ohne mich keine Ruhe haben, so will ich dir ewig dienstbar sein.“

Vors.: Nun, konnten Sie sich denn nicht selbst sagen, daß ein so unglaublicher Unsinn Ihnen nicht helfen konnte?

Zeuge: Geholfen hat’s ja allerdings nicht. (Heiterkeit.)

Der Zeuge erzählte auf weiteres Befragen des Vorsitzenden, daß Jänicke ihm alsdann gesagt habe, es müsse der Geist zunächst versöhnt werden.

Vors.: Haben Sie dem Jänicke nochmals Geld gegeben?

Zeuge: 15 Mark.

Vors.: Haben Sie für den Angeklagten einmal Blausäure und Strychnin besorgt?

Zeuge: Jawohl, die Blausäure für den Hund und das Strychnin für Mäuse. Wenn der Angeklagte seine Beschwörungen vornahm, murmelte er immer unverständliche Worte. Einmal sagte er, er habe den Geist in Gestalt einer schwarzen Katze mit großem Schwanz auf meiner Schulter gesehen, ich habe aber nichts davon gemerkt. (Heiterkeit.)

Vors.: Ist Ihnen noch nicht klar geworden, daß Sie das Opfer eines unglaublichen Schwindels geworden waren?

Zeuge: Ich war in Jänickes Bann.

Der Zeuge bekundete ferner auf Befragen: Der Angeklagte habe ihm in Aussicht gestellt, daß er mit Hilfe der Zwerge am Teufelssee den Geist versöhnen und bare 150 Mark erlangen könnte. Er habe sich infolgedessen mit dem Angeklagten auf den Weg gemacht. In Nowawes habe er eine weiße Taube gekauft. Darauf seien sie beide nach dem Teufelssee gegangen. Dort umschritten sie den See. Jänicke kniete nieder, murmelte einige unverständliche Worte und befahl ihm, die Taube fliegen zu lassen. Nachdem das geschehen war, sagte Jänicke: „Sie haben nun erreicht, wonach sich Tausende sehnen.“ Der Geist sei aber nicht erschienen. Als er Jänicke deshalb befragte, versetzte dieser: Desto besser; wäre der Geist erschienen, dann wäre es Ihnen ebenso wie der Bergner ergangen. Er (Zeuge) habe dem Angeklagten am 16. März Gift besorgt. Jänicke habe aber nicht gesagt, daß jemand das Gift bei der Beschwörung einnehmen solle.

Kriminal-Polizeiinspektor Braun (Berlin) berichtete über die von der Kriminalpolizei angestellten Recherchen nach der vermißten Bergner und über die schließliche Verhaftung des Jänicke. Die Polizei sei der Ansicht, Jänicke wollte auch Just nach dem Teufelssee führen, um diesen dort ebenfalls verschwinden zu lassen. Jänicke mag der Ansicht gewesen sein, daß, wenn beide Leichen nebeneinander liegen, man auf ein mit doppeltem Selbstmord geendetes Liebesdrama schließen werde. Er (Polizeiinspektor Braun) halte den Angeklagten keineswegs für geisteskrank, sondern für einen ganz verschmitzten Menschen, der auf die Dummheit der Menschen spekuliert habe, um möglichst viel Geld herauszuschlagen.

Kriminalkommissar Hippe: Jänicke habe bei seiner ersten Vernehmung vor dem Amtsgericht zu Perleberg alles bestritten. Auf dem Transport nach Berlin habe er schließlich zugegeben, daß die Bergner durch seine Schuld ihr Leben eingebüßt habe.

Die nächste Zeugin, Fräulein Schnelle, bekundete: Sie habe mit der Bergner in ein und demselben Hause in Berlin gewohnt und sie auch näher gekannt. Sie war ungemein solide und fleißig und lebte sehr zurückgezogen. Kurz vor Weihnachten 1899 habe sie der Bergner 124 Mark geliehen, da sie infolge Mangel an Arbeit in Not war. Sie habe der Bergner das Geld auf ihr ehrliches Gesicht geliehen; die Bergner scheine das Geld für Zauberei verwendet zu haben. Sie (Zeugin) habe sich auch von Frau Cordus die Karten legen lassen. Sie sei der Ansicht, daß sie von Frau Cordus beim Lotteriespiel „bemogelt“ worden sei.

