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Prozeß wegen Landesverrats

Verhandlung vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts zu Leipzig vom 12. bis 19. Mai 1884

Nachdem am 10. Mai 1871 Deutschland und Frankreich Frieden geschlossen hatten, lag erklärlicherweise noch viele Jahre nachher eine gewisse Spannung in der Welt. Im Sommer 1875 erschien in dem damaligen „Botschafterorgan“, der „Post“, die zweifellos engste Beziehungen zur Regierung hatte, ein Leitartikel mit der Überschrift: Ist der Krieg in Sicht? Eine amtliche Berichtigung erfolgte nicht, dagegen wurde mitgeteilt: der Reichskanzler Fürst v. Bismarck habe einen kalten Wasserstrahl nach Paris gerichtet und wir leben wieder im tiefsten Frieden. Ein Berliner Witzblatt, „Die Wespen“, von Julius Stettenheim, brachte die Bemerkung: „Der Kaiser, nicht der Kayßler, erklärt den Krieg.“ Der langjährige Chefredakteur der „Post“ war nämlich Dr. Leopold Kayßler, den auch schon lange der kühle Rasen deckt. Mehrfach verfinsterten Kriegswolken den politischen Himmel. Um so größer war die Erregung, als plötzlich bekannt wurde: ein Königlich Preußischer Staatsbeamter, ehemaliger Hauptmann der deutschen Armee, habe die wichtigsten Einrichtungen der deutschen Armee für schnödes Geld an Frankreich, Rußland und Österreich verraten. Es wurde festgestellt, daß der gesamte Aufmarsch der deutschen Armee bzw. Eisenbahntransport nach der Westgrenze bei Ausbruch eines Krieges, die Art der Mobilmachung der deutschen Armee, die Befestigung von Metz, die neuen Gewehrkonstruktionen, die Brückenschlagungen im Kriege, die Truppenverpflegung im Kriege und eine ganze Anzahl anderer militärischer Dinge an fremde Regierungen verraten waren. Die Verräter, der in Dresden wohnende polnische Dichter und Schriftsteller Dr. v. Kraszewski und der Kaiserliche Telegraphensekretär, Hauptmann a.D. Hentsch, wohnhaft zu Schöneberg bei Berlin, wurden sofort verhaftet und eine umfassende Untersuchung vorgenommen. Am 12. Mai 1884 hatten sich Dr. v. Kraszewski und Hentsch vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig zu verantworten. Inzwischen sind jedenfalls alle verratenen Dinge vollständig geändert gewesen, denn auf ausdrücklichen Wunsch des Reichskanzlers Fürsten v. Bismarck fand die Verhandlung fast durchweg in voller Öffentlichkeit statt. Es war das der erste Landesverratsprozeß, dem noch eine ganze Reihe folgten, die jedoch kaum von solcher Bedeutung wie der erste waren. Es war erklärlich, daß die Verhandlung in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt wurde. Den Gerichtshof bildeten: Senatspräsident Drenkmann (Vorsitzender) und die Reichsgerichtsräte Thewalt, Schwarz, Kirschhoff, Krüger, Stechow, Petsch, Dr. Spieß, Dr. Freiesleben, Dr. Mittelstädt, Schaper, v. Bezold und Calame (Beisitzende). Die Oberreichsanwaltschaft vertraten Oberreichsanwalt Dr. Frhr. v. Seckendorff, Exzellenz, und der Erste Staatsanwalt am Reichsgericht Treplin. Das Protokoll der Verhandlungen führte Obersekretär Kanzleirat Schleiger. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Saul (Berlin) für Dr. von Kraszewski und Rechtsanwalt Dr. Samler (Berlin) für Hentsch. Als Sachverständige waren geladen: 1. Oberstleutnant und Chef der Zentralabteilung im preußischen Kriegsministerium Wodke, 2. Major Perthes vom Großen Generalstab, 3. Major v. Goßler vom preußischen Kriegsministerium, 4. Major Erffling vom preußischen Kriegsministerium, 5. Kanzleirat Seegel (Berlin), 6. Kanzleiinspektor Gottschalk (Berlin) und Buchhändler Kasprowicz (Leipzig). Als Zeugen waren vorgeladen: 1. Kriminalkommissar Paul (Dresden), 2. Amtsvorsteher Feurig (Schöneberg bei Berlin), 3. Fräulein Flora Heinitz (Dresden), 4. Kaiserlich russischer Major a.D. v. Bodanowicz (Dresden), 5. Photograph Coßmann (Frankfurt a.d.O.), 6. Leutnant im rheinischen Pionierbataillon Nr. 8 Balthasar (Koblenz), 8. Leutnant nant im 2. pommerschen Feldartillerieregiment Nr. 17 Rüppel (Stettin), 9. Hauptmann a.D. Hoffmann (Berlin), 10. Betriebsführer des Feuerwerkslaboratoriums Hartmann (Spandau), 11. Stallmeister Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen Wilhelm, Leutnant Plinzner (Potsdam), 12. Amtesgerichtsrat Pniower (Berlin), 13. Landgerichtsrat Brausewetter (Berlin), 14. Magistratssekretär Gäde (Berlin) und 15. Hauptmann im 54. Infanterieregiment Thiede (Kolberg).

Der Angeklagte v. Kraszewski hieß mit Vornamen Joseph Ignatz; er war am 21. Juli 1812 zu Warschau geboren, katholischer Konfession und später sächsischer Staatsangehöriger. Er redigierte längere Zeit die in Warschau erscheinende „Gazetta polska“. Ganz besonders war aber v. Kraszewski als polnischer Romanschriftsteller tätig. Über 200 Bände hatte er geschrieben. Er galt bei allen seinen Landsleuten als einer der bedeutendsten polnischen Schriftsteller. Er wurde in seiner Heimat der „polnische Goethe“ genannt. Vor vielen Jahren beging v. Kraszewski sein 50jähriges Schriftstellerjubiläum. Dies wurde in Krakau mehrere Tage hindurch in solenner Weise gefeiert und gestaltete sich in ganz Polen zu einem großartigen Volksfeste. Im Jahre 1863 nahm v. Kraszewski für die polnische Insurrektion Partei. Es tauchte der Verdacht auf, daß er in irgendeiner Weise an dem Aufstande sich beteiligt habe. Da er deshalb seine Verhaftung befürchtete, entfloh er nach Deutschland und wohnte seit dieser Zeit in Dresden. Schon 1871 war eine Anzahl Zeitungskorrespondenten für ihn tätig, die jedoch seinen Wünschen nicht zu entsprechen schienen. Später lernte er einen Literaten, namens Adler, kennen. Mit diesem schien er besser zufrieden zu sein, denn dieser lieferte ihm sehr wertvolle Arbeiten über die Art der Mobilmachung des deutschen Heeres, die Einrichtung der Verpflegung der deutschen Armee im Kriege, über den Aufmarsch resp. Eisenbahntransport der deutschen Armee nach der Wesstgrenze, über neue Schießinstruktionen im deutschen Heere, über die Organisation der Pferdeaushebung bei Gelegenheit einer Mobilmachung der deutschen Armee u. dgl. mehr. Adlers Quelle war der zweite Angeklagte Hentsch, den Kraszewski nicht kannte. Adler spielte zwischen beiden den Vermittler, indem er dem Hentsch sagte: Er kaufe die Arbeiten für einen sehr reichen, alten Herrn in Dresden. Schließlich kam es jedoch zwischen v. Kraszewski und Adler infolge eines Streites zur offenen Feindschaft; Adler brach mit v. Kraszewski alle Verbindungen ab und siedelte nach Wien über. Auf seine Veranlassung setzte aber Hentsch seine Arbeiten fort, sandte sie gegen hohes Entgelt an Adler, der sie in vortrefflicher Weise zu verwerten verstand. Das Material erschöpfte sich jedoch endlich und damit gleichzeitig die Geldquelle Adlers. Er geriet schließlich in Geldverlegenheit und versuchte deshalb auf dem Wege der Erpressung sich Geld zu verschaffen. v. Kraszewski hat ihm auch infolge seiner Drohungen nach und nach 7000 Mark gegeben, Hentsch, der vollständig vermögenslos und noch obendrein verschuldet war, vermochte ihm jedoch nichts zu geben. Er teilte ihm auch in einem Schreiben seine Verhältnisse mit dem Bemerken mit, er sei in seiner Hand; er solle mit ihm machen, was er wolle. Da Adler von Kraszewski auch nichts mehr erlangen konnte, so machte er der preußischen Regierung von allem Vorgefallenen, unter Übersendung aller vorhandenen Belege, Mitteilung.

Hentsch hieß mit Vornamen: August Rudolph Albert Franz; er war am 20. Oktober 1838 zu Lützow bei Kolberg geboren und evangelischer Konfession. Er war der Sohn eines evangelischen Pastors. Er war Hauptmann im 21. Posenschen Infanterieregiment. Im Jahre 1871 nahm Hentsch seinen Abschied. Er wurde mit Pension und mit der Berechtigung, die Landwehrhauptmannsuniform zu tragen, entlassen. Nach einiger Zeit fand er eine Anstellung bei dem Kaiserlichen Telegraphenamt in Berlin, woselbst er eine Reihe von Jahren als Sekretär arbeitete. Infolge dieser seiner Anstellung schied er aus dem Militärverbande und erhielt nur noch die aus dem Reichsinvalidenfonds an Verwundete gezahlte Pension. Im Jahre 1881 nahm er auch als Telegraphensekretär seinen Abschied. Hentsch entfaltete eine umfangreiche Tätigkeit als Militärschriftsteller. Dieser Umstand sowie ferner seine militärische Vergangenheit, seine gesellschaftliche Gewandtheit und persönliche Liebenswürdigkeit eröffneten ihm die höchsten militärischen Kreise. Dadurch gelang es ihm, sich in den Besitz von wertvollem Material zu setzen. Die Gewandtheit des Hentsch in diesen Dingen erhellt u.a. aus folgendem: Er zählte zu den Freunden des Stallmeisters des Prinzen Wilhelm, jetzigen Deutschen Kaisers, Leutnant Plinzner, zu Potsdam. Mit diesem traf er einmal in Swinemünde zusammen. Er fand in dessen Wohnung ein Buch, das die Pferdeaushebung der deutschen Armee behandelte. Mit den Worten: „Dies Buch können Sie mir gefälligst leihen“, nahm er es an sich und übersandte den Inhalt des Buches an Adler.

Der § 92, Abs. 1 des Strafgesetzbuches, der der Anklage zugrunde lag, lautet: „Wer vorsätzlich Staatsgeheimnisse oder Festungspläne oder solche Urkunden, Aktenstücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß ihre Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für das Wohl des Deutschen Reiches oder eines Bundesstaates erforderlich ist, dieser Regierung mitteilt oder öffentlich bekannt macht, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft nicht unter sechs Monaten ein.“

Der von dem Protokollführer, Kanzleirat Schleiger, verlesene Eröffnungsbeschluß hatte folgenden Wortlaut: Im Namen des Reiches! In der Strafsache gegen den Schriftsteller und Dr. phil. Joseph Ignatz v. Kraszewski zu Dresden, den Hauptmann a.D. und Telegraphensekretär a.D. Albert Hentsch zu Berlin, den Geschäftsführer Wladislaus Anastasius Stephan v. Konospacki und den russischen Major a.D. Stephan Casimir August v. Bodanowicz zu Dresden, wegen des Verbrechens des § 92, Pos. 1 des Strafgesetzbuches, hat das Reichsgericht, Erster Strafsenat, nach Anhörung des schriftlichen und mündlichen Antrages des Oberreichsanwalts in nichtöffentlicher Sitzung vom 10. März 1884, in Erwägung, daß wider die vier Angeschuldigten die Voruntersuchung eröffnet und von dem Oberreichsanwalt gegen die Angeschuldigten v. Kraszewski und Hentsch Anklage erhoben, hingegen bezüglich der Angeschuldigten v. Konospacki und v. Bodanowicz der Antrag gestellt worden ist, dieselben in Ermangelung genügenden Beweises einer strafbaren Tat außer Verfolgung zu setzen; in Erwägung, daß nach dem Inhalt der Voruntersuchung die Angeschuldigten v. Kraszewski und Hentsch genügend verdächtig erscheinen, und zwar beide Angeschuldigte, Nachrichten betreffend den Aufmarsch resp. Eisenbahntransport der deutschen Armee nach der Westgrenze und betreffend die Dienstinstruktion für die Feldtelegraphie, von welchen sie wußten, daß ihre Geheimhaltung anderen Regierungen gegenüber für das Wohl des Deutschen Reiches und der Bundesstaaten erforderlich sei, in den Jahren 1876 bis 1881 gemeinschaftlich durch zwei selbständige Handlungen der französischen Regierung in der Weise mitgeteilt zu haben, daß Hentsch den Inhalt dieser Nachrichten aus amtlichen und sekretierten Materialien entnahm, in schriftlichen Ausarbeitungen zusammengestellt und diese Schriftstücke durch die Vermittelung des Literaten Adler dem Angeschuldigten v. Kraszewski übersendete, dieser aber sie an die bezeichnete Regierung gelangen ließ, der Angeschuldigte Hentsch allein in den Jahren 1876 bis 1883 durch mehrere selbständige Handlungen, Nachrichten über a) Komplettierung der Behörden und Truppen an Pferden, b) die Fortifikationen der Festung Metz, c) technische Bestimmungen für Fortifikations-, Artillerie- und Garnisonbauten, d) die Verwendung des Infanteriegewehrs M. 71, von welchen er wußte, daß ihre Geheimhaltung anderen Regierungen gegenüber für das Wohl des Deutschen Reiches und der Bundesstaaten erforderlich sei, diesen Regierungen in der Weise mitgeteilt zu haben, daß er den Inhalt der bezeichneten Nachrichten aus amtlichen und sekretierten Materialien entnahm, denselben in schriftlichen Ausarbeitungen und Abschriften ten zusammenstellte und diese Schriftstücke zu a, b, c durch die Vermittelung des Literaten Adler an den Agenten der russischen Regierung bzw. an diese selbst, zu d aber durch die nämliche Vermittelung an die österreichische Regierung gelangen ließ; sowie ferner im Jahre 1881 sich zur Begehung des Verbrechens des § 92 Pos. 1 des Strafgesetzbuches erboten zu haben, indem er schriftlich und gegen eine Belohnung in Geld Nachrichten über das Sturmgerät, von welchem er wußte, daß ihre Geheimhaltung anderen Regierungen gegenüber für das Wohl des Deutschen Reiches und der Bundesstaaten erforderlich sei, solchen Regierungen mitzuteilen in Aussicht stellte; in Erwägung, daß auf diese strafbaren Handlungen die §§ 92, Pos. 1, 74, 47, 49, Pos. 4 des Strafgesetzbuches und sonach bezüglich der Aburteilung derselben die §§ 136 und 138 des Gerichtsverfassungsgesetzes und die §§ 2ff. und 201ff. der Strafprozeßordnung zur Anwendung zu bringen sind, beschlossen: daß gegen die Angeschuldigten v. Kraszewski und Hentsch das Hauptverfahren vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts wegen der vorbezeichneten strafbaren Handlungen zu eröffnen und die Untersuchungshaft des Angeschuldigten Hentsch beizubehalten, die von dem Oberreichsanwalt beantragte Untersuchungshaft des Angeschuldigten v. Kraszewski aber, in Anbetracht des bezüglich dessen Gesundheitszustandes heitszustandes erstatteten ärztlichen Gutachtens nicht zu verhängen, dagegen nach § 93 des Strafgesetzbuches, §§ 480, 333 bis 335 der Strafprozeßordnung das Vermögen dieses Angeschuldigten bis zur rechtskräftigen Beendigung der Untersuchung mit Beschlag zu belegen sei.

Im weiteren besagte der Eröffnungsbeschluß, daß der gegen Hentsch erhobenen Anklage wegen Versuch des Landesverratsverbrechens wegen mangelnder Beweise keine Folge gegeben werde, und daß die Beschuldigten v. Konopacki und v. Bodanowicz, in Ermangelung genügender Beweise für eine strafbare Tat, außer Verfolgung zu setzen seien.

Dr. v. Kraszewski war ein kleiner, schon etwas gebückt gehender Herr von sehr vornehmem Äußeren. Hentsch war ein mittelgroßer, hübscher, sehr vornehm aussehender Mann mit dunkelblondem, kurz geschnittenem Vollbart.

Die Verhandlung gestaltete sich etwa folgendermaßen:

Vors.: Herr Hauptmann Hentsch, bekennen Sie sich schuldig?

Hentsch: Ich bin unschuldig.

Vors.: Erzählen Sie einmal, wodurch Sie zu der ganzen Angelegenheit gekommen sind?

Hentsch: Im Jahre 1855 trat ich in das 57. Luxemburgische Infanterieregiment ein. Im Februar 1859 wurde ich nach Trier, im Dezember 1859 nach Gnesen, 1860 nach Inowrazlaw versetzt. Nach der Mobilmachung Anno 1860 wurde ich nach Bromberg und von dort sehr bald an die Schießschule zu Spandau versetzt. Ich fungierte dort als Lehrer und machte 1866 den Feldzug mit. Ich wurde alsdann vielfach auf Kommando geschickt. Infolge aufreibenden Dienstes wurde ich brustkrank. Ich mußte auf ärztliches Anraten das Bad Reichenhall aufsuchen. Ganz besonders infolge meiner Krankheit geriet ich in Schulden, in welcher Folge ich im Frühjahre 1870 meinen Abschied nahm. Ich wurde als Hauptmann mit Pension und mit der Berechtigung, die Hauptmanns-Landwehr-Uniform zu tragen, entlassen. Ich war nun bemüht, mir eine Zivilanstellung zu verschaffen. Inzwischen brach der Krieg gegen Frankreich aus. Obwohl ich nun infolge der vielen Einziehungen mit Leichtigkeit eine Zivilanstellung hätte bekommen können, so hielt ich es doch für meine Pflicht, nunmehr meine Dienste dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Ich trat in das 24. Landwehrregiment ein, machte den Feldzug gegen Frankreich vollständig mit, obwohl die Ärzte meines Regiments meinen Gesundheitszustand für sehr bedenklich hielten. Nach Beendigung des Krieges nahm ich wiederum meinen Abschied und fand sehr bald eine Anstellung bei der Kaiserlichen Reichstelegraphie. In demselben Jahre (1871) heiratete te ich. Meine Frau war auch mittellos. Nun passierte mir noch das Unglück, daß meine Frau auch kränklich wurde. Ich wurde von meiner Behörde vielfach auf Dienstreisen geschickt. Dadurch wurde mein Gesundheitszustand immer schlimmer. Ich geriet immer mehr in Schulden und war genötigt, mir durch Korrespondenzen für politische und militärische Zeitschriften einen Nebenerwerb zu verschaffen. Im Jahre 1875 starb der damalige Generaltelegraphendireklor, Oberst v. Meydam. Die Telegraphie wurde alsdann mit dem Postwesen verbunden, und ich vermochte nunmehr bei der Telegraphie nur dann eine feste Anstellung zu erhalten, wenn ich das Examen als Telegraphensekretär machte. Mein Gehalt betrug damals 1200 Mark pro Anno. Ich war genötigt, trotz angestrengten Dienstes, mich an den Abenden für das Examen vorzubereiten und noch Zeitungskorrespondenzen zu machen. Im Jahre 1876 machte ich das Examen als Telegraphensekretär. Sehr bald darauf lernte ich den Literaten Adler in Berlin kennen. Dieser ersuchte mich, ihm Korrespondenzen, möglichst militärischen Inhalts, zu liefern. Außerdem beauftragte er mich mit Extraarbeiten und sagte mir, er brauche die Arbeiten für einen alten, sehr reichen, in Dresden wohnenden Herrn. Ich bekam von Adler ein festes Honorar von monatlich 30 Mark; für militärische Aufsätze erhielt ich extra bezahlt. Die erste Arbeit, die ich an Adler lieferte, war der Aufmarsch resp. Eisenbahntransport der deutschen Truppen nach der Westgrenze. Für diese versprach er mir 1000 Mark. Ich habe viele Wochen an diesem Werke gearbeitet. Einige Zeit nach der Ablieferung erhielt ich die Arbeit von Adler mit dem Bemerken zurück: sie sei unbrauchbar, da sie mangelhaft und teilweise falsch sei. Ich lieferte außerdem noch verschiedene andere Arbeiten an Adler, für die ich Bezahlung erhielt. Im Jahre 1879 verfeindete sich Adler mit dem mir inzwischen bekannt gewordenen Dr. v. Kraszewski. Ich trat daher mit letzterem direkt in Verbindung, und nun drohte Adler sowohl dem Dr. v. Kraszewski als auch mir, uns wegen Landesverrats zu denunzieren, mit dem Bemerken, daß v. Kraszewski ein Agent der französischen Regierung sei und alle Arbeiten an die französische Regierung verkaufe. v. Kraszewski beteuerte mir, daß das vollständig unwahr sei; Adler behaupte das nur, um Geld zu erpressen. Ich schrieb dem Adler: Mir ist nicht bekannt, etwas Strafbares begangen zu haben. Ende 1881 schrieb Adler wieder an mich, ob ich wiederum Korrespondenzen und Arbeiten für ihn schreiben wolle. Ich antwortete ihm zustimmend und trat wiederum in Verbindung mit ihm. Ich nahm jedoch nach einiger Zeit kein Honorar mehr von Adler, sondern tat alles mögliche, um die Verbindung wieder mit ihm abzubrechen. Plötzlich wollte ich das nicht tun, da ich die Denunziation Adlers fürchtete. Ich drang in Adler, mir zu sagen, für wen er die Arbeiten verwende. Nach längerem Drängen gestand mir Adler, daß die Arbeiten für die russische Regierung bestimmt gewesen seien. Ich brach infolge dieser Mitteilung die Verbindung sofort mit Adler ab. Anfangs 1880 schrieb Adler Drohbriefe an mich, in welchen er Geld und Korrespondenzen von mir verlangte. Auch bot mir Adler einige meiner Briefe zum Kauf an. Ich schrieb dem Adler: Ich habe kein Geld und habe auch meines Wissens nichts Strafbares begangen. Ich bemerke, daß ich mit Adler und auch mit Kraszewski ganz offen verkehrt habe. Ich habe meine Korrespondenzen vollständig offen geführt und nur das Material an Adler geliefert, das ich in militärischen Werken fand und jedermann zugänglich war.

Vors.: Wodurch lernten Sie Adler kennen?

Hentsch: Adler erfuhr meinen Namen durch meine Korrespondenzen und suchte mich auf.

Vors.: Was war Adler für ein. Mensch?

Hentsch: Adler war Korrespondent für mehrere politische Zeitungen; er sagte mir, daß er u.a. für die „Kreuzzeitung“ und „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schreibe.

Vors.: War Adler zum Zeitungskorrespondenten denn befähigt?

Hentsch: Ich kann das nicht genau beurteilen, ich glaube es aber.

Vors.: Angeklagter, Sie waren preußischer Offizier; wußten Sie nicht, daß eine Arbeit über den Aufmarsch der deutschen Truppen nach der Westgrenze dem Deutschen Reiche schaden könnte?

Hentsch: Daran dachte ich nicht, zumal die Werke, nach denen ich arbeitete, im Buchhandel zu haben waren.

Vors.: Sie mußten sich doch die Frage vorlegen, wozu will Adler diese Arbeit?

Hentsch: Ich glaubte, er wolle sie für militärische Zeitschriften verwenden.

Vors.: Dachten Sie nicht daran, daß eine solche Arbeit für die französische Regierung sehr wertvoll sein könnte?

Hentsch: Nein, denn ich arbeitete nicht nach amtlichen Quellen.

Vors.: Sie mußten sich doch aber sagen, daß solche Arbeiten nur einer fremden Regierung und im vorliegenden Falle Frankreich nützen können?

Hentsch: Ich hielt die Veröffentlichung dieser Arbeiten nicht für bedenklich.

Vors.: Die Arbeit betreffs des Truppenaufmarsches erhielten Sie nun von Adler nach einigen Wochen zurück, da die Aufstellung angeblich falsch und mangelhaft war. Haben Sie absichtlich falsche Angaben gemacht?

Hentsch: Das nicht, ich bemühte mich, richtige Angaben zu machen.

Vors.: Wenn Sie glaubten, nichts Strafbares zu begehen, weshalb fürchteten Sie die Denunziation des Adler?

Hentsch: Ich konnte mich doch nicht weiter als heute exkulpieren und befürchtete eine Anklage und meine Entlassung aus meinem Amte.

Vors.: Nun, nachdem Adler Ihnen gedroht, traten Sie wiederum mit ihm in Verbindung, lieferten ihm wiederum Arbeiten und freuten sich sogar, daß die Verbindung wieder hergestellt war; das ist doch sehr eigentümlich.

Hentsch: Ich glaubte durchaus nicht, irgendwelche Geheimnisse mitzuteilen, die fremdem Regierungen nützen könnten. Außerdem fürchtete ich, wenn ich die Verbindung mit Adler nicht wieder aufnähme, von diesem denunziert zu werden.

Es wurden hierauf einige Briefe verlesen, die Adler an Hentsch geschrieben hatte. In einem dieser Briefe, in dem Adler den Hentsch wiederum zur Vermittelung von Korrenspondenzen aufforderte, schrieb er: „Ich habe Sie nur schrecken wollen; im Ernst dachte ich nicht daran, Sie zu denunzieren.“

Auf Veranlassung des Vert. R.-A. Dr. Samter bemerkte Hentsch: Er habe für viele militärische Zeitschriften technische Aufsätze geschrieben, so u.a. für die „Deutsche Heereszeitung“, die „Militärischen Blätter“, die „Zeitung für Landwehroffiziere“, die „Unteroffizierzeitung“ und so weiter. Ferner habe er für die „Rhein- und Ruhrzeitung“, die „Danziger Zeitung“ und die „Hallesche Zeitung“ geschrieben. Außerdem habe er mehrere militärische Werke geschrieben. Adler habe in Berlin u.a. mit Professor Dr. Paulus Cassel verkehrt.

Vors.: Welches Material benützten Sie bei der Bearbeitung des Truppenaufmarsches?

Hentsch: Ich benutzte das amtliche Postkursbuch, die Fahrpläne von 1876 und die Werke von Eberstein und Fröhlich.

Vors.: Angeklagter Dr. v. Kraszewski, Sie redigierten in Warschau längere Zeit die „Gazetta polska“; was war das für eine Zeitung?

K.: Es war das mehr eine literarische als eine politische Zeitung.

Vors.: Im Jahre 1863 siedelten Sie nach Dresden über, da Sie befürchteten, wegen Teilnahme am polnischen Aufstande verhaftet zu werden?

K.: Ich hatte mich an dem Aufstande nicht im mindesten beteiligt.

Vors.: Sie standen aber im Verdacht, das getan zu haben?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie gehören der polnischen Nationalpartei an, die die Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1772 erstrebt?

K.: Ich gehöre gar keiner Partei an; von einer Wiederherstellung Polens kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen keine Rede sein; es handelt sich aber darum, daß wir unsere Nationalität aufrechterhalten.

Vors.: Mit was beschäftigten Sie sich in Dresden?

K.: Ich schrieb Romane und Novellen.

Vors.: Sie sollen in allen Ihren Werken die Wiederherstellung Polens mit großer Begeisterung befürwortet haben?

K.: Das habe ich allerdings getan, ich wiederhole jedoch, daß an eine Wiederherstellung Polens unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu denken ist.

Vors.: Im Jahre 1867 sind Sie einmal durch Posen durchgekommen. Es wurde dort Ihnen zu Ehren von den dort lebenden Polen im Hotel Bazar ein Diner veranstaltet.

K.: Das ist wahr.

Vors.: Im Jahre 1879 wurde in Krakau Ihr 50jähriges Dichterjubiläum gefeiert?

K.: Jawohl.

Vors.: Sie beschäftigten auch verschiedene Korrespondenten?

K.: Ich hatte in Paris einen Freund, namens Zaleski, den ich unterstützen wollte. Dieser war Zeitungskorrespondent und deshalb suchte ich ihm interessante te Mitteilungen zu verschaffen. Ich lernte im Jahre 1871 einen Schriftsteller namens Ruppert Mahortschitsch in Berlin kennen, der mir Adler empfahl. Adler lieferte mir nun eine Anzahl auch militärischer Arbeiten. Ich verstand und verstehe von militärischen Dingen gar nichts.

Vors.: Sie haben von Adler die Arbeit betreffend den Aufmarsch der deutschen Truppen nach der Westgrenze erhalten und an Zaleski gesandt?

K.: Das ist möglich, aber ich habe die Arbeiten gar nicht durchgelesen.

Vors.: Sie sahen doch den Titel der Arbeit, Sie mußten mithin doch wissen, was die Arbeit ungefähr enthalten kann?

K.: Ich habe mir auch den Titel der Arbeit nicht angesehen.

Vors.: Das ist doch ganz eigentümlich; Sie sollen sich also nicht einmal den Titel einer Arbeit angesehen haben, für die dem Hentsch 1000 Mark versprochen waren? Es ist doch wirklich kaum anzunehmen, daß Sie das alles ganz blindlings taten.

K.: Ich verstand von solchen Dingen nichts und überließ die Beurteilung lediglich dem Zaleski.

Vors.: War Ihnen bekannt, was Zaleski mit diesen Arbeiten machte?

K.: Dieser übergab sie einer Zeitung zum Abdruck.

Vors.: Es ist festgestellt, daß die Arbeit in irgendeinem nem Journal nicht abgedruckt war, die deutsche Botschaft in Paris hätte sonst sofort Nachforschungen angestellt. Außerdem war der Artikel zur Aufnahme in eine Zeitung gar nicht geeignet. Sie mußten sich doch auch sagen, daß eine Arbeit zum Abdruck für eine Zeitung nicht den Wert von 1000 Mark hat. Der Inhalt des Aufsatzes hätte Sie zu der Überzeugung bringen müssen, daß er nicht zur Veröffentlichung geeignet war. Der Aufsatz interessierte selbst nicht einmal das militärische Publikum, war jedoch für eine fremde Regierung, ganz besonders für die französische Regierung von sehr großem Werte. Wußten Sie denn, für welche Zeitung Zaleski schrieb?

K.: Nein.

Es wurden hierauf eine Anzahl Briefe verlesen, die K. im Sommer 1879 von Florenz aus an Adler geschrieben. In diesen hieß es unter anderem: Die Arbeiten, die erhalten, sind sehr mangelhaft und zum Teil falsch; es ist auf alle Korrespondenten kein Verlaß. Die Arbeiten sind keineswegs das viele Geld wert. Man möchte gern erfahren, wie das neue, in Spandau gearbeitete Repetiergewehr gearbeitet ist und wie die mit dem Gewehr angestellten Proben ausgefallen sind. Ferner ist es nötig, zu erfahren, in welcher Weise der Lebensmitteltransport im Kriege erfolgt, wie die Patronensalven konstruiert sind, wie sie sich bewähren und wieviel Patronen jeder Soldat im Kriege erhält. Des weiteren möchte ich sehr bald etwas über Brückenkonstruktionen erfahren und auch darüber, wie diese am besten zerstörbar sind usw.

Vors.: Was sagen Sie zu diesen Briefen, Herr Dr. v. Kraszewski?

K.: Es waren dies Briefe der Redaktion, die Zaleski an mich sandte und die ich lediglich übersetzte. Die Übersetzung ist vielleicht nicht ganz genau.

Vors.: Sie schreiben in einem dieser Briefe: „Wir können nur ganz Zuverlässiges gebrauchen, wir sind keine Laien.“

K.: Ich selbst verstehe gar nichts von militärischen Dingen, ich wiederhole, ich habe lediglich den mir zugegangenen Brief übersetzt.

Vors.: Mußten Sie sich denn nicht sagen, daß das, was der Briefschreiber zu wissen verlangte, eine Zeitung durchaus nicht interessieren kann, sondern daß das lediglich für eine fremde Regierung ein Interesse haben kann?

K.: Ich habe der Sache durchaus nicht solche Wichtigkeit beigelegt und war der Überzeugung, daß Zaleski all diese Sachen für Journale verwende.

Vors.: Weshalb haben Sie diese Briefe an Adler ohne Namensunterschrift gesandt?

K.: Ich hielt die Unterschrift nicht für erforderlich, da Adler meine Handschrift kannte.

Vors.: Konnten Sie aus den Ihnen übersandten Briefen den Namen der Zeitung nicht ersehen, für die Zaleski all die Arbeiten verwendete?

K.: Nein.

Vors.: Nun, endlich entzweiten Sie sich mit Adler, und dieser überhäufte Sie mit Drohbriefen?

K.: Ja.

Vors.: Sie haben schließlich dem Adler mehrere tausend, im ganzen sollen es etwa 7000 Mark gewesen sein, gegeben?

K.: Ja.

Vors.: Wenn Sie der Meinung waren, daß Sie nichts Strafbares getan haben, dann hatten Sie doch keine Veranlassung, dem Adler solche Summen zu zahlen?

K.: Ich wollte nicht, daß ich, wenn auch unschuldig, in eine Untersuchung verwickelt würde.

Vors.: Sie haben für das Geld von Adler die Herausgabe einer Anzahl Briefe verlangt und alle diese, nachdem sie in Ihrem Besitz waren, verbrannt?

K.: Jawohl, ich hatte kein Interesse an diesen Briefen.

Vors.: Zaleski hat Ihnen, anläßlich der von Adler gemachten Drohungen, Geld geschickt, um Adler zu befriedigen?

K.: Jawohl.

Vors.: Das ist doch aber ganz eigentümlich. Die Redaktion einer Zeitung gibt doch für solche Fälle kein Geld? Kraszewski schwieg.

Erster Staatsanwalt Treplin: Der eine von Kraszewski an Adler gerichtete Brief erregt den Verdacht, daß Kraszewski sich auch der Aufforderung zum Landesverrat laut § 49a des Strafgesetzbuches schuldig gemacht hat, ich beantrage daher, den Angeklagten auf diesen erweiterten Gesichtspunkt aufmerksam zu machen.

Der Vorsitzende entsprach diesem Antrage.

Es wurde alsdann mit der Zeugenvernehmung begonnen.

Kriminalkommissar Paul (Dresden) und Amtsvorsteher Feurig (Schöneberg bei Berlin), die bei den Angeklagten Haussuchungen vorgenommen hatten, wußten etwas Bemerkenswertes nicht zu bekunden.

Leutnant im Eisenbahnregiment Friedrich (Berlin): Er habe mit Hentsch vielfach verkehrt und diesem mehrere Bücher aus der Bibliothek des Regiments geliehen. Seines Wissens nach haben die Bücher nichts Sekretes enthalten.

Betriebsführer des Feuerwerklaboratoriums Hartmann (Spandau): Ich habe mit Hentsch freundschaftlich verkehrt. Bücher habe ich ihm niemals geliehen. Auf sein Ersuchen schenkte ich ihm einmal einen unbrauchbaren Zünder.

Auf Befragen des Staatsanwalts Treplin äußert noch der Zeuge: Im Februar 1883 habe er den Hentsch einmal in Spandau durch das Feuerwerklaboratorium geführt. Hentsch habe ihn bei dieser Gelegenheit nach der Zusammensetzung und Wirkung einer Anzahl Materialien gefragt. Er habe dem H. jedoch geantwortet: Das wisse er nicht, es seien das auch sekrete Dinge.

Auf Befragen des Verteidigers, Rechtsanwalts Dr. Samter bestätigte Leutnant Friedrich: Hentsch habe ihm stets, wenn er ihn um ein Buch aus der Bibliothek bat, gesagt: „Aber geben Sie mir nichts Sekretes.“ Es wurde hierauf ein Gutachten des preußischen Kriegsministeriums verlesen. In diesem hieß es: „Die Arbeit des Hauptmanns Hentsch über Truppenaufmarsch ist keineswegs amtlichen Quellen entnommen. Die Aufstellung der Fahrpläne ist nur Phantasiegebilde. Die Kriegsstärke der Formationen kann jedoch nur amtlichen Quellen entnommen sein. Diese hat Hentsch mit minutiöser Genauigkeit gemacht. Dieses Stärkeverhältnis ist vielfach geändert und vollständig sekret behandelt worden. Das Material darüber kann nur aus amtlichen Quellen benutzt sein.“

Ein zweites Gutachten vom Großen Generalstabe bestätigte im wesentlichen das erste. Im weiteren hieß es in diesem Gutachten: „Wenn auch die Fahrpläne unrichtig sind, so kann doch die Arbeit des Hentsch dazu beitragen, daß der Truppenaufmarsch in einem Kriegsfalle vom Feinde gestört werde.“

Major vom Großen Generalstabe Perthes bestätigte dieses Gutachten und fügte hinzu: Die Kriegsstärke der einzelnen Truppenteile, die Zahl der Fahrzeuge usw. kann Hentsch nur durch Benutzung der Anlagen zum Mobilmachungsplan, die streng sekret behandelt werden, entnommen haben.

Vors.: Wodurch kann Hentsch das Material wohl erhalten haben?

Sachverständiger: Das kann nur durch sehr groben Vertrauensbruch geschehen sein. Im weiteren bemerkte der Sachverständige auf Befragen des Vorsitzenden: Wenn auch die Kriegsstärke nicht in allen Teilen richtig ist, so kann doch die Mitteilung des Angeklagten das Wohl des Deutschen Reiches zweifellos gefährden. In dem Buch des Majors Eberstein, nach dem Hentsch gearbeitet haben will, ist die Kriegsstärke nicht richtig angegeben und es ist infolgedessen für eine fremde Regierung von hohem Werte, die Angaben des Eberstein richtiggestellt zu sehen. Selbst wenn angenommen wird, Hentsch habe nicht nach amtlichen Quellen gearbeitet, sondern mittels großen Scharfsinns die Angaben des Eberstein richtiggestellt, so ist diese Handlungsweise ebenfalls geeignet, das Wohl des Deutschen Reiches zu gefährden und feindlichen Regierungen Vorschub zu leisten. Ich hin jedoch der Überzeugung: dem Hentsch hat die amtliche Kriegsverpflegungstabelle vorgelegen.

Verteidiger R.-A. Dr. Samter: Der Herr Sachverständige hat mir gesagt, daß auch die Angaben des Hentsch über die Kriegsstärke des deutschen Heeres teilweise falsch sind. Ich ersuche deshalb den Herrn Sachverständigen, zu sagen, was im Eberstein und was in den Arbeiten von Hentsch falsch ist. Falsche Angaben können doch einer fremden Regierung nichts nützen?

Sachverständiger: Die vom Herrn Verteidiger gestellte Frage kann ich in öffentlicher Gerichtssitzung nicht beantworten.

Auf Antrag des Oberreichsanwalts, Dr. Frhrn. v. Seckendorff beschloß der Gerichtshof für diesen Teil der Verhandlung den Ausschluß der Öffentlichkeit.

Die nichtöffentliche Verhandlung dauerte etwa 1 1/2 Stunden. Auch am folgenden Tage wurde zunächst unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt.

Nachdem die Öffentlichkeit wiederhergestellt war, verlas der Vorsitzende ein Gutachten des Kriegsministeriums über die gestern erwähnten Briefe, die Kraszewski im Sommer 1879 von Florenz an Adler geschrieben, in denen er bekanntlich alle Einzelheiten über den Truppenaufmarsch nach der Westgrenze verlangte. Das Gutachten ging dahin, daß alles das, was K. von Adler zu wissen verlangte, ganz besonders über die Konstruktion und Versuche des Repetiergewehres, über die Brauchbarkeit der in Deutschland erfundenen fundenen Eisenbahnbrücke in Kriegsfällen, Mitteilungen über die Leistungsfähigkeit der Patronen u. dgl. m. nur durch groben Vertrauensbruch in die Öffentlichkeit gelangen konnte, denn all diese Sachen werden streng sekret behandelt; ihre Veröffentlichung ist geeignet, das Wohl des Deutschen Reiches zu gefährden und könnten einer fremden Regierung bei Ausbruch des Krieges von großem Vorteil sein.

Die Sachverständigen Major Perthes, Major v. Goßler und Major Erffling bestätigten das Gutachten und bemerkten auf Befragen des Vorsitzenden, daß derartige Einzelheiten über die Organisation des deutschen Heeres im allgemeinen und über den Aufmarsch der deutschen Truppen nach der Westgrenze sich nicht zur Veröffentlichung in einem militärfachwissenschaftlichen Journal eignen. Die Einzelheiten, die in der betreffenden Arbeit des Hentsch enthalten seien und im besonderen diejenigen, die Kraszewski von Adler gefordert hatte, interessieren das militärische Publikum durchaus nicht; sie haben jedoch für eine fremde feindliche Regierung ein hohes Interesse.

Der Vorsitzende verlas weiter ein Schreiben des Auswärtigen Amtes an den Reichskanzler Fürsten v. Bismarck, in dem es hieß: „Nach dem Pariser Wohnungsanzeiger von 1881 wohnte ein Graveur Zaleski in dem Hause ?Bibliotheque polonaise?. Es scheint, daß dieser Zaleski mit dem von Kraszewski genannten ten identisch ist. Die späteren Wohnungsanzeiger enthalten den Namen Zaleski nicht mehr. Was die 8 Schecks anlangt, so ist ermittelt worden, daß keine Geldsendung an Kraszewski von Zaleski gesandt worden ist; die meisten waren von einem de la Roche gesandt. Ein de la Roche ist Kabinettschef im französischen Auswärtigen Amt. Auch im französischen Kriegsministerium befindet sich ein de la Roche; es muß jedoch bemerkt werden, daß der Name de la Roche in Paris sehr häufig vorkommt.“

Ein weiteres Schreiben des deutschen. Botschafters Fürsten Hohenlohe an den Fürsten Reichskanzler bestätigte im wesentlichen den Inhalt dieses Schreibens.

Vors.: Nun, Herr v. Kraszewski, was sagen Sie zu diesen Briefen?

K.: Das ist richtig, Zaleski war zur Zeit, als die Geldsendungen an mich erfolgten, schwerkrank und mußte die Einzahlungen von anderen Personen besorgen lassen.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte Major Perthes: Im Großen Generalstabe werden alle französischen militärischen Journale sehr aufmerksam gelesen. Wenn die hier in Rede stehenden Arbeiten in einem dieser Journale gestanden hätten, so hätte das dem Großen Generalstabe nicht entgehen können.

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Saul äußerte der Sachverständige: Ich wiederhole, daß die Details, wie sie einmal in der Arbeit über den Truppenaufmarsch enthalten sind, als auch die von Kraszewski von Adler geforderten Mitteilungen für irgendein Preßorgan absolut nicht geeignet sind. Auch jeder Laie mußte sofort wissen, daß all die erwähnten Dinge streng sekreter Natur waren, daß ihre Geheimhaltung im Interesse des Deutschen Reiches dringend geboten schien, und daß ihre Veröffentlichung einer feindlichen Regierung von großem Vorteil sein könnte.

Es wurde alsdann ein von Hentsch an Adler unterm 3. Januar 1880 gerichteter Brief verlesen. In diesem hieß es unter anderem: „Geehrter Herr! Zunächst wünsche ich Ihnen ein glückliches Neujahr. Meinen besten Dank für die mir übersandten 100 Mark; leider waren diese nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Ich werde sehr bald in der Lage sein, Ihnen Mitteilungen über Einrichtungen des Ingenieurkorps, über Schießversuche gegen Hartgußpanzerungen, über eiserne Brücken, über den Verpflegungsetat der deutschen Armee im Kriege, über Instruktionen für den Generalintendanten, über die Fortifikation der Festung Metz u. dgl. mehr einzusenden. Sie sehen, ich bin nicht faul gewesen, ich karge nicht mit Vorschlägen. Ich habe jetzt eine vorzügliche Quelle entdeckt, es darf jedoch nicht wieder geknausert werden. Wir müssen den günstigen Augenblick benutzen; Knauserei rei kann aber den Plan sehr leicht zerstören. Ich werde Ihnen also schicken: Artilleriemagazin für 300 Mark, die Fortifikation von Metz für 600 Mark“; in dieser Weise ging die Tabelle weiter.

Der Vorsitzende verlas ferner einen Brief des früheren Militärattaches bei der russischen Botschaft in Wien, Major v. Feldmann. In diesem verlangte letzterer von Adler Mitteilungen über Aufmärsche der deutschen Armee, Truppenkonzentrationen usw.

Hentsch: Er habe die Briefe, die Feldmann an Adler gerichtet, niemals gesehen; die von ihm dem Adler gemachten Vorschläge seien niemals zur Ausführung gelangt.

Fräulein Flora Heinitz (Dresden), Wirtschafterin des v. Kraszewski, bekundete: Sie wurde eines Tages von K. zu Adler, der sich zur Zeit in Dresden aufhielt, geschickt, um diesem 1000 M. für eine Anzahl auszuantwortender Briefe zu geben. Adler nahm die 1000 Mark, quittierte über den Empfang und gab ihr die Briefe, die, wie sie glaube, Kraszewski sofort verbrannt habe.

Russischer Major a.D.v. Bodanowicz (Dresden): Ich kenne Dr. v. Kraszewski seit 1867. Ich wurde aufgefordert, ihm Korrespondenzen, auch militärischen Inhalts, zu liefern, lehnte diesen Auftrag jedoch ab, da ich mich dazu nicht für befähigt hielt.

Vors.: Bei Ihren früheren Vernehmungen haben Sie gesagt, Sie ahnten, daß die Korrespondenzen für die französische Regierung bestimmt seien, deshalb hielten Sie es mit Ihrer Ehre nicht vereinbar, den Aufträgen zu entsprechen.

Zeuge: Das habe ich wohl nicht gesagt; diesem Protokoll muß eine irrtümliche Auffassung zugrunde liegen.

Im weiteren äußerte der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Er wurde eines Tages von Kraszewski mit einem Schreiben zu Adler nach Wien gesandt und beauftragt, diesem gegen Aushändigung einer Anzahl Briefschaften 4000 Mark zu zahlen. Kraszewski sagte ihm nicht, welchen Inhalts die Briefschaften seien. Er habe, dem Auftrage des K. entsprechend, die von Adler erhaltenen Briefe, ohne sie näher anzusehen, an Zaleski nach Paris gesandt.

Vors.: Herr Dr. v. Kraszewski, waren denn die Briefe von so großer Wichtigkeit, daß Sie 4000 Mark für sie zahlten?

K.: Ich weiß das nicht mehr; infolge der langen Zeit sind viele Einzelheiten meinem Gedächtnis entschwunden.

Vors.: Sie kauften die Briefschaften von Adler, anläßlich der von diesem gegen Sie gerichteten Drohungen?

K.: Ja.

Vors.: Dann müssen diese Briefschaften für Sie doch sehr gravierend gewesen sein?

K.: Ich weiß mich auf den Inhalt der Briefe nicht mehr zu erinnern.

Der Vorsitzende verlas darauf ein am 24. Mai 1879 von Hentsch an Adler gerichtetes Schreiben. In diesem hieß es: „Bester Herr! Ich schreibe noch heute, damit Sie noch am Sonntag Antwort erhalten. Die Mitteilungen, die Sie haben wollen, lassen sich selbstverständlich nicht so schnell beschaffen. Es ist dazu viel sekretes Material und eine Verbindung mit Straßburg und Metz erforderlich. Die Beschaffung der geforderten Mitteilungen dürfte also mindestens 2 Monate in Anspruch nehmen. Die Beschaffung erfordert aber viele Reisen, und ich erwarte daher umgehend ein größeres Honorar. Ich kann mir nicht denken, daß Ihr Auftraggeber Ihre Knauserei billigt. Wenn man solch wichtige Mitteilungen verlangt, dann muß man auch größere Opfer bringen können. Man muß den günstigen Augenblick doch stets benützen. Wenn Sie weniger engherzig wären, würden Sie viel mehr erhalten, aber die Beschaffung von Material kostet Geld. Es strömt mir augenblicklich so viel Material zu, daß ich, um damit zu räumen, gern 20 Korrespondenzen in einem Monat machen würde; die verlangten Bücher kann ich Ihnen nicht sofort verschaffen; ich würde, wenn ich dabei übereilt handle, Verdacht erregen und mich am meisten schädigen. Bekommen kommen sollen Sie die Bücher. Daß Sie nicht mehr erhalten haben, verschuldet Ihr Auftraggeber, der sehr wankelmütig zu sein scheint. Ich habe ihm schon vor einiger Zeit Mitteilungen über Eisenbahn- und Telegraphenanlagen im Kriege und ihre Zerstörbarkeit, sowie die Einrichtung der Feldtelegraphie im besonderen usw. angeboten, er hat sie jedoch abgelehnt. Jetzt will er sie haben; so schnell lassen sie sich aber nicht wieder beschaffen. Die Felddienstorders kann ich Ihnen beschaffen, aber ich wiederhole nochmals, ohne Geld läßt sich nichts machen.“

Hentsch: Er habe diesen Bericht im Auftrage Adlers geschrieben, um Dr. v. Kraszewski, den er damals noch nicht kannte, zu veranlassen, größere Geldsummen herzugeben.

Vors.: Sie haben aber in der Tat eine Arbeit über Feldtelegraphie gemacht; die Arbeit ist bei Ihnen gefunden worden?

Hentsch: Das ist richtig; ich habe die Arbeit jedoch lediglich für mich gefertigt, eine Abschrift habe ich an niemanden gegeben.

Vors.: Aus welchem Grunde verfaßten Sie die Arbeit?

Hentsch: Zu meiner eigenen Belehrung; ich machte die Arbeit nach einem in der Kaserne des Ingenieurkorps gehaltenen Vortrage.

Der Vorsitzende hielt Hentsch aus dem Protokoll vor, daß er sich bezüglich dieser Angelegenheit vielfach widersprochen habe. Der Vorsitzende verlas ferner einen von Hentsch an Adler im Juli 1879 gerichteten Brief. In diesem hieß es: „Ich bin in der Lage, Ihnen wichtige Mitteilungen über neue Panzergeschütze und Festungsanlagen zu machen. Ferner ist in Spandau ein Versuch mit Pyroxinraketen gemacht worden. Ich könnte Näheres genau erfahren; Sie müssen aber den Alten veranlassen, sofort Geld zu schicken, und zwar ehe es zu spät ist. Die Raketen werden nämlich schon in den nächsten Tagen von Spandau nach Berlin transportiert, alsdann dürfte es mir nicht mehr möglich sein, etwas zu erfahren. Ferner ist ein neuer Sprengstoff erfunden worden. Vielleicht gelingt es mir, auch darüber Genaues zu erfahren; die Sache ist jedoch erst im Entstehen. Auf alle Fälle, dies wiederhole ich, ist Geld erforderlich, wenn man Wichtiges erfahren will. Ich erwarte deshalb umgehend Sendung.“

Vors.: Was sagen Sie nun dazu, Hentsch?

H.: Auch diesen Brief habe ich nur im Auftrage Adlers geschrieben, um den K. zur Geldhergabe zu veranlassen. Ich bemerke, daß die Dinge, die ich versprach, so z.B. die Versuche mit den Pyroxinraketen gar nicht stattgefunden haben.

Sachverständiger Oberstleutnant Wodke: Die Bemerkung des Hentsch ist unwahr; es haben in Spandau dau Versuche mit Pyroxinraketen stattgefunden.

Es wurde hierauf ein von Hentsch am 19. Juli 1880 an Adler gerichteter Brief verlesen. In diesem hieß es: „Bester Herr Adler! Ich werde Ihnen sehr bald wieder Arbeiten senden. Die verlangten Mitteilungen, Feldpostdienstordnung usw. kann ich augenblicklich nicht erlangen. Zunächst bedarf ich dazu Geld, mein Gewährsmann ist schon etwas ungeduldig; er verlangt mindestens für die Herausgabe 100 Mark. Das verlangte höhere Reglement kann ich Ihnen erst nach etwa 3 Monaten, nach Beendigung des Manövers, verschaffen. Allein ich kann Ihnen eine ganz neue Instruktion über Felddiensttelegraphie schicken.“

Ein weiterer, ebenfalls im Juli 1880 von Hentsch an Adler gerichteter Brief besagte: „Ich bin in der Lage, Ihnen zu übermitteln: Instruktion über Repetiergewehr für 150 Mark, Original eines Zünders für 350 Mark, Instruktion für Feldtelegraphie für 60 Mark, Rohr- und Kastenbrückenbauten für 100 Mark. Jedenfalls bitte ich, mich nicht in Verlegenheit zu lassen und mir nicht wieder einen Wechsel zu schicken.“

Vors.: Nun, Hentsch, was sagen Sie dazu?

Hentsch: Das ist richtig; es war das die Arbeit, die ich ein Jahr vorher für mich anfertigte.

Leutnant Rüppel (Stettin): Ich stand zur Zeit in Kolberg in Garnison und lernte dort Hentsch kennen. Dieser verkehrte viel mit Offizieren. Auf Ersuchen des Hentsch übergab ich ihm verschiedene Vorträge über Festungskriege, die ich als Hörer in der Ingenieurschule erhalten hatte. Ich ahnte nicht, daß sie zur Übermittelung an eine feindliche Macht dienen sollten.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Saul sagte der Zeuge: Es machte auf mich nicht den Eindruck, als verlange Hentsch etwas Sekretes.

Alsdann wurde folgendes, vom Fürsten Bismarck an den Kriegsminister Bronsart v. Schellendorf gerichtetes Schreiben verlesen: Ew. Exzellenz. In bezug auf den Fall Kraszewski beehre ich mich, Ew. Exzellenz folgende Mitteilung zu machen. In Paris besteht seit dem Jahre 1864 eine Gesellschaft unter dem Namen „Towarzystow Zolnierzypolski“ („Polnisch-Militärische Gesellschaft“). Diese zählt 30 Mitglieder und hat sich, um für die Wiederherstellung Polens zu wirken, zur Aufgabe gemacht: 1. eine Statistik über die Stärke der europäischen Armeen herzustellen, 2. eine Verbindung zwischen Offizieren polnischer Nationalität anzubahnen, welche sich in deutschen, russischen und österreichischen Diensten befinden und 3. bei allen wichtigen europäischen Ereignissen werktätig einzugreifen. Die Gesellschaft hat bereits mehrfach ihre Tätigkeit entfaltet, so im Jahre 1866 bei dem Garibaldischen Freikorps, 1870/71 unter Wolowski in Frankreich, 1877/78 in türkischen Diensten. Im Jahre 1873 wurden sämtliche Mitglieder von dem Chef des Statistischen Bureaus des französischen Kriegsministeriums, Oberst Samuel, zu Spionendiensten benützt. Im Jahre 1877 wurde das Bureau aufgelöst, und Gambetta beauftragte den Wolowski, ein Nachrichtenbureau zu konstituieren, um Mitteilungen über die deutsche, österreichische, russische und italienische Armee zu erhalten. Der Mittelpunkt dieses Bureaus war in Dresden. Kraszewski hatte es übernommen, Nachrichten entgegenzunehmen und sie zu honorieren. Bei Anwesenheit des Kraszewski in Pau und Tarmer verkehrte er mit Samuel und wurde von diesem Herrn dem Minister Ferry vorgestellt, der ihm eine Dekoration versprach. Als die Verhaftung Kraszewskis in Paris bekannt wurde, ließ General Thibaudin bei dem Baron v. Erlanger Haussuchung halten, da letzterer im Verdachte steht, deutscher Agent zu sein. Um jedoch dieses Motiv zu verdecken, gab man an, es handle sich um die Untersuchungsangelegenheit der „Union générale“. Gambetta hatte außerdem in Wien einen Agenten, namens Wolowski, der seinem in Paris lebenden Bruder die für die französische Regierung bestimmten Nachrichten übersandte. Ergebenst: „Bismarck.“ (Große anhaltende Bewegung.)

Angekl. Dr. v. Kraszewski, der bis dahin ziemlich teilnahmslos dasaß, erhob sich anscheinend in voller Entrüstung und rief wiederholt in sehr gereiztem Tone: Kein Wort ist davon wahr, was in diesem Briefe behauptet wird. Ich kann schwören, daß absolut nichts wahr davon ist; ich kenne niemanden von den in dem Schreiben genannten Franzosen.

Am dritten Verhandlungstage nahm das Wort Verteidiger Rechtsanwalt Saul: Ich habe nicht Veranlassung genommen, den Kriminalkommissar Paul über die Tätigkeit meines Klienten, Dr. v. Kraszewski, in Dresden zu fragen, da bisher in dieser Beziehung absolut nichts Gravierendes zutage getreten ist. Allein der gestern verlesene Brief des Fürsten Bismarck an den Kriegsminister veranlaßt mich, den Antrag zu stellen, den Kriminalkommissar Paul noch einmal über die Tätigkeit Kraszewskis in Dresden zu vernehmen. Die Tätigkeit des Dr. v. Kraszewski in Dresden ist bereits Gegenstand der Untersuchung gewesen.

Oberreichsanwalt Dr. Frhr. v. Seckendorff: Ich habe gegen diesen Antrag nichts zu erinnern.

Der Gerichtshof beschloß, den Kriminalkommissar Paul noch einmal vorzuladen.

Vors.: Wir kommen nun zu den Mitteilungen, die vom Angeklagten Hentsch der russischen Regierung gemacht worden sind. Angeklagter Hentsch, diese Ihre Tätigkeit begann im Januar 1880, zu welcher Zeit Sie mit Adler von neuem in Verbindung traten. Erzählen Sie einmal, in welcher Weise diese neue Verbindung angebahnt worden ist?

Hentsch: Ich habe bereits gesagt, daß, als Ende 1879 Adler sich mit Kraszewski verfeindete und ich nun mit K. direkt in Verbindung trat, er uns beiden mit Denunziation drohte, mit dem Bemerken: Kraszewski habe alle Arbeiten an die französische Regierung verkauft. K. schwor mir, daß er mit keiner Regierung in Verbindung stehe, sondern die Arbeiten lediglich für Journale liefere. Adler setzte jedoch seine Drohungen fort und schrieb mir, er werde von einer Denunziation Abstand nehmen, wenn ich wieder mit ihm in Verbindung träte. Anläßlich dessen ließ ich mich dazu herbei, nachdem mir auf mein Befragen Adler wiederholt die Versicherung gab, daß die zu liefernden Arbeiten ausschließlich an Journale gegeben werden. Im Dezember 1880 sagte mir Adler, ich solle die Korrespondenz ihm stets in zwei Exemplaren liefern und die eine mit R. und die andere mit O. bezeichnen.

Vors.: Sie erhielten nun für die R.-Korrespondenz höhere Bezahlung als für die O-Korrespondenz?

Henisch: Ja. Adler sagte mir, der R.-Korrespondent sei bedeutend reicher als der O.-Korrespondent.

Vors.: Wußten Sie, wer die Herren sind und was sie mit den Arbeiten machten?

Henisch: Adler sagte mir, es seien dies Zeitungskorrespondenten, die die Arbeiten für Journale benützen. Anfang des Jahres 1881, etwa zu der Zeit, als das Attentat auf den Kaiser von Rußland gemacht wurde, kam Adler nach Berlin und gestand mir, er benütze meine Arbeiten für die russische Regierung. Von diesem Augenblicke brach ich jede Verbindung mit Adler ab.

Vors.: Vorher wußten Sie es nicht, daß Adler ein Agent der russischen Regierung ist?

Hentsch: Nein, das glaubte ich absolut nicht; die Preise, die für die Arbeiten gezahlt wurden, waren auch durchaus nicht solche, wie sie wohl eine Regierung bezahlen dürfte.

Vors.: Haben Sie dieses hier vorliegende, bei Ihnen vorgefundene Konzept in derselben Weise an Adler geschickt?

Henisch: Das weiß ich nicht genau; ich glaube jedoch, das, was ich einsandte, war eine wirkliche Abschrift des vorliegenden Konzeptes.

Vors.: Dieses Schriftstück enthält einen Mobilmachungsplan des dritten Armeekorps, die Pferdeaushebung betreffend?

Henisch: Jawohl; ich habe nur das Aushebungsreglement, das für jedermann zu kaufen ist, geliefert.

Vors.: Sie haben in dieser Beziehung die verschiedensten Angaben gemacht. Sie haben bereits in der Voruntersuchung gesagt: Sie haben das geheime Instruktionsreglement dem Ihnen zur Zeit befreundeten Stallmeister Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen Wilhelm von Preußen, Plinzner, genommen und es dem Adler eingesandt. Im übrigen haben Sie auch dem Adler diese Ihre Akquisition mitgeteilt?

Hentsch: Ich habe das Instruktionsreglement geliehen erhalten; genommen habe ich es mir nicht. Daß das von Plinzner gegebene Instruktionsreglement geheim gewesen, wußte ich nicht.

Vors.: Daß Sie das geheime Instruktionsreglement des dritten Armeekorps mitgeteilt, geht aus diesem Schriftstück hervor. Sie haben in dieser Beziehung Ihre Angaben in der Voruntersuchung ebenso vielfach geändert, wie Ihre Aussagen bezüglich des Adler.

Hentsch: Das weiß ich nicht.

Der Vorsitzende verlas die vom Amtsgerichtsrat Pniower zu Protokoll gegebene Aussage des Hentsch; danach hat dieser gesagt: „Ich wußte, daß Adler ein Agent der russischen und österreichischen Regierung ist und habe ihm trotzdem, teils um Geld zu verdienen, teils um einer Denunziation auszuweichen, Arbeiten geliefert.“ Sie haben allerdings diese Ihre Aussage sehr bald widerrufen. Fest steht aber, daß Sie sich bereits schuldig bekannt haben.

Hentsch: Es ist möglich, daß ich eine solche Aussage gemacht habe; ich war an diesem Tage in einem Zustande, daß ich selbst nicht wußte, was ich sprach.

Stallmeister Plinzner (Potsdam): Ich bin Stallmeister Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen Wilhelm von Preußen. ßen. Ich war für den Fall einer Mobilmachung zur Zeit als Kommissar für die Pferdeaushebung in Frankfurt a.M. bestimmt. Ich lernte den Hauptmann a.D. Hentsch Anfang 1880 in Berlin in einem geselligen Verein kennen. Hentsch verkehrte in Berlin in den höchsten Kreisen, hauptsächlich in höheren Offizierskreisen. Im Sommer 1880 besuchte mich Hentsch in Kolberger-Münde, woselbst ich mich zur Kur aufhielt. Eines Tages bat mich Hentsch, ihm das in meinem Besitze befindliche Dienst-Instruktionsreglement für Pferdeaushebung zu leihen. Ich entsprach diesem seinem Wunsche, ich glaubte nicht, daß das Reglement sekreten Charakters sei.

Magistratssekretär Gaede (Berlin): Ich kenne Hentsch schon seit vielen Jahren; er verkehrte in Berlin in den feinsten Kreisen. Im Sommer 1880 traf ich mit Hentsch in Kolberg zusammen. Er bat mich, sobald ich wieder nach Berlin zurückkomme, ihm bei Mittler & Sohn ein Reglement für Pferdeaushebung zu kaufen und es ihm einzusenden. Das tat ich auch.

Amtsgerichtsrat Pniower (Berlin): Eines Tages machte ich dem Hentsch die Eröffnung, daß nun ein anderer Richter die Untersuchung gegen ihn führen werde. Hentsch war infolgedessen ungemein zerknirscht; er sagte mir: Ich will ein offenes Geständnis ablegen. Das ist schön, sagte ich; dann ist es aber auch erforderlich, daß Sie sich überlegen, was Sie sagen; ich werde Ihre nunmehrige Aussage wörtlich protokollieren lassen. Darauf äußerte Hentsch genau wie im Protokoll steht: „Ich habe gewußt, daß Adler ein Agent der russischen und österreichischen Regierung ist, und habe ihm, von seinen Drohungen eingeschüchtert, trotzdem nach wie vor sekrete Dinge mitgeteilt.“ Es ist allerdings richtig, Hentsch war bisweilen etwas verwirrt, er zeigte sich überhaupt von Anfang an sichtbar zerknirscht und reumütig. Ganz besonders, als ich ihm sein großes Verbrechen in eindringlicher Weise vorhielt, beklagte er sein Schicksal mit dem Bemerken, er sei infolge des ersten Fehltritts in der Hand Adlers gewesen und konnte, auf dieser einmal betretenen Bahn angelangt, nicht mehr zurück. Das Geständnis hat Hentsch zweifellos mit voller Überlegung getan. Ich glaube, es haben ihn dazu auch die vorhandenen Briefe des Adler sowie der Umstand veranlaßt, daß ich ihm sagte, er solle bedenken, daß das Gesetz bei dem Verbrechen des Landesverrats auch mildernde Umstände zuläßt. Unmittelbar nach seinem Geständnis hat er es widerrufen.

Landgerichtsrat Brausewetter (Berlin): Hentsch hat mir unumwunden zugestanden, daß er das geheime Instruktionsreglement für Pferdeaushebung sich von Plinzner geliehen, ohne dessen Wissen abgeschrieben und an Adler gesandt habe. Während er in anderen Dingen leugnete, machte er in dieser Beziehung hung ein volles unumwundenes Geständnis. Er drückte sein Bedauern aus, daß er dies getan, indem er bemerkte: Zehn Jahre meines Lebens würde ich darum geben, wenn ich das nicht getan hätte.

Es wurde alsdann ein Gutachten des Chefs des dritten Armeekorps, Freiherrn v. Falkenstein, verlesen. Dieses besagte: Die von Hentsch an Adler gelieferte Arbeit über das Pferdeaushebungsreglement des dritten Armeekorps im Falle einer Mobilmachung war streng sekreten Charakters. Die Geheimhaltung war für das Wohl des Deutschen Reiches dringend geboten.

Dasselbe besagte auch ein weiteres Gutachten des Kriegsministeriums; es bestätigte das erstere mit dem Bemerken, daß das Instruktionsreglement das in den Buchhandlungen käuflich zu habende Reglement richtigstelle.

Major v. Goßler: Es existiert ein von Sr. Majestät dem Kaiser erlassener Mobilmachungsplan. Zu diesem allgemeinen Mobilmachungsplan werden von den Generalkommandos Ergänzungen, betreffend die Verpflegung der Truppen usw., gemacht. Ferner geben die Generalkommandos Mobilmachungs-Spezialinstruktionen an die in der Mobilmachungskommission beschäftigten Offiziere. Eine solche Mobilmachungsinstruktion war die dem Hentsch von Plinzner übergebene. Diese Instruktionen werden den Offizieren in Friedenszeiten gegeben, um bei einer plötzlichen Mobilmachung vollständig orientiert zu sein. Daß die Instruktion sekreten Charakters war, mußte dem Hentsch, wenn er sie sich aufmerksam durchlas, vollständig klar sein. In dieser Instruktion ist die ganze Organisation der Pferdeaushebung bei einer Mobilmachung in allen Einzelheiten enthalten. Die Mitteilung dieser Instruktion an eine fremde Regierung kann zweifellos das Wohl des Deutschen Reiches aufs höchste gefährden.

Darauf wurde zu den von Hentsch an Adler gelieferten Arbeiten über die Fortifikation von Metz übergegangen. Der Vorsitzende verlas zunächst einen Brief, den der Militärbevollmächtigte bei der russischen Botschaft in Wien, Major v. Feldmann, an Adler geschrieben. Dieses Schreiben besagte: „Ich wünsche Mitteilung über die Fortifikation von Metz, über die Konstruktion der Geschützwagen (Ober- und Untergestell) und die Tragfähigkeit der Wagen, über die Konstruktion der bombensicheren Eisendecken, die Konstruktion der Küstenwerke.“ Hentsch behauptete, von diesem Briefe keine Kenntnis zu haben. Der Vorsitzende verlas hierauf einen von Hentsch an Adler gerichteten Brief, in dem es hieß: Ich bin in der Lage, Ihnen mitzuteilen, Einrichtung der offenen Küstenwerke 240 bis 400 Mark (d.h.R. 400, O. 240), Provisorischer Geschützstand 60 bis 108 Mark, Konstruktion struktion der bombensicheren Eisendecken 40 bis 90 Mark.

Hentsch: Ich habe diese Arbeiten an Adler nicht geliefert; ich habe ihm lediglich einen Auszug aus der Fortifikation von Metz gesandt, etwas, was ich durchaus nicht für sekret hielt. Ich habe diese meine Arbeit aus dem Heft 23 der Ingenieurmitteilungen entnommen.

Vors.: Sie wußten aber damals bereits, daß Adler Agent der russischen Regierung ist?

Hentsch: Jawohl.

Vors.: Und trotzdem nahmen Sie keinen Anstand, dem Adler eine solche Arbeit zu übermitteln?

Hentsch: Herr Präsident, einmal wollte ich den Adler los werden und andererseits hielt ich diese Mitteilung durchaus nicht für sekret.

Vors.: Was heißt das, Sie wollten den Adler los werden; Sie hatten doch nur nötig, ihm nichts mehr zu geben, dann waren Sie ihn los. Und daß diese Ihre Mitteilungen sekreter Natur waren, mußte Ihnen klar sein?

Hentsch: Ich glaubte das nicht.

Vors.: Sie waren preußischer Infanteriehauptmann; was hatten Sie getan, wenn Sie in Metz gestanden und gesehen hätten, daß ein russischer oder französischer Offizier sich Zeichnungen über die Anlage der Festungseisenbahn, die zum Transport der Geschütze dient, und über die Geschützwagen macht?

Hentsch: Wenn ich gewußt hätte, daß die Beschreibung in den Heften des Ingenieurkomitees, die im Buchhandel zu haben sind, steht, dann hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Ein alsdann verlesenes Gutachten des Kriegsministeriums besagte: Der Auszug über die Fortifikation von Metz war nicht direkt sekreten Charakters, stand jedoch unter dem Schutz des Dienstgeheimnisses.

Major Erffling: Die Lage der Festung Metz ist eine solche, daß, wenn dem Feinde die Kommunikationsverhältnisse der Geschütze genau bekannt sind, er nur nötig hat, seine Geschütze auf diesen Punkt zu richten. Dadurch wird es ihm gelingen, die Soldaten in der Festung in ihren Verteidigungsmitteln zu beschränken und somit die Festung zu nehmen. Somit wird selbstverständlich das Wohl des Deutschen Reiches aufs höchste gefährdet. Das muß jedem Offizier und auch dem Angeklagten Hentsch vollständig klar sein.

Hentsch: Er habe das Heft 25 des Ingenieurkomitees von dem Leutnant Friedrich, der es ihm aus der Bibliothek des Eisenbahnregiments lieh, erhalten. Ob speziell das Heft 23 im Buchhandel zu haben sei, wisse er nicht, jedenfalls seien eine Anzahl Hefte im Buchhandel zu haben, er habe deshalb mit Bestimmtheit angenommen, daß auch das Heft 23 käuflich sei.

Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Samter überreichte mehrere Rechnungen von Berliner Buchhändlern über gekaufte Hefte des Ingenieurkomitees.

Major Erffling bestritt, daß das Heft 23 im Buchhandel zu haben sei.

Leutnant Balthasar (Koblenz): Ich lernte den Hentsch im Sommer 1881 in einem geselligen Verein in Berlin kennen. Hentsch war in diesem Verein Maître de plaisir; er verkehrte in Berlin in den feinsten Kreisen, gab oftmals Festlichkeiten und führte überhaupt einen sehr guten Hausstand. Seine elegant eingerichtete Wohnung machte den Eindruck großer Wohlhabenheit. Ich verkehrte in den Jahren 1881/82 vielfach, und ich muß gestehen, sehr gern in seiner Familie. Er ersuchte mich einmal, ihm ein Heft des Ingenieurkomitees zu leihen; ich willfahrte seinem Wunsche, wenn auch mit Widerstreben. Welches Heft dies gewesen, weiß ich nicht. Hätte ich geahnt, daß Hentsch aus dem Heft Auszüge behufs Übermittelung an eine fremde Regierung machen würde, dann hätte ich es ihm selbstverständlich nicht geliehen.

Photograph Coßmann: Ich habe dem Hentsch auf sein Ersuchen die in dem Heft 23 des Ingenieurkomitees befindliche Karte über die Fortifikation der Festung Metz aufgezeichnet. Alsdann wurde zu der von Hentsch an Adler gemachten Mitteilung, betr. technische Vorschriften über Fortifikationsartillerie und Garnisonsbauten übergegangen.

Vors.: Woraus haben Sie diese Ihre Arbeiten entnommen?

Hentsch: Ich entnahm sie aus dem Buche von Wagner (Hauptmann im Ingenieurkorps).

Vors.: Sie wußten damals bereits, daß Adler Agent der österreichischen und russischen Regierung ist?

Hentsch: Jawohl, allein ich glaubte nicht, daß diese Mitteilung sekret sei, da das Buch im Selbstverlag des Herausgebers zu kaufen war.

Vors.: Und selbst wenn das richtig wäre, dann hätten Sie doch als ehemaliger preußischer Offizier wissen müssen, daß Mitteilungen an eine fremde Regierung, wie Sie sie hier gemacht, das Wohl des Deutschen Reiches unendlich gefährden könnten?

Hentsch: Ich konnte mir nicht denken, daß etwas sekret ist, was man im Buchhandel kaufen kann.

Photograph Coßmann gab zu, dem Hentsch eine Zeichnung der erwähnten Fortifikation gemacht zu haben.

Ein alsdann verlesenes Gutachten des Kriegsministeriums besagte: Die von Hentsch dem Adler überlieferte Mitteilung ist in hohem Maße geeignet, das Wohl des Deutschen Reiches zu gefährden. Die Arbeit des Hentsch enthält genaue Angaben über Vorschriften von Festungsneubauten, die selbstverständlich sekreter Natur sind und einer feindlichen Macht unendlichen Vorteil gewähren könnten. Das Buch des Hauptmanns Wagner ist keineswegs im Buchhandel zu haben.

Major Erffling: Ich kann das Gutachten des Kriegsministeriums nur vollinhaltlich bestätigen. Dem Hauptmann Wagner ist eine Anzahl sekretes Material übergeben worden, um dies Buch zu verfassen. Das Material ist dem Hauptmann Wagner dienstlich mit der Verpflichtung, es geheim zu halten, übergeben worden. Das Buch ist eine Zusammenstellung einer Anzahl technischer Dinge über Fortifikationen und gewährt einen Einblick über die Vorschriften von Festungsneubauten. Das Buch bildet gewissermaßen ein Kompendium für Offiziere und ist nur auf dem Wege der Subskription von dem Hauptmann Wagner persönlich zu beziehen. Selbstverständlich verkauft Hauptmann Wagner das Buch nur an ihm persönlich bekannte oder direkt empfohlene Offiziere als dienstlich sekret zu behandelndes Werk. Wagner kennt jeden einzelnen, der das Buch von ihm gekauft hat, und ist bemüht, es von den Angehörigen verstorbene Offiziere zurückzuerhalten. Die von Hentsch dem Adler gemachten Mitteilungen waren in hohem Maße geeignet, dem Feinde Vorschub zu leisten. Es ist zweifellos, daß der Angeklagte sich der Strafbarkeit seiner Handlung bewußt gewesen sein muß. In dem bei dem Angeklagten vorgefundenen Wagnerschen Buche sind mehrere Stellen mit Bleistift angestrichen. Ich vermute, daß Hentsch die falschen Angaben im Wagner durchstrichen hat, um die genauen Zahlen mitzuteilen.

Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Samter: Der Angeklagte kann hierbei sehr wohl bona fide gehandelt haben, zumal von einer Anzahl anderer Schriftsteller. Bücher über Verpanzerungen und ähnliche Dinge im Buchhandel zu haben sind.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts Treplin bemerkte Hentsch: Er habe das Buch von Wagner ebenfalls von dem Leutnant Friedrich, der es ihm aus der Bibliothek des Eisenbahnregiments geliehen, erhalten.

Es folgte der Anklagepunkt, betreffend die Überlieferung des Hentsch an Adler, betreffend das Buch: „Die Verwendung des Infanteriegewehres M 71 nebst einer Anleitung zum Distanzeschießen von A. Mieg, königlich bayrischer Major a.D.“

Vors.: Sie geben zu, den ganzen Inhalt des Buches an Adler übermittelt zu haben?

Hentsch: Ich habe bloß die ersten 114 Seiten, die den ballistischen Teil behandeln, abgeschrieben. Den folgenden Teil, der die Anleitung zum Distanzeschätzen behandelt, habe ich nicht abgeschrieben.

Ein von Hentsch an Adler gerichteter Brief besagte: „Ich werde Ihnen den Mieg schicken, sobald Sie mir 500 Mark vorher senden. Sie können mir diese meine Forderung der Vorausbezahlung nicht verdenken, denn wenn Sie die Arbeit haben, kann ich, wenn Sie nicht zahlen wollen, nichts gegen Sie ausrichten“. Ich will eben nicht noch einmal „reinfallen“.

Vors.: Sie bleiben dabei, daß Sie nur den ersten Teil des Buches abgeschrieben und an Adler gesandt haben?

Hentsch: Ja.

Vors.: Weshalb schrieben Sie das Buch nicht vollständig ab?

Hentsch: Ich wäre sonst mit der Arbeit nicht fertig geworden; ich durfte es bloß 14 Tage behalten.

Vors.: Sie wußten damals bereits, daß Adler Agent der österreichischen Regierung ist, und wußten ferner, daß er die Arbeit an die österreichische Regierung verkaufen wollte?

Hentsch: Jawohl, ich hielt jedoch den Inhalt des Buches nicht für sekret, da ich ähnliche Dinge schon einige Jahre vorher in anderen Büchern gelesen hatte.

Vors.: Von wem erhielten Sie das Buch?

Hentsch: Von dem Hauptmann Thiede in Kolberg.

Hauptmann Thiede: Ich habe dem Hentsch das Buch von Mieg auf dessen Ansuchen geliehen. Ich war der Meinung: Hentsch sei erst einige Zeit vorher abgegangen und infolgedessen sei ihm das Buch ebenso bekannt wie mir. Selbstverständlich hielt ich den Inhalt des Buches für sekret; ich glaubte jedoch keinen Anstand nehmen zu sollen, es einem Manne, wie Hentsch, zu leihen.

Ein hierauf verlesenes Gutachten des Kriegsministeriums besagte: „Dem ehemaligen bayrischen Hauptmann Mieg ist zur Zeit amtliches Material behufs Zusammenstellung des Buches übergeben worden, um eine Instruktion für die Infanterieoffiziere zu schaffen. Das Buch ist vollständig sekret und die Mitteilung seines Inhalts an eine fremde Macht für das Wohl des Deutschen Reiches schädigend. Dies mußte auch dem Hentsch bekannt sein. Jeder Offizier hatte die Pflicht, das Buch aufs strengste geheim zu behandeln.“

Major v. Goßler bestätigte dies Gutachten und führte aus: Es wurde zur Zeit ein Gewehr erfunden, das bedeutend besser als das Zündnadelgewehr war. Die praktische Anwendung machte jedoch Schwierigkeiten. Es mußte deshalb darauf Bedacht genommen werden, Einrichtungen zu treffen, das Gewehr besser zu konstruieren, um eine Überlegenheit über den Feind zu gewinnen. Deshalb wurde sowohl auf die bessere Schießausbildung des einzelnen Mannes, sowie auf eine bessere Instruktion für die Feuerleitung Bedacht genommen. Anläßlich dessen wurde Hauptmann Wagner, unter Überreichung des nötigen Materials, mit der Zusammenstellung des Buches beauftragt, das den Infanterieoffizieren als geheime Instruktion tion für die Feuerleitung dienen sollte. Wenn der Inhalt des Buches einer fremden Macht bekannt wurde, dann war selbstverständlich das Wohl des Deutschen Reiches gefährdet.

Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Sachverständige: Die in dem Buche enthaltenen Einzelheiten waren wohl bekannt, das System bezüglich der Feuerleitung war jedoch lediglich der deutschen Regierung bekannt und sollte das geistige Eigentum der deutschen Infanterieoffiziere werden. Durch den Umstand, daß das Buch in Regimentsbibliotheken vorhanden war, wurde sein sekreter Charakter nicht beseitigt. Die Geheimhaltung der mitgeteilten, Seiten 1 bis 114 war für das Wohl des Deutschen Reiches ebenso geboten, wie der übrige Teil des Werkes.

Vors.: Angeklagter, auf dem Buche steht noch extra gedruckt: „Streng geheim zu halten.“

Hentsch: Ich stelle auch keineswegs den sekreten Charakter des Buches in Abrede, allein das, was in dem Buche enthalten, ist lange vorher durch die verschiedensten Bücher bekannt gewesen. Auch in Österreich war das, was in dem Buche mitgeteilt ist, längst bekannt.

Vors.: Und trotzdem ließ die österreichische Regierung sich das Buch schicken und zahlte 500 M. dafür?

Hentsch: Ich habe kein Geld dafür erhalten.

Vors.: Hat Adler auch nichts dafür bekommen?

Hentsch: Das weiß ich nicht. Adler schrieb mir, er könne mir Geld dafür nicht schicken, da das Buch längst bekannt, mithin ohne Wert sei.

Der Angeklagte führte noch, unter Anführung verschiedener Schriftsteller, aus, daß der Inhalt des Miegschen Buches vollständig bekannt war.

Major v. Goßler: Die nicht offiziellen Publikationen der höheren aktiven Offiziere sind allerdings für eine fremde Regierung wertlos, da diese die Intention der Militärbehörde nicht erkennen lassen.

Landgerichtsrat Brausewetter und Amtsgerichtsrat Pniower bekundeten übereinstimmend: Hentsch habe ganz ausdrücklich bekannt, daß die Auslieferung des Miegschen Buches, an Österreich strafwürdig sei.

Am vierten Verhandlungstage verlas der Vorsitzende, Senatspräsident Drenkmann zwei Briefe, die Hentsch an Adler am 23. und 24. Oktober 1880 gesandt hatte. Der erste Brief lautete: „Die 60 Mark habe ich erhalten. Die Instruktion für den Generalintendanten habe ich Ihnen gesandt. Das Magazin kann ich augenblicklich nicht beschaffen. Die Kontrolle ist augenblicklich eine so strenge, daß kein Arbeiter auch nur ein Stückchen Papier mit herausnehmen darf. Wenn Sie mir jetzt 1000 Mark gäben, dann wäre ich nicht imstande, es Ihnen augenblicklich zu beschaffen. Fremde Mächte haben schon 5-600 Mark dafür zahlen wollen; augenblicklich ist jedoch absolut kein Exemplar zu erlangen. Wenn es zu erhalten ist, dann bin ich jedenfalls der erste, der es bekommen wird. Für 120 Mark wird es, meiner Meinung nach, beschafft werden können; ich will bloß 20 Mark dabei verdienen. Senden Sie also 140 Mark, dann dürfte es sich schon beschaffen lassen. Ich bin in der Lage, Ihnen auch eine Zeichnung von den neuen Revolvern zu liefern, mit denen demnächst die Kavallerie ausgerüstet werden soll. Ferner kann ich Mitteilungen des Ingenieurkorps liefern. Allerdings darf hierbei der günstige Augenblick nicht wieder versäumt werden; es darf nicht wieder geknausert werden.“

Am 26. Oktober 1880 schrieb Hentsch an Adler: „Bester Herr! Leider vermag ich das Magazin immer noch nicht zu beschaffen. Augenblicklich kann es keine Macht der Erde erhalten; selbst dem Prinzen Wilhelm ist die Aushändigung eines Exemplars abgelehnt worden. Allein, ich werde es schon erhalten, wenn Sie 150 Mark anlegen wollen. 50 Mark will ich dabei aus meiner Tasche zulegen, denn unter 200 M. ist es keinesfalls zu beschaffen. Mehr als 50 Mark kann ich aber nicht verlieren. Aber ich will es Ihnen beschaffen, um Ihrem Auftraggeber zu zeigen, daß ich leistungsfähig bin. Daß Ihr Auftraggeber bessere Quellen hat, bezweifle ich. Die Bücher kann ich augenblicklich nicht beschaffen. Ich ersuche Sie aber dringend, die 37 Mark mir sofort telegraphisch zu senden; ich hoffe bestimmt, das Geld noch heute zu erhalten.“

Vors.: Was war das für ein Magazin?

Hentsch: Das Löwesche Magazin, eine Anlage zum Mausergewehr. Es war vollständig bekannt und längst patentiert.

Major Erffling: Das Löwesche Magazin war nicht bekannt, sondern ein Geheimnis der deutschen Armee und seine Geheimhaltung im Interesse des Deutschen Reiches geboten.

Hentsch: Ich bleibe dabei, daß das Magazin längst bekannt war.

Vors.: Sie haben dem Adler ferner ein Reglement für die Geldverpflegung der deutschen Armee im Kriege gesandt?

Hentsch: Ich habe allerdings das Reglement für die Geldverpflegung der Truppen im Kriege angeboten, aber nur ein solches Reglement für den Frieden gesandt.

Vors.: Ferner haben Sie dem Adler angeboten: Anleitung von Schießversuchen gegen Hartgußpanzerungen, Anleitung zum Zerstören von Eisenbahnschienen und Telegraphenleitungen, Anleitung zur Unterbrechung von Eisenbahnfahrten der Kavallerie, die Felddienstordnung, Instruktion, betreffend Sprengpatronen und Zünder, eine Instruktion der Verwaltung von königlichen niglichen Pulverfabriken, eine Instruktion zur Anlegung von Wallgängen usw.

Hentsch: Jawohl, alte diese Sachen habe ich aber bloß angeboten; im übrigen sind alle die Sachen nicht sekret gewesen. Die meisten waren längst im Buchhandel zu haben.

Vors.: Die Gutachten des Kriegsministeriums besagen, daß all diese angebotenen Sachen streng sekreter Natur waren und ihre Geheimhaltung zum Wohl des Deutschen Reiches geboten war.

Angekl.: Bei den Akten befindet sich eine Rechnung von der Buchhandlung Stankiewicz in Berlin, die beweist, daß ich die Instruktion für die Verwaltung der königlichen Pulverfabrik dort gekauft habe.

Major v. Goßler: Ich muß bemerken, daß allerdings gewisse Sachen im Buchhandel zu haben sind, die aber bloß an Offiziere verkauft werden. Wenn dem Angeklagten eine solche Instruktion verkauft worden ist, so ist dies geschehen, weil er sich als preußischer Offizier vorstellte. Der Buchhändler konnte doch wohl auch nicht ahnen, daß ein preußischer Offizier solchen Mißbrauch mit einem sekreten Buche treiben wird. Ich will noch bemerken, daß die betreffende Instruktion z.B. an Militärbevollmächtigte fremder Staaten nicht verkauft werden darf. Dasselbe Verfahren wird auch bei anderen Sachen, die nur für die Offiziere der deutschen Armee bestimmt sind, beobachtet. obachtet.

Der Vorsitzende verlas im weiteren einen Brief des Hentsch an Adler von Anfang Januar 1882: „Geehrter Herr Adler! Zuerst meine herzliche Gratulation zum neuen Jahre. Für die übersandten 25 Mark sage ich Ihnen besten Dank, ich erwarte Jedoch bis spätestens zum 16. d. weitere 30 Mark und ersuche Sie, die weitere Schuld in monatlichen Ratenzahlungen in Höhe von 25 Mark abzuzahlen. Ich ersuche Sie aber dringend, mich nicht in Verlegenheit zu lassen und sich nicht wieder in Schweigen zu hüllen. Ich bin in der Lage, Ihnen ein Programm über Schießversuche und des weiteren eine Zeichnung über den Mauerbau für die Befestigung Deutschlands zu senden. Ich ersuche Sie aber nochmals, mich nicht in Verlegenheit zu lassen.“

In einem anderen Briefe schrieb Hentsch an Adler: „Wenn R. nicht mehr abnehmen will, so muß er doch wenigstens die bestellten Sachen bezahlen.“

Am 18. Januar 1882 schrieb Hentsch an Adler: „Ich bin in der Lage, Ihnen ein Buch über Pulverversuche zu verschaffen. Dies ist jedoch sekret und unter 900 Mark nicht zu erhalten. Die Beschaffung eines solchen Buches wäre das beste Mittel, um mit Rußland wieder anzuknüpfen.“

Vors.: Nun, Hentsch, Sie hatten also 1882 noch die Absicht, mit Rußland wieder anzuknüpfen?

Hentsch: Das angebotene Buch war im Buchhandel für 12 Mark zu haben. Ich habe diesen Brief geschrieben, um endlich einmal Rußland los zu werden.

In einem ferneren Briefe forderte Adler von Hentsch eine Mitteilung über die Konstruktion, Leistungsfähigkeit und Zerstörbarkeit eiserner Eisenbahnbrücken.

Am 31. Januar schrieb Hentsch an Adler: „Bester Herr Adler! Ich war leider genötigt, eine Stellung anzunehmen und kann mich um andere Sachen wenig kümmern. Ich habe auch kein Geld, um mir Material zu beschaffen. Warum haben Sie mich in Verlegenheit gelassen? Sie verschulden alles, ich habe Sie ja zeitig genug auf die Sachlage aufmerksam gemacht.“

Die Sachverständigen bekundeten, daß all die angebotenen Dinge sekret waren und nur durch großen Vertrauensbruch in die Hände Unberufener gekommen sein können. Die Geheimhaltung all dieser Sachen lag im dringenden Interesse des Deutschen Reiches.

Es wurde alsdann Kriminalkommisar Paul (Dresden) vernommen: Ich bin seit 1878 in Dresden Kriminalkommissar und habe nichts wahrgenommen, was darauf schließen ließ, daß Kraszewski jemals mit einer fremden Regierung in Verbindung getreten ist. Ausländer werden in Dresden schärfer als Inländer beobachtet. Das ist auch bezüglich des K. geschehen, der von 1863 bis 1869 als Ausländer in Dresden gelebt und erst 1869 seine Angehörigkeit als sächsischer Staatsbürger nachsuchte. Die Personalakten des Kraszewski ergaben jedoch nichts Gravierendes gegen ihn. Er lebte auch sehr zurückgezogen, es war sehr schwer Zutritt zu ihm zu erhalten. 1879 wurde in der in Dresden bestehenden Druckerei des K. ein litauisches Buch gedruckt. Anläßlich dessen wurden wir von der Gumbinner Polizeibehörde auf K. aufmerksam gemacht. Seit dieser Zeit wurde er ziemlich streng observiert. 1879 erhielten wir eine Zuschrift aus Posen mit der Mitteilung, daß K. mit einem dort wegen politischer Umtriebe angeklagten Kaszielski in Verbindung stehe. In einem von Kraszewski an Kaszielski gerichteten Briefe lehnte jedoch ersterer jede Verbindung mit Kaszielski ab. Im Jahre 1880 kam Adler nach Dresden, wir wurden benachrichtigt, daß Adler verdächtig sei, mit einer fremden Macht in Verbindung zu stehen. Wir observierten infolgedessen den Adler sehr scharf, vermochten jedoch auch nichts Verdächtiges zu bemerken. Soviel steht fest, mit Militärpersonen hat weder Adler noch Kraszewski verkehrt. Ob Adler mit Kraszewski verkehrt, weiß ich nicht; dagegen hat Hentsch viel bei Kraszewski verkehrt.

Angeklagter Dr. v. Kraszewski: Adler hat mich nur selten besucht. Er kam nur, wenn er etwas zu bringen hatte und hielt sich alsdann auch immer nur sehr kurze Zeit bei mir auf.

Es wurde hierauf eine Anzahl Briefe verlesen, die Adler an Hentsch geschrieben. In diesen hieß es: „Ich hätte eine solche Handlungsweise von Ihnen nicht erwartet. Ich glaubte immer, es gäbe noch eine gewisse Spitzbubenehrlichkeit, aber auch diese scheint bei Ihnen nicht zu finden zu sein. Sie verlangen fortwährend Geld und schicken lauter längst bekannte Dinge. Ich habe jetzt erst wieder 6 Ihrer Arbeiten auf einmal zurückbekommen, weil es längst bekannte Sachen, wörtliche Abschriften aus jedermann zugänglichen Instruktionen, militärischen Zeitschriften usw. sind. Wenn Sie einmal wirklich etwas Sekretes haben, dann verlangen Sie einen horrenden Preis. Was ich nun machen werde? nun warten Sie es ab, ich lasse mich von Ihnen nicht länger düpieren, ich habe lange genug Geduld gehabt.“ In einem weiteren Briefe schrieb Adler an Hentsch: „Ich bin in größter Geldverlegenheit und Kraszewski lehnt alle meine Forderungen ab. Ich werde nun keine Rücksicht mehr nehmen. Ich habe von K. 1200 Taler zur Begründung eines neuen Unternehmens verlangt, er hat mir jedoch gar nicht geantwortet. 1200 Taler ist gewiß eine sehr billige Forderung. Ich werde jetzt eine Broschüre über das Leben und Wirken Kraszewskis herausgeben, für die mir jeder Buchhändler bedeutend mehr als die geforderte derte Summe zahlt.“ In einem anderen Briefe Adlers hieß es: „Sie scheinen sich immer noch nicht herbeilassen zu wollen, mir Korrespondenzen zu liefern. K. scheint Ihnen mehr zu bezahlen. Nun, Sie sowohl als auch K. sollen mich kennenlernen. Die Briefe, die ich in Händen habe, dürften für die preußische Regierung einen hohen Wert haben; sie werden mir hoffentlich viel Geld einbringen. Ich sehe auch nicht ein, weshalb ich noch länger Rücksicht nehmen soll.“

Angeklagter Hentsch: Aus diesen Briefen geht doch zur Genüge hervor, wie schwer es mir war, den Adler loszuwerden. Anläßlich dessen habe ich ihm all die heute verlesenen Briefe geschrieben. Ich wollte ihn düpieren und habe ihn von dem Momente ab, wo ich wußte, daß er ein Agent der österreichischen und russischen Regierung ist, absolut nichts mehr gegeben, was ich irgendwie für sekret hielt. Da ich ihn gar nicht loswerden konnte, bot ich ihm schließlich ein Buch für 900 Mark an, das ich beim Buchhändler für 12 Mark gekauft hatte. Ich ersuche nun aber den Herrn Präsidenten, den Herrn Dr. v. Kraszewski fragen zu wollen, ob ich mich ihm irgendwie aufgedrängt habe?

Kraszewski verneinte diese Frage.

Es gelangte darauf der Anklagepunkt, betr. den von Hentsch begangenen Versuch des Landesverrats zur Verhandlung. Der Zeuge, Photograph Coßmann, ehemals mals Unteroffizier im Garde-Pionierbataillon in Berlin, war bei Hentsch als Zeichner engagiert. Im Mai 1881 beauftragte Hentsch den Coßmann, sich die Versuche, die auf dem Exerzierplatze des Eisenbahnregiments in Berlin mit streng sekretierten Sturmgeräten angestellt wurde, anzusehen. Dieser Exerzierplatz ist mit einem hohen Zaun umgeben, um die Übungen der Beobachtung zu entziehen. Coßmann beobachtete die Übungen, die in Gegenwart Sr. Majestät des Kaisers stattfanden, durch die Spalten und Astlöcher des Zaunes, entwarf alsdann sofort Zeichnungen von dem Gesehenen und gab dem Hentsch die erforderlichen Erläuterungen.

Am folgenden Tage bot Hentsch dem Adler „sehr wichtige sekrete Sachen über die zur Einrichtung gelangenden Sturmvorrichtungen“ für 200 Mark an. Da jedoch damals die Geschäfte mit Rußland bereits ins Stocken geraten waren, wurde diese Offerte nicht angenommen.

Auf Antrag des Oberreichsanwalts wurde für die Verhandlung über diese Angelegenheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen.

In der geheimen Sitzung wurde die Beweisaufnahme beendet und beschlossen: den Zeugen Coßmann nicht zu vereidigen, da er der Teilnahme am Landesverrat dringend verdächtig sei.