Ein Zeuge bekundete: Jänicke schien die Absicht gehabt zu haben, die Wohnung der Bergner vollständig auszuräumen, denn er hatte bereits einen Möbelwagen bestellt.

Es erschien darauf als Zeugin

Zigeunerin Cordus:

Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei 34 Jahre alt, katholischer Konfession und wegen der Lotterielos-Affäre, die sie mit Fräulein Schnelle hatte, mit 50 M. Geldstrafe bestraft worden. Sie habe das Kartenlegen von einer alten Frau gelernt und bezeichne sich in ihren Annoncen als „Zigeunerin“. Sie glaubte hierzu eine gewisse Berechtigung zu haben, da ihre Eltern als Steinschläger 23 Jahre in der Welt herumgereist seien. Sie sei auch allgemein als „Zigeunerkind“ bezeichnet worden. Sie sei in einer Erdhöhle bei Allenstein geboren. Sie sage auch aus der Hand wahr. Sie bestreite entschieden, Jänicke zu kennen, dagegen kannte sie die Bergner sehr gut. Sie habe sich von dieser mehrfach Blusen anfertigen lassen und ihr auch oftmals die Karten gelegt, wofür Fräulein Bergner je 30 bis 50 Pfennige bezahlte. Sie bestreite die Behauptung des Angeklagten, daß sie der Bergner den Talisman, den diese um den Hals getragen, geschenkt habe. Ebenso sei es unwahr, daß sie noch einen zweiten Talisman in Gestalt einer Kokusnuß „gegen Neid und Mißgunst im Hause“ besitze.

Am zweiten Tage der Verhandlung bekundete Forstaufseher Bohm: Er habe die Leiche der Bergner am 29. März im Walde, in unmittelbarer Nähe des Teufelssees gefunden. Die Leiche befand sich in grausigem Zustande. Die Verzerrung des Gesichts ließ darauf schließen, daß die Bergner an Krämpfen gestorben sei.

Handlungsgehilfe Luck, von der Firma Schült & Kindermann, für die die Bergner gearbeitet hatte, bekundete: Die Bergner sei eine sehr fleißige, saubere Arbeiterin gewesen, die 20 bis 30 M. pro Woche verdiente. Sie hatte noch 25 Röcke zum Selbstkostenpreise von 10,50 M. per Rock in ihrer Wohnung, so daß die von dem Angeklagten gestohlene Ware einen Wert von 262,50 Mark hatte. Der Angeklagte habe diese Waren in 2 Abteilungen für zusammen 29 M. versetzt. Die Bergner habe keineswegs „gehungert“, wie sie nach Jänickes Behauptungen gesagt haben soll, sie hatte von Weihnachten bis zu der Katastrophe 216 M. Arbeitslohn verdient.

Die hierauf vernommenen Lehrer des Knaben Misch bezeichneten diesen als fleißig und wahrheitsliebend.

Frau Beck: Bei der Bergner sei einmal ein junger Mann gewesen, der mit ihr in Beziehung zu stehen schien. Auf ihre Frage habe die Bergner gesagt, es sei ein Mann aus dem Hause in der Wiener Straße, wo sie früher gewohnt habe.

Der Verteidiger beantragte, durch Vermittelung des Berliner Polizeipräsidiums jenen Mann zu ermitteln und als Zeugen vorzuladen, damit er über seine Beziehungen zur Bergner und namentlich Mitteilung machen solle, ob er auch Gelder von der Bergner erhalten habe.

Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab.

Es wurde alsdann die Frage erörtert, ob ein Buch „Kabale und Liebe von Dr. Faustulus“, aus dem der Angeklagte die Zauberformeln und die Anleitung zur Herstellung des Beschwörungsmittels entnommen haben wollte, wirklich existierte. Der Staatsanwalt hatte Nachforschungen nach dem Buch angestellt und ein negatives Ergebnis erzielt. Es war nur ein Buch „Zauber und Liebe von Dr. Faustulus“ ermittelt worden, welches aber mit ersterem nicht identisch war. Der Verteidiger betonte: Wenn man dem Angeklagten glaube, daß er nach den Angaben des Zauberbuches gehandelt habe, dann habe er sich nur einer fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Er beantrage daher, einen Herrn F.W. Regler zu Rohna bei Hirschfelde in Sachsen zu vernehmen, daß in dem Katalog einer Hamburger Buchhändler-Firma das Buch „Kabale und Liebe von Dr. Faustulus“ verzeichnet sei.

Der Verteidiger beantragte ferner einen Beweis darüber, daß in Zauberbüchern der Gebrauch starker Gifte zum Trinken empfohlen werde.

Vors.: Angeklagter, wollen Sie denn dabei bleiben, daß in dem Zauberbuche die Anwendung von Strychnin empfohlen worden ist?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: War auch das Quantum angegeben?

Angekl.: Ich glaube, eine Messerspitze voll.

Vors.: War auch Blausäure angegeben?

Angekl.: Die Blausäure sollte nur zum Riechen gegeben werden.

Vors.: Sie sind also der Meinung, solche Albernheiten haben Sie zur Verabreichung von Gift berechtigt? Halten Sie es nicht selbst für ein ganz aussichtsloses und törichtes Beginnen, noch weiter nach dem Buche zu forschen?

Angekl.: Ich habe doch von Jugend an Zauberei betrieben und auch wiederholt Arsen angewendet, ohne daß es jemandem im geringsten geschadet hätte.

Der Verteidiger beantragte, den Universitätsprofessor Dr. Lewin in Berlin, Hindersinstraße 2, zu laden. Dieser werde bekunden, daß Magier und Zauberer starke Gifte zum Trinken einzugeben pflegen.

Vors.: Ist es denn denkbar, daß Professor Lewin so etwas bekunden wird?

Vert.: Professor Lewin wird speziell bekunden, daß sogenannte Krähenaugen für solche Zwecke verwendet werden.

Vors.: In welchem Umfange?

Der Verteidiger schwieg.

Der Verteidiger beantragte ferner, einen Dr. Kiesewetter, der durch die Spohrsche Buchhandlung zu ermitteln sei, zu vernehmen, daß zwischen den mittelalterlichen Zaubermitteln und den heutigen ein Zusammenhang besteht. (Heiterkeit.)

Vors.: Dann beachten Sie die Bekundung des Chemikers Dr. Bischoff, daß das Strychnin erst seit 1825 bekannt ist. (Heiterkeit.)

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts beschloß der Gerichtshof, die Anträge des Verteidigers abzulehnen, da nach der beschworenen Aussage des Zeugen Just der Angeklagte das Buch „Kabale und Liebe“ nicht besessen habe.

Es erschien darauf als Zeugin die 29jährige Witwe Monds: Sie sei Mutter von sechs Kindern und war durch widrige Umstände gezwungen, als Detektivin in einem Detektivbureau tätig zu sein. Sie habe die Annoncen des Angeklagten, der sich als Zigeuner bezeichnete, gelesen. Sie habe den Angeklagten aufgesucht, sucht, um sich die Karten legen zu lassen. Der Angeklagte habe ihr eine Flüssigkeit gegeben, die sie auf Schokolade träufeln und ein Pulver, das sie auf die Treppe streuen sollte.

Vors.: Just, treten Sie einmal vor. Sehen Sie sich das Pulver an. Ist es ebenso, wie Sie es vom Angeklagten erhalten haben?

Just: Nein.

Vors.: Das ihrige sollte ja auch nicht stark wirken. (Heiterkeit.)

Die Zeugin Monds erklärte noch auf Befragen: Ihr sei das Wesen des Jänicke aufgefallen. Er habe den Eindruck des Schleichenden und Unheimlichen gemacht. Außerdem habe er einen ganz tätowierten Arm gehabt.

Der Angeklagte zeigte auf Auffordern des Vorsitzenden seinen tätowierten Arm, welcher neben Ringen und Schwertern die Inschrift „Tod den Verrätern!“ aufwies.

Nach der oberflächlichen Prüfung des Gerichtschemikers Dr. Bischoff schien das Pulver Saffran, Zucker, Fett und Terpentinöl zu enthalten. Der Angeklagte bemerkte, er wisse nicht mehr, woraus das Pulver bestanden habe.

Der Vater des Angeklagten, Töpfermeister Franz Jänicke aus Dalmin bekundete, daß sein Sohn bis zu seinem 16. Jahre an Krämpfen gelitten und „übergeschnappt“ schnappt“ erschien, da er allerlei Gestalten zu erblicken wähnte. Außerdem sei er einmal in ein Boot gestiegen, um damit nach Amerika zu fahren; er sei aber nur bis Havelberg gekommen und mußte später von Hamburg zurückgeholt werden.