Am fünften Verhandlungstage begannen die Plädoyers. doyers. Vertreter der Reichsanwaltschaft, Erster Staatsanwalt Treplin: Dank der Leitung der Verhandlungen sind manche bisherige Zweifel gehoben, manche dunklen Punkte aufgeklärt worden. Da die uns vorgeführten Tatsachen noch in unserer aller Erinnerung sind, so erübrigt es, noch einmal des näheren darauf einzugehen. Ich will daher die Anklage zunächst von einer anderen Seite betrachten. Nach dem § 92 des Strafgesetzbuches, der der Anklage zugrunde liegt, ist es strafbar, wenn jemand Nachrichten, deren Geheimhaltung im Interesse des Deutschen Reiches einer anderen Regierung gegenüber geboten ist, veröffentlicht. Der Angeklagte Hentsch hat, um mich eines kaufmännischen Ausdrucks zu bedienen, auf Vorrat gearbeitet. Es ging ihm, wie er an Adler schrieb, so viel Material zu, daß er stets großen Vorrat hatte. Nun könnte man bei Beurteilung der Sachlage sagen, wir leben ja im tiefsten Frieden. Nein, m.H., wir befinden uns leider in einem unaufhörlichen Kriegszustande. Klarheit haben wir über die Situation nicht, da wir es hier mit Verrat zu tun haben, und zwar mit Verrat von allen Seiten. Das ist ja das Gefährliche beim Landesverrat, daß, sobald einer Regierung etwas mitgeteilt ist, auch die andere Regierung diese Nachricht haben will. Es handelt sich hier zunächst um den Truppenaufmarsch nach der Westgrenze, um die Fortifikation von Metz. Man sollte nun glauben, an solchen chen Dingen könne nur Frankreich Interesse haben; nein, auch die russische Regierung kauft die Arbeit. Der Angeklagte Hentsch verkaufte zunächst den Truppenaufmarsch an Frankreich, und für genau dieselbe Arbeit bietet der russische Bevollmächtigte, Major v. Feldmann, 7000 Mark. Das Vaterland ist fortdauernd in seinem Wohle aufs höchste bedroht und sicherlich wird es jedermann unserer Regierung Dank wissen, daß die Regierung mit aller Energie vorgeht, um diese Verräter, diese unsauberen Gesellen, loszuwerden. Der hier zur Verlesung gelangte Brief des Fürsten Bismarck, der uns die Tätigkeit der polnisch-militärischen Gesellschaft schildert, zeigt uns, welche Gefahren durch solche Verräter dem Vaterlande drohen. Selten ist wohl so überzeugend der Beweis für den vollendeten Landesverrat gerührt worden, als in dieser Verhandlung. Daß die Arbeiten nicht für eine Zeitungsredaktion, sondern für eine fremde Regierung bestimmt waren, ist durch die Beweisaufnahme hinlänglich dargetan. Für ein Journal hatten die Nachrichten nicht das mindeste Interesse. Bei Nachrichten, die zur Publikation in einem Journal bestimmt sind, dürfte es wohl auch kaum so sehr auf all die Einzelheiten ankommen. Es sind hier vielfach Zweifel über das Wort „Geheimhaltung“ geltend gemacht worden. Die Behörde, die ich zu vertreten die Ehre habe, stellt sich auf den Standpunkt, daß sie weniger niger darauf Gewicht legt, ob sekretes Material geliefert worden ist, sondern ob die Angeklagten objektiv schädliches Material einer fremden Regierung geliefert haben.

Es ist geltend gemacht worden, daß das Buch von Mieg nicht sekretiert war und viele andere Dinge im Buchhandel zu haben waren. Allein, meine Herren, trotz dieser Tatsachen waren die Dinge sekret, sie waren nur Offizieren der deutschen Armee zugänglich und ihre Übermittelung an eine fremde Regierung dem Vaterlande schädlich. Wären die Dinge allgemein zu haben gewesen, dann hätten fremde Regierungen nicht solche hohen Summen dafür geboten. Adler verlangte von Hentsch das Buch von Mieg. Hentsch schrieb dem Adler: „Ich kann das Buch für 500 Mark beschaffen.“ Wäre das Buch von Mieg allgemein zugänglich gewesen, dann hätte man nicht solche Anstrengungen gemacht, um es zu erhalten. Hentsch arbeitete Tag und Nacht, um das Buch abzuschreiben. Die Frage, wodurch Hentsch in den Besitz sekreten Materials gelangt ist, will ich nicht weiter untersuchen. Wir wissen ja, daß es kaum möglich ist, alles Material unter Verschluß zu halten. Wir haben gesehen, daß selbst ein Mann von der Stellung des Stallmeisters Plinzner keinen Anstand nahm, dem Hentsch eine geheime Instruktion über die Pferdeaushebung zu geben. Daß der Truppenaufmarsch nicht für ein Journal bestimmt war, geht aus dem Briefe des Angeklagten Kraszewski an Adler hervor. Aus diesem Briefe ist zu ersehen; Die französische Regierung wünscht mit peinlichster Genauigkeit alle Einzelheiten über den Truppenaufmarsch zu wissen. Ich will nun zu einem anderen Punkte übergehen und zunächst die Persönlichkeit des Angeklagten Kraszewski betrachten. Es drängt sich die Frage auf: Wie kam Kraszewski, dieser alte Mann, der anscheinend in stiller Zurückgezogenheit in der Nordstraße in Dresden wohnte, dazu, zum Landesverräter zu werden? Nun, m.H. Richter dieses höchsten Gerichtshofes, es ist zu erwägen, daß der Angeklagte v. Kraszewski Pole ist. Es gilt fast jedem Polen als Axiom, für die Wiederherstellung des Königreichs Polen zu wirken. Es gibt ja eine Anzahl Polen, die resigniert den Verhältnissen entgegensehen. Zu diesen Leuten zählte jedoch der Angeklagte v. Kraszewski nicht. Der Angeklagte v. Kraszewski war allerdings kein Revolutionär im gewöhnlichen Sinne; dazu war er zu alt und zu reich an Erfahrung. Er halte drei blutige erfolglose Revolutionen mit durchlebt, er wußte, daß mit dem Säbel in der Hand nichts auszurichten war. Allein er war trotzdem in eifrigster Weise für die Wiederherstellung Polens tätig. Er versuchte das, da er den anderen Weg augenblicklich nicht für geboten hielt, in anderer Weise, und zwar durch Belehrung seines Volkes zu bewirken. ken. Er gewann sich auch dadurch die vollen Sympathien seiner Landsleute, wie die Feier seines fünfzigjährigen Schriftstellerjubiläums in Krakau bewiesen hat. Aus den von dem Angeklagten geschriebenen Romanen geht zur Evidenz hervor, daß der Angeklagte v. Kraszewski ein Feind der Deutschen und ein Freund der Franzosen war. So z.B. heißt es in einem seiner jüngst geschriebenen Romane: „Der Sachse ist stupide, mit eingefallenen Schultern. Seinen Mund öffnet er nur zum Fluchen.“

Verteidiger Rechtsanwalt Saul: Ich muß doch gegen die Verlesung eines Buches protestieren, das nicht Gegenstand der Beweisaufnahme gewesen ist.

Staatsanwalt: Dann werde ich mich auf bloße Erwähnungen beschränken; ich halte dies zur Charakteristik des Angeklagten Kraszewski für erforderlich.

Vors.: Ich habe nichts, dagegen, wenn der Herr Vertreter der Reichsanwaltschaft eine kleine Exkursion behufs Charakterisierung des Angeklagten macht.

Staatsanwalt fortfahrend: An einer anderen Stelle des Romans heißt es: „Die Berliner, einmal mit Weißbier angefüllt, gleichen losgelassenen Bestien, denen mit dem Bajonett zu begegnen ist und die mit dem Pallasch auseinandergetrieben werden müssen.“ Und was sagt Kraszewski von den Franzosen: „Schön wie ein Königssohn, gerade gewachsen.“

Vors.: Ich möchte den Herrn Vertreter der Reichsanwaltschaft anwaltschaft ersuchen, mich nicht in die Lage zu bringen, ihn in dieser seiner Exkursion zu unterbrechen.

Staatsanwalt: Dann werde ich davon aufhören; es genügt ja auch, um erkennen zu lassen, wie Kraszewski über Deutschland dachte. Es ist ja hinlänglich bekannt, daß die Polen sich zumeist mit den Franzosen auf dem Schlachtfelde gegen Deutschland zusammenfanden. Daß der Angeklagte Kraszewski nicht als blindes Werkzeug gehandelt hat, wie er behauptet, ist durch die Beweisaufnahme hinlänglich dargetan. Der Angeklagte schrieb dem Adler: Wir können nur durchaus Zuverlässiges gebrauchen, sonst zahlen wir nicht einen solch’ hohen Preis. Daraus geht wohl zweifellos hervor, daß Kraszewski nicht bloß Abschreiber war, sondern ganz direkt mit der französischen Regierung in Verbindung stand. Es handelte sich nämlich um den Aufmarsch, und dabei kommt es auf Tage, auf Stunden an, wenn man dem Feinde zuvorkommen will. Was Kraszewski außer den hier zur Verhandlung gelangten Dingen fremden Regierungen mitgeteilt hat, dürfte absolut nicht festzustellen sein. Siebentausend Mark hat Kraszewski an Adler für die Herausgabe der Briefe gezahlt, um sie sofort zu verbrennen. Wenn man erwägt, welches Material die hier zur Verlesung gelangten Briefe ergeben haben, dann kann man sich ein ungefähres Bild von dem Inhalte der verbrannten Briefe machen. Ich gebe nun zu der Charakteristik des Angeklagten Hentsch über.

Ein widerwärtiges Bild tritt uns hier entgegen. Hentsch war Offizier der deutschen Armee, er trug den Rock seines Königs und hatte diesem den Eid der Treue geschworen. Er hat diesen Rock beschmutzt und den Eid gebrochen, sein eigenes Vaterland dem Feinde verraten. Widerwärtig ist das Bild, das uns hier entgegentritt, auch deshalb, weil der Angeklagte in eine Gesellschaft geraten ist, deren nähere Bezeichnung Sie mir erlassen werden. Es handelt sich hier nicht um Verrat, sondern wir finden ihn in der Gesellschaft von Verrätern. Der Angeklagte muß es sich gefallen lassen, daß ihn ein Mensch wie Adler einen Spitzbuben nennt, daß er sich von Adler sagen lassen muß, ich glaubte, es gibt noch eine gewisse Spitzbubenehrlichkeit, allein auch diese scheinen Sie nicht einmal zu besitzen. Daß der Angeklagte Hentsch sich der Tragweite seiner Handlungsweise vollständig bewußt war, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Ebenso ist es zweifellos, daß der Angeklagte Hentsch in allen Fällen Materialien geliefert hat, deren Geheimhaltung einer fremden Regierung gegenüber zum Wohle des Deutschen Reiches geboten war. Daß sich Hentsch auch des versuchten Landesverrats schuldig gemacht hat, wird gewiß keinem Zweifel unterliegen. Die Art und Weise, wie er sich Kenntnis von den neuen Sturmgeräten zu verschaffen suchte, gibt eine weitere Charakteristik für seine Handlungsweise. Ich komme nun zu der Stellung der Strafanträge. Von der Zubilligung mildernder Umstände kann bei beiden Angeklagten nicht die Rede sein. Das Wort Zuchthaus ist ein sehr häßliches Wort, und es ist traurig, daß ein solch alter Mann wie Kraszewski noch ins Zuchthaus wandern muß. Allein die Gerechtigkeit handelt mit verbundenen Augen und kann das hohe Alter des Angeklagten v. Kraszewski nicht in Betracht ziehen. Ich. beantrage deshalb gegen den Angeklagten Hentsch eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren und zehn Jahre Ehrverlust, gegen den Angeklagten v. Kraszewski fünf Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Samter: Meine Herren! Ein trauriges Bild hat uns diese Verhandlung entrollt, traurig schon deshalb, weil die nicht zur Anklage stehenden hier verlesenen Briefe uns gezeigt haben, daß fremde Regierungen bemüht gewesen sind, Mitteilungen über militärische Einrichtungen unseres Vaterlandes zu erhalten und daß dadurch unser teures Vaterland verraten wird. Trotzdem kann ich aber nicht zugeben, daß sich mein Klient Hentsch in allen Punkten des Landesverrats schuldig gemacht hat. Es ist richtig, Hentsch hat dem Adler noch Material geliefert, als er bereits wußte, daß dieser Agent fremder Regierungen ist. Allein die gestern hier zur Verlesung gelangten Briefe des Adler an Hentsch beweisen, daß Hentsch wohl als Betrüger, aber nicht als Landesverräter gehandelt hat. Er hat den Adler tatsächlich düpiert und ihm von der Zeit ab, wo er wußte, daß er Agent der österreichischen und russischen Regierung ist, nichts geliefert, was sekret war. Dies hat wohl auch den Adler hauptsächlich zur Denunziation veranlaßt. Die gelieferte Arbeit über den Truppenaufmarsch ist kein Landesverrat, denn tatsächlich hat der Angeklagte die Arbeit zurückbekommen, da sie falsch und, weil außerdem nur bekannte Tatsachen enthaltend, wertlos war. Die Angaben des Hentsch konnten auch einer fremden Regierung nichts nützen, denn es ist festgestellt, daß alles, was im Eberstein richtig ist, auch im Hentsch richtig und was im Eberstein falsch, ist auch im Hentsch falsch. Ich behaupte, eine Benützung des amtlichen Kriegsverpflegungsetats hat überhaupt nicht stattgefunden. Ich beantrage also wegen dieses Punktes die Freisprechung. Was die Punkte 2, 4, 5 und 6, die Dienstinstruktion für Feldtelegraphie, Auszug aus dem Bericht für die Fortifikation von Metz, Sammlung der technischen Bestimmungen für Fortifikations-, Artillerie-und Garnisonbauten, die Anwendung des Infanteriegewehres M. 71, nebst einer Anleitung zum Distanzschätzen von A. Mieg anlangt, so dürfte es doch zweifelhaft sein, ob Hentsch nicht der Annahme war, es handle sich um nicht sekrete Dinge. Auch dürfte der sekrete Charakter der mitgeteilten Dinge noch nicht erwiesen sein. Der Verteidiger suchte dies in eingehender Weise darzutun und führte weiter aus: Was die Anklagepunkte 3 und 7, die Aushändigung der geheimen Instruktion bezüglich der Komplettierung mit Truppen und Pferden und die Angelegenheit bezüglich der Sturmgeräte anlangt, so hat der Angeklagte allerdings dolose gehandelt, und ich habe bezüglich dieser beiden Punkte nichts weiter zu sagen. Wegen aller anderen Punkte beantrage ich die Freisprechung. Wenn ich mich nun zu der Frage des Strafmaßes wende, so wird doch zu erwägen sein, daß der Angeklagte durch seine dem Vaterlande geleisteten Dienste krank geworden, daß er anläßlich dessen genötigt gewesen ist, kostspielige Badekuren zu unternehmen und somit tief in Schulden geraten ist. Er hat schließlich aus eigenem Willen die Verbindung mit Adler abgebrochen. Aus allen diesen Gründen ersuche ich diesen höchsten Gerichtshof, meinem Klienten mildernde Umstände zuzubilligen. Der Angeklagte v. Kraszewski nahm den Strafantrag des Reichsanwalts mit derselben Teilnahmlosigkeit entgegen, mit der er fast der ganzen Verhandlung gefolgt war. Hentsch dagegen war ungemein niedergeschlagen und brach bei den Schlußworten seines Verteidigers, als dieser seine persönlichen Verhältnisse schilderte, in Tränen aus.

Es wurden nun nochmals die Sachverständigen Major Perthes, Major Erffling und Major v. Goßler vernommen, die übereinstimmend bekundeten: Hentsch habe bei seiner Arbeit über den Truppenaufmarsch den amtlichen Kriegsverpflegungsetat benützt.

Verteidiger R.-A. Saul: M. H. Mit derselben Entrüstung, mit der sich die Oberreichsanwaltschaft und die Herren sachverständigen Kommissare dem Verbrechen des Landesverrats gegenüberstellen, mit derselben Entrüstung wendet sich selbstverständlich die Verteidigung von einem so schweren Verbrechen ab. Wenn ich es dennoch unternehme, diesen Mann, der dieses Verbrechens angeklagt ist, zu verteidigen, so geschieht es, weil ich der Überzeugung bin, daß mein Klient des ihm zur Last gelegten Verbrechens nicht überführt ist. Ich behaupte, die Schuld des Angeklagten ist weder objektiv noch subjektiv erwiesen. Objektiv ist dem Angeklagten nicht nachgewiesen, daß er die ihm von Adler übergebenen Arbeiten, betreffend den Truppenaufmarsch und die Dienstinstruktion für die Feldtelegraphie, direkt oder indirekt an eine fremde Regierung übermittelt hat. Subjektiv macht die Reichsanwaltschaft geltend: es sei nicht denkbar, daß Kraszewski aus bloßer Gutmütigkeit, um seinen Freund Zaleski zu unterstützen, die Mitteilungen gekauft hat, und ferner werden die hohen Preise, die dafür gezahlt sind, gegen Kraszewski geltend gemacht. macht. Man muß zunächst die eigenartige Natur der Polen in Betracht ziehen. Die Polen scheuen bekanntlich kein Opfer in Angelegenheiten der gegenseitigen Unterstützung. Aber auch das hohe Honorar ist kein Beweis, daß die Arbeiten einer fremden Regierung mitgeteilt worden sind. Wir dürfen hierbei nicht deutsche Verhältnisse in Betracht ziehen. Die deutschen Redaktionen sind bekanntlich im allgemeinen nicht so gentil als die französischen. Es wird in Zweifel gezogen, daß der Angeklagte Kraszewski bloß der Abschreiber gewesen ist. Die Herren Sachverständigen haben bekundet: Die auf die Arbeit bezüglich des Truppenaufmarsches gemachten Monita müssen von einem Manne gemacht worden sein, der genaue militärische Kenntnisse besitzt. Es ist ja kein Beweis darüber erhoben worden, ich kann jedoch die Versicherung geben, daß mein Klient von militärischen Dingen absolut nichts versteht. Die Art seiner Ausdrucksweise: „man verlangt das und das zu wissen,“ erklärt sich aus dem Umstande, daß der Angeklagte der deutschen Sprache nur sehr unvollständig mächtig ist. Der Umstand, daß der Brief an Adler von Florenz aus nicht unterschrieben war, kann doch auch nicht zu der Annahme führen, Kraszewski war sich der Strafbarkeit seiner Handlung bewußt. Aber auch die hohe Summe, die Kraszewski dem Adler für die Herausgabe seiner Briefe gezahlt hat, spricht nicht für sein Schuldbewußtsein. Ist es nicht erklärlich, daß ein Mann von der Stellung Kraszewskis, der, wie der Herr Reichsanwalt selbst hervorgehoben, im höchsten Ansehen bei seiner Nation stand, der, ich darf es sagen, ohne indiskret zu sein, der Freund gekrönter Häupter war, daß dieser wohlhabende Kraszewski, der schon mit einem Fuße im Grabe steht, der lieben Ruhe und des Friedens wegen 7000 Mark gibt. Aber auch objektiv ist die Schuld meines Klienten nicht erwiesen. Es wird gegen meinen Klienten geltend gemacht: er habe Geldsendungen einmal von Zaleski, sodann von einem de la Roche aus Paris erhalten. Das hier verlesene Gutachten besagt: im französischen Auswärtigen Amte und im Kriegsministerium sitzt je ein hoher Beamter, die beide den Namen de la Roche führen. Allein das Gutachten sagt auch weiter: Der Name de la Roche kommt in Frankreich sehr häufig vor; ich erlaube mir hinzuzufügen: wohl ebenso häufig, wie in Deutschland die Namen Schultze und Müller. Dieser Umstand kann gegen den Angeklagten nicht im mindesten sprechen. Im weiteren wird geltend gemacht: Die Arbeiten haben in einem französischen Journal nicht gestanden, sonst hätte die kaiserlich deutsche Botschaft in Paris davon Kenntnis gehabt. Bei aller Hochachtung vor der deutschen Botschaft in Paris halte ich dieses Gutachten doch noch für keinen Beweis, daß die Arbeiten nicht in einem französischen Journale gestanden haben. Bewiesen ist meinem Klienten nicht, daß er mit fremden Regierungen in Verbindung gestanden hat. Ich glaube auch, der hohe Gerichtshof wird zu einem Schuldig nicht gelangen können. Sollte jedoch das Gegenteil eintreten, so nehme ich den hier zur Verlesung gelangten Brief des Fürsten Bismarck für meinen Klienten in Anspruch. Wenn Sie, meine Herren Richter, zu der Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gelangen sollten, dann gibt das Schreiben des Fürsten Bismarck den besten Beweis, daß der Angeklagte aus idealen Gründen gehandelt hat, daß er das Verbrechen begangen hat aus Liebe zu seiner Nation, zu seinem Vaterlande! Der Herr Vertreter der Reichsanwaltschaft hat dies wohl auch kurz angedeutet und selbst die Äußerung getan: Was die Beurteilung des Angeklagten Kraszewski anlangt, so muß ich bemerken, daß Zuchthaus allerdings ein sehr häßliches Wort ist, allein, so fuhr der Herr Reichsanwalt fort: „die Gerechtigkeit hat eine Binde.“ Ich bin jedoch der Meinung: die Binde, die die Gerechtigkeit tragen soll, ist nicht dahin zu verstehen, daß die Richter nicht Milde walten lassen dürfen. Ich bitte Sie, meine Herren Richter, sollten Sie zu einem Schuldig gelangen, dann ziehen Sie die Vergangenheit meines Klienten, sein hohes Alter, seine ganze gesellschaftliche Stellung in Betracht. Schicken Sie den Angeklagten nicht ins Zuchthaus. Darum bitte ich Sie in meinem eigenen Namen und im Namen der ganzen polnischen Nation. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Oberreichsanwalt Dr. Freiherr v. Seckendorff: Obwohl ich der Überzeugung bin, daß die Ausführungen der Herren Verteidiger das Ergebnis der Beweisaufnahme in keiner Weise erschüttert haben, so habe ich doch noch einiges anzuführen. Ich will nun zunächst bemerken, daß laut Paragraph 92 des Strafgesetzbuches vor einer fremden Regierung alles geheim gehalten werden muß, von dem man weiß, daß die Geheimhaltung im Interesse des Deutschen Reiches geboten ist. Wenn also jemand nur in einer Privatgesellschaft etwas erzählt, von dem ihm bekannt ist, daß es einer fremden Regierung nicht mitgeteilt werden darf, durch seine Erzählung aber zur Übermittelung der Nachricht an eine fremde Regierung beiträgt, so macht er sich des Verbrechens des Landesverrats schuldig. Es ist also nicht nötig, direkt als sekret bezeichnete Dinge mitzuteilen, es genügt das Bewußtsein von dem sekreten Charakter der Mitteilung. Es ist vollständig gleichgültig, ob die Mitteilung aus amtlichen Quellen geschöpft ist. Es ist selbstverständlich, daß eine fremde Regierung die Arbeit nur dann bezahlt, wenn sie der Überzeugung ist, ihr Agent habe aus amtlichen Quellen geschöpft. Glaubt sie ihm das und bezahlt die Arbeit, die Dinge enthält, deren Geheimhaltung heimhaltung zum Wohle des Deutschen Reiches geboten war, so ist das Verbrechen des Landesverrats vollendet, selbst wenn der Betreffende nicht aus amtlichen Quellen geschöpft hat. Gibt die fremde Regierung die Arbeit wieder, da sie teilweise oder ganz für sie wertlos ist, so ist der Versuch des Landesverrats begangen worden. Daß Kraszewski aus bloßer Gutmütigkeit für Zaleski, um diesen zu unterstützen, Nachrichten sich kauft und dafür Tausende von Mark ausgibt, daß er diesem all die Arbeiten für eine Zeitungsredaktion schickt, die in der Luft liegt, von deren Dasein er niemals Kenntnis erlangt hat, obwohl er sich in der Zwischenzeit in Paris befunden und mit Zaleski verkehrt hat, kann ihm niemand glauben. Eine bona fides des Kraszewski ist vollständig ausgeschlossen. Es ist gegen das Schreiben des Fürsten Bismarck eingewendet worden: es sei nicht unter Beweis gestellt gewesen. Ich erwidere darauf, daß das Schreiben von dem großen Manne ausgeht, der stets auf der Warte des Deutschen Reiches und des europäischen Friedens gestanden hat. Die Richtigkeit des in dem Schreiben Mitgeteilten dürfte daher nicht zu bezweifeln sein. Über das Strafmaß will ich nicht weiter sprechen, sondern dies dem Ermessen des hohen Gerichtshofes anheimstellen. Ich möchte bloß noch bemerken: ich achte jedes Nationalgefühl, wenn es auch für eine Nation empfunden wird, die keine Selbständigkeit mehr besitzt. Das Nationalgefühl ist mir bedeutend lieber als die Internationalität, die alle Schranken der Nationen durchbrechen will. Allein dieses Nationalgefühl kann dem Angeklagten Kraszewski nicht zugute Kommen. Er hat ein Land an eine feindliche Macht verraten, dessen Gastfreundschaft er genießt und unter dessen Schutze er steht. Ein solcher Mann aber ist ein gemeiner Landesverräter.

Verteidiger Rechtsanwalt Saul: Ich will dem Herrn Oberreichsanwalt nur noch erwidern: wenn der Angeklagte v. Kraszewski auch deutscher Reichsangehöriger ist, so hat er doch niemals aufgehört, Pole zu sein.

Nach noch kurzen Bemerkungen des Reichsanwalts Treplin und des Verteidigers, Rechtsanwalts Dr. Samter, sagte Angeklagter Hentsch: Ich bekenne, ich habe schwere Sünden begangen, die eine strenge Sühne erheischen. Ich bitte jedoch den hohen Gerichtshof, meine traurigen Verhältnisse, in die ich unverschuldet geraten bin, sowie ferner den Umstand in Erwägung zu ziehen, daß ich alles aufgeboten habe, um die Verbindung mit Adler wieder zu brechen. Ich bitte Sie, m.H. Richter, verurteilen Sie mich zu einer hohen Strafe, denn diese habe ich verdient. Schicken Sie mich aber nicht ins Zuchthaus, sondern verurteilen Sie mich zu einer hohen Festungsstrafe.

Angeklagter Dr. v. Kraszewski: Ich vertraue auf die deutsche Gerechtigkeit und schließe mich den Ausführungen meines Herrn Verteidigers an.

Am sechsten Verhandlungstage wurde das Urteil gesprochen. Der Vorsitzende, Senatspräsident Drenkmann, verkündete unter gespanntester Aufmerksamkeit des zahlreichen Publikums: Der vereinigte zweite und dritte Strafsenat des Reichsgerichts hat dahin erkannt, daß der Angeklagte, Hauptmann a.D. Hentsch in vier Fällen des vollendeten, in zwei Fällen des versuchten Landesverrats und in einem Falle der Aufforderung zum Landesverrat schuldig, der Angeklagte, Schriftsteller Dr. v. Kraszewski des vollendeten Landesverrats in einem Falle und der Aufforderung zum Landesverrat in einem Falle schuldig und deshalb zu bestrafen ist: Hentsch mit neun Jahren Zuchthaus und neun Jahren Ehrverlust, Kraszewski mit drei Jahren und sechs Monaten Festungshaft. Die Verfügung betreffend die Beschlagnahme des Vermögens des Angeklagten Dr. v. Kraszewski wird aufgehoben, die Kosten des Verfahrens werden den Angeklagten zur Last gelegt. (Bewegung im Zuhörerraum.) Der Angeklagte Hentsch ist des vollendeten Landesverrats in sechs Fällen, der Aufforderung zum Landesverrat in einem Falle und der Angeklagte v. Kraszewski des vollendeten Landesverrats in zwei Fällen und der Aufforderung zum Landesverrat in einem Falle angeklagt. Der Gerichtshof ist der Ansicht gewesen, daß es bei der Beurteilung des Tatbestandes lediglich darauf ankommt, ob die mitgeteilten Nachrichten zum Wohle des Deutschen Reiches einer fremden Regierung gegenüber geheim zu halten waren; es ist dabei gleichgültig, ob die Nachricht in irgendeiner Form bereits veröffentlicht worden ist. Zur Vollendung des Landesverratsverbrechens ist es nicht erforderlich, daß sekretes Material geliefert worden ist. Es können gewisse Instruktionen den Offizieren, aber nicht den Mannschaften bekannt sein. Aber selbst wenn eine Instruktion auch den Mannschaften eines ganzes Armeekorps bekannt ist, so macht sich derjenige des Landesverrats schuldig, der diese Instruktion einer fremden Regierung mitteilt, wenn die Geheimhaltung der Instruktion einer fremden Regierung gegenüber zum Wohle des Deutschen Reiches erforderlich ist. Die vorliegenden Verbrechen sind im In- und Auslande verübt worden. Da laut Strafgesetzbuch nur solche Verbrechen strafbar sind, die im Inlande begangen werden, so liegen auch in dieser Beziehung keine Bedenken vor. Daß die hier zur Anklage stehenden Verbrechen zumeist durch die Vermittlung eines gewissen Adler, einer mystischen Persönlichkeit, die dem Gerichtshofe unbekannt geblieben, verübt worden sind, ist unerheblich; diese Tatsache ändert nicht das geringste an dem Schuldbewußtsein der Angeklagten. Was nun den ersten hier zur Anklage stehenden Fall, den Aufmarsch der deutschen Truppen nach der Westgrenze, anlangt, so ist durch Gutachten des Kriegsministeriums, in Übereinstimmung mit den mündlichen Bekundungen von vier sachverständigen Stabsoffizieren, festgestellt worden, daß die Geheimhaltung dieser Arbeit einer fremden Regierung zum Wohle des Deutschen Reiches geboten war. Wenn auch die in der Arbeit enthaltenen Fahrdispositionen falsch waren, so war doch der Angeklagte bemüht, richtiges Material zu geben. Ganz besonders kommt aber in Betracht, daß in der Arbeit die Kriegsstärke der deutschen Truppen an der Westgrenze richtig angegeben war und daß nach den übereinstimmenden Gutachten damit der französischen Regierung Material geliefert wurde, wodurch bei Ausbruch eines Krieges das Deutsche Reich unendlich hätte geschädigt werden können. Der Sachverständige, Major Perthes, hat bekundet: Ganz richtig waren die Angaben des Hentsch über die Kriegsstärke allerdings auch nicht, allein das, was Hentsch falsch angab, war unerheblich; im übrigen waren seine Angaben nur in einem Punkte falsch. Der Angeklagte Hentsch stellt den Eberstein richtig, und es ist infolgedessen zweifellos, daß er amtliches Material benützt hat. Es steht fest, so behaupteten die Sachverständigen übereinstimmend, daß Hentsch den Kriegsverpflegungsetat abgeschrieben hat. In einem Briefe, den Hentsch am 3. Januar 1881 an Adler schrieb, gibt er dies auch zu. Wie Hentsch in den Besitz des amtlichen Materials gekommen ist, kann nicht näher untersucht werden. Wenn man erwägt, in welcher Weise Hentsch den ehemaligen Unteroffizier Coßmann zu bewegen wußte, ihm, unter Benützung seiner früheren autoritativen Stellung, Mitteilungen über Bambus- und Kastenbrücken u. dgl. mehr zu machen, dann kann man sich kaum noch wundern, daß Hentsch in den Besitz sekreten Materials gekommen ist. Ob Eberstein zur Zeit, als ihn der Angeklagte benützte, noch sekret war, ist für die Beurteilung des vorliegenden Falles vollständig gleichgültig. Jedenfalls war Hentsch bemüht, nur zuverlässiges Material zu liefern; er hat von Eberstein nicht bloß abgeschrieben, sondern ihn auch zur Grundlage seiner Arbeit, an der er fünf Monate tätig gewesen ist, gemacht. Mit dieser Arbeit, für die ihm ein Honorar von 1000 Mark geboten wurde, begann Hentsch die verbrecherische Laufbahn zu betreten. Daß die in der Arbeit enthaltenen Mitteilungen lediglich für die französische Regierung bestimmt waren, mußte dem Angeklagten bekannt sein. Ebenso mußte er aber auch wissen, daß die Geheimhaltung der in der Arbeit enthaltenen Mitteilungen einer fremden Regierung gegenüber zum Wohle des Deutschen Reiches geboten war. Adler sagte dem Hentsch, die Arbeit sei für einen alten, reichen Herrn in Dresden bestimmt. Dieser alte Herr war der Angeklagte v. Kraszewski, der sie an einen, zur Zeit in Paris lebenden Zaleski behufs Publikation in einem Journal geschickt haben will. Zaleski, einstmals in Rußland wegen Verdachts revolutionärer Umtriebe mit Deportation nach Sibirien bestraft, soll, nachdem er von der russischen Regierung begnadigt worden, nach Paris übergesiedelt sein, dort bei einer polnischen Gesellschaft die Stellung eines Bibliothekars bekleidet und außerdem mit Zeitungskorrespondenzen sich beschäftigt haben. Der Angeklagte v. Kraszewski will ihm verschiedene Arbeiten geschickt haben, lediglich um den Zaleski zu unterstützen. Er will sich die Arbeiten, auch diejenige, die den Truppenaufmarsch nach der Westgrenze behandelt, nicht durchgelesen, sondern sie einfach an Zaleski gesandt haben. Er ist alsdann in Paris gewesen, hat dort vielfach mit Zaleski verkehrt, er hat den Zaleski jedoch niemals gefragt, für welches Journal er schreibt. Diese Behauptung erscheint durchaus unglaubwürdig; ebenso unglaubwürdig ist aber auch seine Behauptung: der von ihm an Adler gerichtete Brief vom 17. Juli 1878 sei nur die Abschrift eines Briefes der betreffenden Redaktion gewesen, der Zaleski alle seine Arbeiten gebe. Kraszewski erhielt von einem Pariser Handlungshause acht Schecks, die an ein Handlungshaus in Dresden gerichtet waren. Diese Summen sollen von der erwähnten Redaktion nicht bloß für die gelieferten Arbeiten, sondern auch gesandt worden sein, um den Adler bezüglich seiner Erpressungen zu befriedigen. Die angebliche Redaktion hatte doch um so weniger Veranlassung, zu letzterem Zwecke Geld herzugeben, da sie die Arbeit betreffs des Truppenaufmarsches nicht einmal aufgenommen hatte. Im übrigen, so bekundeten die Sachverständigen, war die Arbeit zur Aufnahme in ein Journal durchaus nicht geeignet, sie hat auch in keinem französischen Journale gestanden, dies hätte der deutschen Botschaft in Paris und dem Großen Generalstab; wo alle militärischen Journale Frankreichs in aufmerksamer Weise gelesen werden, nicht entgehen können. Auch konnten laut Bekundung der Sachverständigen die Monita, die an der Arbeit gemacht worden, nur von einem militärisch gebildeten Manne, und zwar auch nur von einem fremdländischen Offizier gemacht sein, da in Deutschland nicht übliche Bezeichnungen gebraucht worden sind. Daß aber der Aufmarsch der Truppen nach der Westgrenze mit allen Einzelheiten einer fremden Regierung gegenüber zum Wohle des Deutschen Reiches geheim gehalten werden muß, leuchtet jedem ein, gleichviel ob er Soldat gewesen ist oder nicht. Der Angeklagte v. Kraszewski wendet ein: er habe von militärischen Dingen kein Verständnis und habe den Inhalt der Arbeit, den Truppenaufmarsch betreffend, nicht gekannt. Dieser Behauptung steht die Tatsache gegenüber, daß Kraszewski die Arbeit bestellt und 1000 Mark dafür bot. Im weiteren sagt Kraszewski in dem vielfach erwähnten, an Adler gerichteten Briefe vom 17. Juli 1878: „Auf alle Korrespondenten ist kein Verlaß, wir können nur absolut Zuverlässiges gebrauchen, wir sind keine Laien.“ Ferner ist zu erwägen, daß Kraszewski lange Zeit militärische Korrespondenten beschäftigt hat. In dem Briefe vom 19. Juli 1878 schreibt Kraszewski an Adler: Nur sekretes Material können wir gebrauchen, nicht bereits gedrucktes. Wenn aber Gedrucktes gegeben wird, dann darf es bloß aus Büchern entnommen sein, die nicht zu haben sind. Daß Kraszewski wußte, daß die Arbeit lediglich für die französische Regierung bestimmt war, steht somit außer allem Zweifel. Es kommt aber noch hinzu, daß er dem Adler für ca. 7000 Mark Briefe abkaufte, teils um sie zu verbrennen, teils um sie an Zaleski zu senden. Es ist eingewendet worden; Kraszewski wollte nicht, wenn auch unschuldig, in einen unliebsamen Prozeß verwickelt werden. Nun, nicht deshalb zahlte Kraszewski eine so hohe Summe, sondern lediglich, um Aktenstücke zu beseitigen. Der Gerichtshof hat den Angeklagten Kraszewski aber auch der Aufforderung zum Landesverrat im Sinne des Paragraph 49a des Strafgesetzbuches, auf Grund des von ihm an Adler am 17. Juli 1878 gerichteten Briefes, für schuldig befunden, funden, in welchem er eine Anzahl sekretes Material verlangte, dessen Geheimhaltung zum Wohle des Deutschen Reiches geboten war. Der Umstand, daß Adler nicht zur Bestrafung gezogen werden kann, da er im Auslande wohnt, kann bei der Beurteilung der Sachlage nicht in Betracht kommen. Obwohl Adler österreichischer Untertan ist, so würde ihn trotzdem, wenn er im Inlande ergriffen würde, ebenfalls die gesetzliche Strafe treffen. Daß die Aufforderung zum Verbrechen nicht zur Ausführung gelangt ist, ist nicht das Verdienst des Angeklagten Kraszewski. Was nun die Arbeit anlangt, die in den Akten mit ?H. 6? bezeichnet wurde, so gibt diese ein übersichtliches Bild über die Feld-Telegraphen-Abteilung; sie gibt einen genauen Einblick in die Etappen-Konstruktion. Im Buchhandel ist diese Instruktion nicht käuflich. Der Angeklagte Hentsch führte in der Voruntersuchung an: er habe die Arbeit nach Eberstein und Fröhlich zusammengestellt; im Audienztermin behauptete er: er habe die in der Ingenieurschule gehaltenen Vorträge benützt. Jedenfalls ist sekretes Material benützt worden. Da jedoch nicht genau ersehen werden kann, ob die Arbeit in der Tat zur Kenntnis einer fremden Regierung gelangt ist, so hat der Gerichtshof in diesem Punkte den Angeklagten Hentsch nur wegen versuchten Landesverrats für schuldig erachtet und demgemäß in diesem Punkte bezüglich des Kraszewski auf Freisprechung erkannt. Die von Hentsch an die russische Regierung ausgelieferte Konstruktion zur Komplettierung der Behörden an Truppen und Pferden, die für eine etwaige Mobilmachung des dritten Armeekorps bestimmt gewesen, war, wie die vom Gerichtshof aufs eingehendste geprüften Gutachten der Sachverständigen besagen, zweifellos sekret. Es war eine Anlage zum allgemeinen Mobilmachungsplan für den Stallmeister Sr. königl. Hoheit des Prinzen Wilhelm, Herrn Leutnant Plinzner, der zum Kommissar für die Pferdeaufsicht in Frankfurt a.d.O. bestellt worden und dem die Instruktion in dienstlicher Eigenschaft übergeben worden war. Die Mitteilung dieser Instruktion ist zweifellos ein vollendeter Landesverrat. Dasselbe trifft zu bei dem mitgeteilten Auszug über die Fortifikation von Metz. Es ist dabei gleichgültig, ob die meisten Hefte des Ingenieurkomitees im Buchhandel zu haben sind; jedenfalls ist das Heft 23, aus dem Hentsch wesentlich geschöpft haben will, nicht im Buchhandel zu haben. Dasselbe trifft bei der Sammlung der technischen Bestimmungen für Fortifikations-Artillerie und Garnisonbauten zu, welche Arbeit Hentsch nach dem Buche des Hauptmanns Wagner zusammengestellt haben will. Das Buch von Wagner ist lediglich den Offizieren der deutschen Armee zugänglich. Ebenso hat der Gerichtshof es für erwiesen erachtet, daß Hentsch mit vollem Bewußtsein sein von der Strafbarkeit seiner Handlungsweise den Inhalt des Buches über die Anleitung des Repetiergewehrs M. 71 nebst Distanzschätzen an Österreich geliefert hat. Das Buch von Mieg war ebenfalls bloß Offizieren zugänglich; der Angeklagte hat, infolge seiner früheren militärischen Stellung, den Hauptmann Thiede zu veranlassen gewußt, ihm das Miegsche Buch zu leihen. Der Dolus in dieser Beziehung ist zweifellos. Obwohl es in hohem Grade wahrscheinlich ist, daß diese Mitteilungen zur Kenntnis der österreichischen Regierung gelangt sind, so liegen bestimmte Tatsachen hierfür nicht vor, der Gerichtshof hat deshalb in dieser Handlung nur den Versuch des Landesverrats erblickt. Der letzte Anklagepunkt, wonach Hentsch den Zeugen Coßmann veranlaßt hat, sich durch den Bretterzaun des auf dem Tempelhofer Felde in Berlin belegenen Exerzierplatzes die Versuche des Garde-Pionierbataillons mit den neuen streng sekretierten Sturmgeräten anzusehen und alsdann von diesen Geräten eine Zeichnung zu entwerfen, qualifiziert sich zweifellos als Verbrechen im Sinn des § 92 des Strafgesetzbuches. Hentsch bot dem Adler „neue streng sekretierte Sturmgeräte für 200 Mark“ an. Das Geschäft kam jedoch nicht zustande; der Gerichtshof hat deshalb in dieser Handlungsweise nur eine Aufforderung zum Landesverrat erblickt. Der Gerichtshof hat deshalb den Angeklagten Hentsch in 4 Fällen des vollendeten, deten, in 2 Fällen des versuchten Landesverrats und in einem Falle der Aufforderung zum Landesverrat für schuldig erachtet. Was nun das Strafmaß anlangt, so ist als erwiesen angenommen worden, daß Hentsch dem Adler noch sekrete Dinge übermittelte, als er bereits wußte, daß dieser Agent der österreichischen und russischen Regierung war. Dies beweisen eine Anzahl Briefe, die Hentsch an Adler gerichtet, und auch die Bekundungen der hier vernommenen Herren Untersuchungsrichter. Es ist ferner erwiesen worden, daß Hentsch dem Adler außerdem ungemein wichtiges Material, wie Küstenbefestigungen, Resultate über Pulverversuche, Normalbauten für die Befestigung Deutschlands usw. angeboten hat. Der Gerichtshof hat aus den zur Verlesung gelangten Briefen die Überzeugung gewonnen, daß diese Offerten nicht gemacht wurden, um Adler zu düpieren und ihn loszuwerden. Hentsch war im Gegenteil stets bemüht, genaues Material zu liefern. Ob er seine Arbeiten direkt an fremde Regierungen verkaufte oder durch Vermittelung dritter Personen, ist vollständig gleichgültig. Einen Milderungsgrund für Hentsch vermag selbst der humanste Richter nicht zu finden. Hentsch war Offizier der deutschen Armee; mittels dieser ehemaligen militärischen Eigenschaften gelang es ihm, sich durch Überredungen usw. in den Besitz sekreten Materials zu setzen. Seine militärischen Kenntnisse gestatteten ihm einen vollständigen Einblick in die Gefahren, die er durch seine Handlungsweise dem Vaterlande bereitete. Es ist nun zu erwägen, ob Hentsch lediglich alle diese Verbrechen schnöden Geldgewinnes halber beging. Not kann ihn nicht dazu verleitet haben, denn der Angeklagte hat in seinem ganzen Auftreten dem Gerichtshof den Beweis geliefert, daß er nicht nur ein Mann von Bildung ist, sondern daß er auch eine gewisse Findigkeit und große, im bürgerlichen Leben zu verwertende praktische Kenntnisse besitzt. Der Angeklagte war somit in der Lage, auf ehrliche Art und Weise sich und seine Familie zu ernähren, wenn auch sein Verdienst alsdann ein nicht so großer und seine Arbeit vielleicht eine mühevollere gewesen wäre. In Erwägung aller dieser Umstände hat der Gerichtshof erkannt: wegen des Aufmarsches und der Instruktion zur Komplettierung der Behörden mit Truppen und Pferden auf je 3 Jahre Zuchthaus, wegen des Auszuges aus der Fortifikation von Metz und den technischen Bestimmungen, betreffend Artillerie- und Garnisonbauten, auf je 2 1/2 Jahre Zuchthaus, wegen des Versuchs betreffs der Telegrapheninstruktion auf 2 Jahre Zuchthaus, wegen des Versuchs mit dem Repetiergewehr auf 1 1/2 Jahr Zuchthaus und wegen Aufforderung zum Landesverrat auf 1 Jahr Gefängnis, die den gesetzlichen Bestimmungen gemäß in 8 Monate Zuchthaus umzuwandeln waren. Die Gesamtstrafe beträgt trägt somit 15 Jahre und 2 Monate Zuchthaus, die gemäß § 74 des Strafgesetzbuchs auf 9 Jahre Zuchthaus reduziert worden sind. Da die Handlungsweise des Angeklagten eine ehrlose war, so sind dem Angeklagten auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden. Was den Angeklagten Kraszewski anbetrifft, so ist erwogen worden, daß dieser ursprünglich die Triebfeder des Ganzen war. Der Umstand, daß er Pole ist, kann mildernd nicht ins Gewicht fallen. Tatsächlich lebt er seit vielen Jahren in Deutschland, ist deutscher Staatsangehöriger und hat somit sein Vaterland verraten. Es kommt jedoch in Betracht, daß Kraszewski Mitglied der polnischen Nationalpartei ist, daß somit anzunehmen ist, seinen Handlungen habe ein gewisses Ideal zugrunde gelegen. Wenn auch nicht jede verbrecherische Handlung, die aus idealen Motiven geschehen, mildere Beurteilung verdient, so waren doch die Beweggründe des Kraszewski nicht so niedrige als die des Hentsch. Diesen Umstand hat der Gerichtshof in Betracht gezogen und ferner erwogen, daß der Angeklagte ein langes, ehrenvolles Leben geführt und, obwohl er zwei blutige Revolutionen in Polen mit durchlebt, er niemals Anteil an diesen genommen, mithin den Beweis geliefert hat, daß er allen Gewalttaten ferngestanden. Lediglich aus diesen Gesichtspunkten hat der Gerichtshof dem Angeklagten v. Kraszewski mildernde Umstände zugebilligt. Angesichts sichts dessen hat der Gerichtshof wegen des vollendeten Landesverrats, den Aufmarsch betreffend, auf drei Jahre Festung, wegen der Aufforderung zum Landesverrat auf ein Jahr Festung und somit auf eine Gesamtstrafe von dreieinhalb Jahren Festung erkannt. Die gegen den Angeklagten v. Kraszewski verfügte Vermögensbeschlagnahme ist aufzuheben; Hentsch ist in Haft zu behalten und der Angeklagte v. Kraszewski freizulassen. Die Kosten des Verfahrens haben die Angeklagten gemeinschaftlich zu tragen. Die Verhandlung ist beendet.

Die Angeklagten nahmen beide die Urteilsverkündung mit ziemlicher. Fassung entgegen. Am Schlusse traten dem Angeklagten Hentsch die Tränen in die Augen.

Hentsch wurde zur Verbüßung seiner Strafe in das Zuchthaus zu Halle a.d.S., Dr. v. Kraszewski in die Festung Magdeburg übergeführt. Beide sind nach Verlauf eines Jahres gestorben.