Es wurden alsdann noch einmal Sanitätsrat Dr. Passauer, Dr. Karst und Dr. Schlichting vorgerufen, die übereinstimmend begutachteten, daß kein Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten vorliege. DerVerteidiger beantragte trotzdem noch die Vorladung eines Psychiaters; der Gerichtshof lehnte aber den Antrag ab, weil kein Antrag auf Untersuchung des Geisteszustandes seitens eines Arztes gestellt sei und der Gerichtshof nicht den mindesten Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten habe.

Die den Geschworenen vorgelegte Schuldfrage lautete auf Mord. Auf Antrag des Verteidigers wurde eine zweite Frage auf fahrlässige Tötung gestellt. Darauf begann der Erste Staatsanwalt v. Ditfurth sein Plädoyer. Er schilderte das abenteuerliche Vorleben Jänickes, die Auswüchse des Aberglaubens, die der Prozeß beleuchtet, und betonte: Der Angeklagte sei keineswegs geisteskrank, sondern für seine Tat verantwortlich zu machen. Es möge Leute geben, die den Glauben hegen, daß sie selbst solche übernatürlichen Kräfte besitzen. Dazu gehöre aber der Angeklagte nicht. Er habe es verstanden, die ihm blind ergebenen Personen ganz seinem Willen unterzuordnen; er sei schlau und geschmeidig gewesen, und in dem Augenblick, als es bei der Bergner anfing, allmählich zu dämmern, da hielt er es für geboten, sie um die Ecke zu bringen. Dazu war ihm das durch den Zeichner Just besorgte Gift willkommen. Wahrscheinlich habe er den noch teuflischeren Plan gehabt, nicht nur die Bergner, sondern auch den Just am Teufelssee zu vergiften, um beim Auffinden der Leichen den Anschein zu erwecken, daß es sich wieder um ein unglückliches Liebespaar handelte. Die Vorgänge am Teufelssee selbst stehen nach den durchaus glaubhaften Bekundungen des Knaben Misch absolut fest. Danach sei kein Zweifel, daß der Angeklagte ganz heimtückisch der Bergner das Gift beigebracht habe, und zwar zu dem Zwecke, sie als unbequeme Zeugin seiner Schwindeleien umzubringen und sich ihrer Habe zu bemächtigen. Unmittelbar nach der Tat sei er ganz planmäßig zum Diebstahl in der Bergnerschen Wohnung übergegangen und habe diesen Plan mit unbegreiflicher Verblendung weiter verfolgt, die ihm schließlich zum Verderben wurde. Der Staatsanwalt schloß mit dem Antrage, den Angeklagten des Mordes schuldig zu sprechen.

Der Verteidiger Gerichtsassessor Dr. Baum suchte nachzuweisen, daß der Angeklagte die Absicht der Tötung nicht gehabt habe. Der Angeklagte sei von der Zuverlässigkeit seiner Zauberkraft fest überzeugt gewesen. Es sei anzunehmen, daß er sich bei der Zusammensetzung seines Zaubertranks geirrt habe, mithin nur eine fahrlässige Tötung vorliege. Gegen die Annahme des Mordes spreche vor allen Dingen die Mitnahme des Misch. Auf dessen Verschwiegenheit konnte er doch gewiß nicht rechnen; es wäre ihm jedenfalls ein leichtes gewesen, den Knaben von der Zauberszene fernzuhalten. Der Verteidiger kam zu dem Ergebnis, daß nur fahrlässige Tötung vorliege und daß der Angeklagte nicht voll zurechnungsfähig sei.

Die Geschworenen bejahten nach einer kurzen Beratung die Schuldfrage wegen Mordes. Der Gerichtshof verurteilte dementsprechend den Angeklagten

zum Tode

und zu dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.

Der Angeklagte wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt.

Er befindet sich schon seit mehreren Jahren in Neu-Ruppin im Irrenhause.

Rechtsanwalt Dr. Puppe (Berlin) hat die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, da der Angeklagte auf Grund des § 51 des Strafgesetzbuches freizusprechen sei. Bei der Drucklegung dieses Bandes war über den Antrag des Rechtsanwalts Dr. Puppe noch nicht entschieden.