65 Bearbeiten

Ein „Ritualmord“-Prozeß

Eine Verhandlung vor dem Schwurgericht zu Danzig (April 1885)

Der Aberglaube, daß Blut von unschuldigen Kindern und Jungfrauen zur Heilung hartnäckiger Krankheiten eine große Wirksamkeit habe, war bereits im grauen Altertum verbreitet. Schon Plinius und andere Forscher behaupten, daß der Auszug der Juden aus Ägypten erfolgt sei, weil König Pharao zur Heilung des Aussatzes, an dem er litt, das Blut von 150 Judenkindern verlangt habe. Im alten Rom wurden die Christen des Ritualmordes beschuldigt. So sehr auch Kirchenväter und hervorragende christliche Schriftsteller sich bemühten, diese ungeheuerliche Beschuldigung zu widerlegen, so folgte doch jeder derartigen Anklage fast immer eine blutige Christenverfolgung, bis das Christentum Staatsreligion wurde. War es hier die mißverstandene Abendmahlsfeier, die den Verdacht erregte, so scheint eine mittelalterliche jüdische Zeremonie, bei welcher dem Andenken der von Pharao ermordeten Judenkinder vier Becher Wein gewidmet wurden, den ersten Anlaß zu der Beschuldigung gegeben zu haben, daß die Juden alljährlich bei ihrem Passahfest sahfest ein Christenkind ermordeten, um sich bei der Feier des Blutes zu bedienen, oder auch um es den Mazzes beizumischen. Diese Beschuldigung soll zuerst bei der großen Judenaustreibung aus Frankreich unter Philipp II (1180-1220) aufgetaucht sein. Seitdem ist diese Beschuldigung in den verschiedensten Gegenden der Welt bis in die heutige Zeit immer wieder erhoben worden, wenn irgendwo um die Osterzeit ein Kind verschwand oder ermordet gefunden wurde. Mehrere solcher angeblich von Juden geschlachteter Christenkinder wurden heilig gesprochen, wie der heilige Simon von Trient (1475) und der heilige Werner, dem am Rhein mehrere Kapellen gewidmet wurden. Eine große Judenverfolgung war und ist noch heute die unausbleibliche Folge dieser törichten Beschuldigung, die um so unsinniger ist, da den Juden von Moses sogar der Genuß von Tierblut aufs strengste untersagt ist. Einen neuen Charakter gewann der Blutaberglaube, als nach Anerkennung der Transsubstantiationslehre wiederholt blutige Flecke auf Hostien als wunderbare Bestätigung der neuen Lehre betrachtet worden waren. Das schon im Altertum häufig beobachtete Auftreten blutiger Flecke sowohl auf Hostien als an Gebäck und Speisen mag die erste Veranlassung zu dieser Art von Blutbeschuldigung gegeben haben. Es traten von dieser Zeit ab häufige Beschuldigungen auf, die Juden hätten sich durch Bestechung der Kirchendiener geweihte Hostien zu verschaffen gewußt, um zu sehen, was an dem christlichen Dogma Wahres sei, und hätten so lange mit Nadeln oder Pfriemen hineingestochen, bis reichlich Blut geflossen sei. Die verdächtigen Juden wurden eingekerkert, durch Anwendung der Folter zu Geständnissen gebracht und alsdann hingerichtet. Eine große blutige Judenverfolgung bildete gewöhnlich das Nachspiel solcher Prozesse. Im Jahre 1570 wurden allein in Berlin 34 Juden wegen blutender Hostien hingerichtet. Vergeblich erhoben selbst Päpste, wie Benedikt XII. und Ganganelli, ja, selbst jüdische Renegaten wie Pfefferkorn gegen diese wahnwitzigen Beschuldigungen ihre Stimme. Immer und immer wieder mußte das ganze Mittelalter hindurch das Blutmärchen den Anlaß zu den ärgsten Judenverfolgungen geben. Ende des achtzehnten Jahrhunderts soll zu Frankfurt a.d.O. eine Anzahl Juden wegen Schlachtens eines Christenkindes angeklagt gewesen sein und auch, selbstverständlich unter Anwendung der Folter, ein Geständnis abgelegt haben. Die von Heinrich Heine im „Rabbi von Bacharach“ aus Anlaß der Beschuldigung eines Ritualmordes geschilderte Judenabschlachtung ist allbekannt. In früheren Jahrhunderten waren am Abend vor dem Passahfest, wenn die Juden, nachdem sie aus der Synagoge gekommen waren und sich zwecks Vorlesung der Hagadah zu Tisch setzten, gewaltsame Überfälle, unter der Beschuldigung, es sei ein Christenkind geschlachtet worden, keine Seltenheit. Da an diesem Festabend Wein getrunken wird, so wurde, um die Blutbeschuldigung zu widerlegen, überall Weißwein getrunken. Im neunzehnten Jahrhundert hatte man viele, viele Jahre nichts von Ritualmordbeschuldigungen gehört. Man glaubte, dieses Märchen gehöre nur noch der Geschichte an. Im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts brach jedoch mit der Herrschaft des Sozialistengesetzes (Oktober 1878), eine furchtbare Reaktion über Deutschland herein, die auch sehr bald auf andere Staaten übergriff. Nach Erlaß des Sozialistengesetzes, Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über alle größeren Städte und Industrieorte, herrschte in Deutschland gewissermaßen politische Kirchhofsruhe. Diese Stille, die man zweifellos unangenehm empfand, wurde sehr bald durch eine furchtbare Judenhetze abgelöst. Zunächst machte sich in der deutschen Reichshauptstadt, Ende 1880, eine Judenhetze breit, die stark an die finsteren Zeiten des Mittelalters erinnerte. Es herrschte anscheinend der Glaube, es werde durch die Judenhetze gelingen, der Reaktion ein volkstümliches Mäntelchen umzuhängen und die Arbeiter, die sich gewissermaßen instinktiv zur Sozialdemokratie bekennen, ins reaktionäre Lager zu führen. Zwei ehemaligen sozialdemokratischen Führern, dem auf Grund des „Kleinen Belagerungszustandes“ aus Berlin ausgewiesenen Zimmerer Karl Finn und Maurer Wilhelm Körner, die plötzlich in ihrem Altonaer Exil ihr antisemitisches Herz entdeckt hatten, wurde die Rückkehr nach Berlin gestattet. Man hoffte, was den antisemitischen Geistlichen, Lehrern, ehemaligen Offizieren, Hilfsarbeitern in den Ministerien und ähnlichen Leuten nicht gelingen wollte, werde sicherlich den ehemaligen beliebten Führern der Sozialdemokratie gelingen. Die Arbeiter, soweit sie nicht ausgewiesen sind, würden, wenn Körner und Finn zu ihnen sprechen, sofort sich zum Antisemitismus bekehren. Als aber Körner und Finn im Februar 1881 eine Arbeiterversammlung nach einem großen Saale im Norden Berlins beriefen, wurden sie von den Arbeitern nicht nur furchtbar ausgepfiffen, sondern auch derartig behandelt, daß sie es für geraten hielten, durch eine Hintertür zu verschwinden. Sie sind bisher niemals mehr an die Oberfläche gekommen. Allein der Antisemitismus nahm, einmal durch den Niedergang der wirtschaftlichen Verhältnisse, andererseits aber auch durch hohe maßgebende Kreise begünstigt, eine ungeheure Verbreitung. Man begnügte sich in gewissen Kreisen Deutschlands nicht mit Ausnahmegesetzen gegen die Katholiken und Sozialdemokraten, man verlangte auch, allerdings vergeblich, Ausnahmegesetze gegen die Juden. Selbst in Berlin waren antisemitische tisemitische Anrempelungen in vornehmen Restaurants und Cafés, ja, sogar auf offener Straße und in Straßenbahnwagen keine Seltenheiten. In den antisemitischen Versammlungen wurde geradezu das Faustrecht proklamiert. Es war keine Seltenheit, daß Christen antisemitischer Gesinnung, die jedoch ein brünettes Äußere hatten, von ihren Gesinnungsgenossen, lediglich ihres „verdächtigen“ Aussehens wegen, stark verbläut wurden. Im November 1880 erschien von notablen Christen ein öffentlicher Aufruf, in dem die Judenhetze als kullurwidrig bezeichnet wurde. Der damalige Kronprinz, spätere Kaiser Friedrich, nahm Veranlassung, die antisemitische Bewegung öffentlich als Schmach des Jahrhunderts zu bezeichnen. In Pommern, Ost- und Westpreußen kam es zu offenen Krawallen. In Rußland begannen blutige Judenverfolgungen, die sich sehr bald auf Österreich-Ungarn ausdehnten.

Anfang April 1882 verschwand in dem ungarischen Dorfe Tisza-Eszlar ein vierzehnjähriges christliches Dienstmädchen, namens Esther Solymosi. Es wurde sehr bald die Beschuldigung laut: Die Juden haben das Mädchen zu rituellen Zwecken geschlachtet. Die Beschuldigung wurde ganz besonders von dem Gutsherrn des Dorfes, dem antisemitischen Reichsratsabgeordneten v. Onody, geschürt. Eine regelrechte Judenverfolgung setzte ein, zumal eine Anzahl Leute die Beobachtung gemacht haben wollten, daß des Nachts in der Nähe der Synagoge ein blutiger Schatten husche, der der Gestalt des verschwundenen Mädchens ähnlich sehe. Der Untersuchungsrichter des zuständigen Kreisgerichts Nyfregyháza sandte den zweiundzwanzigjährigen Referendar Josef Bary nach Tisza Eszlar. Dieser lauerte dem vierjährigen Söhnchen des Tempeldieners Scharf auf. Aus dem Geplapper dieses armseligen Kindes glaubte der „Hüter des Rechts“ zu entnehmen, daß der Tempeldiener Scharf und eine Anzahl anderer Juden das Mädchen in der Synagoge geschlachtet haben. Der Referendar verfügte die Verhaftung der verdächtigen Juden. Allein auf Grund der Aussagen eines vierjährigen Kindes war eine Verurteilung wegen Mordes nicht zu erzielen. Der Referendar hatte aber auch erfahren, daß der Tempeldiener bereits einen dreizehnjährigen Sohn mit Vornamen Moritz habe. Wenn dieser, der zur damaligen Zeit in Ungarn eidesmündig war, eidlich bekunden würde, daß er die Abschlachtung des Mädchens in der Synagoge beobachtet habe, dann war eine Verurteilung zu erzielen. Referendar Bary ließ kurzerhand Moritz Scharf verhaften, in Ketten legen und nach Nyregyháza transportieren. Dort wurde der arme Junge aufgefordert, ein Geständnis abzulegen. Da er aber fortdauernd beteuerte: er habe nicht gesehen, daß Esther Solymosi ermordet worden sei, so befahl der Referendar den Panduren, den Knaben zu schlagen, bis er ein Geständnis ablege. Außerdem befahl dieser jugendliche Untersuchungsrichter, dem Knaben weder Speise noch Trank zu reichen. Der Knabe schlief vor Ermüdung schließlich ein, er wurde jedoch wiederholt in geradezu mörderischer Weise aus dem Schlafe geprügelt. Da aber selbst diese Folter keinen Erfolg hatte, so versuchte es das junge Ungeheuer in Gestalt eines Referendars, in anderer Weise zum Ziele zu kommen. Er versprach dem Knaben: er werde nicht mehr geprügelt werden, dagegen gut und reichlich zu essen und zu trinken erhalten, und es werde außerdem in bester Weise für seine Zukunft gesorgt werden, wenn er sagen wolle, daß die Juden in der Synagoge zu Tisza-Eszlar die Esther Solymosi geschlachtet haben. Wenn er aber weiter leugne, dann werde er in einen Graben geworfen, in dem er elendiglich zugrunde gehen müsse. Dies Mittel half. Moritz Scharf gab zu: Er habe durchs Schlüsselloch der Synagoge gesehen, daß 15 Juden, zu denen auch sein Vater gehörte, die Esther Solymosi geschlachtet haben. Diese Aussage hielt Moritz Scharf, ein kleiner, unansehnlicher Knabe, auch in der von Anfang Mai bis Anfang Juli 1883 vor dem Kreisgericht zu Nyregyháza stattgefundenen Verhandlung vor dem Kreisgericht aufrecht. Schließlich wurde auf Antrag des Vertreters der Oberstaatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalts-Substituts Szeyfferth (Budapest) und der Verteidiger beschlossen: eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen. Sämtliche Prozeßbeteiligten fuhren mit den Angeklagten und Moritz Scharf nach Tisza-Eszlar. Moritz Scharf mußte in der Synagoge die Stelle angeben, auf der die Abschlachtung vollzogen worden sei. Er wurde alsdann hinausgeschickt, und es wurde an derselben Stelle das Abschlachten einer Puppe markiert. Moritz Scharf, der aufgefordert war, durch das Schlüsselloch zu sehen – die Synagogentür war in keiner Weise verändert – konnte nicht sagen, was in der Synagoge geschehen war. Nun überzeugte man sich, daß man durch das Schlüsselloch überhaupt nicht in das Innere der Synagoge sehen konnte. „Hiermit hätten wir anfangen sollen,“ sagte ein beisitzender Richter, „dann hätten wir uns viel Arbeit gespart.“ Nach diesem Ergebnis wurden die Angeklagten, die 1 1/4 Jahr in Untersuchung gesessen hatten, sämtlich freigesprochen.

Dieser angebliche Ritualmord bot aber trotzdem sehr lange Zeit, auch nach geschehener Freisprechung, den Antisemiten allerwärts einen willkommenen Agitationsstoff. In einer großen Anzahl ungarischer Städte fanden aus Anlaß des Freispruchs blutige Judenverfolgungen statt, die erst mit militärischer Hilfe unterdrückt werden konnten.

Im September 1883 fand in Dresden der erste und letzte „Internationale Antisemitenkongreß“ statt. Zu diesem brachten die ungarischen Antisemiten das angebliche Bild der Esther Solymosi mit und stellten es gegen ein Eintrittsgeld von fünfzig Pfennigen zur öffentlichen Ansicht aus. Es soll in Wahrheit das Bild einer Prostituierten gewesen sein. Das Bild wurde nach Beendigung des Kongresses nach Berlin gebracht und hier, ebenfalls gegen ein Eintrittsgeld von fünfzig Pfennig, in einem Saale der Bockbrauerei zur öffentlichen Schau gestellt. Die Esther Solymosi ist, meiner Erinnerung nach, später in der Theiß als Leiche gefunden worden. Seit dieser Zeit sind leider die Ritualmordmärchen immer wieder aufgetaucht. (Siehe Kriminalprozesse (Vgl. Band I: der Xantener Knabenmordprozeß, und Band III: der Konitzer Gymnasiasten-Mordprozeß.)

Im April 1885 gelangte vor dem Schwurgericht zu Danzig ein Mordprozeß zur Verhandlung, in dem ebenfalls im Hintergrunde das Ritualmordmärchen auftauchte. Am Morgen des 22. Januar 1884 ging der Bauerssohn Dobiella über eine kurz vor dem Dorfe Skurcz bei Preuß. Stargard belegene Wiese, die von einem Abzugsgraben des Skurczer Sees durchschnitten wird. Beim Passieren der Brücke dieses Grabens sah er in letzterem zwei nackte menschliche Unterschenkel liegen. Erschreckt eilte er dem Dorfe zu; er kehrte bald mit einem Manne zurück und machte in Gemeinschaft mit diesem weitere Nachforschungen. Sie fanden nun außer den erwähnten Unterschenkeln unter der Brücke selbst einen nackten, furchtbar zugerichteten menschlichen Rumpf. Dobiella rief eiligst den Amtsvorsteher herbei, der die Leichenteile ans Land schaffen und außerdem weitere Nachforschungen vornehmen ließ. Allein weder die fehlenden Oberschenkel, noch die Kleider der Leiche waren zu finden. Auch ergab die örtliche Untersuchung weder irgendwelche Spuren eines Kampfes, noch Blutflecken. Wie sich sehr bald herausstellte, war der Ermordete der vierzehnjährige Onophrius Cybulla aus Skurcz. Die Leichenöffnung ergab, daß der Tod durch Verblutung erfolgt war. An der Vorderseite des Halses zeigte der fast vollständig blutleere Leichnam eine weit klaffende glatträndrige Wunde, die bis zum Halswirbel sich erstreckte, so daß die Speiseröhre und die Hauptblutgefäße oberhalb des Kehlkopfes durchtrennt waren. Außer noch mehreren anderen erheblichen Verletzungen waren auf der Kopfhaut sieben parallel laufende tiefe Einschnitte zu sehen. Die fehlenden Oberschenkel waren aus dem Hüftgelenk mit kräftigem Schnitte vollständig kunstgerecht ausgelöst; in ebenso kunstfertiger Weise waren die vorgefundenen Unterschenkel abgetrennt. Der Ermordete war von dem Gasthofsbesitzer Gappa in Skurcz mit Flaschenspülen beschäftigt worden. Am Abende des 21. Januar ar 1884, etwa gegen halb neun Uhr, ist er von Gappa fortgegangen, um sich, wie er angab, nach Hause zu begeben; der Mord muß deshalb in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 geschehen sein. Die Sachverständigen behaupteten, daß die künstliche Zerstückelung der Leiche eine mehrstündige Operation erfordert habe. Da nun in jener dunklen Januarnacht ein sehr stürmisches Wetter getobt und andererseits am Fundorte der Leiche weder Spuren eines Kampfes noch Blutflecken vorhanden gewesen, so behaupteten die Sachverständigen, daß die Tat im Dorfe selbst, und zwar in einer Behausung, verübt worden sei, und daß der Mörder die Leiche erst nach vollbrachter Tat an den Fundort geschafft habe. Der törichte Aberglaube, es existiere bei den Israeliten das Bedürfnis nach rituellen Morden, und es handle sich in diesem Falle um einen solchen, wurde auch wiederum lebendig, um so mehr, als die Umstände einen Lust- oder Raubmord vollständig auszuschließen schienen und man auch nicht annehmen konnte, daß der vierzehnjährige Knabe das Opfer von Haß oder Rachsucht geworden sei. Es fand infolgedessen auch im Dorfe Skurcz ein regelrechter Krawall, der sich gegen die dort lebenden Juden richtete, statt. Der Verdacht, den Mord verübt zu haben, lenkte sich auf verschiedene Personen, und zwar zunächst infolge der Aussage eines Mannes, namens Sprada, auf den Kaufmann Boß. Dieser Sprada erzählte: Am Abende des 21. Januar 1884 habe er von Gappa einen Knaben herauskommen sehen. An dem Hause des jüdischen Kaufmanns Boß sei der Knabe auf Anrufen des Boß in dessen Haus gegangen.

Da jedoch der Mörder zweifellos ein im Sezieren sehr gewandter Mann gewesen sein muß, so lenkte sich der Verdacht auch auf den Schächter Blumenheim in Skurcz. Dieser vermochte aber den Nachweis zu führen, daß er in der Mordnacht verreist war. Es lenkte sich der Verdacht wiederum auf den Kaufmann Boß und dessen Vater und infolge einer Aussage eines Arbeiters, namens Mankowski, auch auf den in Skurcz wohnenden Handelsmann Hermann Josephsohn. Mankowski bekundete nämlich: Am 22. Januar des Morgens sei er von seiner Heimat Skorczewo über Skurcz nach Pr. Stargard gegangen. Kurz vor sechs Uhr habe er am Thiessenschen Gasthof einen Menschen getroffen, der einen schweren Sack auf dem Rücken trug und den Ossieker Weg gegangen sei. Er habe geglaubt, der Mann trage ein Kalb, an der unteren Ecke sei jedoch ein runder Gegenstand, der wie ein Menschenkopf aussah, zu sehen gewesen. In dem Träger des Sackes habe er den Hermann Josephsohn erkannt. Anläßlich dessen wurde Josephsohn und einige Zeit darauf auch Boß (Vater und Sohn) in Haft genommen. Die Untersuchung gegen diese drei Personen nen ergab jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Dagegen erklärte Mankowski einige Monate später, und zwar nach eindringlichen Ermahnungen des Kriminalkommissars Höft aus Berlin; Er habe nicht den Josephsohn, sondern den Fleischermeister Behrendt aus Skurcz mit voller Bestimmtheit als den Träger des Sackes erkannt. Von dem Morde habe er erst am 23. Januar durch seine Mutter Nachricht erhalten. Einige Tage später habe ihm seine Mutter mitgeteilt, Fleischermeister Behrendt habe ihn sprechen wollen. Er habe infolgedessen sofort zu seiner Mutter gesagt: der Träger des genannten Sackes sei Behrendt gewesen, dieser habe jedenfalls die Leiche im Sacke getragen. Am 27. Januar habe ihm sein Nachbar Zilinski ebenfalls gesagt: Behrendt wolle ihn sprechen. Behrendt soll dabei geäußert haben: er (Mankowski) solle zum Amtsvorsteher kommen und dort bekunden, daß er nicht den Behrendt, sondern den Josephsohn am 22. Januar früh mit dem Sacke auf dem Rücken getroffen habe. Einige Tage später sei er mit Zilinski nach Skurcz gegangen. Am Eingange des Dorfes habe sie Behrendt schon erwartet und gesagt: er (Mankowski) solle nur stramm gegen Josephsohn aussagen: er werde dafür gut bezahlt erhalten, es werden Gelder zu diesem Zwecke gesammelt werden. In dieser Weise habe Behrendt unablässig auf sein Zeugnis einzuwirken gesucht. Die Mutter des Mankowski bestätigte in vieler Beziehung diese Bekundungen ihres Sohnes. Behrendt hatte sich angeblich außerdem bei der gerichtlichen Obduktion der Leiche und bei noch mehreren anderen Gelegenheiten durch Redensarten sehr verdächtig gemacht. Bei der gerichtlichen Leichenobduktion sagte der Besitzer Hoffmann zu Behrendt: „Die wissenschaftlichen Fortschritte sind jetzt derartig, daß man durch das Photographieren des Auges des Ermordeten die Person des Mörders erkennen kann.“ Behrendt soll infolge dieser Erzählung leichenblaß geworden sein, gezittert und laut gestöhnt haben. Da Behrendt außerdem über seinen Aufenthalt am Abende des 21. Januar widersprechende Angaben machte, er auch der erste war, der die Beschuldigung erhob, daß nur Juden den Mord begangen haben können, und als dieselbe Beschuldigung gegen ihn laut wurde, er sehr niedergeschlagen war und auch nicht, wie er mehrfach gedroht, diese Beschuldiger wegen Verleumdung verklagte, so wurde er am 10. Mai 1884 wegen Verdachts des Mordes verhaftet, Josephsohn und die beiden Boß dagegen in Freiheit gesetzt. Da noch eine Reihe anderer Verdachtsmomente gegen Behrendt sprachen, so wurde die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er hatte sich vom 22. bis 27. April 1885 vor den Geschworenen des Danziger Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat Arndt. Die Staatsanwaltschaft waltschaft vertrat Gerichtsassessor Dr. Preuß. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Thurau (Pr. Stargard). Der Angeklagte bestritt mit großer Entschiedenheit, den Mord begangen zu haben. Er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin wohl wegen Körperverletzung und wegen Notzucht in Untersuchung verwickelt gewesen, ich war jedoch vollständig unschuldig, deshalb wurde auch die Anklage gegen mich niedergeschlagen. Ich trinke wohl gern einmal einen Schnaps, aber ich betrinke mich nicht. Ich besuche die Kirche sehr oft, wie es meine Religion mir vorschreibt.

Vors.: Kannten Sie den Knaben Cybulla?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Betrieb Cybulla einen Handel?

Angekl.: Er war bloß bei seinem Vater.

Vors.: Er soll mit Ziegenfellen gehandelt haben.

Angekl.: Das kann sein.

Vors.: Ist Ihnen der Knabe vielleicht einmal beim Handel in die Quere gekommen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Handelten Sie nicht auch mit Ziegenfellen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Schlachteten Sie nicht bisweilen eine Ziege?

Angekl.: Wenn ich eine Ziege billig kaufen kann, dann allerdings.

Vors.: Wann haben Sie den Knaben Cybulla zum letzten Male gesehen?

Angekl.: Am Sonnabend vor dem Morde.

Vors.: Sie werden nun beschuldigt, den Knaben Cybulla ermordet zu haben.

Angekl.: Ich sitze hier ganz unschuldig.

Vors.: Sie behaupten also, Ihr Gewissen ist rein, Sie sind nicht der Mörder.

Angekl.: Ich bin unschuldig.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte der Angeklagte: Am 21. Januar 1884 fuhr ich mit dem Altsitzer Rzanicki über Land, um ein Rind zu kaufen. Gegen Sonnenuntergang kamen wir nach Skurcz und gingen in das Stenzelsche Gastlokal. Dort tranken wir mehrere Schnäpse und tranken so lange, daß ich betrunken wurde. Ich war schließlich so sehr angetrunken, daß ich meine Besinnung verlor. Ich weiß deshalb nicht, wann wir nach Hause gegangen sind, ich weiß nicht einmal, ob ich mich an jenem Abend beim Schlafengehen selbst entkleidet habe. Rzanicki übernachtete bei mir. Am folgenden Morgen hörte ich von der Auffindung der Leiche des Cybulla.

Vors.: Haben Sie sich die Leiche angesehen?

Angekl.: Nein, ich kann überhaupt keine Leiche sehen.

Vors.: Sie sollen direkt aufgefordert worden sein, sich auch einmal die Leiche anzusehen?

Angekl.: Das ist richtig, ich bin aber zu weich, ich kann keine Leiche sehen.

Vors.: Es wurde Ihnen noch gesagt: ein Fleischer, der Tiere schlachtet, muß auch menschliche Leichen sehen können?

Angekl.: Ich kann keine Leichen sehen, ich könnte mir nicht einmal die Leichen meiner Kinder ansehen.

Vors.: Nun, Sie sollen einmal jemandem ein großes Schlachtmesser gezeigt und dabei geäußert haben; damit könnte ich mit ruhigem Blute einen Menschen schlachten und sogar sein Blut trinken.

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Das werden aber hier mehrere Zeugen bekunden!

Angekl.: Wenn ich es gesagt haben sollte, dann kann ich es nur im Scherz gesagt haben.

Vors.: Ein sittlicher Mensch macht derartige Äußerungen auch nicht im Scherz.

Angeklagter zuckte die Achseln.

Vors.: Haben Sie eine Ahnung, wer wohl der Mörder sein könnte?

Angekl.: Nein.

Vors.: Richtete sich nicht der Verdacht gegen bestimmte Personen oder gegen eine gewisse Bevölkerungsklasse?

Angekl.: Ja, man sagte im allgemeinen, die Juden sind es gewesen.

Vors.: Sie sollen diesen Verdacht zuerst ausgesprochen chen und sich in dieser Beziehung sehr rührig gezeigt haben.

Angekl.: Das ist nicht wahr, ich habe bloß gesagt, die Juden werden es wohl gewesen sein, weil die allgemeine Volksstimmung den Juden die Schuld zuschob.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bestritt der Angeklagte, bei der Obduktion der Leiche erschrocken zu sein, als ihm der Besitzer Hoffmann sagte: durch das Photographieren des Auges des Ermordeten könne man die Persönlichkeit des Mörders feststellen. Ebensowenig sei er erschrocken, als sich die Meinung verbreitete: der Mord könne den Umständen nach nur von einem Arzte oder einem Fleischer verübt sein.

Vors.: Sie sollen nun am Morgen des 22. Januar 1884 von einem Arbeiter Mankowski mit einem Sack auf dem Rücken auf dem Wege nach Ossiek getroffen worden sein. Mankowski habe zunächst geglaubt, es befinde sich ein Kalb in dem Sacke, er habe aber einen Menschenkopf hervorschauen sehen.

Angekl.: Das ist eine Lüge, ich kenne den Mankowski überhaupt nicht, ich habe ihn zum ersten Male gesehen, als er mir auf dem Amtsgericht zu Culmsee vorgestellt wurde.

Auf weiteres Befragen stellte der Angeklagte auch in Abrede, bei der Mutter des Mankowski gewesen zu sein oder in irgendeiner Weise versucht zu haben, auf sein Zeugnis Einfluß auszuüben. Den Zilinski kenne er wohl, er sei jedoch schon lange vor dem 22. Januar 1884 nicht mehr mit ihm zusammengekommen.

Amtsvorsteher Ernst (Skurcz) bekundete: Das Dorf Skurcz zähle etwa 2000 Einwohner, darunter etwa 50 Juden. Die übrige Bevölkerung sei fast ausschließlich katholisch. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich zunächst auf die Juden, und zwar speziell auf den Handelsmann Hermann Josephsohn; er habe jedoch keinerlei Verdachtsmomente gegen Josephsohn oder gegen irgendeine andere Person wahrnehmen können. Behrendt habe sich seines Wissens nach immer gut geführt; nur wenn Behrendt angetrunken gewesen, und das sei nicht selten vorgekommen, habe er im Dorfe Skandal gemacht und alle ihm Begegnenden mit Gewalttätigkeiten bedroht.

Der Vater des Ermordeten, Schneidermeister Cybulla aus Skurcz, bekundete, wie die meisten Zeugen, mittels Dolmetscher: Sein ermordeter Sohn sei 14 1/2 Jahre alt und ein körperlich sehr entwickelter, im übrigen sehr guter Junge gewesen. Der Knabe sei teils bei einem Bäcker, teils bei einem Gastwirt, bei letzterem mit Flaschenspülen beschäftigt gewesen. Wenn er (Zeuge) eine Ziege geschlachtet, habe sein Sohn Onophrius das Fell verkauft. Ob sein Sohn mit dem Boß oder Hermann Josephsohn verkehrt, wisse er nicht. Am 21. Januar 1884, nachmittags gegen vier Uhr, sei sein Sohn von Hause weggegangen und nicht mehr lebend zurückgekehrt. Er habe nicht gewußt, wohin sich sein Sohn begeben habe. Am Morgen des 22. Januar habe er von der Auffindung der Leiche gehört und in dieser seinen Sohn erkannt. Wer der Mörder sein könne, wisse er nicht: Er habe gehört, sein Sohn soll bis gegen acht Uhr abends bei dem Gasthofbesitzer Gappa Flaschen gespült haben. Am 22. Januar 1884 habe ihm ein Mann, namens Sprada, erzählt: Er habe am 21. Januar abends einen Knaben von Gappa herauskommen und bei Boß vorübergehen sehen. Aus dem Boßschen Hause habe er (Sprada) den Ruf gehört: „Onophri! Onophri!“ Ob sein Sohn am 21. Januar Geld bei sich gehabt, wisse er nicht. Die Kleidungsstücke des Knaben waren von geringem Werte.

Arbeiter Sprada: Er habe am Abend des 21. Januar einen Knaben bei dem Boßschen Hause vorübergehen sehen und dabei den Ruf: „Onophri! Onophri!“ gehört; ob diese Worte in polnisch-jüdischem Jargon gesprochen wurden, wisse er nicht mehr.

Der Vorsitzende bedeutete dem Zeugen, daß er früher mit voller Bestimmtheit behauptet, die Worte seien in jüdisch-polnischem Jargon gesprochen worden.

Der Zeuge erklärte: Er habe von dieser seiner Wahrnehmung am 22. Januar abends Mitteilung gemacht, Cybulla erwiderte jedoch, daß dies mehrere Tage später gewesen sei.

Der zunächst verhaftet gewesene Kaufmann Heim. Boß jun. bekundete: Der Knabe Cybulla habe ihm häufig Semmel gebracht; das letztemal sei er am 21. Januar 1884 des Morgens bei ihm gewesen. Daß er am Abend des 21. Januar den Knaben angerufen, sei unwahr; daß in der Nacht vom 21. zum 22. Januar in seinem Hause große Unruhe geherrscht, bestreite er ebenfalls. Gleich nach Auffindung der Leiche habe Behrendt laut gerufen: „Das haben die Juden getan!“ Am 23. Januar sei er (Zeuge) vernommen worden. Die bei ihm vorgefundenen Blutflecken, Blutklumpen usw. erklären sich aus dem Umstande, daß er bisweilen in seiner Behausung Vieh geschlachtet habe. In seinem Ziegenstalle sei in der Nacht vom 21. zum 22. Januar allerdings der Ständer umgeworfen gewesen; diesen bereits etwas morschen Ständer haben jedenfalls die Ziegen umgeworfen. Mit Josephsohn sei er nicht befreundet gewesen.

Staatsanwalt: Es ist die Behauptung aufgestellt worden, Herr Zeuge, daß am 21. Januar 1884, abends, viele Juden bei Ihnen gewesen sind.

Zeuge: Das ist nicht wahr, nur mein Schwager Mendelssohn aus Neukirch ist an jenem Abende bei mir gewesen.

Handlungsgehilfe Cohn, der zur Zeit bei Boß konditioniert hatte, bestätigte vollständig die Bekundung des Zeugen Boß. Als bei Boß Haussuchung gehalten wurde, war in der Bevölkerung von Skurcz gegen die Juden große Erregung. Einer der Vorlautesten, der die Juden als die Mörder bezichtigte, war der Angeklagte Behrendt, der sich auch bei der bei Boß vorgenommenen Haussuchung beteiligte. Sattler Bobilinski bestätigte im wesentlichen die Angaben der beiden Vorzeugen; er behauptete nur, im Widerspruch mit den ersteren, daß die am Abende des 21. Januar 1884 bei Boß vorgenommene Warenauspackung bis etwa gegen acht Uhr gedauert habe, während die Vorzeugen bekundeten, diese Warenauspackung habe bis nach neun Uhr gedauert.

Frau Boß bekundete ebenfalls, daß die Warenauspackung bis nach neun Uhr gedauert habe.

Auch Kaufmann Boß sen. (73 Jahre alt), der ebenfalls vom 22. März bis 12. April 1884 wegen Verdachtes des Mordes verhaftet gewesen, bestätigte die Bekundungen der Vorzeugen. Er habe in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 keinerlei Unruhe in seinem Hause wahrgenommen.

Töpfermeister Keckermann, der zu jener Zeit bei Boß gewohnt, bekundete: Er sei in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 angetrunken nach Hause gekommen und habe unter Poltern sein Schlafzimmer aufgesucht. Ob sonst Lärm im Hause gewesen, wisse er nicht; er habe jedenfalls keinen Lärm wahrgenommen. men. Am 23. Januar 1884 sei er mit dem jungen Boß nach Pr. Stargard gefahren und in einem Kruge, dessen Besitzer ein Jude war, eingekehrt. Boß habe mit diesem Kruginhaber längere Zeit in so leiser Weise sich unterhalten, daß er von der Unterhaltung nichts verstehen konnte. Als bald darauf der Verdacht des Mordes sich auf die Juden lenkte, sei ihm das leise Gespräch aufgefallen.

Dienstmädchen Kowalewska: Sie sei am Morgen des 22. Januar 1884 gegen vier Uhr von einer Hochzeit nach Hause gekommen, und da sie in ihre Schlafkammer nicht hineinkonnte, habe sie bei der in demselben Hause wohnenden Frau Reimann geschlafen. Kaum hatte sie sich zu Bett begeben, da hörte sie heftig poltern und einen schweren Gegenstand tief hinunterfallen. Am Donnerstag darauf habe sie den Dienst bei Boß verlassen. Sie habe sich gefürchtet, da die Dorfbewohner sämtlich behaupteten, die Juden haben den Knaben Cybulla geschlachtet; sie wollte deshalb nicht mehr bei Juden dienen. Verdachtsmomente habe sie nicht wahrgenommen. Nur in dem Ziegenstalle waren die Latten umgefallen; auf dem kurz vorher von ihr gereinigten Boden waren viele kleine Papierstückchen zerstreut, und die Waschschüssel, die stets in ihrer Schlafkammer gestanden, befand sich am Morgen des 22. Januar in der Boßschen Wohnung. Außerdem sei vor dem Ziegenstalle Blut gefunden worden. Allerdings sei bei Boß einige Zeit vorher ein Rind geschlachtet worden.

Witwe Reimann: Sie habe viele Jahre bei Boß gewohnt und hatte gegen die Familie Boß bis zu dem Cybullaschen Morde nichts auszusetzen; die Boß waren durchaus anständige Leute. In der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 gegen zwei Uhr sei plötzlich die Tür aufgegangen und es habe eine Stimme: „Buh“ hineingerufen. Sie habe sich nebst ihren beiden Töchtern sehr erschreckt und habe geglaubt, daß Diebe bei ihr eindringen wollten. Etwa eine Stunde später sei das Dienstmädchen Kowaleska gekommen und gegen vier Uhr habe sie ein ganz eigentümliches Geräusch gehört. Die Latten im Ziegenstalle können unmöglich von den Ziegen umgeworfen worden sein. Als Herr Boß in den Ziegenstall trat, sei ihr sein Benehmen sehr aufgefallen. Boß habe gesagt: Es müsse ihm jemand einen Schabernack gespielt haben.

Amtsvorsteher Ernst: Auf ihn habe es auch den Eindruck gemacht, als wären die Ziegen nicht imstande gewesen, die Latten umzuwerfen.

Fräulein Reimann, Tochter der Vorzeugin: Sie habe in der in Rede stehenden Nacht ebenfalls ein Geräusch wahrgenommen. Daß das Geräusch durch den in jener Nacht herrschenden Sturm verursacht worden sei, glaube sie nicht.

Vors.: Ich habe dabei den Keckermann im Verdacht, dacht, der in jener Nacht angetrunken nach Hause gekommen und dabei ein großes Geräusch verursacht hat.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bekundete die Zeugin: Einige Tage nach dem Morde habe die Schwester des Hermann Josephsohn zu ihr gesagt: Möchte man nur lieber bei dem Rechten und nicht bei dem Unrechten nach der Spur des Mörders suchen.

Handelsmann Hermann Josephsohn, der vom 31. Januar bis 11. Mai 1884 wegen Verdachts des Mordes verhaftet war, bekundete: Er handle mit Produkten, Fellen usw., mit dem Knaben Cybulla sei er niemals zusammengetroffen. Der Vorsitzende ließ den Angeklagten neben den Zeugen treten, um festzustellen, daß dieser dem Zeugen an Figur gleiche.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Zeuge: Er sei am 21. Januar 1884 gegen Abend bei dem Bilderhändler Przybilski gewesen und etwa gegen halb acht Uhr, es könne auch später gewesen sein, nach Hause gegangen. Er habe sich in jener Nacht nicht ausgekleidet, da bis spät nachts eine Schneiderin in der Stube arbeitete. Als diese schon fort war, habe er so fest geschlafen, daß er das Ausziehen vergessen habe. Jedenfalls sei er in jener Nacht zu Hause gewesen. Am 18. Januar sei er vom Wagen gefallen und habe sich arg den Daumen verletzt.

Zeuge Boß bestätigte, daß Josephsohn am 18. Januar nuar jedenfalls in etwas angetrunkenem Zustande vom Wagen gefallen sei.

Auf Befragen des Staatsanwalts bekundete der Zeuge: der Finger habe sehr geblutet, daher sei sein Pelz mit Blut befleckt worden.

Simon Josephsohn, Friederike und Johanna Josephsohn, Geschwister des Vorzeugen, bestätigten vollständig des letzteren Bekundungen.

Frau Reimann: Sie habe im vergangenen Jahre vielfach in der Familie Josephsohn verkehrt. Am 21. Januar 1884 sei sie nachmittags gegen fünf Uhr zu Josephsohn gekommen. Gegen sieben Uhr abends seien Hermann und Simon Josephsohn fortgegangen. Gegen neun Uhr abends sei Simon, nicht aber Hermann wiedergekommen. Hermann habe weder ihr bei dem Abendbrot gegenübergesessen, noch sei er überhaupt, nachdem er gegen sieben Uhr abends fortgegangen, an jenem Abende wiedergekommen. Sie sei bis elf Uhr abends bei Josephsohn gewesen und könne mit Bestimmtheit behaupten, daß Hermann nicht dagewesen sei. Hermann sei sehr lebhaften Temperaments, sie hätte ihn infolgedessen sehen müssen. Die Minna Koschiella sei ebenfalls an jenem Abende bei Josephsohn gewesen.

Vors.: Das wird aber doch auch von mehreren anderen Zeugen bestritten?

Zeugin: Es ist auch möglich, daß die Koschiella an einem anderen Abende bei Josephsohn gewesen ist.

Vors.: Soeben haben Sie aber mit voller Bestimmtheit behauptet: die Koschiella sei am 21. Januar abends bei Josephsohn gewesen?

Zeugin: Ich habe nicht gewußt, daß es sich um den 21. Januar gehandelt hat.

Vors.: Ein anderer Tag kommt doch aber gar nicht in Frage. Irren Sie sich vielleicht auch bezüglich des Hermann Josephsohn?

Zeugin: Nein, ich weiß mit voller Bestimmtheit, daß Hermann, nachdem er gegen sieben Uhr abends fortgegangen, bis elf Uhr, zu welcher Zeit ich fortging, nicht wiedergekommen war.

Die vernommenen Geschwister des Hermann Josephsohn blieben bei ihren Behauptungen; eine Gegenüberstellung mit der Zeugin Reimann führte zu keinem Ergebnis.

Am zweiten Verhandlungstage wurde zunächst in eingehender Weise über den Aufenthalt des Hermann Josephsohn am Abende des 21. Januar 1884 verhandelt. Simon Josephsohn: Er sei am 21. Januar 1884 abends zu Przybilski gegangen. Einige Zeit darauf sei auch sein Bruder Hermann gekommen. Gegen halb neun Uhr sei er mit seinem Bruder Hermann nach Hause gegangen und habe auf dem Wege einen Handlungsgehilfen, namens Kramer, und einen gewissen Gehricke getroffen. Als sie nach Hause kamen, waren, außer den Familiengliedern, noch Frau Reimann und die unverehelichte Koschiella anwesend.

Handelsmann Bernhard Josephsohn (Vater des Vorzeugen): Sein Sohn Hermann trinke bisweilen einen Schnaps, wie es das Geschäft so mit sich bringe, im übrigen sei er ein sehr ordentlicher Mensch. Im weiteren bestätigte der Zeuge bezüglich der Vorgänge am Abende des 21. Januar die Bekundungen seiner Söhne.

Vors.: Wenn nun behauptet wird, daß Ihr Sohn Hermann den Cybulla ermordet hat, was sagen Sie dazu?

Zeuge: Gott bewahre, das kann nicht sein.

Frau Josephsohn (Gattin des Vorzeugen): Ihr Sohn Hermann trinke bisweilen einen Schnaps, im übrigen sei er guten Charakters. Im weiteren bestätigte die Zeugin die Bekundungen des Vorzeugen. Dasselbe taten die beiden Schwestern des Josephsohn.

Bilderhändler Stanislaus Przybilski: Am 21. Januar 1884 abends waren Hermann und Simon Josephsohn etwa von sieben bis acht Uhr bei ihm. Zunächst ging Simon, etwa 15 Minuten später auch Hermann fort. Gegen zwölf Uhr nachts sei er zu Josephsohn gegangen, um sich ein Pferd zu leihen. Hermann Josephsohn habe angekleidet auf dem Bett gelegen. Er habe eine schlimme Hand gehabt; er (Zeuge) wisse aber nicht, ob Hermann Josephsohn diese schlimme Hand schon vor dem Morde gehabt.

Handlungsgehilfe Kramer: Am Abend des 21. Januar 1884, etwa gegen zehn Uhr, sei er dem Hermann Josephsohn begegnet. Letzterer kam augenscheinlich von Hause. Hermann Josephsohn gab zu, dem Kramer an jenem Abende begegnet zu sein, allein er sei nicht von Hause gekommen, sondern nach Hause gegangen.

Konditor Gehricke: Er sei an dem in Rede stehenden Abende, etwa gegen zehn Uhr, zunächst dem Simon, etwa dreihundert Schritt weiter auch dem Hermann Josephsohn begegnet.

Franziska Koschiella: Sie sei am 21. Januar 1884 abends zweimal bei Josephsohn gewesen, zu welcher Zeit, wisse sie nicht. Das zweitemal sei sie gekommen, als die Familie Josephsohn Abendbrot aß. Ob Hermann Josephsohn anwesend gewesen, wisse sie nicht.

Minna Koschiella: Sie sei am fraglichen Abende zwischen sechs und sieben Uhr bei Josephsohn gewesen und habe Hermann zu Hause getroffen. Am folgenden Morgen gegen halb sieben Uhr sei sie wieder zu Josephsohn gekommen und habe Hermann schlafend, aber angekleidet auf einem Strohsack liegen sehen.

Bilderhändler Wesotzki: Am 21. Januar 1884, nachts gegen zwölf Uhr, sei er in Gemeinschaft mit Przybilski bei Josephsohn gewesen, um sich ein Pferd zu leihen. Hermann Josephsohn habe angekleidet auf der Erde gelegen und geschlafen; etwas Auffälliges habe er nicht wahrgenommen. Es wurde nunmehr nochmals Frau Reimann vernommen.

Vors.: Ich habe Sie gestern schon gefragt, ob am 21. Januar 1884, abends, Hermann Josephsohn zu Hause gewesen ist.

Zeugin: Ich habe ihn nicht gesehen.

Vors.: Damit kommen wir nicht weiter. Frau Reimann, Sie gehören doch den gebildeten Ständen an, halten Sie doch auseinander, hätten Sie den Hennann Josephsohn sehen müssen, oder sind Sie der Meinung: Sie haben ihn nicht gesehen, er kann aber doch zu Hause gewesen sein?

Zeugin: Er ist nicht zu Hause gewesen, ich hätte ihn sehen müssen.

Bilderhändler Wladislaus Przybilski: Etwa einen Tag nach dem Morde sei er bei Josephsohn gewesen. Hermann Josephsohn habe den Kopf in die Hand gestützt und nachdenkend dagesessen. Da habe Simon Josephsohn zu ihm gesagt: Weshalb bist du denn so traurig? Hermann habe erwidert: Ich habe Kummer. Gleich darauf habe Simon ihm ein Messer gezeigt und gesagt: Siehst du, mit diesem Messer ist Cybulla geschlachtet worden. Ob vorher von dem Morde die Rede gewesen sei, wisse er nicht. Er wisse wohl, daß man die Juden des Mordes bezichtigte, daß man aber speziell Hermann Josephsohn in Verdacht hatte, habe er nicht gewußt. Er wisse nicht, ob Simon die bekundeten Worte im Scherz oder Ernst gesagt habe.

Simon Josephsohn: Er habe dem Zeugen ein altes Messer, das zum Abkratzen der Stiefel gebraucht wurde, gezeigt und gesagt: Mit einem solchen Messer wird wohl der Knabe geschlachtet worden sein.

Przybilski: Simon hat genau gesagt: Mit diesem Messer ist der Knabe geschlachtet worden; der alte Josephsohn hat dieser Redensart wegen Simon zur Rede gestellt und ihm das Messer fortgenommen.

Simon und Josephsohn (Vater) stellten die letztere Bekundung entschieden in Abrede; Josephsohn (Vater) sei bei jenem Vorgange gar nicht zugegen gewesen.

Der Vorsitzende teilte mit: das betreffende Messer liege bei den Akten; es sei untersucht worden, ob an ihm Blutflecke vorhanden seien.

Hermann Josephsohn beteuerte wiederholt: Er sei am 18. Januar in Gemeinschaft seines Vaters und des Kaufmanns Roth jun. von Pr. Stargard nach Skurcz gefahren und unterwegs vom Wagen gefallen. Er habe sich dadurch derartig die linke Hand verletzt, daß sie stark blutete. Ganz besonders habe er sich den Daumen verletzt. Er sei unterwegs in einem Wirtshaus eingekehrt und habe sich von dessen Besitzerin, Frau v. Calbe, etwas zur Blutstillung geben lassen.

Frau v. Calbe bestätigte das. Sie erinnere sich aber nicht speziell, ob auch der Daumen verletzt gewesen, die Möglichkeit gebe sie zu.

Frau Reimann: Am Sonnabend vor dem Morde habe sie bemerkt, daß Hermann Josephsohn eine schlimme Hand gehabt, letzterer erzählte, er sei vom Wagen gefallen.

Vors.: War der Daumen auch verletzt?

Zeugin: Nein, bloß die sogenannte Maus der linken Hand.

Vors.: Bei dem Untersuchungsrichter haben Sie ganz bestimmt gesagt: der Daumen von der unteren Seite war verletzt.

Zeugin: Ich erinnere mich nicht, daß auch der Daumen verletzt war.

Dr. med. Lindenau (Skurcz): Ich habe einige Zeit nach dem Morde die Hand des Hermann Josephsohn untersucht; mir schien die Art der Verletzung, wie er sie angegeben, nicht plausibel, vielmehr hielt ich die Verletzung durch Einwirkung von Schneidezähnen verursacht.

Vors.: Die letztere Ursache hielten Sie für wahrscheinlicher?

Sachverständiger: Für wahrscheinlich halte ich gar nichts. Ich muß bemerken, wenn man in Betracht zog, daß Hermann Josephsohn unter dem Verdacht des Cybullaschen bullaschen Mordes stand, man sehr wohl annehmen konnte, Hermann Josephsohn habe von hinten jemandem den Mund zuhalten wollen und sei dabei von dem Überfallenen mit den Schneidezähnen gebissen worden. Ausgeschlossen ist jedoch nicht, daß die Verletzung durch den Fall vom Wagen entstanden ist.

Sanitätsrat Dr. Merner (Pr. Stargard): Die Möglichkeit, daß die Verletzung des Daumens durch einen Biß verursacht worden, ist nicht ausgeschlossen; daß der Biß aber von dem ermordeten Cybulla, der einen vollen Unterkiefer gehabt, herrührt, ist nicht gut denkbar. Die Verletzung kann sehr wohl durch den Fall vom Wagen verursacht sein. Ich habe die Leiche des ermordeten Cybulla obduziert. Der Kopf, der Hals und die Finger des Ermordeten waren arg verletzt und derartig zerkratzt, daß der Ermordete mit seinem Mörder zweifellos furchtbar gekämpft hat. Fest steht, daß die erwähnten Verletzungen dem Ermordeten lebend beigebracht worden sind. Da nicht festgestellt ist, daß der Ermordete vor dem Morde derartige Verletzungen sich zugezogen hat, so ist anzunehmen, daß sie ihm im Ringen mit seinem Mörder beigebracht worden sind. Zweitens zeigten sich auf der Kopfhaut sieben tiefe unregelmäßige Einschnitte. Der ganze Kopf war derartig mit Blut unterlaufen, daß der Mörder in furchtbarer Weise sein Opfer bearbeitet haben muß. Cybulla muß auch, nach den Verletzungen zu schließen, ßen, sehr schnell gestorben, zum mindesten sehr bald bewußtlos geworden sein. Außerdem war dem Knaben der Hals bis auf die Wirbelsäule durchschnitten, und zwar in höchst kunstfertiger Weise. Eigentümlich war auch auf dem rechten Oberarm eine klaffende Wunde sichtbar. Wenn man jemanden töten will, dann verwundet man ihn gewöhnlich nicht am Arme. Diese Armverwundung ist um so merkwürdiger, als sie auch glatträndrig und in höchst kunstfertiger Weise ausgeführt war. Ich muß bemerken, daß nur der Rumpf und die beiden Unterschenkel aufgefunden wurden. Die Oberschenkel waren derartig kunstgemäß ausgelöst, daß dazu eine große Übung gehörte. Ebenso war der linke Unterschenkel höchst kunstfertig abgetrennt, ungeschickt war dagegen der rechte Unterschenkel abgeschnitten. Außerdem war merkwürdigerweise dem Ermordeten der Bauch aufgeschlitzt. Vom Bauchaufschlitzen stirbt man aber unter Umständen erst nach mehreren Tagen. Ich nehme jedoch an, daß sowohl das Bauchaufschlitzen, als auch die Verwundung am Arm erst nach erfolgtem Ableben des Ermordeten geschehen ist. Mein Gutachten geht also dahin: 1. Es muß ein harter Kampf zwischen dem Mörder und dem Ermordeten stattgefunden haben; 2. der Ermordete muß derartig am Kopfe traktiert worden sein, daß er nach wenigen Minuten die Besinnung verloren hat; 3. der Tod ist durch Aufschneiden des Halses, und war durch Verblutung erfolgt; 4. die ganze Operation muß mit einem langen, scharfen Messer ausgeführt sein. Ich habe schon gesagt: die Verwundung am Arm und die Bauchaufschlitzung ist mir ganz unerklärlich. Erklärlicher dagegen ist mir, daß der Mörder dem Ermordeten die Oberschenkel abgeschnitten hat; der Ermordete, war ein sehr hochaufgeschossener Knabe, der Mörder hat also jedenfalls die Oberschenkel abgeschnitten, um das ermordete Opfer besser verbergen zu können.

Vors.: Sie haben schon gesagt, die ganze Operation war eine solche, daß sie so mancher Arzt nicht ausführen kann; wäre es möglich, daß ein Fleischer die Operation ausgeführt hat?

Sachverständiger: Möglich ist das wohl.

Vors.: Wie lange kann die ganze Operation gedauert haben?

Sachverständiger: Etwa zwanzig Minuten.

Vors.: Ist es möglich, daß die Operation im Freien und in dunkler Nacht geschehen ist?

Sachverständiger: Jawohl.

Vors.: Ein Lustmord ist ausgeschlossen?

Sachverständiger: Wir haben in dieser Beziehung sehr genaue Untersuchungen angestellt, aber nicht den geringsten Anhalt dafür gewonnen.

Vors.: Nun, Angeklagter, Sie sind dem Gutachten des Herrn Sanitätsrats sehr genau gefolgt, sind Sie vielleicht der Mörder gewesen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Ist Ihr Gewissen auch in der Tat rein?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie haben gehört, daß ein solcher Mord von einem Fleischer verübt sein kann?

Angekl.: Aber ich bin es nicht gewesen.

Vors.: Wären Sie aber imstande, eine solche Operation auszuführen?

Angekl.: Nein, das könnte ich gar nicht, dazu bin ich schon gar nicht geboren.

Vors.: Geboren brauchen Sie dazu nicht zu sein, Sie können sich aber eine solche Fertigkeit angeeignet haben.

Angekl.: Nein, das kann ich nicht.

Dr. med. Mazurka (Pr. Stargard), der dem ersten Sachverständigen bei der Obduktion der ermordeten Leiche assistiert hatte, schloß sich dem erstatteten Gutachten vollständig an. Er sei der Meinung, daß die Operation auch länger als 20 Minuten gedauert haben könne.

Verteidiger: Kann den Mord ein einzelner Mensch vollführt haben, oder ist anzunehmen, daß zwei Menschen dabei tätig gewesen sind?

Sachverständiger: Die Möglichkeit, daß zwei Menschen den Mord vollführt haben, ist nicht ausgeschlossen, es kann ihn aber auch sehr gut ein einzelner ner begangen haben.

Gerichtlicher Chemiker Dr. Bischoff (Berlin): Von dem Amtsvorsteher zu Skurcz und dem Untersuchungsrichter zu Pr. Stargard seien ihm einige Flaschen mit rötlicher Flüssigkeit und verschiedene Kleidungsstücke, Säcke, Pferdedecken zur Untersuchung geschickt worden. In den Flaschen sei oxydierter Essig enthalten gewesen. Auf den Säcken haben sich wohl zumeist Blutflecken, die aber alle von Tierblut herrührten, befunden. Auf einem (der Frau Boß gehörenden) Kleide habe er Blutflecken, die von Menschenblut herrühren, entdeckt, diese seien aber augenscheinlich dadurch entstanden, daß sich die Trägerin des Kleides mit einer Nähnadel am Finger verletzt hatte. Auf einem (dem Hermann Josephsohn gehörenden) Tuchjackett habe er am Ende des Ärmels Blutflecken von Menschenblut herrührend, gefunden; diese waren augenscheinlich durch das Bluten des Fingers entstanden.

Frau Josephsohn gab zu, daß sie sich einmal sehr mißbilligend geäußert, weil der ermordete Cybulla ihr alle Ziegenfelle wegkaufte. Gedroht habe sie ihm nicht. Eine Anzahl Zeugen bestätigten das, bekundeten jedoch: Frau Josephsohn habe einmal gesagt: Sie werde es dem Cybulla schon besorgen. Ähnlich habe sich auch Simon Josephsohn einmal geäußert. Er habe den Ermordeten, der kein Gewerbe hatte, wegen Gewerbekontravention werbekontravention denunzieren wollen.

Fräulein Berta Josephsohn: Sie habe sich einmal mit dem Schuhmacher Lange über den Mord unterhalten. Bei dieser Gelegenheit habe Lange zu ihr gesagt: der Jude mit den roten Augen, der dort am Wasser wohnt, ist der Mörder. Wen Lange damit meinte, wisse sie nicht.

Schuhmacher Lange: Berta Josephsohn klagte mir einmal, daß ihr Bruder Hermann schon seit so langer Zeit verhaftet sei. Darauf antwortete ich: Hermann wird es wohl auch gewesen sein.

Vors.: Wie kamen Sie zu dieser Äußerung?

Zeuge: Ein Junge hat einmal erzählt: Am 22. Januar 1884 früh sei er drei Juden begegnet, die den ermordeten Cybulla getragen haben. Er habe außerdem gehört: der Jude mit den roten Augen, der am Wasser wohnt, habe eine Flasche; wenn man aus dieser nur zwei Schluck trinkt, dann muß man sterben.

Vors.: Derartige Räubergeschichten werden noch mehr vorkommen. (Heiterkeit.)

Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden, Berta Josephsohn habe zu ihm gesagt: Wenn Hermann den Mord begangen hat, dann hat er es jedenfalls nicht umsonst getan.

Berta Josephsohn bestritt entschieden, die letzterwähnte Äußerung getan zu haben.

Bäckermeister Schablewski: Ich habe kurz nach dem Morde mit Hermann Josephsohn über den Mord gesprochen und dabei geäußert: Du wirst wohl auch dabeigewesen sein. Hermann antwortete: Ich bin nicht dabeigewesen, ich weiß aber, wo der Mord passiert ist.

Vors.: Sagte er Ihnen nun, wo der Mord passiert ist?

Zeuge: Ja, hinter Gappa soll er passiert sein.

Vors.: Wußten Sie damals, daß sich der Verdacht der Täterschaft auf Josephsohn lenkte?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wie kamen Sie dazu, einen unbescholtenen Menschen ohne weiteres und ohne jeden Anhaltspunkt eines solch schweren Verbrechens zu beschuldigen?

Zeuge: Ich war mit Josephsohn befreundet.

Vors.: Schöne Freundschaft das. (Heiterkeit.)

Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Josephsohn (Vater) nebst Frau seien eines Abends spät bei dem Thiessenschen Gasthof vorübergegangen. Da habe die Frau gesagt: „Wenn Hermann sich nur nicht ?ausgeben? wollte.“ „Red’ nicht,“ habe der Mann eingewendet, „er wird sich nicht ausgeben, sondern sehr bald freikommen.“

Josephsohn sen. nebst Frau bezeichneten diese Bekundung als unwahr. Dasselbe tat Hermann Josephsohn bezüglich der vorherigen Bekundungen des Schablewski.

Frau Kommissionär Hoffmann: Hermann Josephsohn habe einmal geäußert: den Onophrius Cybulla solle der Teufel holen. Im weiteren habe Hermann Josephsohn ihr einmal unsittliche Anträge gemacht und durchblicken lassen, als sollte sie oder wollte er ihren Mann beiseite schaffen. Sie habe ferner einmal gesehen, wie Hermann Josephsohn in sehr roher Weise ein Pferd geschlachtet und abgeledert habe, Hermann Josephsohn bestritt das.

Am dritten Verhandlungstage bekundete Dienstmädchen Czechelowska: Am 21. Januar 1884 sei sie auf einer Hochzeit gewesen und von dieser erst am folgenden Morgen gegen 5 Uhr zurückgekehrt. Gegen 6 1/2 Uhr sei sie zur Mietsfrau gegangen und habe unterwegs den Briefträger Stürmer getroffen. In dessen Gesellschaft sei sie die nach Czerwinsk führende Chaussee entlang gegangen. In der Nähe der Wiese, unter deren Brücke die Leiche des Cybulla gefunden wurde, sei sie einem mittelgroßen starken Manne begegnet, den sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Es habe ihr geschienen, als hätte der Mann hohe Stiefel angehabt und wäre mit einem grauen Pelz bekleidet gewesen. Die Hosen waren in die Stiefel gesteckt. Der Mann habe eine Mütze getragen, von welcher Beschaffenheit die Mütze gewesen sei, wisse sie nicht. Das Gesicht des Mannes habe sie nicht sehen können, da er mit dem Kopfe gebückt ging, denn er habe auf dem Rücken etwas in einem Laken getragen. Was in dem Laken enthalten gewesen, wisse sie nicht; sie habe den Briefträger gefragt: was mag wohl der Mann dort schleppen? Der Briefträger habe geantwortet: Laß ihn schleppen, was er wolle. Der Mann sei größer als Hermann Josephsohn gewesen, dagegen habe er dem Behrendt an Figur geglichen.

Vors.: Bei der Vernehmung vor dem Amtsvorsteher Ernst haben Sie gesagt: es kann Hermann Josephsohn gewesen sein.

Zeugin: Damals habe ich das geglaubt, jetzt, nachdem ich mir Josephsohn genau angesehen, behaupte ich: Er ist es nicht gewesen.

Vors.: Zu dem Briefträger Stürmer haben Sie gesagt, Sie hätten mit Bestimmtheit sofort Hermann Josephsohn erkannt.

Zeugin: Das habe ich nicht gesagt. Am Nachmittage, nachdem der Mord allgemein im Dorfe bekannt wurde, habe ich meine Wahrnehmung der Gastwirtin Lau erzählt und gesagt: Es ist möglich, daß es Hermann Josephsohn gewesen ist. Als ich mir jedoch letzteren und Behrendt genau angesehen, bin ich zu der Meinung gelangt, daß es nicht Josephsohn, dagegen eher Behrendt gewesen sein könnte. Der Vorsitzende ließ die Zeugin hinaustreten, den Angeklagten in ein Nebenzimmer führen und rief Hermann Josephsohn sohn in den Saal, der sich den grauen Kniepelz und die Stiefel, die er damals angehabt, anziehen und die Mütze, die er damals getragen, aufsetzen mußte. Alsdann wurde die Zeugin in den Saal gerufen.

Zeugin: So stark und groß kann wohl der Mann gewesen sein, wiedererkennen kann ich ihn nicht. Der Vorsitzende befahl, daß Behrendt neben Josephsohn trete. Es ergab sich, daß beide gleich groß waren, nur die Schultern des Behrendt waren etwas höher als die des Josephsohn, infolgedessen sah Behrendt größer aus.

Verteidiger Rechtsanwalt Thurau: Ich muß feststellen, daß Josephsohn stärker als Behrendt ist.

Staatsanwalt: Ich kann den Beweis führen, daß Behrendt in der nunmehr fast einjährigen Untersuchungshaft magerer geworden ist.

Vert.: Es geht mir soeben ein Brief von einem Arbeiter Grzona aus Kantschenken bei Skurcz zu. In diesem teilt mir Grzona mit: Er habe mit Mankowski zusammen gearbeitet. Letzterer habe einmal von seiner Mutter einen Brief erhalten, den er ihm vorlesen mußte. In diesem schrieb die Mutter: „Sage nur im Termine genau so, wie wir uns besprochen; Josephsohn läßt grüßen.“ (Bewegung im Zuhörerraum.) Ich beantrage, den Grzona als Zeugen zu laden.

Der Gerichtshof entsprach diesem Antrage. Briefträger Stürmer bestätigte die Bekundungen der Vorzeugin; zeugin; den Mann, dem er in Gesellschaft mit der Czechelowska begegnet, habe er sich aber gar nicht angesehen, er könne daher auch nicht annähernd eine Beschreibung davon geben. Hermann Josephsohn habe ihn einige Tage später mit Zigarren und Schnaps traktieren wollen, er habe jedoch nur eine Zigarre angenommen. Etwas Auffälliges habe er in dieser Handlungsweise des Josephsohn nicht erblickt, denn es sei nichts Seltenes, daß ihm in seiner Eigenschaft als Briefträger Zigarren und Schnaps angeboten werden.

Amtsvorsteher Ernst: Der Zeuge Stürmer habe ihm, als er ihn vernommen, gesagt: es sei ihm aufgefallen, daß Hermann Josephsohn ihn habe traktieren wollen.

Konditor Gehricke: Vor etwa 4 Jahren habe Behrendt gegen eine unverehelichte Flischeck ein unsittliches Attentat verüben wollen; einige Zeit darauf sei Behrendt nach Amerika gegangen.

Staatsanwalt: Ich muß bemerken, daß der Zeuge sich der Beihilfe an der versuchten Notzucht schuldig gemacht hat; die Aussage dieses Zeugen wird daher mit größter Vorsicht aufzunehmen sein. Amtsvorsteher Ernst, dem von dem Mädchen wegen der versuchten Notzucht Anzeige gemacht worden, hat es nicht für nötig erachtet, der zuständigen Staatsanwaltschaft davon Anzeige zu machen, da Behrendt inzwischen nach Amerika gegangen war. Das betreffende Protokoll koll ist bei den Akten des Amtsvorstehers Ernst liegengeblieben und erst wieder zum Vorschein gekommen, als die gegenwärtige Untersuchung gegen Behrendt eingeleitet wurde. Das Verfahren ist jedoch niedergeschlagen worden, da inzwischen die Flischeck nach Amerika ausgewandert war.

Amtsvorsteher Ernst bestätigte die Ausführungen des Staatsanwalt.

Fleischermeister Soletzki (Skurcz): Ich habe des Brotneides wegen unaufhörlich mit Behrendt in Feindschaft gelebt und deshalb wechselseitige Beleidigungsklagen mit ihm gehabt. Bei einem Streite hat der Bruder des Behrendt das Messer gezogen. Behrendt sagte: „Stich doch zu!“ In einem Kruge, wo wir einmal zusammentrafen, hat Behrendt gedroht, mir die Kaldaunen aufzuschlitzen. Über den Mord selbst oder über das Verhältnis des Angeklagten zu dem Ermordeten kann ich nichts bekunden. Der Ermordete hat mit Ziegenfellen gehandelt.

Frau Ribinska: Behrendt habe ihr einmal ein amerikanisches Messer gezeigt und dabei mit den Worten auf den Tisch geschlagen: „Mit diesem Messer wäre ich imstande, einen Menschen von oben nach unten aufzuschlitzen und das Blut wie Wasser zu trinken; eine solche Natur habe ich.“

Der Angeklagte bestritt entschieden diesen Vorgang; er habe mit der Familie Ribinskas viele Prozesse se geführt, die sämtlich zu seinen Gunsten ausfielen. Aus diesem Grunde haben ihm die Ribinskis Rache geschworen.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte die Zeugin: Als ich eines Tages vom Termine aus Pr. Stargard kam, ging ich zu Josephsohn. Ich sagte, wie lange mag sich wohl der arme Cybulla gequält haben? Vier Stunden hat Cybulla noch gelebt, sagte Friederike Josephsohn, er hat einen Knäuel Wolle im Munde gehabt. Die Josephsohn sagte noch, die Sache wird schon noch herauskommen; letzteres hat auch eine Kartenlegerin behauptet.

Frau Knopf: Die Ribinska habe ihr zur Zeit die bekundete Redensart des Behrendt erzählt.

Frau Papke: Im Jahre 1883 hat Behrendt bei mir einmal drei Schweine geschlachtet. Ich äußerte meine Bewunderung, daß er eine solch große Fertigkeit im Abschlachten der Schweine habe; ich könnte überhaupt kein Tier schlachten, bemerkte ich. Behrendt erwiderte: Sie sind ein Weib, wenn Sie mir befehlen, Ihre Kinder zu schlachten, dann tue ich es mit derselben Geschwindigkeit. Ob diese Äußerung im Scherz geschehen ist, weiß ich nicht.

Angekl.: Diese Äußerung habe ich jedenfalls nicht getan; möglich ist es schon, daß ein ähnliches Gespräch geführt wurde und die Frau gefragt hat: Könnten Sie auch Menschen schlachten?

Vors.: Daß eine solche Äußerung eine Frau tun wird, bezweifle ich.

Handlungsgehilfe Elblum: Ich habe im Thiessenschen Gastlokale konditioniert. Behrendt war im nüchternen Zustande ein sehr ruhiger Mensch, in trunkenem Zustande dagegen ein großer Krakehler. Da er in unserem Lokale einmal großen Lärm machte, wies ich ihn zur Ruhe; infolgedessen versetzte er mir einen heiftigen Schlag ins Auge. Behrendt hat einmal in unserem Lokale Spielkarten an die Umsitzenden verteilt und gesagt: Nun wollen wir einmal „dawnen“ (jüdisch beten).

Amtsdiener Glietschke: Gastwirt Gappa habe ihm einmal erzählt: Behrendt habe ihn eines Tages niedergeschlagen und den Versuch gemacht, ihn zu berauben; letzteres sei ihm jedoch nicht gelungen. Schon lange vor dem Morde seien in Skurcz antisemitische Schriften verbreitet worden, wer sie besessen, wisse er jedoch nicht.

Der Vorsitzende forderte nun den Angeklagten auf, noch einmal genau zu sagen, wo er sich am 21. Januar 1884 aufgehalten habe. Der Angeklagte erzählte wie am ersten Verhandlungstage. Am Abend sei er zuletzt in dem Gastlokal von Stentzel in Skurcz gewesen; schon als er dort hinkam, hatte er so viel getrunken, daß er gar nicht wisse, wie er nach Hause gekommen sei. Am 22. Januar des Morgens, etwa gegen 6 1/2 Uhr, es war schon Tag, sei er zu dem jüdischen Schächter Blumenheim gegangen, um diesen zu ersuchen, ihm ein am Tage vorher gekauftes Rind „koscher“ zu schlachten; Blumenheim sei jedoch verreist gewesen.

Der Vorsitzende stellte fest, daß Blumenheim am äußersten Ende des Dorfes, und zwar auf dem Wege nach Pr. Stargard, entgegengesetzt von dem Fundort des Ermordeten, gewohnt habe.

Vors.: Sie wissen, daß eine Zeugin hier bekundet hat, sie habe am 22. Januar des Morgens einen Mann, der Ihnen an Figur gleicht, in der Nähe des Fundorts gesehen; ein anderer Zeuge behauptet, daß er sie mit einem Sack auf dem Rücken auf jenem Wege getroffen habe.

Angekl.: Das ist alles Lüge.

Fleischermeister Daniel (Mirotke): Am 21. Januar 1884 nachmittags war ich mit dem Angeklagten in Mirotke zusammen, um mit ihm gemeinschaftlich ein Rind zu kaufen. Wir haben viel, wohl zwölf Liter Braunbier mit Rum getrunken. Als wir uns gegen 4 Uhr nachmittags trennten, war Behrendt keineswegs betrunken. Wie ich später hörte, ist Behrendt alsdann in das Gasthaus zu Nötzel gegangen und hat dort drei Glas Rum getrunken.

Gastwirt Nötzel (Mirotke): Am 21. Januar gegen Mittag sei der Angeklagte mit seinem Schwiegervater Czarnicki angefahren gekommen. Nachdem er sich einige Zeit in meiner Gaststube aufgehalten, ist er fortgegangen und etwa gegen 4 Uhr nachmittags wiedergekommen. Er hat längere Zeit mit Czarnicki bei mir gegessen und ist etwa gegen 7 Uhr mit diesem nach Skurcz gefahren. Betrunken ist Behrendt an jenem Abende nicht gewesen.

Angekl.: Ich bin doch betrunken gewesen.

Zeuge: Der Angeklagte hat mit mir längere Zeit sehr vernünftig gesprochen, ich weiß ganz genau, daß er nicht betrunken war.

Auf Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge noch: Gleich nachdem Behrendt verhaftet worden, kam dessen Bruder zu mir und sagte: Na, Nötzel, Sie müssen doch auch wissen, daß mein Bruder an jenem Montag abend total betrunken gewesen ist? Ich antwortete: Ich weiß sehr genau, daß Ihr Bruder nicht betrunken war.

Angekl.: Ich bleibe dabei, daß ich an jenem Abende total betrunken war, andere Zeugen werden dies bestätigen.

Altsitzer Czarnicki (Stiefvater der Ehefrau des Angeklagten) bestätigte die Angaben des Daniel. Der Angeklagte sei so betrunken gewesen, daß er, als sie nach Skurcz fuhren, ihm die Leine abnahm, da er befürchtete, Behrendt werde infolge seiner großen Trunkenheit vom Wagen fallen. Gegen 8 Uhr abends seien sie nach Skurcz gekommen; Behrendt sei in das Stenzelsche Gasthaus gegangen, während er Pferd und Wagen nach Hause gebracht habe. Sehr bald sei auch Behrendt nach Hause gekommen, worauf sie sich sämtlich schlafen legten. Am folgenden Morgen seien sie etwa gegen 7 Uhr aufgestanden; Behrendt sei sehr bald zu dem Schächter Blumenheim gegangen.

Nötzel behauptete wiederholt, daß Behrendt nicht angetrunken gewesen; er habe sich sogar, als er fortfuhr, noch eine Laterne von ihm geliehen.

Der Zeuge Czarnicki bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Wenn Behrendt in jener Nacht die Wohnung verlassen hätte, dann würde er (Zeuge) dies gehört haben, denn er habe einen sehr leisen Schlaf.

Gastwirt Stenzel (Skurcz): Als Behrendt am 21. Januar 1884 abends zu mir kam, war er betrunken, meiner Meinung nach aber nicht sinnlos, denn er erzählte ganz genau, wo er gewesen und wieviel er getrunken hatte. Er hielt sich an jenem Abend nur etwa zehn Minuten bei mir auf, ohne etwas zu verzehren.

Vors.: Es ist von einem der Herren Geschworenen in Anregung gebracht worden, einen praktischen Fleischermeister zu fragen, ob ein Fleischer imstande sei, eine Operation, wie sie an dem Ermordeten vorgenommen worden, auszuführen.

Staatsanwalt: Ich billige diese Anregung und beantrage, trage, den Fleischermeister Annacker von hier, ferner nochmals den Sanitätsrat Dr. Merner (Pr. Stargard) und den Departements-Tierarzt Dr. Hertel von hier zu laden.

Der Gerichtshof beschloß dem Antrage entsprechend.

Schneider Karau: Behrendt ist mit dem Onkel des Ermordeten, dem Fleischer Cybulla, verfeindet gewesen.

Frau Knopf: Ich bin einmal bei Frau Behrendt gewesen, um von ihr Fleisch zu kaufen. Da sagte Frau Behrendt: Was meinen Sie, Frau Knopf, jetzt wollen sie den Cybullaschen Mord meinem Manne aufhalsen, obwohl er schon um 9 Uhr abends zu Hause und total betrunken war. Einige Zeit darauf begegnete ich der Schwägerin des Angeklagten, der Frau Michael Behrendt. Diese sagte: Meine Schwägerin weiß ja selbst nicht, wann ihr Mann nach Hause gekommen ist.

Die Ehefrau des Angeklagten bekundete: Sie habe sehr geschimpft, als ihr Mann am Abende vor dem Morde erst gegen 9 Uhr abends und total betrunken nach Hause kam. Im weiteren bestätigte die Zeugin die Behauptungen ihres Mannes.

Frau Brendel bejahte auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie mit Behrendt verfeindet sei, sie werde aber die Wahrheit sagen. Sie habe eines Abends gehört, wie die Tochter des Angeklagten zu ihrer Mutter sagte: Mutter, weshalb weinst du, Essen bekommst du ja vom Onkel. Frau Behrendt erwiderte: Was habe ich vom Essen? Als eine Weile darauf das Kind wieder sagte: Mutter, weine doch nicht; wenn du Geld brauchst, dann hast du ja nur nötig, zum Priester zu gehen, dann bekommst du ja wieder Geld, erwiderte Frau Behrendt: Ja, das Geld hat mich und den Vater ins Unglück gebracht. Der Onkel weiß ebensogut alles wie der Vater, aber jetzt sitzt er zu Hause und lacht uns aus. Sie (Zeugin) habe zunächst nicht gewußt, was diese Äußerung für eine Bedeutung habe.

Vors.: Sie hielten es aber für wichtig genug, um das Gespräch zur Anzeige zu bringen?

Zeugin: Ich habe nichts angezeigt; ich habe das Gespräch der Frau Knopf erzählt, diese wird es wohl angezeigt haben.

Vert.: Weiß die Zeugin, daß in Skurcz das Gerücht verbreitet war, der katholische Geistliche Kiepert zu Skurcz und dessen Bruder, ein Rentier, haben dem Behrendt Geld gegeben, um den Cybulla zu schlachten und das Verbrechen den Juden in die Schuhe zu schieben?

Zeugin: Davon weiß ich nichts.

Angekl.: Ich habe gegen den Gatten der Zeugin einen Prozeß gewonnen, seit dieser Zeit hat letzterer einen großen Haß gegen mich.

Vors.: Der Angeklagte ist am 10. Mai 1884 verhaftet tet worden, und die Äußerung will die Zeugin am 22. Oktober 1884 gehört haben; wenn sie einen Haß gegen den Angeklagten gehabt hat, dann hätte sie schon früher diesem Haß Ausdruck geben können.

Arbeiter Mankowski, ein zwanzigjähriger Mensch, war ebenfalls, wie die meisten anderen Zeugen, nur der polnischen Sprache mächtig, es mußte deshalb auch mit diesem mittels Dolmetschers verhandelt werden. Er bekundete: Ich kenne Behrendt schon seit langer Zeit vom Sehen, gesprochen habe ich niemals mit ihm. Am 22. Januar 1884 hatte ich in Pr. Stargard Termin. Ich ging deshalb schon frühzeitig von meinem Heimatsdorfe Czerwinsk weg. In Skurcz vor dem Thiessenschen Gasthof, es war kurz nach 6 Uhr, traf ich einen ziemlich großen, starken Mann mit grauem Rock und starkem Schnurrbart. Der Mann trug einen Sack auf dem Rücken und ging den Weg nach Czerwinsk zu. Es war noch etwas dunkel, ich konnte deshalb nicht genau erkennen, was der Sack enthielt; es schien mir jedoch, als hätte ein Kopf aus dem Sacke hervorgeschaut. Blut habe ich an dem Sacke nicht wahrgenommen. Es war mir so, als wäre der Träger des Sackes Behrendt gewesen, genau kann ich es nicht sagen.

Vors.: Wodurch kamen Sie darauf, zu glauben, daß der Mann Behrendt gewesen ist?

Zeuge: Ich glaubte, ihn an seiner Figur und an seinem nem Gange zu erkennen.

Vors.: Sind Sie jetzt auch noch der Meinung, daß es Behrendt gewesen ist?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Bestimmt wissen Sie es aber nicht?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie wurden erst am 31. Januar 1884 in Skurcz vernommen, dort haben Sie gesagt: Sie haben mit Bestimmtheit in dem Träger des Sackes Hermann Josephsohn erkannt?

Zeuge: Ein gewisser Zilinski hat mir gesagt, ich solle nur sagen, daß es Hermann Josephsohn gewesen ist, denn das haben nur die Juden getan.

Vors.: Sie sind alsdann später in Pr. Stargard vernommen worden, dort haben Sie wieder gesagt, es ist Hermann Josephsohn gewesen, dann sind Sie zum dritten Male von dem Berliner Kriminalkommissar Höft in Culmsee vernommen worden, und diesem haben Sie gesagt, Sie haben Behrendt mit voller Bestimmtheit als den Träger des Sackes erkannt.

Zeuge: Heute sage ich die Wahrheit, ich glaube, es ist Behrendt gewesen, bestimmt kann ich es aber nicht sagen.

Vors.: Hat vielleicht jemand versucht, auf Ihr Zeugnis Einfluß auszuüben?

Zeuge: Nein.

Vors.: Alsdann wurden Sie gerichtlich in Culmsee vernommen. Da haben Sie zunächst gesagt: Der Träger des Sackes ist Behrendt oder Hermann Josephsohn gewesen, genau weiß ich es nicht. Nach einer Pause sind Sie wieder vernommen worden, inzwischen sind Sie mit Zilinski zusammengekommen, und was hat dieser Ihnen gesagt?

Zeuge: Zilinski sagte zu mir, ich solle nur sagen, daß ich Hermann Josephsohn begegnet sei, dann würden die Juden vertrieben werden; nur die Juden könnten den Mord verübt haben.

Vors.: Und als Sie nach einer Pause nochmals vernommen wurden, sagten Sie: Hermann Josephsohn ist es gewesen.

Zeuge: Ich wußte in Culmsee auf dem Gericht schon gar nicht, was ich spreche, ich wurde durch das Anschreien ganz verrückt gemacht. Es wurde mir gesagt, ich komme ins Loch; außerdem sah ich Leute mit vielen Schlüsseln, deshalb bekam ich Angst; heute sage ich aber die Wahrheit. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bekundete der Zeuge: Am Nachmittage des 22. Januar 1884 sei er mit seiner Mutter im Walde gewesen; bei dieser Gelegenheit habe ihm diese von dem Morde Mitteilung gemacht; darauf habe er bemerkt, er habe am Morgen einen Mann mit einem Sacke gehen sehen, das könnte der Mörder gewesen sein.

Vors.: Sagten Sie Ihrer Mutter, wem Sie begegnet sind?

Zeuge: Nein.

Vors.: Ist jemand bei Ihrer Mutter gewesen, der gesagt hat, Sie sollen gegen die Juden aussagen?

Zeuge: Ja, der Beschreibung nach ist es Behrendt gewesen.

Vors.: Sie haben gesagt, der Mann trug eine Mütze, etwas ins Gesicht gedrückt?

Zeuge: Jawohl.

Der Vorsitzende zeigte dem Zeugen zunächst die Mütze des Angeklagten. Diese ist es nicht gewesen, sagte der Zeuge, denn die Mütze, die der Mann getragen, hatte einen Schirm. Als dem Zeugen nun die Mütze des Josephsohn gezeigt wurde, die einen Schirm hatte, sagte er: So kann die Mütze ausgesehen haben.

Altsitzer Grucha: Am Sonnabend nach dem Morde sei er mit Mankowski in Pr. Stargard zusammengetroffen. Dort habe Mankowski ihm gesagt; der Mann mit dem Sacke, den er getroffen, sei Hermann Josephsohn gewesen.

Mankowski: Das habe ich allerdings gesagt, es wurde eben allgemein gesagt, die Juden haben den Mord begangen, deshalb nahm ich damals an: Hermann Josephsohn ist es gewesen; da alle sagten: sie sagen die Wahrheit, da sagte ich es auch.

Vors.: Sagen Sie denn heute die Wahrheit?

Zeuge: Ja, was ich heute sage, ist wahr.

Arbeiterfrau Mankowski (die Mutter des Vorzeugen): Ich weiß nicht mehr genau, wann ich meinem Sohne von dem Morde Mitteilung machte. Als ich ihm davon erzählte, sagte mein Sohn sofort: Ich bin an demselben Morgen einem Manne begegnet, den ich mit Bestimmtheit als den Behrendt erkannt habe. Dieser trug einen Sack auf dem Rücken, aus dem ein Kopf herausgeschaut hat, das wird wohl der Mörder sein. Einige Tage später ist ein Mann zu mir gekommen, der meinen Sohn sprechen wollte, ich erkenne in dem Mann mit Bestimmtheit den Angeklagten wieder.

Vors.: Auf dem Amtsgericht zu Culmsee wurde Ihnen Behrendt vorgeführt, da sagten Sie: Sie können den Mann nicht genau wiedererkennen.

Zeugin: Heute erkenne ich aber den Angeklagten mit Bestimmtheit wieder.

Vors.: Ich muß allerdings bemerken, daß die Zeugin auf dem Gericht zu Culmsee ohnmächtig wurde und vom Stuhle fiel. Ihre Aussage wurde deshalb auch bloß registriert.

Der Ehemann Mankowski hatte wohl von den Erzählungen seiner Frau etwas gehört, Genaues vermochte er aber nicht zu bekunden.

Auf Befragen des Verteidigers bekundete Grucha: Mankowski habe ihm erzählt: der Mann mit dem Sacke habe sich die Hand vors Gesicht gehalten, anscheinend, scheinend, um nicht erkannt zu werden.

Auf weiteres Befragen bekundeten Mankowski und Czechelowska übereinstimmend: Der Mann habe den Sack so getragen, daß er zwei Enden in den Händen hatte.

Am vierten Verhandlungstage erschien nochmals die Gattin des Angeklagten als Zeugin. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Wir haben zwei Kinder; Vermögen besitzen wir nicht. Mein Mann hatte zwei Anzüge; den Anzug, den er jetzt trägt, und noch einen anderen, ferner einen langen Überzieher, ein Paar graue Hosen, eine Pelzmütze und eine Seidenmütze, ein Paar Stiefel, die er jetzt trägt, und ein Paar zerrissene, die auf dem Boden liegen. Säcke zum Fleischtragen haben wir nicht.

Fleischermeister Daniel: Er trage nur kurze Stiefel; Behrendt habe seines Wissens auch immer, auch am Tage vor dem Morde, das wisse er ganz genau, kurze Stiefel getragen. Vor etwa sechs Jahren habe Behrendt einmal lange Stiefel gehabt. Altsitzer Czarnicki beschrieb die Kleidung des Angeklagten ebenso wie Frau Behrendt, nur bemerkte er, daß Behrendt einen langen, grauen Pelz und zwei Paar Stiefel, ein Paar lange und ein Paar kurze, gehabt habe. Wenn er lange Stiefel anhatte, dann trug er die Hosen in die Stiefel gesteckt. Am Abende vor dem Morde habe der Angeklagte lange Stiefel getragen.

Alsdann wurde Kriminalkommissar Höft (Berlin) vernommen: Ich wurde von dem Minister des Innern beauftragt, in der Skurczer Mordaffäre Recherchen anzustellen. Ich fuhr zunächst zur Staatsanwaltschaft nach Danzig; alsdann fuhr ich nach Pr. Stargard und suchte mich dort aus den Akten zu orientieren. Hierauf fuhr ich nach Skurcz, um zunächst die Schuld von Josephsohn und Genossen festzustellen. Ich ermittelte, daß gegen letztere nichts weiter vorlag, als was in den Akten stand, ja, daß vieles davon übertrieben war. Ich erfuhr, daß der Verdacht sich auf Behrendt lenkte. Ich ermittelte, daß Behrendt nicht, wie er behauptete, an jenem Abend zu Hause, sondern bei Stenzel gewesen sei und daß er der erste gewesen, der aussprach: „Den Mord können nur die Juden begangen haben“

Vors.: Das waren bloß Gerüchte?

Zeuge: Ja. Den Arbeiter Mankowski konnte ich zunächst nicht vernehmen, da dieser auf Außenarbeit war. Inzwischen erzählte mir der Besitzer Hoffmann, er habe dem Angeklagten bei Gelegenheit der Obduktion des Ermordeten gesagt: Man hat in Berlin einen Apparat, wonach man das Auge des Ermordeten photographieren und dadurch die Person des Mörders erkennen könne. Behrendt sei infolgedessen furchtbar erschrocken, sei leichenblaß geworden und habe laut gestöhnt. Einige Zeit darauf habe Behrendt in Czerwinsk winsk ein Schwein gekauft und gesagt: das Schwein wird sich hoffentlich gut schlachten. Darauf habe der betreffende Schweineverkäufer gesagt: Behrendt, ich möchte Ihnen raten, schlachten Sie nur immer Schweine, aber nicht Menschen. Behrendt sei infolgedessen leichenblaß geworden. Am Abende vor dem Morde soll Behrendt ein Rind gekauft, aber erst einige Tage später abgeholt haben. Ursprünglich habe Behrendt gesagt: er wolle das Rind „koscher“ schlachten; als ihn jedoch die Frau des Gutsbesitzers Kegler, von dem er das Rind gekauft, bei der Abholung des Rindes fragte: Nun, werden Sie das Rind „koscher“ schlachten? habe Behrendt in großer Erregung geantwortet: Nein, ich schlachte nicht mehr koscher, ich will mit den Juden absolut nichts mehr zu tun haben. Behrendt sei außerdem so sehr niedergeschlagen gewesen, daß Frau Kegler zu ihrem Manne sagte: Niemand anders als Behrendt ist der Mörder. Ich ließ mir nun Zilinski kommen; dieser sagte mir: Mankowski habe gelogen. Ich fuhr alsdann nach Culmsee und ließ mir Mankowski kommen. Dieser sagte mir zunächst: er habe am fraglichen Morgen Hermann Josephsohn getroffen. Als ich ihn hierauf fragte, ob er schon zur Osterbeichte gewesen, rief er aus: „O mein Gott, o mein Gott, ich habe gelogen!“ Ich forderte nun den Mankowski auf, doch die Wahrheit zu sagen. Mankowski sagte: Ich habe nicht Hermann mann Josephsohn, sondern Behrendt an jenem Morgen mit einem Sacke auf dem Rücken gesehen. Behrendt hatte einen grauen, kurzen Pelz an. In dem Sacke schien Behrendt ein Kalb zu tragen, am untern Ende glaubte er (Mankowski) aber einen Menschenkopf gesehen zu haben. Als ich ihn nun fragte, weshalb er den Josephsohn bezichtigte, antwortete er mir: Zilinski habe ihm gesagt: er solle nur sagen, Hermann Josephsohn ist es gewesen, denn das könnten nur die Juden tun. Als er nach Skurcz zum Termin geladen wurde, haben ihn Zilinski und Behrendt am Eingange des Dorfes erwartet. Zilinski habe ihm gesagt, er solle nur bekunden, daß er den Josephsohn getroffen. Als er erwiderte, das kann ich doch nicht sagen, habe Zilinski ihm bedeutet: Sage nur stramm, daß du Josephsohn getroffen hast. Wenn du so sagst, dann werden die Juden vertrieben und du bekommst viel Geld. Es wird schon für dich gesammelt; die reichen Herren haben alle gegeben, Schwarz und Kiepert sogar je zwanzig Mark. Als er vom Termin kam, haben Zilinski und Behrendt ihn wieder erwartet und ihn gefragt, wie er ausgesagt habe. Er habe geantwortet: er habe den Josephsohn als den ihm begegneten Mann bezeichnet. Daraufhin habe Behrendt ihn mit Wurst, Brot und Bier traktiert. Im weiteren sagte mir Mankowski: Einen Tag nach dem Morde sei Behrendt bei seiner Mutter gewesen und habe ihn sprechen wollen. Als die Vernehmung mit Mankowski beendet war, rief dieser aus: Gott sei Dank, jetzt ist mein Gewissen rein.

Vors.: Haben Sie dem Mankowski irgendwie gedroht oder ihn angeschrien?

Zeuge: Keineswegs, ich habe ihn, wie mir das stets eigen ist, in aller Ruhe vernommen. Auf dem Gericht zu Culmsee hat Mankowski seine mir gemachte Aussage wiederholt, und als ihm Behrendt vorgeführt wurde, sofort gesagt: Jawohl, das ist der Mann, den ich an jenem Morgen getroffen habe. Als Behrendt der Mutter des Mankowski vorgeführt wurde, sagte diese: ich erkenne den Mann mit voller Bestimmtheit wieder, das ist der Mann, der bei mir gewesen und nach meinem Sohne gefragt hat. Ich erfuhr außerdem, daß Frau Hoffmann und eine Frau Kaufmann Jacobi öffentlich die Behauptung aufstellten: Behrendt hat den Mord begangen. Behrendt wollte deshalb die Frauen verklagen, er hat es jedoch nicht getan. Die Art der künstlichen Operation der Leiche war mir außerdem ein Verdachtsmoment gegen Behrendt. Endlich sagte mir Behrendt, daß er den Zilinski gar nicht kenne und daß er nicht bei Mankowski, überhaupt niemals in Skarzewo gewesen sei. Als ich ihm nun vorhielt: Skarzewo ist nur wenige Stunden von Skurcz entfernt, Sie, die Sie fast täglich über Land fahren, müssen doch schon in Skarzewo gewesen sein, gab er diese Möglichkeit zu. Ich beantragte nun seine Verhaftung, die am 10. Mai vorigen Jahres erfolgte.

Vert.: Hat der Herr Zeuge festgestellt, welche Beziehungen Zilinski mit dem Angeklagten hat?

Zeuge: Nein.

Polizei-Sergeant Bartke: Ich war zur Zeit Polizei-Sergeant in Culmsee und diente bei der Vernehmung des Mankowski dem Herrn Kriminalkommissar Höft als Dolmetscher. Angeschrien oder gedroht habe ich den Mankowski in keiner Weise. Als ich dem Mankowski sagte: er könne sich doch wohl irren, vielleicht sei es doch Josephsohn gewesen, den er am fraglichen Morgen getroffen, antwortete er: Nein, ich irre mich nicht, Hermann Josephsohn ist fast bartlos, während Behrendt einen dicken Schnurrbart hat. Mankowski bezeichnete mit voller Bestimmtheit den Behrendt als den Mann, den er getroffen habe. In dem Sacke habe oben ein Kopf, der wie ein Menschenkopf aussah, hervorgeschaut und am unteren Ende glaube er ein Paar Füße gesehen zu haben. Der Zeuge bestätigte im weiteren die Bekundungen des Kriminalkommissars Höft.

Letzterer bemerkte noch: Ich sagte zu Mankowski: Konnten Sie denn das Gesicht des Behrendt genau erkennen, im Monat Januar gegen 6 Uhr morgens ist es doch noch sehr dunkel? Darauf antwortete er mir: Ich war schon mehrere Stunden gegangen, mein Auge hatte sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt.

Der hierauf in den Saal gerufene Mankowski bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Angeschrien oder gedroht haben ihm die zwei Polizeibeamten nicht, er könne aber nicht genau sagen, ob es Behrendt gewesen ist. Der Zeuge gab im übrigen die Aussage der Polizeibeamten als richtig zu, allein genau wisse er dennoch nicht, ob er Behrendt gesehen habe.

Vors.: Sie haben doch aber, als Sie von dem Herrn Kriminalkommissar vernommen wurden, ausgerufen: „O Gott, o Gott, ich habe gelogen“; wenn Sie Gott anrufen, sagen Sie dann die Wahrheit?

Zeuge: Ja.

Vert.: Hat der Zeuge den Brief, bezüglich dessen ich gestern die Ladung des Grzona beantragte, vor seiner Vernehmung bei dem Kriminalkommissar Höft erhalten?

Zeuge: Ja.

Vors.: Sind Sie mit Josephsohn befreundet?

Zeuge: Nein.

Vors.: Nun, was dachten Sie sich, als Ihnen Ihre Mutter schrieb: „Josephsohn läßt grüßen“?

Zeuge: Ich habe gelacht, im übrigen das nicht geglaubt.

Vors.: Hatten Sie sich denn mit Ihrer Mutter besprochen, was Sie aussagen wollen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie sagten früher, der Mann hatte im Rücken seines Pelzes einen Schlitz.

Zeuge: Ja, das habe ich damals wohl gesagt, ich erinnere mich aber nicht mehr, ob ich dies in der Tat wahrgenommen habe.

Arbeiter Grzona bestätigte die gestern mitgeteilte Behauptung des Verteidigers; in dem Briefe habe nicht gestanden: „Josephsohn“, sondern „Sohn läßt grüßen“.

Es wurde festgestellt, daß es in Skurcz üblich ist, anstatt „Josephsohn“ auch „Sohn“ zu sagen.

Frau Mankowski wußte über den Brief keine Auskunft zu geben.

Schächter Blumenheim: Als ich kurze Zeit vor dem Morde nach Skurcz kam, bin ich einmal bei Behrendt vorübergegangen, als letzterer gerade vor der Tür stand. Da rief Behrendt: „Nun ist schon wieder ein neuer Jude in Skurcz; anstatt daß die Juden weniger werden, werden sie immer mehr.“ Der Angeklagte hat außerdem antisemitische Schriften im Dorfe verbreitet, auch im Wirtshause öffentlich vorgelesen. Zilinski hat einmal gesagt: „Mankowski ist ein sehr beredter Zeuge; wenn ich will, wird morgen Hermann Josephsohn aus der Haft entlassen. Wenn ich aber nicht will, muß er im Gefängnis verfaulen.“ Ich bin am Montag morgen vor dem Morde nach Pr. Stargardt gegangen und erst am Dienstag zurückgekehrt. Ich hörte, daß Behrendt schon einige Tage vorher bei mir gewesen sei und gesagt hat: ich solle nur zu Hause bleiben, er wolle in den nächsten Tagen ein Rind „koscher“ schlachten lassen. Am Morgen des 22. Januar 1884 ist Behrendt in meiner Abwesenheit wiederum bei mir gewesen und hat mich zu sich bestellt, bei ihm ein Rind zu schlachten, er hat das Rind aber nicht bei mir schlachten lassen.

Sanitätsrat Dr. Merner (Pr. Stargard) gab noch einmal eine genaue Schilderung von der Art, wie der Ermordete zugerichtet gewesen.

Departementstierarzt Dr. Hertel (Danzig): Wenn der Angeklagte schon seit 16 Jahren in der Fleischerei tätig und seit zehn Jahren selbständig ist, dann kann er sehr wohl die geschilderte Operation ausgeführt haben.

Fleischermeister Annacker (Danzig): Möglich ist wohl, daß ein Fleischer die geschilderte Operation ausgeführt hat, aber das kann nur ein Zufall sein, im allgemeinen kann ein Fleischer eine solche Geschicklichkeit nicht entwickeln.

Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Sanitätsrat Dr. Merner: Die Operation konnte nicht in der Dunkelheit ausgeführt werden.

Departementstierarzt Dr. Hertel hielt es für möglich, daß die Operation auch im Dunkeln ausgeführt worden sei.

Hermann Josephsohn: Er habe vor etwa 15 Jahren, also bis zu seinem 14. Lebensjahre, bei seinem Großvater, der Fleischer gewesen, in der Fleischerei geholfen, seit dieser Zeit sei er niemals in irgendeiner Weise als Fleischer tätig gewesen.

Tierarzt Dr. Hertel: Die Möglichkeit, daß dieser Zeuge die Operation vollführt haben kann, erachte ich auch nicht für ausgeschlossen.

Bauersmann Zilinski: Ich kenne den Behrendt seit etwa sechs Jahren; soviel ich mich erinnere, habe ich ihn höchstens ein einziges Mal gesprochen. Die Familie Mankowski kenne ich wohl, ich komme mit dieser aber gar nicht zusammen. Ich habe den Mankowski nicht beeinflussen wollen. Ich habe das erste Mal mit Johann Mankowski auf dem Amtsgericht zu Culmsee gesprochen, aber nur zu ihm gesagt: „Wenn du meinst, du hast Josephsohn getroffen, dann mußt du es sagen.“ Blumenheim ist einmal bei mir gewesen und hat mich aushorchen wollen, da wollte ich aber sehen, ob ich aus dem Juden etwas herausbekomme. Es ist unwahr, daß ich gesagt, ich könne bewirken, daß Hermann Josephsohn schon morgen aus der Haft entlassen werde oder im Gefängnis verfaulen müsse. Ich habe allerdings dem Kriminalkommissar Höft gesagt: „Mankowski hat gelogen!“ weil ich nicht wußte, daß Höft Polizeikommissar ist. Letzterer forderte mich auf, mit ihm nach Culmsee zu fahren, er werde mir die Reise bezahlen. Ich sagte zu dem Kommissar: „Sie wollen doch nicht, daß ich ein falsches Zeugnis abgebe.“ 1 Mark gab mir Höft und 2 Mark gaben mir die Juden zur Reise. Unterwegs sagte mir Höft: „Sagen Sie nicht fortwährend auf die Juden, die sind es nicht gewesen, sondern sagen Sie auf Behrendt.“

Kriminalkommissar Höft (in großer Erregung): Ich versichere auf meinen Eid, daß diese Angaben des Zeugen vollständig erdichtet sind. Ich habe zunächst dem Zeugen gesagt: Ich bin der Kriminalkommissar Höft aus Berlin und bin von dem Herrn Minister des Innern nach Skurcz geschickt worden, um den Mörder festzustellen; zweitens ist die Reise des Zilinski nach Culmsee selbstverständlich aus Staatsmitteln bezahlt worden und drittens habe ich mit dem Zeugen auf der Reise nach Culmsee über den Mord überhaupt nicht gesprochen.

Vors.: Ich bin von der Richtigkeit dieser Ihrer Bekundung überzeugt: es steht im übrigen aktenmäßig fest, daß die erwähnte Reise nach Culmsee aus Staatsmitteln bezahlt wurde. Zilinski, Ihre Angaben erscheinen wenig glaubhaft, es ist nicht anzunehmen, daß ein Beamter so pflichtvergessen handeln wird.

Zeuge: Ich bleibe bei meiner Behauptung.

Im weiteren erzählte Zilinski: Mankowski habe einmal zu seiner (des Zeugen) Frau gesagt: er sei an jenem Morgen dem Hermann Josephsohn begegnet. Außerdem habe einmal seine Frau geträumt: der ermordete Cybulla sei weiß gekleidet zu ihr gekommen und habe gesagt: Hermann Josephsohn hat mich im Sacke getragen.

Frau Zilinski bestätigte diese Bekundungen.

Amtsrichter Petersen (Culmsee): Mankowski hat anfänglich mit Bestimmtheit den Behrendt, als er nach einer Pause wieder vernommen wurde, aber den Hermann Josephsohn als Träger des Sackes bezeichnet. Ich habe allerdings gesehen, daß Mankowski während der Pause mit Zilinski gesprochen, möglich, daß dieser ihn beeinflußt hat. Im allgemeinen war Mankowski sehr unsicher bei seiner Zeugnisabgabe.

Gerichtssekretär Kuntz bestätigte die Bekundungen des Vorzeugen.

Die Gendarmen Meltzer und Träger, die gleich nach Bekanntwerden des Mordes bei Boß Haussuchung hielten, bekundeten, es sei in Skurcz allgemein behauptet worden, die Juden haben den Mord begangen. Behrendt habe sich sehr hervorragend bei der Haussuchung beteiligt und mehrfach die Äußerung getan: Die Juden müssen den Mord begangen haben. Meltzer bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe wohl gehört, wie jemand bei der bei Boß vorgenommenen Haussuchung gerufen: „Das ist Menschenblut, das muß ich als Fleischer wissen“, ob dieser Rufer aber Behrendt gewesen ist, wisse er nicht.

Träger bekundete: Er habe einen solchen Ruf überhaupt nicht gehört.

Schankwirt Schoblewski, bei dem Behrendt am Nachmittage vor dem Morde in Gemeinschaft mit Czarnicki das viele Bier getrunken haben will, bekundete: Die beiden haben etwa 10 Liter Braunbier mit Rum vermischt bei ihm getrunken, es könne aber auch weniger oder mehr gewesen sein. Behrendt sei, als er von ihm weggegangen, wohl etwas angetrunken, aber keineswegs betrunken gewesen. Behrendt habe an jenem Tage lange Stiefel getragen.

Handlungsgehilfe Cohn, der zur Zeit bei Boß konditionierte, bekundete: Behrendt habe sich ganz hervorragend an der Haussuchung bei Boß beteiligt und mehrfach ausgerufen: „Ein solches Verbrechen können bloß Juden getan haben.“

Gastwirt Thiessen und sein Kommis Elblum bekundeten übereinstimmend: Behrendt habe vielfach bei ihnen verkehrt und gleich nach dem Morde ein auffallend stilles Wesen an den Tag gelegt.

Besitzer Hoffmann, von dem der Angeklagte zunächst sagte, daß dieser mit ihm verfeindet sei, bekundete: Behrendt ist der erste gewesen, der die Behauptung aufstellte, nur die Juden können den Mord vollführt haben. Gleich nach geschehener Obduktion der Leiche kamen wir bei dem Gastwirt Gappa zusammen. men. Da erzählte ich, mein Sohn hat mir heute, als er aus der Schule kam, mitgeteilt, die Augen des Ermordeten werden photographiert werden und alsdann werde es gelingen, aus der Pupille die Person des Mörders festzustellen; in Berlin sei ein derartiger Apparat erfunden. Behrendt zuckte infolge dieser Erzählung an allen Gliedern zusammen und rief aus: „Ach wo!“ Als Behrendt gefragt wurde, ob er sich ebenfalls die Leiche angesehen habe, antwortete er: Nein, ich kann so etwas nicht sehen.

Als ihm bedeutet wurde: Sie als Fleischer müssen doch zu allererst so etwas sehen können, antwortete er: Nein, ich kann so etwas nicht sehen, ich könnte nicht einmal meine Kinder als Leichen sehen.

Lehrer Weichler: Da Hoffmann mich auf Behrendt aufmerksam machte, so beobachtete ich ihn sehr genau. Er kam mir in seinem Wesen ganz auffällig verändert vor. Am Tage, an dem die Leiche obduziert wurde, saß ich in Gesellschaft mit Behrendt und noch mehreren anderen Leuten in dem Stenzelschen Gasthof. Behrendt blickte unaufhörlich unstet an die Ausgangstür und erschrak jedesmal, sobald die Tür geöffnet wurde. Als ich ihn aufforderte, sich mit mir gemeinschaftlich die Leiche anzusehen, antwortete er: Nein, so etwas kann ich nicht sehen. Ganz besonders erschrak auch Behrendt, als gesagt wurde, die Ärzte hätten behauptet, der Mord sei ein derartiger, daß nur ein Arzt oder ein Fleischer ihn begangen haben könne.

Amtsdiener Glieschke: Auch auf ihn habe es den Eindruck gemacht, als hätte Behrendt nach dem Morde ein ganz verändertes Wesen zur Schau getragen. Auch habe er wahrgenommen, daß Behrendt sehr erschrak, als erzählt wurde, die Ärzte hätten gesagt, den Mord könne nur ein Arzt oder ein Fleischer begangen haben. Bei Stenzel habe man sich unterhalten, wo wohl die Oberschenkel geblieben sein können. Dabei wurde gesagt: Die Oberschenkel brauchen die Juden, um ihre Sünden abzubüßen.

Frau Gutsbesitzer Kegel: Als ich den Behrendt einige Tage nach dem Morde fragte, ob er das von mir gekaufte Rind koscher schlachten lassen werde, fuhr er in solcher Wut auf, daß ich erschrak, und rief laut: „Nein, ich lasse niemals mehr koscher schlachten, ich will mit Juden nichts mehr zu tun haben.“

Brennereibesitzer Bennerwitz: Behrendt kaufte bei mir einige Zeit nach dem Morde ein Schwein. Als Behrendt sagte: Das Schwein wird sich gut schlachten lassen, sagte ich ihm: „Schlachten Sie nur immer Schweine, aber nicht Menschen.“ Ich wußte, daß Behrendt damals bereits unter dem Verdacht des Mordes stand. Behrendt erschrak und wurde leichenblaß, ohne irgend etwas zu antworten.

Ölgasbrenner Wohlgemuth, der bekundet hatte, ein nicht zu ermittelnder Arbeiter, namens Salewski, habe ihm erzählt, er (Salewski) habe am fraglichen Morgen den Behrendt mit einem Sacke auf dem Rücken getroffen, aus dem ein Menschenkopf hervorgeschaut, bemerkte heute, es sei möglich, daß er eine derartige Aussage gemacht, er leide jedoch an Gedächtnisschwäche und wisse sich heute auf nichts mehr zu erinnern.

Der Vorsitzende stellte fest, daß der Zeuge früher die erwähnte Bekundung vollständig in Abrede gestellt habe, während er heute die Möglichkeit zugebe, die Bekundung getan zu haben.

Frau Jacoby (Skurcz): Wohlgemuth hat mir zur Zeit diese seine hier erwähnten Bekundungen erzählt. Im weiteren erzählte Frau Jacoby: Ganz besonders nach dem Morde ist in Skurcz gegen die Juden eine große Erregung gewesen. Eine Frau v. Grabowska sagte eines Tages zu mir: Frau Jacoby, was würden Sie wohl zum besten geben, wenn die Sache klar wäre? Ich antwortete: Ich weiß, daß Sie gerne Schokolade trinken, Frau von Grabowska; wenn die Sache herauskommt, dann gebe ich eine Tasse Schokolade zum besten. Als nun Behrendt verhaftet wurde, da sagte Frau v. Grabowska: Frau Jacoby, nun müssen Sie die Schokolade geben. Ich antwortete: Es muß dem Behrendt doch erst bewiesen werden.

Vors.: Also so vorsichtig sind Sie doch gewesen? (Heiterkeit.)

Böttchermeister Fahle: Dem Behrendt wurde es bekannt, daß ich ihn des Mordes bezichtigt hatte. Behrendt kam deshalb aufgeregt zu mir und sagte: Wenn ich es gewesen bin, dann bin ich es gewesen, erst werde ich aber Sie und dann mich totstechen.

Fleischermeister Soletzki, der diese Äußerung des Behrendt mit angehört haben sollte, wußte sich auf einen solchen Vorgang nicht zu erinnern.

Auf Befragen des Staatsanwalts bekundete Kriminalkommissar Höft: Den Beweggrund, der den Behrendt zu der ihm zur Last gelegten Tat veranlaßt haben könnte, habe ich nicht feststellen können. Ich habe bloß festzustellen vermocht, daß Behrendt einer der größten Judenfeinde gewesen, daß er antisemitische Schriften verbreitete und geäußert hat: Wenn die Juden nicht von selbst von Skurcz fortgehen, dann werde er alle jüdischen Wohnungen in Skurcz mieten, damit die Juden daselbst kein Unterkommen mehr haben.

Vors.: Das dürfte doch aber kaum möglich sein.

Höft: Es wohnten in Skurcz im ganzen sieben jüdische Familien.

Angekl.: Das kann ich schon deshalb nicht gesagt haben, da die meisten Juden in Skurcz eigene Häuser haben.

Amtsvorsteher Ernst: Er könne nicht behaupten, daß Behrendt in hervorragender Weise Judenfeind gewesen sei. Ob antisemitische Schriften vor oder nach dem Morde in Skurcz verbreitet worden seien, wisse er nicht.

Staatsanwalt: Ist es wahr, daß die Kirchenbehörde von Skurcz zu jener Zeit öffentlich aufgefordert hat, dahin zu wirken, daß christliche Dienstmädchen nicht mehr bei Juden dienen sollen?

Zeuge: Jawohl.

Gasthofbesitzer Stenzel: Er habe niemals bemerkt, daß der Angeklagte hohe Stiefel getragen habe. Der Angeklagte sei am Abend vor dem Morde wohl etwas angetrunken, aber keineswegs sinnlos betrunken gewesen.

Darauf war die Beweisaufnahme beendet.

Der Staatsanwalt beantragte, den Mankowski und Zilinski nicht zu vereidigen, der Verteidiger hatte gegen diesen Antrag nichts zu erinnern und beanstandete die Vereidigung der gesamten Familie Josephsohn.

Der Gerichtshof beschloß nach längerer Beratung, sämtliche Zeugen, mit Ausnahme der Gattin des Angeklagten, zu vereidigen. Der Vorsitzende ermahnte ganz besonders noch einmal den Hermann Josephsohn. Sie wissen, so sagte der Vorsitzende zu Hermann Josephsohn, in welch schrecklicher Weise der Knabe Cybulla ermordet worden ist. Sie haben lange Zeit unter dem Verdacht des Mordes gestanden, sind Sie vielleicht der Mörder oder wissen Sie etwas von dem Morde? Wenn Sie jetzt noch einen Meineid leisteten, dann würden Sie ein zweites schweres Verbrechen begehen.

Hermann Josephsohn: Ich bin unschuldig.

Während dieser Worte des Vorsitzenden brachen die übrigen Familienmitglieder Josephsohn in lautes Weinen aus. Nachdem alle Zeugen vereidigt waren, beantragte der Staatsanwalt, die Zeugen Mankowski und Zilinski wegen Verdachts des Meineids zu verhaften. Weitere Schritte gegen noch andere Zeugen behalte er (Staatsanwalt) sich vor. Der Staatsanwalt begründete seine Anträge dahin: Mankowski habe bereits eine entgegengesetzte Aussage als die hier beeidigte beschworen, und Zilinski habe, im Gegensatz zu der Bekundung des Kriminalkommissars Höft, beschworen: Letzterer habe ihn unter Geldversprechungen veranlassen wollen, für die Juden und gegen Behrendt Zeugnis abzulegen. Der Gerichtshof beschloß: In Erwägung, daß die Zeugen Mankowski und Zilinski, in Berücksichtigung ihres geringen Bildungsgrades sich des wissentlichen Meineides nicht schuldig gemacht haben, den Antrag auf Verhaftung dieser Zeugen abzulehnen.

Am fünften Verhandlungstage formulierte der Vorsitzende folgende, den Geschworenen vorzulegende Schuldfragen: Ist der Angeklagte, Fleischermeister Joseph Behrendt aus Skurcz, schuldig, in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 den Knaben Onophrius Cybulla vorsätzlich getötet zu haben, und zwar indem er die Tötung mit Überlegung ausführte?

Alsdann nahm das Wort zur Schuldfrage der Vertreter der kgl. Staatsanwaltschaft, Gerichtsassessor Dr. Preuß: Meine Herren Geschworenen! Wenn ein Stein in einen See geworfen wird, dann wird in dem See immer eine gewisse Aufregung hervorgerufen. Die größte Aufregung herrscht selbstverständlich immer in dem Teile des Sees, in den der Stein direkt geworfen ist. Dies Beispiel paßt auch auf den Vorgang, der uns hier beschäftigt. Es ist ja nur zu natürlich, daß, als das Verbrechen entdeckt wurde, die größte Aufregung in der Gegend, wo es geschehen war, herrschte. Jeder Mensch hat in solcher Gegend das lebhafteste Interesse an der Entdeckung des Verbrechers, schon, um den eventuellen Verdacht von sich selbst abzulenken. Bei solcher Gelegenheit ist es ja zu natürlich, daß der Verdacht auf gewisse Personen, ja auf eine ganze Bevölkerungsklasse fällt. Aus diesem Grunde ist es um so mehr unsere Pflicht, in objektivster Weise die Sache zu prüfen. Sie haben gehört, in welch schrecklich verstümmelter Weise am Morgen des 22. Januar 1884 die Leiche des Knaben Onophrius Cybulla gefunden wurde. Daß ein Raubmord mord vorliegt, ist vollständig ausgeschlossen, denn der Knabe besaß kein Geld, es war auch nicht zu vermuten, daß er im Besitz von Geld gewesen wäre; seine Kleider waren vollständig wertlos. Ebenso ist aber auch nach ärztlichem Befund ein Lustmord vollständig ausgeschlossen. Der Mord kann den Umständen nach nur in einer Behausung geschehen sein, denn es fanden sich weder am Fundort noch in dem Dorfe Skurcz irgendwelche Spuren eines begangenen Mordes. Aber auch ein Mord aus Haß ist nicht denkbar; wir haben gehört, der ermordete Knabe war höchst friedfertigen, ja gutmütigen Charakters, er hat noch am 21. Januar abends einem Knecht bei Gappa aus Gefälligkeit beim Flaschenspülen Hilfe geleistet. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn man auf den Gedanken kam, der Mord ist aus Aberglauben geschehen. Allein, wenn der Verdacht sich auf gewisse Personen lenkte, so geschah dies hauptsächlich, weil in der Tat Verdachtsmomente vorlagen. Daß ein ritueller Mord hier nicht vorliegt, davon, meine Herren, werden wir wohl alle vollständig überzeugt sein. Daß ein gewöhnlicher Aberglaube nicht vorliegt, habe ich auch nicht weiter zu betonen. Es gibt ja einen Aberglauben, wonach man mit Lichtern, die aus dem Fett eines Ermordeten fabriziert werden, einen Dieb unsichtbar machen kann. Vor ungefähr 10 Jahren ist in unserer Gegend ein Verbrechen passiert, das heute noch nicht aufgedeckt ist und das, den Umständen nach, auch nur aus Aberglauben geschehen war. Es entsteht nun die Frage, wer ist der Mörder. Sie wissen, der Verdacht lenkte sich zunächst auf Boß (Vater und Sohn) und Hermann Josephsohn. Es ist gegen die Boß ins Feld geführt worden, daß in jener Mordnacht in ihrem Hause Unruhe geherrscht hat. Dieser Vorgang ist durch die Aussage des Maurers Kekermann, der in jener Nacht angetrunken nach Hause kam und infolgedessen ein großes Gepolter im Hause verursacht hat und andererseits durch den heftigen Sturm, der in jener Nacht getobt hat, zu erklären. Es ist außerdem der Nachweis geführt worden, daß Boß an jenem Abend bis etwa gegen 10 Uhr mit Warenauspacken beschäftigt war. Die Bekundung des Zeugen Sprada, daß am Abend des 21. Januar ein von Gappa herausgekommener Knabe aus dem Boßschen Hause mit polnisch-jüdischem Dialekt: „Onophri, Onophri!“ angerufen wurde, hat sich als erfunden erwiesen. Das Umfallen des Zaunes im Ziegenstalle bei Boß kann doch etwa keinen Anhalt für die Schuld der Boß ergeben. Ebensowenig ist aber Hermann Josephsohn der Täter gewesen. Wenn auch die Zeugin Reimann den Josephsohn nicht zu Hause getroffen hat, so steht doch fest, daß ihn gegen 10 Uhr abends verschiedene Personen auf dem Nachhausewege getroffen haben. Er hatte nicht nötig, sich sehen zu lassen, denn die Leute, denen er begegnete, hatten es sämtlich eilig, er hat sie aber angerufen. Einen Menschen, der soeben ein so fürchterliches Verbrechen begangen, drängt es nicht danach, mit ihm begegnenden Leuten zu sprechen. Er geht auch nicht ruhig nach Hause, legt sich ruhig zu Bett, ohne seinen Angehörigen irgend etwas zu sagen. Es ist auch nicht anzunehmen, daß Josephsohn in solch kurzer Zeit ein Verbrechen dieser Art ausgeführt hat. Fest steht, daß Josephsohn um 12 Uhr und um 1 Uhr nachts zu Hause gewesen ist; daß er angekleidet auf dem Bette gelegen, erklärte sich aus dem Umstande, daß er sich genierte, in Gegenwart der Reimann sich zu entkleiden. Daß Josephsohn nach 1 Uhr nachts den Mord vollführte, ist nicht denkbar, denn es ist nicht möglich, daß der ermordete Knabe sich bis nach 1 Uhr umhergetrieben hat. Fest steht außerdem, daß Josephsohn am 22. Januar um 7 Uhr morgens ebenfalls zu Hause gewesen ist. Nun ist zweifellos, daß der Mörder sein Opfer nach 6 Uhr morgens an den Fundort geschafft hat, auch aus diesem Grunde kann Josephsohn den Mord nicht begangen haben. Aber auch physische Gründe sprechen gegen die Schuld des Josephsohn. Dieser hatte schon einige Tage vor dem Morde eine böse Hand, so daß er nicht arbeiten konnte; er war mithin nicht in der Lage, eine solche Operation auszuführen. Es ist aber auch absolut unmöglich, daß Josephsohn, der bis zu seinem 14. Lebensjahre in der Fleischerei tätig gewesen und nun seit 5 Jahren sich in keiner Weise mehr mit der Fleischerei beschäftigte, eine solch geschickte Operation vornehmen konnte. Ich glaube damit den Beweis geführt zu haben, daß die beiden Boß und Hermann Josephsohn den Mord nicht begangen haben. Ich will Ihnen nicht zumuten, dem Zeugen Mankowski Glauben zu schenken, allein es gibt gewisse Momente, in denen auch Leute wie Mankowski die Wahrheit sagen, und das geschieht aus Furcht vor der kirchlichen und ewigen Strafe. Sie haben gehört, daß, als Kriminalkommissar Höft den Zeugen fragte, ob er schon zur Osterbeichte gewesen, er ausrief: „O mein Gott, mein Gott, ich habe gelogen, ich habe nicht Hermann Josephsohn, sondern Behrendt mit dem Sacke getroffen.“ Man muß den Umständen nach doch annehmen, daß in diesem Momente Mankowski die Wahrheit gesagt hat. Fest steht, daß Zilinski den Mankowski vollständig in seiner Gewalt hatte. Einmal wußte er ihm dadurch zu imponieren, daß er ihm sagte: Sage nur gegen die Juden, und zwar gegen Josephsohn aus, dann werden die Juden vertrieben werden, dann wirst du die für die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Prämie und auch noch Geld erhalten, das bereits von den reichen Herren für dich gesammelt wird. Außerdem wußte Zilinski den Mankowski in seine Gewalt zu bekommen, indem er ihm drohte, ein von ihm begangenes Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Daß den Zilinski sein unendlicher Judenhaß bei seiner Handlungsweise geleitet hat, dürfte Ihnen klar geworden sein, denn daß Zilinski ein ganz entschiedener Judenfeind gewesen, hat die Verhandlung ergeben. Ich behaupte nun, daß niemand anders als der Angeklagte Behrendt den Mord begangen hat. Meine Herren! Jemand, der sich schuldlos fühlt, leugnet nicht selbst die gleichgültigsten Vorgänge ab. Für seine Schuld spricht weiter sein Verhalten nach dem Morde. Sie haben den Zeugen Hoffmann gehört, der doch jedenfalls einen vollständig glaubwürdigen Eindruck gemacht hat. Der Angeklagte war zunächst derjenige, der am lautesten schrie, die Juden waren die Mörder. Als aber Hoffmann erzählte: das Auge des Ermordeten wird photographiert werden, und dadurch wird es gelingen, die Person des Mörders festzustellen, da erschrak der Angeklagte ganz auffällig, begann zu zittern und wurde ganz bleich. Wenn wir nun auch keinen Zeugen haben, der die Mordtat mit angesehen, so haben wir doch einen stummen Zeugen, das ist der Leichnam des unglücklichen Cybulla selbst. Eine solche Operation, wie sie an dem Ermordeten vorgenommen, kann doch nur ein geübter Fleischer vollführt haben. Ich behaupte, viel eher kann ein Fleischer als ein Arzt eine solche Operation vollführen. Sanitätsrat Dr. Merner hat bekundet, daß er eine solche che kunstfertige Sezierung noch niemals gesehen habe. Der Angeklagte war aber ein sehr geschickter Fleischer, der sich selbst rühmte und es auch durch die Tat bewies, daß er imstande war, innerhalb einer Stunde drei Ferkel, wie er sich ausdrückte, abzuschlachten. Der Angeklagte scheute sich selbst nicht, einer Frau, die seine Kunstfertigkeit rühmte, zu sagen: ich wäre sogar imstande, Ihre Kinder mit derselben Schnelligkeit abzuschlachten. Ich erinnere Sie an den Ausspruch des Angeklagten, der ein Messer zeigte und sagte: „Mit diesem Messer kann ich einen Menschen von oben bis unten aufschlitzen und sein Blut wie Wasser trinken, eine solche Natur habe ich.“ Ich erinnere Sie ferner, daß, als ihm gesagt wurde, schlachten Sie nur immer Schweine, nicht aber Menschen, der Angeklagte ganz bleich wurde und nichts erwiderte. Nun wird man fragen, welches Motiv kann den Angeklagten bei seiner Tat geleitet haben. Es ist erwiesen, daß der Angeklagte einer der größten Judenfeinde im Dorfe gewesen ist, der sogar geäußert hat: er werde die Vertreibung der Juden aus dem Dorfe veranlassen! Meine Herren! Daß Verbrechen aus Judenhaß begangen werden, um sie den Juden zur Last zu legen, hat der bekannte Prozeß in Tiszla-Eßlar und die Affäre des Neustettiner Synagogenbrandes bewiesen. Es entsteht nun die Frage, hat der Angeklagte mit Überlegung gehandelt?

Fest steht, daß der Knabe zunächst von hinten einen Schlag auf den Kopf erhalten und daß alsdann die übrige Manipulation vollführt worden ist. Nehmen Sie an, daß der Angeklagte nicht mit Überlegung gehandelt hat, dann ist er wegen Totschlags zu bestrafen. Ich glaube jedoch, Sie werden mit mir der Überzeugung sein, der Angeklagte hat mit Überlegung gehandelt. Ich beantrage daher: den Angeklagten wegen Mordes evtl. aber wegen Totschlags für schuldig zu erklären.

Verteidiger Rechtsanwalt Thurau (Pr. Stargardt): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Staatsanwalt hat die Anklage in vollem Umfange aufrechterhalten obwohl er nicht den mindesten positiven Beweis für die Schuld des Angeklagten hat führen können. Der Angeklagte soll, um seinem Judenhaß Ausdruck zu verleihen, den Mord begangen haben. Nun, meine Herren, steht fest, daß zu jener Zeit in der Gegend von Skurcz ein großer Haß gegen die Juden geherrscht hat. Wenn ein solcher Mord passiert, ist es nicht zu verwundern, daß die niedere Bevölkerung die Juden des Verbrechens bezichtigt? Wenn Behrendt, ein Mann von so geringer Intelligenz, dieser Volksmeinung zustimmt, dann kann dies doch nicht wundernehmen. Daß Behrendt in hervorragender Weise die Juden des Mordes beschuldigt hat, ist nicht erwiesen worden. Die Gendarmen, die bei Boß Haussuchung gehalten, haben ein solches Hervortun des Angeklagten nicht wahrgenommen. Es ist ja wahr, in Neustettin haben die Juden zunächst die Christen und alsdann die Christen die Juden des Tempelbrandes beschuldigt, und zwar, so wurde behauptet, die Juden haben ihren Tempel angezündet, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. Wer aber das Verbrechen begangen, ob Christen oder Juden, oder ob jene Feuersbrunst nicht aus Unvorsichtigkeit entstanden, ist in keiner Weise festgestellt worden. Als belastend wird gegen den Angeklagten ins Feld geführt, daß er zunächst von der Czechelowska am fraglichen Morgen mit einem Laken auf dem Rücken, in dem etwas enthalten gewesen, gesehen sein soll. Ganz abgesehen, daß die Czechelowska mit dem Briefträger Stürmer sich augenscheinlich in einer derartigen Fassung befanden, so daß Stürmer sogar erschrak, als er den ihnen begegnenden Mann erblickte, daß die Czechelowska sich den Mann mithin nur sehr oberflächlich angesehen haben wird, so hat sie auch nur an der Größe den Angeklagten als den ihr begegneten Mann erkannt. Nun ist aber, wie der Augenschein gelehrt hat, Josephsohn von derselben Figur, nur daß die Schultern des Angeklagten etwas höher sind als die des Josephsohn. Ich bin entfernt, die Schuld auf Josephsohn zu lenken, allein ein Irrtum der Czechelowska ist dabei nicht ausgeschlossen. Im übrigen stimmen men die Angaben der Czechelowska mit denen des Mankowski selbst in der Zeitangabe keineswegs überein, ja letzterer bezeichnet ganz bestimmt die Mütze des Josephsohn als diejenige, die der ihm begegnende Mann getragen hat. Die königliche Staatsanwaltschaft will aus dem Umstande, daß der Angeklagte unwesentliche Dinge konsequent in Abrede stellt, und ferner aus seinem Verhalten nach dem Morde seine Schuld beweisen. Hätte der Angeklagte, gleich nachdem er verhaftet worden, einen Rechtsanwalt gehabt, dann wäre es ihm zweifellos möglich gewesen, mehr zu seiner Entlastung anzuführen. Übrigens ist es doch nicht wunderbar, daß ein Mann von dem Bildungsgrade des Angeklagten alles in Abrede zu stellen sucht, wodurch er befürchtet, sich verdächtig zu machen. Ich will die Glaubwürdigkeit des Zeugen Hoffmann nicht anfechten, allein erinnern muß ich Sie doch daran, daß Hoffmann mit dem Angeklagten arg verfeindet war. Einer Veränderung im Gesichtsausdruck können doch im übrigen die verschiedensten Ursachen zugrunde liegen. Vielleicht hat sich der Angeklagte aufgeregt, weil er so sehnlichst die Entdeckung des Mörders herbeiwünschte. Daß dem Angeklagten eine solche Tat zuzutrauen war, will ich ja gar nicht in Abrede stellen, allein alle uns in dieser Beziehung gemachten Bekundungen sprechen doch noch nicht für seine Schuld. Ich erinnere Sie, daß Hermann Josephsohn sogar einer Frau, der er unsittliche Anträge stellte, zumutete, ihren Mann umzubringen, oder sich selbst zu dieser Tat bereit erklärte. Bedenken Sie, wenn nun Josephsohn anstatt Behrendt hier auf der Anklagebank säße, würde dieses Moment nicht in hohem Maße für seine Schuld angeführt werden? Mit dieser Handlung ist doch aber noch keineswegs bewiesen, daß der Betreffende auch das vorliegende Verbrechen begangen hat. Obwohl es zunächst Sache der Staatsanwaltschaft ist, einem Angeklagten das Verbrechen nachzuweisen, obwohl dies nicht geschehen ist, so hat der Angeklagte eine ganze Kette von Alibibeweisen erbracht. Er hat den Nachweis geführt, daß er am Abende des 21. Januar 1884 gegen 9 Uhr bereits zu Hause und am folgenden Morgen gegen 7 Uhr bei Blumenheim gewesen ist. Wenn er nach 6 in der Tat von Mankowski getroffen worden ist, dann war er nicht in der Lage schon um 7 Uhr bei Blumenheim zu sein, denn er muß erst einige Zeit nach der Begegnung mit Mankowski am Fundorte der Leiche angelangt sein und konnte mithin bis 7 Uhr nicht den Weg bis zu Blumenheim zurücklegen. Im weiteren ist es nicht denkbar, weshalb der Angeklagte sich einen solchen Umweg gemacht, während er einen viel kürzeren Weg wählen konnte. Wenn jemand das Opfer eines solch fürchterlichen Verbrechens fortschaffen will, dann nimmt er doch ganz naturgemäß den kürzesten sten Weg. Es ist ferner nicht erwiesen, daß die beiden Anzüge des Angeklagten irgendwie mit Blut befleckt waren, ja wir haben ganz direkt gehört, daß der Angeklagte weder einen Sack noch lange Stiefel, die der Mann mit dem Sacke getragen haben soll, besitzt. Fest steht, daß die Operation nur in einer Behausung geschehen sein kann. Es entsteht doch dabei unwillkürlich die Frage: wo hat dies der Angeklagte getan? Seine Ehefrau und Czarnicki haben bekundet, daß er in jener Nacht von 9 Uhr ab zu Hause gewesen ist. Gastwirt Stenzel, in dessen Hause der Angeklagte wohnt, hat nicht das mindeste Auffallende in jener Nacht wahrgenommen. Es kommt noch hinzu, daß die Ehefrau des Angeklagten 10 Tage vor ihrer Entbindung stand. Wenn auch der Angeklagte ein roher Mensch ist, so ist doch nicht anzunehmen, daß er sich gerade diese Zeit zur Vollführung eines solchen Verbrechens ausersehen wird und noch dazu an einem Abende, wo er, wenn auch nicht ganz sinnlos, aber doch zweifellos in hohem Grade angetrunken gewesen ist. Auch ist nicht einzusehen, weshalb er, wenn er den Mord, wie nach Lage der Dinge anzunehmen ist und der Herr Staatsanwalt selbst zugibt, bereits gegen 9 Uhr abends begangen hat, bis zum anderen Morgen um 6 Uhr mit der Fortschaffung der Leiche wartet. Der Umstand, daß er gesagt, er könne keine Leichen sehen, spricht doch wahrlich ebenfalls nicht für seine Schuld. Dem Angeklagten sind vier Kinder gestorben, ist es nicht möglich, daß dem Angeklagten dies so zu Herzen gegangen ist, daß er andere menschliche Leichen nicht mehr zu sehen vermag? Ich wage kaum den Gedanken auszusprechen, daß hier ein Totschlag vorliegen könnte. Wenn der Angeklagte das Verbrechen begangen hat, dann hat er sich zweifellos des Mordes schuldig gemacht, denn daß das Verbrechen von langer Hand vorbereitet war, kann keinem Bedenken unterliegen. Ich halte den Josephsohn für ebenso unschuldig wie meinen Klienten. Liegt denn nicht die Möglichkeit vor, daß ein Dritter das Verbrechen begangen hat? „In dubio pro reo“ ist ein alter juristischer Grundsatz, der mit anderen Worten besagt: Man soll lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen. Dies gilt ganz besonders, wenn es sich um ein Urteil über Leben und Tod handelt. Meine Herren Geschworenen! Einen Beweis für die Schuld des Angeklagten hat die Verhandlung in keiner Weise erbracht. Wenn Sie aber nur die Möglichkeit annehmen, daß nicht der Angeklagte, sondern ein Dritter den Mord begangen haben kann, dann ist es Ihre Pflicht, den Angeklagten freizusprechen.

Nach noch längeren Auseinandersetzungen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger gab der Vorsitzende den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung, worauf sich die Geschworenen zur Beratung tung zurückzogen.

Nach kaum halbstündiger Beratung verkündete der Obmann unter gespanntester Aufmerksamkeit des Publikums, daß die Geschworenen die ihnen vorgelegte Schuldfrage verneint haben. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Arndt: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof, dem Spruche der Geschworenen entsprechend, für Recht erkannt, daß der Angeklagte, Fleischermeister Behrendt, von der Anklage des Mordes freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien. Der Angeklagte ist sofort aus der Haft zu entlassen.

Der rätselhafte Mord hat bis heute noch keine Aufklärung gefunden.

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Der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner

vom 11. bis 26. März 1872 vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht

In meiner langen Berufstätigkeit habe ich keinem zweiten Prozeß als Berichterstatter beigewohnt, der auch nur entfernt an die politisch-historische Bedeutung herangereicht hat, wie dieser Hochverratsprozeß, der am 11. März 1872, also vor nunmehr 40 Jahren, vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht begann.

Im Jahre 1870 war die sozialdemokratische Partei noch in zwei feindliche Lager gespalten. Zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein unter dem Präsidium des ehemaligen Frankfurter Rechtsanwalts Dr. jur. Jean Baptiste v. Schweitzer und den sogenannten „Eisenacher Ehrlichen“ herrschte grimmige Fehde. Im Norddeutschen Reichstag saßen bei Ausbruch des Krieges Dr. v. Schweitzer, der Zigarrenarbeiter Fritzsche, der Lohgerber Wilhelm Hasenclever aus Halver, Westfalen; der frühere Lehrer Fritz Mende, der Kupferschmied Försterling und der Vertreter für Altona, Zigarrenarbeiter Reimer (sämtlich Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins). Die sozialdemokratische Partei (Eisenacher Richtung) war durch Liebknecht und Bebel vertreten. Am 19. Juli 1870 erfolgte von dem damaligen Kaiser der Franzosen Napoleon III. die Kriegserklärung. Dies Ereignis hatte die sofortige Einberufung des Norddeutschen Reichstages zur Folge. Die Regierung verlangte eine Kriegsanleihe von 120 Millionen Talern. Der Reichstag, einschließlich der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins, bewilligten die Anleihe, nur Liebknecht und Bebel enthielten sich der Abstimmung mit folgender schriftlicher Begründung: „Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern. Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischer Politik Bonapartes aufgefaßt werden. Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.

Berlin, den 21. Juli 1870.

A. Bebel. W. Liebknecht.“

Diese Erklärung entfesselte einen kaum zu schildernden Sturm der Entrüstung nicht nur in allen bürgerlichen Parteien, sondern auch unter den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins. Selbst der Ausschuß der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Eisenacher Richtung war mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. „Landesverräter“ war die mildeste Bezeichnung für Liebknecht und Bebel. Die Sozialdemokraten Eisenacher Richtung wurden allerorten aufs schmählichste beschimpft. Obwohl in dem damaligen Wohnort von Liebknecht und Bebel, in Leipzig, die Eisenacher Sozialdemokraten verhältnismäßig zahlreich waren, wurden Liebknecht und Bebel in Leipzig auf offener Straße behelligt und eines Nachts, als Liebknecht sich gerade in einer Versammlung befand, in der Liebknechtschen Wohnung die Fenster eingeschlagen. Ein großer Stein, der durchs Fenster geflogen kam, hätte beinahe dem ältesten Sohn Liebknechts, den Frau Natalie Liebknecht gerade an der Mutterbrust hatte, den Kopf zertrümmert. Bebels Wohnung blieb verschont, da dieser in der Petersstraße im Hofe wohnte. Die Erregung wuchs, als nach der Schlacht von Sedan, der Gefangennahme Napoleons und der Proklamierung der Republik in Paris im „Volksstaat“, dem von Liebknecht redigierten Zentralorgan der Eisenacher Sozialdemokraten, an der Spitze jeder Nummer zu lesen war: „Ein billiger Friede mit der französischen Republik! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen.“ Am 5. September 1870 erließ der zu Braunschweig domizilierte Ausschuß der sozialdemokratischen Partei Eisenacher Richtung ein Manifest in demselben Sinne. Am 6. September erfolgte die Veröffentlichung, und am 9. September wurde der gesamte Ausschuß, Kaufmann Wilhelm Bracke jr., Oberlehrer Spier, Ingenieur Leonard v. Bornhorst, Gralle und Kühn nebst dem Druckereibesitzer Sievers und einem Braunschweiger Sozialdemokraten, namens Ehlers, auf Befehl des Höchstkommandierenden der Armee in den deutschen Küstenländern auf Grund des proklamierten Kriegszustandes verhaftet und in Ketten geschlossen nach der ostpreußischen Festung Lötzen abgeführt. Sehr bald darauf traf das gleiche Schicksal den Vorsitzenden der Kontrollkommission der „Eisenacher“, den Hamburger Buchhändler August Geib und den Vertreter des zweiten Berliner Landtagswahlbezirks, Abgeordneten Dr. med. Johann Jacoby in Königsberg in Preußen, der in der Königsberger Stadtverordnetenversammlung sich gegen jede Annexion erklärt hatte. Dr. Jacoby war aber keineswegs der einzige bürgerliche Demokrat, der gegen die Annexion protestierte. Obwohl die Norddeutsche Allgemeine Zeitung die Mitteilung brachte: Jeder, der sich öffentlich gegen die Annexion erklärt, macht sich des Landesverrats schuldig, erließen die Mitglieder des bürgerlichen „Demokratischen Vereins“ in Berlin, an der Spitze Dr. Guido Weiß und Färbereibesitzer William Spindler, damals Chef der Weltfirma W. Spindler, im Verein mit einer Anzahl Berliner Sozialdemokraten Eisenacher Richtung eine mit Namen unterzeichnete öffentliche Protesterklärung gegen die Weiterführung des Krieges und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen. Die Legislaturperiode des Reichstages war am 31. August 1870 erloschen. Aus Anlaß des Krieges wurde sie aber bis Ende Dezember 1870 verlängert. Wenige Tage vor Weihnachten wurde der Norddeutsche Reichstag geschlossen und die Wahlen für den ersten deutschen Reichstag ausgeschrieben. Liebknecht und Bebel kehrten von Berlin nach Leipzig zurück. rück. Am folgenden Morgen in aller Frühe wurden beide und der Redakteur des „Volksstaat“ Adolf Hepner verhaftet. In demselben Augenblick übernahm der verstorbene Journalist Carl Hirsch, damals Redakteur des sozialdemokratischen „Bürger- und Bauernfreund“ in Krimmitschau, die Redaktion des „Volksstaat“. Am 28. März 1871 öffneten sich den drei Verhafteten die Pforten des Untersuchungsgefängnisses. Inzwischen fanden am 3. März 1871 die Reichstagswahlen statt. Die Sozialdemokraten beider Richtungen erlitten eine arge Niederlage. In Berlin war von den „Eisenachern“ in Gemeinschaft mit den bürgerlichen Demokraten, und zwar in allen sechs Kreisen Dr. Johann Jacoby aufgestellt. In ganz Berlin wurden 6400 Stimmen für Dr. Jacoby abgegeben. Von den Mitgliedern des Allgemeinen deutschen Arbeiter-Vereins war in allen sechs Berliner Wahlkreisen Maurer Grau, ein ganz vorzüglicher Redner, aufgestellt. Er erhielt in ganz Berlin noch nicht 4000 Stimmen. In ganz Deutschland wurden 124655 sozialdemokratische Stimmen abgegeben. Von den sozialdemokratischen Reichstagskandidaten wurde lediglich Bebel in Glauchau-Meerane gewählt. Auch Liebknecht war in seinem alten Wahlkreise Schneeberg-Stollberg durchgefallen. Außer Bebel waren noch zwei bürgerliche Demokraten, der Verleger der „Frankfurter Zeitung“, Leopold Sonnemann, und Rechtsanwalt Schraps (Zwickau) gewählt. Die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses wurden sechs volle Monate in Haft behalten. Im November 1871 hatten sie sich in Braunschweig wegen Hochverrats zu verantworten, sie wurden jedoch nur wegen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung verurteilt. Nach Beendigung des Prozesses strengten sie gegen den General Vogel von Falckenstein auf dem Zivilwege die Entschädigungsklage an. Der General wurde auch schließlich zu einer hohen Entschädigungssumme verurteilt, die ihm der Kaiser als Gnadengeschenk verehrte.

Inzwischen wurde gegen Liebknecht, Bebel und Hepner Anklage wegen „vorbereitender Handlungen zum Hochverrat“ erhoben. Die Staatsanwaltschaft behauptete: Die verschiedenen Zeitungsartikel, öffentliche Reden, Broschüren und Briefe der Angeklagten aus den letzten zehn Jahren, aber auch Zeitungsartikel, Reden, Broschüren und Briefe anderer Sozialdemokraten, selbst von solchen, die längst verstorben oder auch zu den Gegnern übergetreten waren, seien in ihrer Gesamtheit vorbereitende Handlungen zum Hochverrat. So begann nun am Montag, den 11. September 1872, vor dem Leipziger Bezirksschwurgericht unter ungeheurem Andrange des Publikums der Prozeß. Die sächsische Staatsregierung hatte zwei Mitglieder des Königl. Stenographischen Instituts zu Dresden mit der stenographischen Aufnahme der Verhandlungen handlungen beauftragt. Den Gerichtshof bildeten Bezirksgerichtsdirektor von Mücke (Vorsitzender), Bezirksgerichtsräte Mansfeld und von Knappstädt (Beisitzende) und Bezirksgerichtsrat Weiske als Ersatzrichter. Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Hoffmann. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig) für Liebknecht und Hepner und Rechtsanwalt Freytag II (Plauen) für Bebel. Die Geschworenenbank bildeten Rittergutsbesitzer Winning aus Mölbis, Kommunegutspächter Kunze aus Grausnig, Oberförster Borner aus Seidewitz, Kaufmann Edmund Oskar Göhring aus Leipzig, Gutsbesitzer Hoffmann aus Naunhof, Kaufmann G. Jakob Harder aus Leipzig, Rittergutspächter Steiger aus Schweta, Kaufmann Karl Heinrich Benzien aus Leipzig, Kaufmann und Ratsmann August Koch aus Lausigk, Kaufmann Reinhard Steckner aus Pegau und Kaufmann Karl Gustav Platzer aus Leipzig. Nach Feststellung der Personalien Liebknechts wurde sofort ein langes Aktenstück der Gießener Polizei verlesen, das mit den Worten begann: „Liebknecht soll in seiner Jugend ein Trauerspiel geschrieben haben, das aber nicht aufgeführt wurde.“ Alsdann wurde die politische Tätigkeit Liebknechts, wonach er an allen möglichen Verschwörungen teilgenommen habe, in ausführlicher Weise geschildert. Das Aktenstück schloß mit den Worten: „In Berlin und in Sachsen wird man von der politischen Tätigkeit Liebknechts mehr Kenntnis haben als hier, da er bereits seit 22 Jahren aus Gießen fort ist.“ Darauf nahm das Wort Angeklagter Liebknecht: Das soeben verlesene Opus der Gießener Polizei versetzt mich in die Notwendigkeit, wenigstens in den Grundzügen ein wahres Bild meines Lebens zu entwerfen gegenüber diesem Zerrbild. Das Aktenstück ist ein kurioses Beispiel davon, wie die Tatsachen sich in einem Polizeihirn spiegeln und vollkommen entstellt zurückgeworfen werden. Die absolute Unfähigkeit des Verfassers, die Wahrheit zu erkennen, die Dinge so zu sehen und zu schildern, wie sie sind, geht schon zur Genüge aus der Behauptung hervor die von ihm so freundlich gemachten Aufschlüsse über alle möglichen Verschwörungen im allgemeinen und den Kommunistenverband im besonderen seien nicht dem berüchtigten „Schwarzen Buche“ entnommen, das bloß ein Verzeichnis von politischen Verbrechern enthalte. Ich habe das „Schwarze Buch“ hier in der Hand. Es ist, wie Sie, meine Herren Richter und Geschworenen sehen, ein respektabler Oktavband, und Sie können sich durch den Augenschein überzeugen, daß das fragliche Verzeichnis allerdings vorhanden ist, aber nur den Anhang des Hauptwerks bildet. Und Sie können sich weiter überzeugen – ich werde das Buch dem Gerichtshofe durch meinen Anwalt überreichen lassen –, daß fast alle Enthüllungen des Gießener Polizeielaborats zum Teil wörtlich diesem „Schwarzen Buch“ entlehnt sind. Entweder hat also der Anfertiger des Opus das „Schwarze Buch“, von dem er schreibt, gar nicht gekannt, oder er hat – aus welcher Ursache, bleibe dahingestellt – nur das letzte Stück gesehen und den Rest ignoriert. In jedem von beiden Fällen kommt seine Wahrheitsliebe gleich sehr ins Gedränge. Was ist aber das Zeugnis eines Mannes wert, der nicht einmal in bezug auf eine so einfache, mit Händen zu greifende Tatsache die Wahrheit zu sagen vermag? Da ich einmal vom „Schwarzen Buch“ rede, das den Schatten der traurigsten Epoche unserer Geschichte hierher wirft, so sei kurz bemerkt, daß es in verschiedenen Variationen existiert, und daß die in meinem Besitze befindliche amtliche Musterausgabe den Titel führt: „Die Kommunisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts, im amtlichen Auftrage, zur Benutzung der Polizeibehörden der sämtlichen Deutschen Bundesstaaten, auf Grund der betreffenden gerichtlichen und polizeilichen Akten, dargestellt von Dr. jur. Wermuth, Königlich Hannoverscher Polizeidirektor, und Dr. jur. Stieber, Königlich Preußischer Polizeidirektor, – Berlin 1853. Druck von A.W. Hayn.“ Die zwei Verfasser sind wohlbekannt. Herr Wermuth ist mittlerweile gestorben, Herr Stieber dagegen lebt noch und ist sogar sehr lebendig in diesem Augenblick. Auf den Inhalt des „Schwarzen Buches“ einzugehen, habe ich keine Veranlassung. Es ist polizistische Geschichtsschreibung – das sagt alles. Ebensowenig kann ich mich mit den Plagiaten des Gießener Polizeidirektors befassen. Was geht mich Babeuf an, der 30 Jahre vor meiner Geburt guillotiniert wurde? Was Mazzini, der, wie männiglich bekannt, ein erbitterter Feind des Sozialismus ist? Was Fieschis Höllenmaschine, die explodierte, als ich noch mit der Schulmappe unter dem Arme in die Sexta ging? Was geht mich der „Bund der Geächteten“ und der „Bund der Gerechten“ an? Und weshalb verliest man dieses Zeug? Mit diesem Prozeß hat es nicht das geringste zu tun. Aber freilich, es ist ganz darauf berechnet, mich im ungünstigsten Lichte erscheinen zu lassen und mich den Geschworenen als Schinderhannes oder „Carlo Moor“ hinzustellen. Es ist grundfalsch, daß ich in dem berüchtigten Kölner Kommunistenprozeß eine hervorragende Rolle gespielt habe. Ich war an diesem Prozeß direkt gar nicht beteiligt; ich war weder Angeklagter noch Zeuge. Freilich kam mein Name in der öffentlichen Prozeßverhandlung häufig vor, aber nur, weil er auf einem infam gefälschten Aktenstück stand, das Herr Stieber, um die Verurteilung der Angeklagten zu erwirken, produziert hatte. Ich rede von dem sogenannten „Protokollbuch“, das die Sitzungsberichte der Londoner Gemeinde enthalten und von mir als Schriftführer mit unterzeichnet sein sollte. Die Fälschung wurde sofort nachgewiesen und öffentlich vom Gerichtshof festgestellt. Trotzdem ist Herr Stieber heute noch im Amt und hoch in Gnaden und Ehren, während ich auf der Bank der Angeklagten sitze – ein Kontrast, eminent charakteristisch für unsere neueste Ära des Ruhmes und der nationalen Wiedergeburt. Und nun ein kurzes curriculum vitae. Einer Beamtenfamilie entstammend, war ich von meinen Angehörigen – den Vater hatte ich früh verloren – für die Beamtenlaufbahn bestimmt. Allein schon auf dem Gymnasium lernte ich die Schriften Saint Simons kennen, die mir eine neue Welt eröffneten. Zu einem „Brotstudium“ hatte ich ohnehin keine Neigung. Ich wollte studieren, um mich auszubilden, um meine Pflichten in Staat und Gesellschaft erfüllen zu können. Mit 16 Jahren kam ich auf die Universität, nachdem ich im Abiturientenexamen die erste Note empfangen hatte. Ich bemerke das, nicht um zu prahlen, sondern um das Gießener Polizeimachwerk zu kennzeichnen, das mich zum verkommenen Subjekt stempeln will. Wie schon angedeutet, studierte ich die verschiedensten Materien. Ich tastete hin und her, gleich jedem Studenten, der wirklich lernen will und nicht in der Zwangsjacke eines Brotstudiums steckt. Den Gedanken, in den Staatsdienst zu treten, gab ich endgültig auf, da er sich mit meinen politisch-sozialen Anschauungen ungen nicht vertrug. Aber ich hegte eine Zeitlang den Plan, Privatdozent zu werden, und hoffte, vielleicht auf einer der kleineren, unabhängigen Universitäten eine Professur zu erlangen. Doch in diesem Wahn wiegte ich mich nicht lange. Ich überzeugte mich, daß ich, ohne meine Grundsätze zu opfern, nicht die mindeste Aussicht hatte, die Lehrberechtigung zu bekommen, und faßte deshalb im Jahre 1847 den Entschluß zur Auswanderung nach Amerika. Ungesäumt traf ich die nötigen Vorbereitungen und war schon auf der Reise nach einem Seehafen begriffen, als ich zufällig im Postwagen die Bekanntschaft eines in der Schweiz als Lehrer ansässigen Mannes machte, der meinen Plan mißbilligte und mir, unter Hinweis auf die allem Anschein nach nahe bevorstehende Umgestaltung der europäischen Verhältnisse, mit so beredten Worten die Übersiedelung nach der republikanischen Schweiz riet, daß ich auf der nächsten Poststation umkehrte und, statt nach Hamburg, nach Zürich fuhr. Dort wollte ich mir auf den Wunsch mehrerer Staatsbeamten, an die ich von meinem neugewonnenen Freund empfohlen war und die sich gegenwärtig zum Teil in hervorragenden Stellungen befinden, das Bürgerrecht erwerben und mich der Advokatenkarriere widmen. Liebknecht schilderte alsdann seine Tätigkeit in der Schweiz und in Paris und fuhr darauf fort: Herwegh bereitete seinen bekannten Zug vor; ich schloß mich an und tat mein möglichstes im Interesse des Unternehmens. Es handelte sich um die Erkämpfung der deutschen Republik. Der Moment schien mir günstig. Ich wäre in meinen eigenen Augen ein Feigling oder ein Verräter gewesen, hätte ich anders gehandelt. Sie sehen, meine Herren Richter und Geschworenen, ich verleugne nicht meine Vergangenheit, nicht meine Grundsätze und Überzeugungen. Ich leugne nichts, ich verhehle nichts. Und um zu zeigen, daß ich ein Gegner der Monarchie, der heutigen Gesellschaft bin und wenn die Pflicht es erheischt, auch nicht vor dem Kampf zurückschrecke, dazu bedürfte es fürwahr nicht der albernen Erfindungen dieses Gießener Polizeimachwerks. Ich spreche es hier frei und offen aus: Seit ich fähig bin, zu denken, bin ich Republikaner, und als Republikaner werde ich sterben. Liebknecht schilderte alsdann seine Beteiligung am Badischen Aufstande, seine Gefangennahme, seine neunmonatige Gefangenschaft und seine Übersiedelung nach der Schweiz. Er wurde schließlich auf bundesratlichen Befehl aus der Schweiz transportiert und den französischen Behörden überliefert, die ihn mit einer Zwangspost nach London schickten. In London, so etwa fuhr Liebknecht fort, lebte ich 13 Jahre lang, mit politisch-sozialen Studien beschäftigt, noch mehr mit dem Kampf um das Dasein. Mitte 1862 wurde ich von August Braß, dem roten Republikaner von 1848, der uns in der Fehde mit dem Plonplonisten Karl Vogt drei Jahre zuvor sekundiert hatte, zum Eintritt in die Redaktion der von ihm in Berlin neubegründeten „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ eingeladen. Die Rückkehr nach Deutschland war mir durch die inzwischen publizierte Amnestie ermöglicht. Bekämpfung des Bonapartismus nach außen und des falschen Bourgeoisliberalismus nach innen, im Sinne der Demokratie und des Republikanismus (zu dem Herr Braß, damals noch „Bürger der Republik Genf“, sich mit großer Emphase bekannte), bildeten das Programm, auf Grund dessen ich im August 1862 den angebotenen Posten übernahm. Anfangs ging alles gut. Doch es dauerte nicht lange, so kam – Ende September 1862 – Herr von Bismarck ans Ruder, und ich merkte bald, daß sich eine Änderung in der Haltung des Blattes vollzog. Ich schöpfte Verdacht und äußerte ihn; Braß leugnete hartnäckig, daß er Verpflichtungen gegen das neue Ministerium eingegangen sei und gab mir carte blanche in meinem Departement (der auswärtigen Politik). Doch die Verdachtsmomente häuften sich. Ich erlangte schließlich die Beweise, daß und wie Braß sich an Herrn von Bismarck als literarischer Hausknecht verdingt hatte. Es ist selbstverständlich, daß ich mein Verhältnis zur „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ nun lösen mußte, obgleich ich damit auf meine einzige Erwerbsquelle verzichtete. zichtete. Um jene Zeit und später wurden wiederholt Versuche gemacht, auch mich zu kaufen. Ich kann nicht positiv sagen, daß Herr von Bismarck mich kaufen wollte, aber ich kann sagen, daß Agenten des Herrn von Bismarck mich kaufen wollten, und zwar unter Bedingungen, die, außer vor mir selbst und meinen Parteigenossen, meine persönliche Würde gewahrt hätten. Herr von, jetzt Fürst Bismarck nimmt nicht bloß das Geld, sondern auch die Menschen, wo er sie findet. Welcher Partei jemand angehört, ist ihm gleichgültig. Apostaten zieht er sogar vor; denn ein Apostat ist der Ehre bar und darum ein willenloses Werkzeug in den Händen des Meisters. Der preußischen Regierung kam damals sehr viel darauf an, die widerspenstige Bourgeoisie zu Paaren zu treiben. Man wollte sie nach dem von dem englischen Torychef Disraeli vor dreißig Jahren gegebenen Rezept, zwischen Junkertum und Proletariat, wie zwischen zwei Mühlsteinen zermalmen, falls sie nicht vorzöge, sich zu fügen. Man stellte mir und meinen Freunden wiederholt die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ für Artikel extrem-sozialistischer, ja kommunistischer Richtung zur Verfügung. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich mich zu diesem schnöden Spiel nicht mißbrauchen ließ und die Bestechungsversuche der Agenten des Herrn von Bismarck mit gebührender Verachtung zurückwies. Hätte ich dies nicht getan, hätte ich die Niederträchtigkeit besessen, meine Prinzipien meinem persönlichen Interesse zu opfern, ich wäre jetzt in glänzender Stellung, anstatt hier auf der Bank der Angeklagten, wohin mich die gebracht haben, die mich vor Jahren vergebens zu kaufen suchten. Sobald der Berliner Polizei meine Weigerung bekannt wurde, die mich bis dahin unbehelligt gelassen hatte, begann eine Reihe von Schikanen. Jedoch man nahm vorläufig von entscheidenden Schritten gegen mich Abstand. Man mochte die Hoffnung, mich schließlich doch mürbe zu machen, nicht aufgegeben haben.

Im Jahre 1863 eröffnete Ferdinand Lassalle seine bahnbrechende Agitation. Aus Gründen, die im Laufe des Prozesses wohl zutage treten werden, hielt ich mich anfangs fern, bis die schmachvollen Angriffe der Bourgeoispresse auf die junge sozialistische Bewegung mir die Ehrenpflicht auferlegten, alle Bedenken fahren zu lassen. Ich wurde Mitglied des von Lassalle gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“. Getreu der vorhin gekennzeichneten Politik, suchte das herrschende Junkertum sich der Arbeiterbewegung zu bemächtigen. Nach dem jähen Tode Lassalles geriet der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein leider in die Hände von Männern, die diesen reaktionären Bestrebungen teils durch Unfähigkeit, teils mit Absicht Vorschub leisteten. Dies zwang mich, meine bis dahin reservierte Haltung aufzugeben und den, hauptsächlich durch den Exredakteur der „Kreuzzeitung“, Herrn Wagener von Dummerwitz, repräsentierten Regierungssozialismus offen zu bekämpfen und darzulegen, daß ein einseitiges Vorgehen gegen die Bourgeoisie bloß dem Junkertum zugute kommen würde, daß das in Aussicht gestellte allgemeine Stimmrecht ohne freies Vereins – und Versammlungsrecht und ohne Preßfreiheit nichts anderes sei, als ein Werkzeug der Reaktion, und daß „Staatshilfe“ von einer Junkerregierung bloß gewährt werden könne, um die Arbeiter zu bestechen und den Zwecken der Reaktion dienstbar zu machen. Ich wußte, was ich wagte. Die Polizeischikanen verdoppelten sich. Man verlangte von mir ein Führungsattest der Behörden meines letzten Aufenthaltsortes. Umsonst setzte ich auseinander, daß in England keine Behörde existiere, die sich mit der polizeilichen Überwachung von Nichtverbrechern beschäftige und ein solches Attest ausstellen könne. Umsonst brachte ich ein Zeugnis der Polizei meiner Geburtsstadt Gießen bei, welches besagte, daß nichts „Nachteiliges“ von mir bekannt sei – die Gießener Polizei scheint damals das „Schwarze Buch“ noch nicht studiert zu haben –; eines schönen Morgens, im Sommer 1865, wurde ich von einem Schutzmann auf die Polizei „sistiert“ und mir dort bedeutet, daß ich Berlin und den preußischen Staat binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe. Ich meldete Rekurs an das Ministerium des Innern an und erwirkte, daß bis zu erfolgendem Bescheid die Ausweisungsorder suspendiert blieb. Nach etwa einem Monat kam der Bescheid: die Ausweisungsorder wird bestätigt, weil meine weitere Anwesenheit in Preußen die Sicherheit des Staates gefährde. Von einer persönlichen Unterredung mit dem Minister des Innern, zu der mir offiziell geraten wurde, konnte bei meinen politischen Grundsätzen nicht die Rede sein. Ich hatte also Berlin zu verlassen, wo es mir nach langen Anstrengungen endlich gelungen war, mir ausreichende Erwerbsquellen zu öffnen. Ich siedelte nach Leipzig über. Im Sommer des folgenden Jahres brachte die preußische Politik den 1866er Bruderkrieg. Nach dem Friedensschluß zwischen Preußen und Österreich gewann ich die Leitung der hier erschienenen, bis dahin nationalliberalen „Mitteldeutschen Volkszeitung“. Noch nicht volle vier Wochen hatte ich das Blatt, da wurde es von der preußischen Militärverwaltung unterdrückt. Kurz darauf, Mitte September 1866, reiste ich zwecks Ordnung von Familienangelegenheiten nach Berlin. Die politischen Verhältnisse hatten seit meiner Ausweisung eine totale Umgestaltung erfahren. Eine Revolution von oben hatte den alten deutschen Bund zerstört, ein gemeinsames Staatsbürgerrecht war durch das in den Grundzügen bereits veröffentlichte Wahlgesetz für den Reichstag des neugeschlossenen Norddeutschen Bundes hergestellt, und obendrein war eine Amnestie für alle politischen Vergehen und Verbrechen erfolgt. Wie konnte ich unter solchen Umständen annehmen, daß das Ausweisungsdekret vom vorhergehenden Jahre noch zu Kraft besteht und ich noch immer ein „Ausländer“ in Preußen bin? Ich bewegte mich daher auch ganz öffentlich in Berlin und trug nach mehreren Tagen ungestörten Aufenthalts kein Bedenken, im Berliner Buchdruckerverein, der, wie alle Vereine in Preußen, polizeilich überwacht wird, einen Vortrag zu halten. Auf dem Heimwege von dem Vereinslokal, nachts 11 Uhr, wurde ich in der Friedrichstraße verhaftet und in die Stadtvogtei abgeführt. Nach dreiwöchiger Untersuchungshaft wurde ich vom Berliner Stadtgericht wegen Bannbruchs zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ich verschmähte es, gegen das Urteil zu appellieren, da ich günstigenfalls länger als drei Monate in Untersuchungshaft hätte bleiben müssen, also auch bei definitiver Freisprechung für den Appell gegen das ungerechte Urteil tatsächlich noch bestraft worden wäre. Ich erklärte den Herren vom Berliner Stadtgericht: Nicht an die „Richter von Berlin“ werde ich appellieren, sondern an eine höhere Instanz: an die öffentliche Meinung. Und ich habe dies nach meiner Freilassung getan, in der Presse und von der Tribüne des Norddeutschen Reichstags. Ich bin nun am Ende. Nur ungern, meine Herren Richter und Geschworenen, habe ich mich zu dieser längeren Ausführung verstanden, allein das unbegreiflicherweise hier zur Verlesung gebrachte Gießener Polizeifabrikat, das gebührend zu charakterisieren mir die dem Gerichtshof schuldige Achtung nicht erlaubt, hat mich moralisch dazu gezwungen – jeder im Saal Anwesende wird dies zugestehen müssen. Und nicht bloß meiner Ehre war ich diese Antwort auf schamlose Verleumdungen schuldig, nein, auch dem Interesse meiner Mitangeklagten – von meinem eigenen schweige ich –, die in gewisser Beziehung solidarisch mit mir sind und unter dem gegen mich hervorgebrachten ungünstigen Eindruck zu leiden hätten. Ich habe Ihnen mein Leben und Wirken bloßgelegt. Ich bin, was ich war. In vielen Punkten habe ich mich weiterentwickelt, im wesentlichen stehe ich auf demselben Standpunkte wie vor 22 Jahren. In den Mitteln, in der Beurteilung einzelner Menschen und Dinge habe ich manchmal geirrt, in meinem Zwecke, in meiner Gesamtauffassung habe ich mich nur befestigt. Ich bin nicht der verkommene Abenteurer, zu dem meine Verleumder mich machen wollen. Schon in frühester Jugend habe ich die Schiffe hinter mir verbrannt und seitdem ununterbrochen für meine Prinzipien gerungen. Meinen persönlichen Vorteil habe ich nie gesucht; wo es die Wahl galt zwischen meinen Interessen sen und Prinzipien, habe ich nie gezögert, meine Interessen zu opfern.

Wenn ich nach unerhörten Verfolgungen arm bin, so ist das keine Schande – nein, ich bin stolz darauf, denn es ist das beredteste Zeugnis für meine politische Ehre. Noch einmal: ich bin nicht ein Verschwörer von Profession, nicht ein fahrender Landsknecht der Konspiration. Nennen Sie mich meinethalben einen Soldaten der Revolution. Ein zwiefaches Ideal hat mir von Jugend an vorgeschwebt: das freie und ideale Deutschland und die Emanzipation des arbeitenden Volkes, d.h. die Abschaffung der Klassenherrschaft, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Menschheit. Für dieses Doppelziel habe ich nach besten Kräften gekämpft. Für dieses Doppelziel werde ich kämpfen, solange noch ein Hauch in mir ist, das will die Pflicht.

Im weiteren Verlauf der langen Verhandlung bestritten die Angeklagten, daß sie mit Gewalt bzw. durch revolutionären Umsturz den sozialdemokratischen Volksstaat haben herbeiführen wollen.

Vors.: Sie sind beschuldigt, durch Druckschriften auf das Militär ein – und auf dessen Abfall vom Fahneneide hingewirkt und den Versuch unternommen zu haben, die Landbevölkerung zum Anschluß an Ihre Parteibewegung heranzuziehen.

Liebknecht: Die Landbevölkerung haben wir allerdings dings für unsere Prinzipien gewinnen wollen. Wir haben deshalb unsere Agitation nicht auf die städtischen Arbeiter beschränkt. Die Agitation ist aber gesetzlich erlaubt, und wir haben uns daher nur gesetzlicher Mittel bedient. Unter dem Militär haben wir in keiner Weise agitiert, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eine Agitation sinnlos gewesen wäre. In der Voruntersuchung ist uns zwar ein in Braunschweig gefundener Militärkatechismus vorgehalten worden, den wir unter den Soldaten hätten verbreiten wollen. Allein es hat sich herausgestellt, daß das Schriftchen nur in einem Exemplar vorhanden war, von dessen Existenz wir obendrein keine Ahnung hatten. Eine Propaganda durch Schriften wie dieser „Militärkatechismus“ halte ich für einen Wahnsinn, denn bei der herrschenden Disziplin muß jeder solcher Versuch binnen 24 Stunden entdeckt werden und zur Verhaftung der Veranstalter führen. Nur Tollköpfe oder agents provocateurs können so etwas unternehmen.

Angekl. Bebel: Ich bin zwar bemüht gewesen, die Landbevölkerung in den Kreis der Parteitätigkeit hereinzuziehen, und habe zu diesem Zwecke in Versammlungen, wo Landarbeiter zugegen waren, deren Lage und Zukunft erörtert, auch im „Volksstaat“ Artikel darüber geschrieben, doch ist dies alles nicht strafrechtlich aufreizender Art gewesen. Über militärische Einrichtungen habe ich wohl in öffentlichen Versammlungen sammlungen tadelnd mich ausgesprochen und auf ihre Verderbtheit für unsere Kulturinteressen hingewiesen, das ist aber ein mir nach dem Vereinsgesetze zustehendes Recht; auch ist keiner der dabei anwesend gewesenen Polizeibeamten gegen mich eingeschritten. Ich teile vollkommen die von Liebknecht über die Beeinflussung des Militärs ausgesprochenen Ansichten.

Vors.: Eine vorhandene Broschüre beweist das Gegenteil.

Angekl. Liebknecht: Die betreffende Broschüre: „Der Militärkatechismus“, welchen diese Anklage trotz der in der Voruntersuchung ermittelten Wahrheit aus dem Aktenwust hervorgezogen hat, ist von Karl Heinzen, einem persönlichen Feinde von Marx, Engels und mir, verfaßt und stammt aus dem Jahre 1848.

Angekl. Bebel: Diese Broschüre ist in Braunschweig in einem einzigen Exemplar gefunden worden. Ich hatte von ihrer Existenz keine Ahnung.

Angekl. Hepner: Mir ist es unbegreiflich, warum die Anklage die Agitation unter der Landbevölkerung herausgreift. Wenn die Agitation unter den Industriearbeitern erlaubt ist, dann ist es auch die unter der Landbevölkerung.

Vors.: Sie werden außerdem beschuldigt, der „Internationale“ angehört und Ihre Partei dieser gefährlichen Gesellschaft zugeführt zu haben?

Angekl. Liebknecht: Wir, ich meine die Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, gehören der „Internationale“ an, aber nur – wie unser Eisenacher Programm besagt – „soweit die deutschen Vereinsgesetze es gestatten“. Die „Internationale“ ist nicht revolutionär im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d.h. sie arbeitet nicht gesetzwidrig auf gewaltsamen Umsturz hin. Namentlich Karl Marx ist von jeher ein Feind jeder kindischen Revolutionsmacherei gewesen und hat dagegen ausgeführt, daß „Revolution“ das fortwährend pulsierende Leben der Gesellschaft ist. Wir wollen revolutionär nur in dem Sinne sein, daß die soziale Frage nicht mit Palliativmitteln, nicht mit Suppenküchen und Konsumvereinen gelöst werden kann, sondern nur durch radikale Heilmittel. Ob diese Lösung friedlich oder gewaltsam, im Wege der Reform oder Revolution stattfinden wird, hängt nicht von uns, sondern von unseren Gegnern ab, den augenblicklich im Staat maßgebenden Faktoren. Gehen diese letzteren auf unsere berechtigten Forderungen ein, nun, dann gibt es keine Revolution, im anderen Falle lasse ich dahingestellt sein, was geschehen wird. Das Verweisungserkenntnis sagt freilich, die „Internationale“ verfolge „notorisch“ revolutionäre Ziele. Das Wort „notorisch“ wird aber gewöhnlich gebraucht, wo Beweise fehlen – so auch in diesem Punkte der Anklage. Ich verlange Beweise dafür, daß die „Internationale“ revolutionäre Ziele im Sinne der Staatsanwaltschaft und der Anklage verfolgt. Dieses „Notorisch“ genügt mir nicht.

Mit Marx habe ich freundschaftlich korrespondiert, er ist mein Freund seit Jahren – aber ich habe so wenig von ihm wie von sonst jemand Befehle entgegengenommen, und jedermann, der mich kennt, wird es unterlassen, mir zu insinuieren, daß ich mich überhaupt „leiten“ ließe. Ich erkläre entschieden, daß wir nicht in einer abhängigen Stellung zu dem Generalrat der „Internationale“ uns befinden und daß wir niemals eine Weisung von ihm erhalten haben. Mein Verkehr mit Karl Marx war rein privater Natur, obgleich wir selbstverständlich unsere Meinungen auch über öffentliche Angelegenheiten austauschten.

Vors.: Der letzte Anklagepunkt besagt, daß Sie durch Ihre Parteibestrebungen einen gewaltsamen Umsturz der Verfassung des Norddeutschen Bundes, jetzigen Deutschen Reiches und der sächsischen Staatsverfassung bezweckt haben.

Angekl. Liebknecht: Wir haben niemals einen derartigen Plan gehabt. Was wir bezweckten und bezwecken, ist: das Volk von der Richtigkeit unserer Prinzipien zu überzeugen, die Majorität für uns zu gewinnen. Unser Streben, diese Majorität zu gewinnen, ist ein vollkommen gesetzliches gewesen. Haben wir die Majorität, so wird die Staatsanwaltschaft ihre Anklage klage gegen die künftige Minorität, die heute als Majorität uns wegen Hochverrats anklagt, zu richten haben, falls jene Minorität dann der Verwirklichung unserer Ideen mit Gewalt entgegentreten sollte. Ich glaube übrigens: trotz seiner Militärmacht wird Wohl das Deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt nicht mehr bestehen, wenn unsere Prinzipien die Majorität erlangt haben oder, um mich anders auszudrücken, wenn sie regierungsfähig geworden sind. Es wäre also Torheit von mir, nach dem Umsturz dieses Reiches zu streben, das meiner Ansicht nach durch andere Faktoren in seiner heutigen Gestalt zerstört werden wird.

Angekl. Bebel: Wir haben, speziell ich, immer betont, daß es sich nur um Organisation, nie um gewaltsames Auftreten handelt. Es ist von mir in den Versammlungen stets darauf hingewiesen worden, daß nicht mit Gewalt, sondern mit geistigen Mitteln zu wirken sei, da, selbst wenn uns jetzt ein Gewaltakt gelänge, der die Partei momentan an das Ruder brächte, es im Volke an Intelligenz zur Verwirklichung unserer sozialistischen Ideen noch fehle. Ich habe für die Organisation der Massen nur um deswillen gewirkt, weil der kleine Handwerker und Arbeiter nicht die Geldmittel besitzt, sich die Bildung, welche er braucht, zu verschaffen, da er sich weder Zeitungen halten noch Bücher kaufen kann. Was der Kraft des einzelnen nicht möglich, kann aber durch die Organisation sation erreicht werden. Darum habe ich die Organisation der Massen betrieben.

Angekl. Hepner: Wir wünschen die Verfassung allerdings geändert, und wenn Sie wollen: auch beseitigt – aber nur auf friedlichem Wege. Der Wunsch der Beseitigung einer Verfassung kann aber keine Vorbereitung zum Hochverrat sein. Verfassungen sind, wie Sie aus der Geschichte der Gesetzgebung ja sehr genau wissen, schon sehr oft geändert, ja beseitigt worden, ohne daß die Existenz der betreffenden Staaten dadurch gefährdet worden wäre.

Im weiteren Verlauf wurde den Angeklagten zum Vorwurf gemacht, daß auf dem Eisenacher Kongreß (August 1869) von dem österreichischen Delegierten. Mühlwasser der Antrag gestellt wurde: die neu zu gründende Partei: „sozialrepublikanische Partei“ zu nennen.

Liebknecht: Bei Gelegenheit des Wiener Hochverratsprozesses – der ersten Auflage des jetzt hier sich abspielenden Prozesses – figurierten schon, die Eisenacher Tiraden dieses Herrn Mühlwasser als Belastungsmaterial, und es stellte sich während der Verhandlungen heraus, daß Herr Mühlwasser nicht ein Sozialdemokrat ist, sondern ein elender Schurke – ein agent provocateur. Ich gebrauche da einen starken Ausdruck, aber ich habe dafür eine gute Autorität, die des österreichischen Exministerpräsidenten Herrn Giskra. Ich will die betreffende Stelle aus dem stenographischen Prozeßbericht verlesen: „Der Entlastungszeuge Redakteur Scharf macht die Aussage, daß der Exminister Giskra, bei dem er sich seinerzeit für die gefangenen Arbeiter verwendete, zu ihm gesagt habe: ?Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, aus der Registratur sofort die Akten hereinbringen lassen, aus welchen Sie entnehmen können, daß sich Mühlwasser der Brünner Polizei als Spion anbieten ließ. Er ist aber ein solcher Lump, daß nicht einmal die Polizei von ihm etwas wissen will. Trotzdem aber ist Mühlwasser regelmäßig von Brünn nach Wien gefahren, um der Polizei Bericht zu erstatten.? Sie sehen, meine Herren Richter und Geschworenen, dieser Mühlwasser, den man als Zeugen gegen uns aufmarschieren läßt, war nicht, unser Parteigenosse, sondern, um mich der Worte des österreichischen Exministerchefs Giskra zu bedienen, ein solcher Lump, daß nicht einmal die Polizei etwas von ihm wissen wollte“. Also, selbst die Polizei hielt ihn für zu schlecht!

Freilich eine seltene Moralität in jenem Quartier.

Vors.: Ich kann Sie so nicht weitersprechen lassen, ich hätte Sie schon früher unterbrochen, wenn Sie mich nicht überrumpelt hätten. Ich erkläre Ihnen hiermit: falls Sie sich wiederum Invektiven gegen befreundete Regierungen oder angesehene Staatsmänner zuschulden kommen lassen, werde ich Ihnen das Wort entziehen

Liebknecht: Ich habe weder eine Regierung noch einen Staatsmann angegriffen; ich habe nur die Worte eines österreichischen Ministers zitiert, und wenn diese, was ich gern zugebe, für die Polizei wenig schmeichelhaft sind, so bin ich nicht dafür verantwortlich. Jedenfalls protestiere ich entschieden gegen jede Beschränkung meiner Redefreiheit. Sogar die alten Römer haben dieses Recht den Angeklagten schon zuerkannt.

Vors.: Die Redefreiheit beschränke ich Ihnen auch nicht. Aber bedenken Sie, wo Sie stehen, ich kann nicht erlauben, daß Sie Ihren bisherigen Verbrechen noch neue hinzufügen. Sie wissen nun, was Sie von mir zu halten haben.

Liebknecht: Ja – die Redefreiheit mit dem Strick um den Hals! Ich muß mich für den Moment der Gewalt fügen, aber ich protestiere gegen diese unerhörte Beschränkung des Rechts der Verteidigung und protestiere des weiteren dagegen, daß man von Verbrechen redet, wo bloß eine Anklage vorliegt; ich stehe hier nicht als Verbrecher, sondern als Angeklagter. Genug – ich fahre fort: Nach dem Zeugnis des Herrn Giskra kann es absolut keinem Zweifel unterliegen, daß Mühlwasser ein Spion, ein agent provocateur ist. Wenn auch die Brünner Polizei zu sittlich war, ihn zu engagieren, so ist es doch anderseits gewiß, daß derlei Subjekte Verwendung finden, und daß es Regierungen gibt, die, um die demokratische, die sozialdemokratische Bewegung zu schädigen, Agenten besolden, welche sich in sie einzudrängen und Ausschreitungen, törichte Ausbrüche zu provozieren haben, damit Anlaß zu reaktionären Repressivmaßregeln geboten wird. Der ehrliche, seines Zieles sich bewußte Revolutionär wird stets mäßig sein im Ausdruck und in seinen nächsten Forderungen; Maßlosigkeit des Ausdrucks und der Forderungen ist das Resultat der Unreife oder der Unehrlichkeit. Ich verweise auf den Kontrast zwischen der Sprache und Haltung des ehrlichen Scheu und des unehrlichen Mühlwasser, der seiner Extravaganzen wegen von ersterem formell desavouiert wurde.

Nachdem eine große Zahl Zeitungsartikel, Broschüren, Reden, Briefe, Aufrufe usw. verlesen und eine große Anzahl Zeugen vernommen waren, erschien am zwölften Verhandlungstage das Mitglied des Braunschweiger Ausschusses, der spätere Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bracke als Zeuge. An diesen wurde eine ganze Flut von Fragen gestellt. Von Erheblichkeit war folgender Vorgang: Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig): Herr Zeuge, in einem Ihrer Briefe ist von „Vorbereitung auf die Gewalt“ die Rede. Wenn ich deshalb Ihnen jetzt einige weitere Fragen vorlege, so fordere ich Sie auf, mir eine rein wahrheitsgemäße Antwort zu geben. Gleichzeitig bemerke ich Ihnen, daß, im Falle Sie irgendeinen Nachteil für Ihre Person vermuten sollten, Sie selbstverständlich keine Antwort zu erteilen brauchen. Haben Sie innerhalb des Ausschusses oder im Verein mit Bebel und Liebknecht irgendeinen Plan verabredet zu gewaltsamem Sturz des Staates?

Zeuge: Niemals; wenn ich so etwas von anderer Seite vernommen hätte, würde ich sofort den Betreffenden als einen agent provocateur behandelt haben.

Vert.: Hatten Sie bei sich selbst jemals einen solchen Plan gefaßt?

Zeuge: Nein.

Vert.: Hatten Sie, als Sie die Agitatoren, Flugschriften usw. hinaussandten, die Absicht, später einmal eine gewaltsame Erhebung zu versuchen?

Zeuge: Nein. Ein solcher Plan lag uns fern und wäre nach Lage der Dinge eine Tollheit gewesen.

Vert.: Was hatten Sie für einen Zweck mit Ihrer Partei?

Zeuge: Die Absicht, die Arbeiter über ihre Lage aufzuklären, sie zu vereinigen und zu organisieren, weil sie nur in der Vereinigung ihrer Kräfte Einfluß ausüben und Verbesserung ihrer Lage erlangen können. Wir haben die Überzeugung, daß aufgeklärte Arbeiter leichter etwas erreichen werden als ungebildete. Eine gewaltsame Erhebung lag uns fern, obgleich wir uns sagen mußten, daß hartnäckiges Verweigern der berechtigten Forderungen der Arbeiter möglicherweise eine gewaltsame Erhebung provozieren könne. Die Gehässigkeiten und Verleumdungen, mit denen unsere Bestrebungen überschüttet werden, zeigen, daß es unseren Gegnern nicht um friedliche Entwicklung zu tun ist. Ich sage nur, daß bei allem guten Willen unsererseits, die soziale Frage einer friedlichen Lösung entgegenzuführen, wir uns auch an den Gedanken gewöhnen müssen, daß gewaltsame Zuckungen eintreten können. Die Geschichte zeigt, daß starres Festhalten am Bestehenden solche Zuckungen häufig hervorruft. Ich glaube, daß in der ganzen Partei gleiche Ansichten über unsere Stellung herrschen.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß einer der Angeklagten eine hiervon abweichende Meinung gehabt hat?

Zeuge: Wir haben nie unsere Ansichten über diesen Punkt ausgetauscht; ich glaube aber mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß die Angeklagten die gleiche Anschauung haben.

Dieselbe Antwort gab auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Freytag I (Leipzig) als Zeuge Oberlehrer Spier, ehemaliges Mitglied des Braunschweiger Ausschusses.

Zeuge Ingenieur Leonhard v. Bornhorst (Ausschußmitglied) bekundete auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Freytag I (Leipzig): Die „Soldatenbriefe“ tenbriefe“ und den „Militärkatechismus“ von Heinzen habe er auf eigene Faust bestellt. Bracke und Spier erhielten erst davon Kenntnis, als der Brief an Heinzen bereits abgesandt war. Beide mißbilligten die Bestellung und verboten die Verbreitung der Schriften. Bebel und Liebknecht haben von alledem nichts gewußt, sie haben wohl auch kaum die Schriften gekannt.

Vert.: Die Partei soll die Absicht haben, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen, um die sozialen und politischen Verhältnisse womöglich mit einem Schlage zu ändern; ist Ihnen davon etwas bekannt?

Zeuge: Eine solche Absicht bestand entschieden nicht, weder bei uns, dem Ausschuß, noch bei den Angeklagten, die nie mit einem Worte eine solche Absicht ausgesprochen haben. Die Partei bekämpft das Autoritätsprinzip und kämpft für die Grundsätze der Gleichberechtigung aller Menschen, indem sie deren Durchführung auf sozialem Gebiete, die Assoziation der Arbeiter zu gemeinschaftlicher Produktion und Konsumtion, auf politischem die direkte Gesetzgebung durch das Volk erstrebt. Ich glaube, mit Stolz sagen zu dürfen, daß die deutschen Arbeiter schon manches erreicht haben. Ohne unser Vorgehen würden wir z.B. noch nicht im Besitz des allgemeinen, direkten Wahlrechtes sein, so verstümmelt es auch vorliegt in dem Reichstagswahlgesetz. Unsere Aufgabe ist, durch ruhige, aber energische Agitation die Aufklärung über soziale und politische Verhältnisse im Volke zu verbreiten und so nach und nach die Verhältnisse in unserem Sinne umzugestalten. Ob das Endziel der Partei, der sozialistische Volksstaat, schließlich ohne Gewalt erreicht werden kann, das läßt sich nicht vorher bestimmen und hängt ganz und gar von den Gegnern der Bewegung ab. Die Bewegung wird sich mit eiserner Notwendigkeit entwickeln, keine Macht der Erde wird imstande sein, sie zu unterdrücken, weil sie in den Verhältnissen wurzelt. Hat die Bewegung Gelegenheit, sich in den Bahnen der Reform zu entwickeln, dann wird sie friedlich die Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse vollziehen; wirft man ihr Gewalt entgegen, dann wird es wohl zur Empörung kommen. Ich hoffe auf die friedliche Entwicklung und glaube, daß die Angeklagten dieselben Ansichten hierüber haben. Unsere Aufgabe ist, das Volk aufzuklären und zu bilden; je gebildeter das Volk ist, um so leichter und friedlicher wird es sein Ziel erreichen.

Am dreizehnten Verhandlungstage begannen nach Stellung der Schuldfragen die Plädoyers. Staatsanwalt Hoffmann suchte in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß die Angeklagten sich der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig gemacht haben. Er hielt alle drei Angeklagten für schuldig, stellte aber den Geschworenen schworenen die Verurteilung Hepners anheim. „In betreff der Schuld der beiden anderen Angeklagten,“ so etwa schloß der Staatsanwalt, „kann aber kein Zweifel obwalten. Die Angeklagten Liebknecht und Bebel sind die Seele der Bewegung in Deutschland, die Häupter der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Sie haben den Wind mit gesät, um Sturm zu ernten, den Sturm, der jetzt alle zivilisierten Länder durchbraust. Meine Herren Geschworenen! verurteilen Sie die Angeklagten Liebknecht und Bebel oder Sie sanktionieren die Revolution für jetzt und immer.“

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig) führte in längerer Rede aus, daß in der vierzehntägigen Verhandlung ein Beweis, die Angeklagten haben einen gewaltsamen Angriff auf die Staatsverfassung unternehmen wollen, in keiner Weise geführt worden sei. Dies sei auch positiv durch die eidlichen Aussagen der Braunschweiger Zeugen, die doch Ehrenmänner seien, in überzeugendster Weise bewiesen worden. Der Verteidiger schloß: Ich erinnere noch an den Brief, den Herr Liebknecht zur Zeit des Krieges an Herrn Bracke geschrieben hat: „Wenn die Kaiserposse losgeht, dann wandere ich auf einige Jahre ins Exil.“ Jemand, der das schreibt, hat jedenfalls nicht den Entschluß gefaßt, in seinem Vaterlande die Staatsverfassung gewaltsam umzustürzen. Meine Herren Geschworenen! Sie sanktionieren nicht die Revolution, lution, wenn Sie die Angeklagten freisprechen, aber Sie sprechen damit aus: In unserem Staate kann man Gedanken frei aussprechen, in unserem Vaterlande kann man die Gesinnungen, die man hat, frei bekennen. In unserem Vaterlande ist es jeder Partei gestattet, ihre Tendenzen ins Volk zu tragen. In unserem Vaterlande werden Irrtümer nicht gewaltsam bekämpft. Das, meine Herren Geschworenen, sprechen Sie aus, wenn Sie die Schuldfragen verneinen.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II (Plauen) schloß seine mehrstündige Rede: Ich wünsche, daß Sie bei der Beantwortung der Schuldfragen lediglich im Sinne des Rechtes entscheiden mögen. Ich wünsche, daß nicht die herrschende politische und soziale Meinung in diesem Prozesse kämpfen möge gegen eine andere Meinung, daß nicht die Verschiedenheit der politischen Ansichten Einfluß habe auf die Rechtsprechung. Ich wünsche, daß das Wort- und das ist vielfach gesagt worden – nicht zum Austrag kommen möge: „Dieser Prozeß mag Resultate ergeben, welche er wolle, die Angeklagten werden bestimmt verurteilt, weil sie Bebel und Liebknecht sind.“ Ich will Sie erinnern, meine Herren Geschworenen, an den Ausspruch eines großen englischen Staatsmannes, den er tat über die Verurteilung William Russells, der auch wegen Hochverrats angeklagt war. Sämtliche Richter waren der entgegengesetzten politischen Richtung, es erfolgte die Verurteilung des Angeklagten zum Tode. Der große englische Geschichtsschreiber Macaulay sagt darüber: „Ich beklage mein armes Vaterland, in welchem es vorkommen kann, daß Richter, die aus einer anderen politischen Partei zu Geschworenen berufen waren, einen Mann verurteilen wegen Handlungen, die er nicht begangen hat.“ Üben Sie Toleranz, meine Herren Geschworenen. Mir liegen die Ziele und Bestrebungen der Angeklagten nicht nahe. Ich spreche nicht im Interesse der Angeklagten, sondern im Namen der Wahrheit, die ich vertrete. Ich spreche zu Ihnen im Namen der Gerechtigkeit, die ich bitte, nicht zu verletzen. Ich spreche zu Ihnen ganz besonders im Namen meines engeren Vaterlandes, dem ich warm und treu zugetan bin. Lassen Sie auf den Namen unseres engeren Vaterlandes, auf dessen kulturhistorische Entwicklung nicht einen Flecken kommen. Und ein Flecken wäre es nach meiner reiflich gewonnenen Überzeugung, wenn Sie die Schuldfragen bejahen würden. Meine Herren, ich habe Gelegenheit gehabt, in die innersten Falten der Herzen der Angeklagten einzudringen. Und wenn ich es auch nicht beweisen kann, aber ich spreche Ihnen die heiligste Versicherung aus – und ich würde mich schämen, hier eine Unwahrheit zu sagen –, es hat den Angeklagten nie im Sinne gelegen, einen gewaltsamen Angriff gegen den Staat vorzubereiten oder auszuführen. Und wenn Sie mit einem „Wahrspruch“ sagen wollten, die Angeklagten hätten es beabsichtigt, so wäre es trotzdem nicht wahr. Sprechen Sie nun, meine Herren Geschworenen, das Urteil, wie Sie wollen; es soll wenigstens nicht an einem gefehlt haben, der in diesem Momente warnend und mahnend seine Stimme erhoben und der die Richter nicht noch aus tiefstem Herzen und aus innerster Überzeugung gebeten hätte, von einer Bejahung dieser Frage abzustehen. Der Herr Staatsanwalt schloß gestern mit einem Schlagwort – möglich, daß er es aus den sozialdemokratischen Flugblättern gelernt hat: „Bejahen Sie die Fragen nicht, so sanktionieren Sie die Revolution!“ Ich sage Ihnen, meine Herren: bejahen Sie die Fragen, so schaffen und sanktionieren Sie in Sachsen einen rechtlosen Zustand.

Vors.: Ich kann von meinem Platze aus eine Äußerung des Herrn Verteidigers nicht unberührt lassen. Er sagte mit dürren Worten: ein Flecken wäre es an der sächsischen Ehre oder an der sächsischen Gerechtigkeit, wenn die Herren Geschworenen das Schuldig aussprechen sollten. Da geht der Herr Verteidiger unter allen Umständen zuweit. Ich halte es für meine Schuldigkeit, das hier zu erklären.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Ich habe zu erwidern, daß ich gesagt habe: nach meiner subjektiven Überzeugung.

Vors.: Auch das dürfen Sie nicht aussprechen.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Diese Überzeugung habe ich, und ich scheue mich nicht, sie auszusprechen.

Vors.: Das dürfen Sie nicht, das ist unangemessen.

Vert.: Herr Vorsitzender, habe ich auch eine andere subjektive Überzeugung als Sie, so darf ich sie doch jederzeit aussprechen.

Vors.: Das ist eine unangemessene Rede; das erkläre ich Ihnen offen.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Ich protestiere gegen das Verfahren des Herrn Vorsitzenden! Der Vorsitzende hat die Verteidigung nicht zu beschränken!

Vors.: Ich habe es zu rügen, wenn unangemessene Redensarten von seiten der Verteidigung fallen.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Dann ist es auch eine unangemessene Redensart gewesen, als der Herr Staatsanwalt sagte: Bejahen Sie die Schuldfragen oder Sie sanktionieren die Revolution.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Sehr richtig.

Vors.: Ich habe den Herrn Staatsanwalt nicht zu korrigieren.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Auch die Verteidigung nicht! Dasselbe Recht, was der Staatsanwalt hat, haben wir auch.

Vors.: Das Recht habe ich gesetzlich.

Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Dann haben Sie auch das Recht, den Herrn Staatsanwalt zu korrigieren. Wir stehen ganz auf demselben Standpunkt wie der Herr Staatsanwalt.

Nach noch längerer Erwiderung des Staatsanwalts und des Verteidigers, Rechtsanwalts Freytag I, nahm das Wort Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Ich habe den Herrn Staatsanwalt aufgefordert, mir „das bestimmte Unternehmen“ zu bezeichnen, welches die Angeklagten vorbereitet haben sollen. Der Herr Staatsanwalt hat mir hierauf keine Antwort gegeben. Ich glaube es ihm – er weiß es nicht. Ich hätte ihm übrigens auch auf seine Antwort nichts erwidert, denn ich habe nicht Lust, mich in diesem Saale bei der eigentümlichen Disziplin überhaupt noch weiter zu verbreiten.

Vors.: Da diese letzte Bemerkung gemacht wurde, so will ich doch auch nicht schweigen. Wenn dem Herrn Verteidiger die Disziplin eigentümlich vorkommt, so habe ich das ihm anheimzustellen. Ich glaube nach meiner Pflicht gehandelt zu haben und habe das Gesetz für mich, daß ich unzulässige Redensarten auf seiten der Herren Verteidiger nicht zulasse. Ich erkläre, daß das Gericht durch jene Auslassung, die so stark war, wie sie mir in meiner 16jährigen Praxis als Vorsitzender wirklich noch nicht vorgekommen ist, sich gar nicht beleidigt fühlt. Aber ich glaube, daß ich den Herren Geschworenen es schuldig bin, daß sie nicht eventuell geradezu wegen ihres künftigen Wahrspruchs beschimpft werden. Und ich erkläre, es ist eine Beschimpfung, wenn der Herr Verteidiger sagt, es würde einen „Flecken“ auf die sächsiche Gerechtigkeit, die sie – die Herren Geschworenen – hier üben, werfen, wenn sie über die Angeklagten das Schuldig aussprechen würden. Es war meine Pflicht, daß ich das rügte. Jetzt werden wir eine Mittagspause machen.

Angeklagter Liebknecht: Ich bitte ums Wort.

Vors.: Zur Verteidigung?

Liebknecht: Im Hinblick auf die Behandlung, welche einem unserer Verteidiger vorhin zuteil geworden ist, erkläre ich hiermit, daß ich, weil Redefreiheit für die Verteidigung nicht existiert, auf eine Verteidigungsrede verzichte.

Vors.: So!?

Liebknecht: Den Herren Geschworenen stelle ich anheim, über die Tatfrage zu richten. Die Anklage hat meiner Ansicht nach sich selbst besser gerichtet, als sie durch einen von uns gerichtet werden könnte.

Bebel: Ich schließe mich dem an.

Hepner: Ich gleichfalls.

Damit waren die Plädoyers beendet.

Die Geschworenen bejahten sämtliche Schuldfragen bezüglich Liebknecht und Bebel wegen vorbereitender tender Handlungen zum Hochverrat, mit Ausnahme des Punktes in betreff des Militärs. Sie verneinten dagegen sämtliche. Schuldfragen bezüglich Hepners. Der Gerichtshof verurteilte Liebknecht und Bebel, dem Antrage des Staatsanwalts entsprechend, zu je zwei Jahren Festungshaft, unter Anrechnung von je zwei Monaten auf die Untersuchungshaft, und sprach Hepner frei.

Die von den Angeklagten eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Oberlandesgericht zu Dresden als unbegründet zurückgewiesen.

153 Bearbeiten

Das Dynamit-Attentat bei der Enthüllungsfeier des Niederwald-Denkmals

am 28. September 1883 vor dem Reichsgericht

Am westlichen Ende des Taunus im Regierungsbezirk Wiesbaden zwischen der Wisper und dem Rhein erhebt sich ein mit prächtigen Buchen und Eichen gekrönter Bergrücken, genannt der Niederwald. An seinem Abhang liegen längs des Rheins die Weinberge von Rüdesheim und Aßmannshausen. Aus Anlaß des Deutsch-Französischen Krieges (1870 bis 71) wurde hier vom Dresdener Bildhauer Schilling ein ungemein imposantes Nationaldenkmal von gewaltigem Umfange errichtet. Auf einem durch Reliefs und allegorische Figuren geschmückten, 25 Meter hohen Sockel erhebt sich die hohe Gestalt der Germania. Von Rüdesheim und Aßmannshausen führt zu dem Denkmal eine Zahnradbahn. Am 28. September 1883 wurde das Denkmal in Gegenwart des Kaisers Wilhelm I., des Kronprinzen, späteren Kaisers Friedrich, des Prinzen Wilhelm, jetzigen Deutschen Kaisers, sämtlicher deutschen Bundesfürsten und vieler anderer Fürstlichkeiten, sowie fast aller königlichen Prinzen, des damaligen maligen Reichskanzlers Fürsten Bismarck, des Generalfeldmarschalls Grafen v. Moltke und fast aller preußischen Minister, Bundesratsmitglieder, sowie aller Botschafter und Gesandten fremder Staaten am Berliner Hofe und vieler Generäle in feierlichster Weise enthüllt. Die Festversammlung ahnte nicht, daß zwei Leute alle Vorbereitungen unternommen hatten, um, sobald die Hülle des Denkmals fiel, sämtliche Festteilnehmer mittels Dynamit in die Luft zu sprengen. Nur der furchtbare Regen, der tags vorher und die ganze Nacht hindurch sich über das Erdreich ergoß, hatte den teuflischen Plan vereitelt.

Der Umstand, daß am Sonnabend, den 12. Mai 1878, der 21jährige Klempnergeselle Hödel in Berlin Unter den Linden auf Kaiser Wilhelm 1. schoß, als der Monarch nachmittags gegen 3 1/4 Uhr mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise von Baden, im offenen Wagen aus dem Tiergarten kam, veranlaßte den Reichskanzler, Fürsten v. Bismarck, dem Reichstage ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie vorzulegen. Das Gesetz wurde jedoch vom Reichstage abgelehnt. Sehr bald darauf, Sonntag den 2. Juni 1878, als der damals 81jährige Kaiser nachmittags gegen 2 Uhr im offenen Wagen von seinem Palais nach dem Tiergarten fuhr, schoß der dreißigjährige Dr. phil. Karl Nobiling aus seiner Unter den Linden 18 im zweiten Stock belegenen Chambregarnistenwohnung wohnung mit einem mit Schrot gefüllten Jagdgewehr auf den Kaiser. Der greise Monarch, der sofort nach seinem Palais zurückfahren mußte, wurde in gräßlichster Weise verwundet, so daß er sehr lange Zeit schwer krank daniederlag. Der Kaiser war genötigt, seinem Sohn, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, späteren Kaiser Friedrich, die Regentschaft zu übertragen. Auf den Rat des Reichskanzlers Fürsten v. Bismarck wurde der damals vertagte Reichstag aufgelöst und unter dem Hochdruck der Attentate die Neuwahlen vorgenommen. Diese ergaben eine wesentlich andere Zusammensetzung des Reichstages. Letzterer genehmigte das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen, auf den Umsturz der Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen der Sozialdemokratie.“ Am 21. Oktober 1878 mittags wurde das Gesetz im Reichstage in dritter Lesung angenommen, und bereits an demselben Tage abends gegen 6 Uhr wurde das Gesetz im „Deutschen Reichsanzeiger“ veröffentlicht. Mit dieser Veröffentlichung hatte das Gesetz Gesetzeskraft erlangt. Am folgenden Tage wurde über Berlin, Potsdam und zweimeiligen Umkreis der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt und noch an demselben Tage 45 Personen ausgewiesen. Wenige Tage darauf wurde das Erscheinen aller sozialdemokratischen Zeitungen im ganzen Reiche verboten, alle sozialdemokratischen Vereine und Gewerkschaften schaften aufgelöst, alle sozialdemokratischen Druckereien, Bücher, Broschüren und Lieder beschlagnahmt, alle Versammlungen, von denen vermutet wurde, sie könnten einen sozialdemokratischen Charakter annehmen, von vornherein verboten oder während der Versammlung polizeilich aufgelöst. Die Ausweisungen, nicht nur in Berlin, sondern in allen Orten, über die der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt war, häuften sich. Es herrschte eine Zeitlang gewissermaßen politische Grabesstille. Zu dieser Zeit begann der Anarchismus, der bis dahin in Deutschland fast unbekannt war, mächtig ins Kraut zu schießen. Der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Johann Most, der mehrere Jahre Chefredakteur der sozialdemokratischen „Berliner freien Presse“ war, hatte wenige Tage vor dem Nobilingattentat in seinem Wahlkreise Chemnitz eine Rede gehalten. Er wurde deshalb, noch während er sprach, auf dem Podium verhaftet und von der Chemnitzer Strafkammer wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Nachdem Most diese Strafe verbüßt hatte, kam er nach Berlin. Hier erhielt er an demselben Tage, an dem er eingetroffen war, den polizeilichen Befehl, binnen drei Stunden das Gebiet des „Kleinen Belagerungszustandes“ zu verlassen, wenn er nicht verhaftet und wegen Bannbruchs bestraft werden wolle. Most begab sich nach London, schloß sich dort sogleich den Anarchisten an und gründete das bekannte Anarchistenorgan: die noch jetzt in Neuyork erscheinende „Freiheit“. Im August 1880 fand auf dem halbverfallenen Schloß Wyden in der Schweiz der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie statt. Auf diesem wurde beschlossen: die damaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Johann Most und Wilhelm Hasselmann wegen anarchistischer Umtriebe aus der Partei auszuschließen. Allein es hatte damals bereits eine sehr lebhafte anarchistische Agitation in Deutschland eingesetzt. Zahlreiche anarchistische Agitatoren, wie Dr. Dave, Rimke, Grün u.a. durchzogen das Land, ganz besonders, um anarchistische Zeitungen, wie die Mostsche „Freiheit“, aber auch die anarchistischen Zeitungen „Autonomie“, den „Rebell“ und andere Druckschriften, die selbstverständlich sämtlich verboten waren, in Deutschland zu verbreiten. In Frankfurt a.M. wurde eines Tages der Versuch unternommen: das Polizeipräsidialgebäude in die Luft zu sprengen. In Stuttgart und Wien fanden Dynamitattentate statt. Eine Anzahl führender Anarchisten wurde verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Im Oktober 1881 fand vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts zu Leipzig unter dem Vorsitz des Reichsgerichts-Senatspräsidenten Drenkmann der sehr umfangreiche Prozeß wegen Hochverrats wider Bräuder und Genossen statt, der mehrere Wochen dauerte. Die große Mehrheit der Angeklagten wurde zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. In diesem Prozeß stellte es sich allerdings auch heraus, daß der Ende April 1885 augenscheinlich von einem Anarchisten erstochene Polizeirat Dr. Rumpf in Frankfurt a. Main einen Schneidergesellen namens Horsch als Agent provocateur benutzt hatte. Zu den gefährlichen Anarchisten gehörte damals der Schriftsetzer August Reinsdorf. Dieser, der aus Berlin und mehreren anderen Orten ausgewiesen war, soll einmal beabsichtigt haben, im Kursaal zu Wiesbaden ein Dynamitattentat zu unternehmen. Er soll geäußert haben: er wollte die bürgerliche Gesellschaft durch Zerschmetterung des selten schönen, mächtig großen Kronleuchters, der im Kursaale hängt, erschrecken. Er habe aber im letzten Augenblick von seinem Vorhaben Abstand genommen, da ihm die vielen Frauen und Kinder, die gerade im Kursaale weilten, leid taten. Von Wiesbaden ging Reinsdorf nach Elberfeld. Als dort in einem Restaurationslokale eine Ärzteversammlung stattfand, unternahm, angeblich auf Anstiften Reinsdorfs, ein Elberfelder Webergeselle, namens Bachmann, in diesem Lokal eine Dynamitexplosion ins Werk zu setzen. Das Attentat hatte aber nicht die erhoffte Wirkung, es wurde lediglich ein junger Kellner, allerdings in sehr erheblicher Weise, verletzt. Anfang September 1883 lag Reinsdorf in Elberfeld im Krankenhause. Als er erfuhr, daß am 28. September das Niederwalddenkmal in Gegenwart des Kaisers, des Kronprinzen, der vielen Fürstlichkeiten usw. enthüllt werden solle, schrieb er dem 20jährigen Sattlergesellen Rupsch, er solle ihn einmal besuchen. Diesem tuschelte er ins Ohr: Es empfehle sich, bei dieser Enthüllungsfeier auf dem Niederwald etwas zu unternehmen. Rupsch solle einige Genossen ersuchen, eine Geldsammlung zu veranstalten, damit er mit dem Schriftsetzer Küchler nach Rüdesheim fahren könne, um am Niederwalddenkmal eine Dynamitexplosion in Szene zu setzen. Rupsch und Küchler erklärten sich sofort einverstanden, das Attentat zu unternehmen. Einige Elberfelder Anarchisten sammelten eine kleine Summe. Inzwischen war Reinsdorf aus dem Krankenhause entlassen worden. Dieser gab Rupsch und Küchler eingehende Instruktionen. In Barmen wurde eine Zündschnur für 40 Pf., ferner Nitroglyzerin, eine große Glasflasche und eine Steinkruke gekauft. Da das gesammelte Geld nicht ausreichte, so versetzte Rupsch für 10 M. seinen Reisekoffer. Am Morgen des 27. September 1883 reisten Rupsch und Küchler nach Rüdesheim. Abends erklimmten Rupsch und Küchler die zu dem Denkmal führende Feststraße. In unmittelbarer Nähe des Denkmals legten sie in eine Dränage die mit Nitroglyzerin gefüllte Steinkruke und Glasflasche. An diese befestigten stigten sie die Zündschnur und bedeckten alles mit Laub und Erde. Am folgenden Tage begaben sich Rupsch und Küchler in aller Frühe wieder in die Nähe des Denkmals. Es war geplant, sobald der kaiserliche Wagen herannahe, die Zündschnur mit einer brennenden Zigarre in Brand zu setzen und somit das Dynamit zur Explosion zu bringen. Allein es hatte am Tage vorher und auch die ganze Nacht unaufhörlich heftig geregnet. Die Zündschnur war infolgedessen vollständig durchweicht. Die Attentäter waren, als sie die Zündschnur angezündet hatten, eiligst davongelaufen. Sie erwarteten einen furchtbaren Knall. Aber sie vernahmen nur Hurrarufe und Trompetengeschmetter. Aus Ärger über das Fehlschlagen ihres Planes unternahmen sie nachmittags den Versuch, die am rechten Rheinufer bei Rüdesheim belegene große Festhalle, woselbst Konzert stattfand, in die Luft zu sprengen. Die Explosion sollte abends erfolgen, sobald die Festhalle von Menschen angefüllt war. Allein es erlitten nur einzelne Teile der Festhalle eine Beschädigung, und zwei Leute fielen infolge des heftigen Knalls vor Schreck in Ohnmacht. Rupsch und Küchler reisten noch am Abend nach Elberfeld zurück. Von dem beabsichtigten Attentate hatte niemand eine Ahnung. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1883 fand eine von Elberfelder und Barmer Arbeitern veranstaltete Festlichkeit statt, die einen großen Überschuß ergab. Als am 27. Dezember 1883 die Festkommission Rechnung legte, bat der anwesende Rupsch, ihm und Küchler von dem Überschuß die Auslagen für die im September unternommene Reise nach Rüdesheim zu erstatten, da die damalige Geldsammlung bei weitem nicht gelangt habe und er genötigt gewesen sei, seinen Reisekoffer zu versetzen, den er bis dahin noch nicht einlösen konnte. Ob dem Rupsch die zehn Mark gegeben wurden, ist mir nicht erinnerlich. Jedenfalls muß in dieser Sitzung ein Verräter zugegen gewesen sein, denn wenige Tage darauf wurden Rupsch und Küchler und sehr bald darauf auch Reinsdorf, der sich zur Zeit in Hamburg befand, verhaftet. Kurze Zeit darauf wurden noch Webergeselle Bachmann, Färbergeselle Söhngen, Bandwirker Rheinbach und Knopfarbeiter Töllner wegen Beihilfe und unterlassener Anzeige von einem Verbrechen, von dem sie zu einer Zeit glaubhafte Kenntnis erhalten hatten, in welcher die Verhütung noch möglich war, verhaftet. Am 15. Dezember 1884 hatten sich die erwähnten sieben Personen vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts zu verantworten.

Den Gerichtshof bildeten: Senatspräsident Drenkmann (Vorsitzender) und die Reichsgerichtsräte Thewalt, Schwarz, Kirchhoff, Krüger, Stechow, Petsch, Dr. Spies, Kienitz, Dr. Freiesleben, Dr. Mittelstädt, Schaper, v. Pezold, Calame (Beisitzende). Die Oberreichsanwaltschaft reichsanwaltschaft vertraten Oberreichsanwalt Exzellenz Dr. Freiherr v. Seckendorff und der Erste Staatsanwalt bei der Reichsanwaltschaft Treplin. Die Verteidigung führten Justizrat Fenner für Reinsdorf, Justizrat Bußenius für Küchler, Rechtsanwalt Dr. Thomsen für Rupsch, Rechtsanwalt Dr. Seelig für die Angeklagten Bachmann, Holzhauer, Söhngen, Rheinbach und Töllner.

Da das Reichsgerichtsgebäude noch nicht fertig war und die Räume des provisorischen am Brühl und Goethestraßen-Ecke belegenen Reichsgerichtsgebäudes sehr unzulänglich waren, es auch zu argen Mißhelligkeiten geführt hätte, wenn man die Angeklagten während der sechstägigen Verhandlungsdauer vom Untersuchungsgefängnis des Leipziger Landgerichts nach dem Brühl und zurück hätte transportieren müssen, so fand die Verhandlung im Schwurgerichtssaale des in der Harkortstraße belegenen Leipziger Landgerichts statt. Der Andrang nach dem Zuhörerraume war geradezu beängstigend. Zahlreiche Polizeibeamte in Uniform und Zivil waren vor und im Gerichtsgebäude und auch im Verhandlungssaale postiert. Auch einige Beamte der politischen Abteilung der Berliner Kriminalpolizei bemerkte man. Die Anklagebank wurde zu beiden Seiten von je drei uniformierten Schutzleuten flankiert. Ein ganzes Heer von Polizeibeamten in Zivil und Uniform patrouillierte schon seit längerer Zeit Tag und Nacht in der Gegend des Gerichtsgebäudes, das mit dem Untersuchungsgefängnis in unmittelbarer Verbindung stand. Auch die Militärwache des Untersuchungsgefängnisses war verstärkt worden. Es waren überall Doppelposten mit geladenem Gewehr aufgestellt.

Die Angeklagten, die sämtlich, mit Ausnahme von Reinsdorf und Küchler, den Eindruck gewöhnlicher Arbeiter machten, sahen alle auffallend blaß aus. Reinsdorf war ein mittelgroßer, hagerer Mensch mit etwas eingefallenen Wangen. Sein etwas ins Rötliche schimmerndes Haupthaar, ebenso auch sein Schnurrbart waren sorgfältig geordnet. Küchler machte einen etwas behäbigen, geradezu gutmütigen Eindruck. Rupsch, ein vollständig bartloser junger Mann, machte einen offenbar kindlichen Eindruck; seine tiefe Baßstimme paßte gar nicht zu seinem Äußeren. Die übrigen Angeklagten sahen sämtlich sehr harmlos aus. Als Reinsdorf auf der Anklagebank Platz genommen hatte, sah er sich sehr unbefangen im Saale um; alsdann zog er ein paar in Papier eingewickelte Brötchen aus der Tasche und aß in aller Gemütsruhe.

Die Verhandlung begann mit dem vom Protokollführer, Obersekretär Kanzleirat Schleiger verlesenen

Anklagebeschluß:

Im Namen des Reiches werden angeklagt:

1. Reinsdorf zu Elberfeld im Jahre 1883 den Angeklagten klagten Bachmann zu den von letzterem nachbezeichneten strafbaren Handlungen durch Überredung und andere Mittel vorsätzlich bestimmt zu haben.

2. Bachmann zu Elberfeld am 4. September 1885 durch ein und dieselbe Handlung a) den Entschluß, eine größere Anzahl Menschen zu töten, durch vorsätzlich und mit Überlegung verübte Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens enthielten, betätigt zu haben; b) durch Gebrauch von explodierenden Stoffen ein dem Gastwirt Willemsen gehöriges Gebäude, welches zur Wohnung von Menschen dient, vorsätzlich zerstört zu haben. Verbrechen, strafbar nach § 48, 211, 43, 305, 306, 308, 311, 49, 75, 74 des Strafgesetzbuches.

3. Ferner Reinsdorf zu Elberfeld im Jahre 1883 die Angeklagten Rupsch und Küchler zu den von diesen begangenen nachbezeichneten strafbaren Handlungen durch Überredung und andere Mittel vorsätzlich bestimmt zu haben.

4. Rupsch und Küchler auf dem Niederwald bei Rüdesheim am 27. und 28. September 1883 gemeinschaftlich: a) Se. Majestät den Deutschen Kaiser und König von Preußen, ihren Landesherrn und Se. Majestät den König von Sachsen, den Landesherrn des Mitangeklagten Reinsdorf zu ermorden versucht und Handlungen verübt zu haben, durch welche das Vorhaben, Ihre Majestäten und andere Bundesfürsten zu töten, unmittelbar zur Ausführung gebracht werden sollte; b) den Entschluß, eine größere Anzahl Menschen zu töten durch vorsätzlich und mit Überlegung verübte Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens enthielten, betätigt zu haben. 2. Im Inlande, im Jahre 1883 Handlungen verübt zu haben, welche das gedachte hochverräterische Unternehmen vorbereiteten. 3. zu Rüdesheim am 28. September 1883 durch ein und dieselbe Handlung a) den Entschluß, eine größere Anzahl Menschen zu töten, durch vorsätzlich und mit Überlegung verüble Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens enthielten, betätigt zu haben; b) durch Gebrauch von explodierenden Stoffen eine Festhalle, ein Gebäude, welches zur Wohnung von Menschen oder zeitweise zum Aufenthalt von Menschen diente usw. und fremdes Eigentum war, zu einer Zeit, während Menschen in ihm sich aufzuhalten pflegten, vorsätzlich und rechtswidrig teilweise zerstört zu haben.

5. Holzhauer, Söhngen. Rheinbach, Töllner zu Elberfeld und Barmen Handlungen verübt zu haben, welche ein hochverräterisches Unternehmen vorbereiteten, dem Angeklagten Rupsch und Küchler zu den von diesen begangenen strafbaren Handlungen durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben. Verbrechen und Vergehen strafbar nach § 47, 48, 50, 81 alin. 1, 82, 211, 43, 305, 396, 308, 311, 49, 73, 74 des Strafgesetzbuches.

Der Hauptangeklagte Reinsdorf hieß mit Vornamen Friedrich August. Er war am 31. Januar 1849 zu Pegau, Kreishauptmannschaft Leipzig, geboren und bereits bestraft: 1. In München im Jahre 1881 wegen Verbreitung verbotener sozialistischer Druckschriften und Führung falschen Namens mit 4 Monaten Gefängnis und 14 Tagen Haft. 2. Am 4. November 1880 in Berlin wegen unbefugten Waffentragens mit 4 Wochen Gefängnis. 3. Am 15. März 1881 in Berlin wegen Führung falschen Namens und Benutzung falscher Legitimationspapiere mit 4 Wochen Haft. 4. Am 6. Juni 1882 in Berlin wegen intellektueller Urkundenfälschung mit 10 Tagen Gefängnis. Reinsdorf hatte es stets vermieden, selbsthandelnd nach außen aufzutreten, er hatte sich vielmehr stets dritter, mehr unbekannter Personen zur Ausführung seiner Pläne bedient und auch einem Genossen, dem nach Amerika geflüchteten Weber Weidenmüller in Elberfeld einmal erklärt: Es sei wünschenswert, daß ein anderer statt seiner festgenommen werde, wenn es zur Verhaftung käme. 1870 begab sich Reinsdorf ins Ausland, zunächst nach der Schweiz, von dort nach Paris und London. Alsdann kam er nach Leipzig, woselbst er in den Jahren 1877-78 mit Hödel verkehrte. 1880 kam Reinsdorf nach Berlin, woselbst er in den im Oktober 1881 vor dem Reichsgericht zu Leipzig stattgefundenen Hochverratsprozeß contra Bräuder und Genossen verwickelt wurde. Nachdem er in Berlin die erwähnten Gefängnisstrafen verbüßt hatte, begab er sich wiederum nach Leipzig, woselbst er jedoch sehr bald, auf Grund des über diese Stadt verhängten „Kleinen Belagerungszustandes“, ausgewiesen wurde. Hierauf ging er wieder nach der Schweiz und kam im Oktober 1881 nach München. Er halte nämlich von einem Züricher Sozialisten den Auftrag erhalten, 800 Exemplare der verbotenen Flugschrift: „Wahlenthaltung“ einem Münchener Sozialisten zu übergeben; er unterzog sich diesem Auftrage und wurde deshalb, wie erwähnt, in München bestraft. Im Frühjahr 1882 war Reinsdorf kurze Zeit in seinem Heimatsorte Pegau. Sehr bald wurde er jedoch wegen einer zu verbüßenden Gefängnisstrafe verhaftet. Nach seiner Haftentlassung in Berlin begab er sich nach Frankreich und hielt sich bis Ende 1882 in Nancy auf. Als Reinsdorf sich 1882 in Leipzig aufhielt, nannte er sich Steinberg. Bei seinem Aufenthalte in Berlin (1880) nannte er sich, auf Grund eines für 15 Fr. gekauften Heimatsscheines, „Gfeller“. In München trat er als Hacke und Beugel, in Frankfurt am Main als Ernst Eckstein auf. Als er im Januar 1883 in Naumburg a.d.S. verhaftet wurde, nahm man ihm zwei amerikanische Bürgerbriefe ab, den einen auf „John Shmitt“, den anderen auf „John Penzenbach“ lautend. Bei seinem Aufenthalt in Pforzheim nannte er sich Shmitt, in Elberfeld zumeist Penzenbach. Wie er angibt, wurde er mit sozialistischen Ideen anno 1870 in der Schweiz vertraut. Die Grundsätze der gemäßigten Partei genügten ihm sehr bald nicht. Er machte derart extreme Anschauungen geltend, daß er im Jahre 1878 in Leipzig aus den Versammlungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ausgeschlossen wurde. Der in Zürich erschienene „Sozialdemokrat“ nannte ihn im Jahre 1880, in Verbindung mit Eisenhauer, einem bekannten Mostschen Agenten, und mit Neve, dem Expedienten der „Freizeit“, und bemerkte: „Zu den guten Freunden des Herrn Most gehört ein gewisser Reinsdorf, alias Bernstein, recte Steinberg, ein Mensch, der sich schon früher in Deutschland durch verrückte und rabiate Redensarten hervorgetan hat.“ Reinsdorf selbst nannte sich einen Atheisten und Anarchisten. Er äußerte einmal: „Mit den Züricher Sozialdemokraten, der Partei des ?Sozialdemokrat?, ist es nichts; es muß schärfer vorgegangen werden; man muß im Auftreten energischer sein. Es genügt nicht, daß in der ?Freiheit? von Dynamit geschrieben werde, es muß auch angewendet werden. Wenn es mir möglich wäre, würde ich überall Dynamit hinbringen.“ Einmal machte er die Bemerkung: Wer ihn verrate, werde auf Befehl von London oder Amerika erschossen werden. Reinsdorf äußerte einmal zu Küchler: „Die Anarchisten und Sozialdemokraten verfolgen im allgemeinen dieselben Zwecke, nur die Taktik ist eine andere.“ Reinsdorf war mit den Anarchisten Baum und Waterstraat, die in den Bräuderschen Hochverratsprozeß verwickelt waren, befreundet. Die Ehefrau des in dem Bräuderschen Prozesse außer Verfolgung gesetzten Schlossers Wolters, welche sich als religionslos und zur sozialdemokratischen Partei bekannte, unterstützte ihn mit Geld, sprach ihm brieflich „ihre höchste Bewunderung und Verehrung“ aus und beklagte ihn wegen der vielen Gefahren, denen er ausgesetzt sei. Dem aus den Wiener Vorgängen bekannten Anarchisten Stellmacher war Reinsdorf persönlich bekannt. Des letzteren Genosse, der bekannte Kammerer, erhielt zurzeit Mitteilungen über das Attentat gegen das Gebäude des Frankfurter Polizeipräsidiums und über den dieses Verbrechens wegen gegen Reinsdorf erhobenen Verdacht. Reinsdorf erhielt Briefe und Gelder aus Paris, London und Amerika. Er war der englischen und französischen Sprache vollkommen mächtig und war stets bemüht, sogenannte „Deckadressen“ für seine ausgebreitete Korrespondenz zu erhalten. Zu dem Weber Palm äußerte einmal Reinsdorf: er sei von London nach Deutschland geschickt worden; gleichzeitig seien zwei andere Personen nach Wien gegangen. Um diese Zeit, Dezember 1882, war der erwähnte Expedient dient der „Freiheit“, John Neve, in der Tat in Wien angelangt. Neve hatte schon Anfang 1882 zwei andere Agenten, namens Rimke und Grün, nach Deutschland dirigiert. Neve schrieb an Rimke: „Eine Reise nach Deutschland ist augenblicklich von unberechenbarem Nutzen, zumal jetzt, da die Kriegsbestie vielleicht noch dieses Jahr losgelassen wird. Sollte dies der Fall sein, dann ist unser Platz nicht mehr in London oder Paris, sondern wir müssen alle, die wir es mit unserer gerechten Sache ernst nehmen, nach Deutschland oder besser nach Österreich, um das Volk aufzuhetzen und einen Versuch zu machen.“ Rimke und Grün waren beide mit gefälschten Legitimationspapieren, Rezepten zur Anfertigung von Explosionsstoffen, chemischem Schreibmaterial, Geheimschriften und Waffen versehen. Grün hat sich später entleibt und eine Art Aufruf hinterlassen, in welchem er vorgab, für die Prinzipien der Anarchisten und Kommunisten zu sterben. Laut einer Notiz im „Sozialdemokrat“ war Reinsdorf bereits einmal im Jahre 1880 von Most nach Deutschland entsendet, um dort ein Attentat in Szene zu setzen. Die letzte Zeit hielt sich Reinsdorf in Hamburg auf. Dort klagte er einem befreundeten Schriftsetzer über die Erbärmlichkeit von Land und Leuten und sprach die Absicht aus, auszuwandern. Er erkrankte jedoch sehr bald und mußte bis zum 9. Januar 1884 in einem Hamburger Krankenhause Zuflucht suchen. In Elberfeld hielt sich Reinsdorf vom März bis Oktober 1883 auf.

Küchler hieß mit Vornamen Emil. Er war am 9. November 1844 zu Krefeld geboren, verheiratet und unbestraft. Er soll in sehr unzulänglicher Weise für seine Familie gesorgt haben, so daß diese oftmals darben mußte.

Rupsch, mit Vornamen Franz Reinhold, war am 19. März 1863 zu Rothavitz, Kreis Naumburg a.d.S., geboren. Er war der Sohn anständiger Bauersleute. Sein Lehrherr gab ihm das Zeugnis eines mehr täppischen und unbeholfenen als leidenschaftlichen Menschen.

Zunächst wurde der Angeklagte Bachmann vernommen. Dieser, am 4. Dezember 1859 in Triptis, Sachsen-Weimar, geboren, war ein hagerer, kleiner Mensch. Er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe wohl die Explosion in dem Willemsenschen Lokal in Elberfeld ausgeführt, ich hatte jedoch nicht die Absicht, Menschen dadurch zu töten.

Vors.: Wie haben Sie das gemacht?

B.: Ich habe zwei Dynamitpatronen auf den Tisch gelegt und sie mit einer brennenden Zigarre entzündet.

Vors.: Haben Sie das aus eigenem Antriebe getan?

B.: Reinsdorf hat mich aufgeredet.

Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt: Sie seien im Jahre 1877 nach Elberfeld gekommen und hätten dort sozialistische Schriften gelesen, infolgedessen hätten Sie sich der sozialdemokratischen Partei angeschlossen?

B.: Ja.

Vors.: Sie haben in Aachen und Luxemburg gearbeitet?

B.: Ja.

Vors.: Wie sind Sie mit Reinsdorf bekannt geworden?

B.: Durch Weber Palm.

Vors.: Wann hat Ihnen Reinsdorf gesagt, daß Sie die Explosion verüben sollen?

B.: Wir hatten an einem Sonntage im August 1880 eine Versammlung bei dem Weber Weidenmüller, der in einem Walde bei Barmen wohnte. Dort erzählte zunächst Reinsdorf: er sei in einem Badeorte gewesen und habe dort eine Dynamitexplosion herbeiführen wollen; die Ausführung sei ihm jedoch mißglückt.

Vors.: Sagte er auch, woher er das Dynamit geholt habe?

B.: Er sagte, er habe es von einem Schweizer erhalten.

Vors.: Nun, was geschah weiter?

B.: Reinsdorf sagte, man müßte auch in Elberfeld bei der Sedanfeier eine Dynamitexplosion machen. Acht Tage später, ebenfalls am Sonntag, fand wiederum, um, und zwar diesmal bei Holzhauer in Barmen, eine Versammlung, statt, an der auch Küchler und Weidenmüller teilnahmen. Dort wurde wiederum von Reinsdorf der Vorschlag gemacht, am Sedanfeste eine Explosion in Elberfeld zu unternehmen.

Vors.: Wurde dort nicht auch über die zurzeit streikenden Bergleute in Dortmund gesprochen?

B.: Jawohl. Reinsdorf sagte, es wäre doch erforderlich, mit diesen Streikenden Verbindungen anzuknüpfen, Weidenmüller sagte, daß er zu den Streikenden reisen wolle.

Vors.: Forderte Sie in dieser Versammlung Reinsdorf auf, die Explosion zu vollführen?

B.: Am 2. September 1880 traf ich Reinsdorf gerade, als er von der Weidenmüllerschen Wohnung aus dem Busch kam; Reinsdorf, der einen großen Hammer bei sich trug, sah etwas wild aus. Er sagte mir: er habe in Barmen Dynamit gekauft und dies im Walde vergraben. Er forderte mich auf, mit ihm zu Weidenmüller zu gehen. Ich folgte ihm. Alsbald begaben wir uns zur Stelle, wo das Dynamit vergraben war. Nach kurzem Graben fanden wir einen Blechkrug und eine Blechbüchse, angefüllt mit Dynamit und Patronen aus Papier. Die Patronen waren etwa 1 1/2 Zentimeter groß. Ich hatte bis dahin noch niemals Dynamit gesehen. Reinsdorf zählte zunächst die Patronen, es waren etwa 70 Stück. Alsdann wickelte er eine auf; es war eine graugelbe feste Masse. Wir gingen mit dem Dynamit zu Weidenmüller, der dem Reinsdorf noch eine Glasflasche und eine Blechbüchse übergab. In diese leeren Gefäße legte Reinsdorf nunmehr auch eine Anzahl Patronen. Reinsdorf gab mir auch eine mehrere Meter lange Zündschnur und eine Anzahl Kupferhütchen. Am folgenden Tage forderte er mich auf, die Explosion in dem Willemsenschen Lokale in Elberfeld zu begehen.

Vors.: Versprach er Ihnen eine Belohnung?

B.: Nein. Ich sagte ihm, wenn ich anläßlich der Ausführung der Explosion fortmachen müßte, dann habe ich kein Geld. Reinsdorf versetzte, er würde mir, wenn erforderlich, Geld geben.

Vors.: Sollten Sie außerdem noch eine Explosion vollführen?

B.: Ja. Reinsdorf sagte: ich solle die kleine Büchse mit Dynamit und Patronen in der Frankfurter Bierhalle, die größere Büchse in dem Willemsenschen Lokale mittels einer brennenden Zigarre explodieren lassen. Ich ging zunächst in die Frankfurter Bierhalle, diese war jedoch voll von Menschen. Da ich mir sagte, daß hier Menschen verunglücken könnten, ging ich wieder weg; ich wollte nicht, daß Menschen verunglückten. Ich fuhr hierauf mit der Pferdebahn zu dem Willemsenschen Lokale. Ich habe längere Zeit in dem genannten Lokale gesessen und alsdann die Explosion plosion vollführt. Der Saal war leer.

Vors.: Was haben Sie dabei gedacht?

B.: Ich dachte, es werde einen großen Knall geben.

Vors.: Weiter nichts, dachten Sie nicht, es könnten dadurch Menschen getötet werden und eine Feuersbrunst entstehen?

B.: Nein, das dachte ich nicht, ich beabsichtigte es auch nicht.

Vors.: Sie wußten doch aber, daß in dem Lokale Menschen versammelt waren?

B.: Nein.

Vors.: Das Zimmer, in dem Sie saßen, war allerdings menschenleer, im Nebenzimmer waren jedoch etwa 30 Ärzte versammelt.

B.: Das wußte ich nicht.

Vors.: Sie sahen doch, daß der Kellner oftmals Bier ins Nebenzimmer trug?

B.: Das habe ich nicht gesehen.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte Bachmann: Er habe die Blechbüchse auf den Tisch gestellt, die mit dieser in Verbindung gebrachte Zündschnur mittels einer brennenden Zigarre entzündet, und da er sein Bier schon bezahlt hatte, schleunigst das Lokal verlassen. Kaum sei er auf der Straße gewesen, da sei die Explosion erfolgt. An demselben Abend sei er bei Holzhauer mit Reinsdorf zusammengekommen; auf dessen Wunsch habe er sich sogleich nach Neuß, von dort nach Düsseldorf und von dort nach Aachen begeben. In letzterem Orte habe er Arbeit bekommen. Reinsdorf habe ihm 5 M. zur Reise gegeben.

Vors.: Angeklagter Bachmann, hat Ihnen Reinsdorf gesagt, weshalb Sie in dem Willemsenschen Lokale die Explosion vollführen sollten?

B.: Reinsdorf sagte: dort verkehren bloß die Reichen, die Arbeiter werden hinausgeworfen.

Vors.: Hat Ihnen Reinsdorf gesagt, weshalb Sie die Explosion vollführen sollten?

B.: Reinsdorf sagte, durch den Knall werden die Honoratioren erschrecken.

Vors.: Also bloß erschrecken? Nun, angenommen, das wäre wahr, mußten Sie sich nicht sagen, daß Menschen dabei getötet werden konnten und daß eine Feuersbrunst entstehen konnte?

B.: Daran dachte ich nicht.

Vors.: Zum mindesten mußten Sie sich doch sagen, daß Sie den Kellner, der fast unaufhörlich durch das Zimmer kam, in dem Sie saßen, töten konnten?

B.: Daran dachte ich nicht.

Vors.: Sie sagten selbst, Sie besaßen zur Zeit noch 15 Mark, wozu gab Ihnen Reinsdorf die 5 Mark?

B.: Zur Abreise.

Vors.: Auf mich macht die ganze Geschichte den Eindruck, als hätten Sie die Explosion bloß vollführt, weil Sie von Reinsdorf dafür bezahlt wurden?

B.: Nein. Auf weiteres Befragen sagte Bachmann: Ein Mitgefangener habe zu ihm geäußert: er solle nur immer tüchtig lügen; Reinsdorf habe ihm (dem Gefangenen) gesagt: er lüge immer.

Es wurde alsdann Reinsdorf vernommen. Er erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin wohl mit Bachmann einige Male bei Weidenmüller und Holzhauer zusammengetroffen. Ich bin Anarchist, daraus habe ich niemals ein Hehl gemacht. Wenn man mit Sozialdemokraten zusammenkommt, da liegt es nahe, daß man über den Unterschied, der zwischen der Sozialdemokratie und den Anarchisten besteht, sich unterhält. Dies habe ich bei Weidenmüller und Holzhauer getan, zu der von Bachmann verübten Explosion habe ich ihn jedoch nicht aufgeredet; wenn Bachmann dies behauptet, dann ist ihm das jedenfalls, um mich zu schädigen, von irgendeiner Seite eingegeben worden.

Vors.: Ehe ich weitergehe, erzählen Sie einmal mit kurzen Worten Ihren Lebenslauf.

Reinsdorf: Nachdem ich in meiner Vaterstadt Pegau die Schule besucht, erlernte ich das Schriftsetzerhandwerk und sofort, nachdem ich ausgelernt hatte, begab ich mich (1867) auf die Wanderschaft. Ich arbeitete in den verschiedensten Städten, in Frankfurt am Main, Naumburg, Stettin, Berlin, Hannover, Mannheim, Freiburg i. Breisgau und ging dann schließlich 1870 in die Schweiz. Dort arbeitete ich als Schriftsetzer in Genf. Da in diesem Orte viele politische Flüchtlinge waren, so herrschte daselbst ein sehr reges politisches Leben. Ich besuchte die dortigen Arbeiterversammlungen und wurde zunächst Sozialdemokrat. Das Vorgehen der Sozialdemokraten gefiel mir jedoch nicht, ich wurde sehr bald Anarchist. Von Genf ging ich nach Paris, von dort nach London, Brüssel und schließlich nach Leipzig. Hier arbeitete ich ein Jahr in der Buchdruckerei von Metzger und Wittig. Der Leipziger Buchdrucker-Prinzipalsverein veranlaßte jedoch schließlich meine Prinzipale, mich zu entlassen. Nachdem dies geschehen war, begab ich mich wiederum auf die Wanderschaft und kam schließlich nach Budapest, woselbst ich Arbeit erhielt. Von dem Lohn, der dort gezahlt wurde, konnte ich aber nicht leben. Es arbeiten in den dortigen Setzereien sehr viel Israeliten, die jedenfalls etwas zuzusetzen haben, diese haben die Löhne sehr gedrückt. Ich war deshalb genötigt, Budapest wiederum zu verlassen. Ich wanderte nunmehr sehr lange, ohne Arbeit zu erhalten. Endlich kam ich nach Berlin. Nach kurzem Aufenthalt daselbst ging ich nach Süddeutschland und bekam wiederum in Freiburg i. Breisgau Arbeit. Dieser Ort wird jedoch von den Ultramontanen beherrscht, denen es nicht gefiel, daß ein Arbeiter in der Stadt war, der die anderen Arbeiter über die wahren Bestrebungen des Ultramontanismus aufklärte. Es gelang den dortigen Führern der Ultramontanen, mich aus der Arbeit zu bringen. Ich ging nunmehr wiederum nach Berlin, woselbst ich auch sehr bald in einer Zeitungsdruckerei Arbeit erhielt. Auf Grund einer Notiz in dem in Zürich erscheinenden „Sozialdemokrat“, welcher wörtlich schrieb: „Der Anarchist Reinsdorf ist nach Berlin gegangen, um ein Attentat auszuführen,“ wurde ich sehr bald verhaftet, und da ich inzwischen auch in den Bräuderschen Hochverratsprozeß verwickelt wurde, wurde ich 7 Monate in Berlin gefangen gehalten. Ich bemerke, daß die Anklage in dem Bräuderschen Hochverratsprozeß gegen mich fallen gelassen wurde. Kaum wurde ich in Berlin aus der Haft entlassen, da wurde ich aus Berlin ausgewiesen. Ich begab mich wieder nach Leipzig, woselbst ich bei Metzger und Willig wiederum Arbeit bekam, nachdem ich den Herren versprochen, mich von jeder Agitation fernzuhalten. Allein schon nach 14 Tagen wurde über Leipzig ebenfalls der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt, und ich wurde infolgedessen sogleich auch aus Leipzig ausgewiesen. Meine Prinzipale waren bemüht, meine Ausweisung rückgängig zu machen, dies gelang ihnen jedoch nicht. Ich begab mich hierauf auf kurze Zeit nach meiner Heimatsstadt Pegau, und alsdann ging ich wiederum um auf die Wanderschaft. Ich wandte mich nach Frankreich und erhielt in Nancy Arbeit. Dort wurde ich jedoch von der Polizei derartig behelligt, daß ich meiner Arbeit verlustig ging. Ich ging wiederum nach Deutschland. Ich erhielt in Pforzheim bei Menner eine Stellung als technischer Leiter der Druckerei. Ich konnte mich jedoch mit dem Prinzipal nicht vertragen, deshalb ging ich sehr bald von Pforzheim weg. Ich begab mich nun nach Elberfeld, woselbst ich sehr bald Arbeit fand. Ich verdiente dort wöchentlich 18 Mark. Im Oktober 1883 wollte ich mich von Elberfeld nach Hamburg begeben, ich fiel jedoch auf dem Bahnhofe in Elberfeld so unglücklich, daß ich mir den Fuß verrenkte und 7 Wochen in dem St. Josephs-Krankenhause zubringen mußte. Alsdann ging ich nach Hamburg. Auch dort erkrankte ich nach einiger Zeit und war längere Zeit in einem Hamburger Krankenhause. Am 9. Januar 1884 wurde ich aus dem Krankenhause entlassen und zwei Tage später, am 11. Januar 1884 abends, wurde ich von 8 Schutzleuten verhaftet.

Vors.: Sie sollen mit Hödel befreundet gewesen sein?

R.: Ich besuchte in Leipzig im Jahre 1878 die sozialdemokratischen Versammlungen; es war dies vor Erlaß des Sozialistengesetzes, zu welcher Zeit man in Leipzig noch ein einigermaßen freies Wort sprechen durfte. Ich machte hier meine anarchistischen Grundsätze geltend, und obwohl ich der einzige Anarchist in Leipzig war und hier der sozialdemokratische Generalstab stationiert war, wurde ich aus den Versammlungen dieser Partei hinausgewiesen. Hödel lernte mich in diesen Versammlungen kennen; er ersuchte mich, ihm meine anarchistischen Grundsätze persönlich mitzuteilen, was ich auch sehr gern tat.

Vors.: War nicht Hödel auch Anarchist?

R.: Allerdings, er wurde es später, und es ging ihm bald nicht besser als mir. Hödel betrieb einen Bücher- und Schriften-Kolportagehandel und nährte sich nur notdürftig, während die Führer der sozialdemokratischen Partei, die, gleich den Bourgeois, in Saus und Braus lebten, nicht das taten, was Hödel wollte, d.h. daß sie die ökonomische Gleichheit nicht schon heute unter den Parteigenossen einführten.

Vors.: Sie waren auch mit dem Schriftsetzer Emil Werner, der die Zeitung „Der Kampf“ herausgab, befreundet?

R.: Jawohl, ich arbeitete mit diesem zusammen.

Vors.: Es ist das auch ein bekannter Anarchist?

R.: Ja.

Vors.: Sie kannten auch Most persönlich?

R.: Ich sah Most zum ersten Male in Berlin in Versammlungen. Als ich 1880 nach London kam, besuchte mich Most, der von meinen Ausweisungen gehört hört hatte. Most interessierte sich seit dieser Zeit sehr für mich. In Berlin konnte ich mit Most nicht befreundet werden, da dieser zur Zeit noch der sozialdemokratischen Partei angehörte; er hat erst später eingesehen, daß man mit den Ideen dieser Partei nicht zum Ziele kommen kann.

Vors.: Sie bekennen sich zur anarchistischen Partei; geben Sie zu, daß Anarchie Regierungslosigkeit heißt, so daß jede Gesellschaftsordnung aufhört?

R.: Die Anarchisten erstreben: 1. eine derartige Staatsordnung, wodurch es jedem normal veranlagten Menschen möglich ist, die höchste Kulturstufe zu erreichen; 2. die Menschen von Kummer und Sorgen zu befreien; 3. die Menschen nach Möglichkeit von der Arbeit zu entlasten und 4. der Dummheit und dem Aberglauben ein Ende zu machen. Die Anarchisten lassen ihren Mitgliedern so viel Spielraum, daß jedes Mitglied seine eigenen Ansichten haben kann. Um das von mir erwähnte Ziel zu erreichen, ist es notwendig, die heutige Privatproduktion in eine anarchistische zu verwandeln. Dazu ist erforderlich, daß aller Grund und Boden, alle Werkzeuge, alle Maschinen, alle Häuser expropriiert und der Gesamtheit zugewendet werden. Nur in dieser Weise kann das heutige Elend aus der Welt geschafft und die Arbeitszeit derartig verkürzt werden, daß die Menschen höchstens täglich zwei Stunden werden arbeiten müssen. Diese Idee wird sich Bahn brechen, das wird kein Reichsgerichtshof verhindern können. Daß wir die Ehe und die Familie abschaffen wollen, ist nur eine Erfindung liberaler Zeitungsschreiber. Ebensowenig beabsichtigen wir, zu teilen, wir wollen im Gegenteil dem heutigen Teilungssystem, das dadurch geübt wird, daß der Arbeitgeber den Löwenanteil in die Tasche steckt, während der Arbeiter nur einen Hungerlohn erhält, ein Ende machen. Wir sagen allerdings: Eigentum ist Diebstahl. Proudhon hat dies schon bewiesen, und ich füge hinzu: Niemand kann allein Reichtümer hervorbringen; besitzt er demnach mehr, als er zum Leben nötig hat, so betrügt er seine Mitmenschen. Auch denken wir nicht daran, die Religion abzuschaffen. Wir wollen die Menschheit so erziehen, daß sie überhaupt nichts mehr glaubt, und dann ist die Religion von selbst abgeschafft. Im anarchistischen Staate wird man selbstverständlich weder ein stehendes Heer noch Polizei brauchen, denn die Arbeiter werden nicht mehr nötig haben, mit ihren Brüdern in Frankreich Krieg zu führen, und es wird auch nicht notwendig werden, die Arbeiter ins Gefängnis oder Zuchthaus zu sperren. Es gibt ja allerdings auch schon heutzutage Freiheiten, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. Allein ganz abgesehen davon, daß diese Freiheiten infolge des Sozialistengesetzes illusorisch sind, so kommen diese Freiheiten doch nur den oberen Zehntausend send zugute.

Vors.: Das, was Sie uns gesagt haben, ist eigentlich nicht neu; es sind das im großen und ganzen die Grundsätze der Sozialdemokraten, nur daß Ihre Partei keine Zentralisierung will. Allein, selbst wenn Sie nur die Bildung einzelner Föderationen anstreben, so ist es doch immer erforderlich, daß Gesetze existieren?

R.: Die Menschen müssen so erzogen werden, daß sie sich selbst nach Vernunftgesetzen regieren.

Vors.: Ihren Blättern nach wollen Sie diese Ihre Ziele mittels Gewalt erreichen?

R.: Das kommt darauf an.

Vors.: Bei Ihrer Vernehmung in München im Jahre 1881 sagten Sie: Sie gehen bedeutend weiter als Most, die anarchistische Partei habe jedoch kein Geld, deshalb muß das Mostsche Blatt „Die Freiheit“ als Parteiorgan gelten?

R.: Das stimmt.

Vors.: Die „Freiheit“ empfiehlt nun die Durchführung der sozialistischen Forderungen mittels Gewalt, eventuell mittels Dynamit. Gedenken Sie ebenfalls, zu Ihren Ideen mittels Gewalt, und zwar durch Verbrechen, wie sie hier zur Anklage stehen, zu gelangen?

R.: Ich fühle mich nicht veranlaßt, meinen Operationsplan Ihnen hier vorzuführen, im übrigen ziehen Sie nur aus meinen Ausführungen die Konsequenzen, die Sie wollen, ich stehe nicht hier, um freigesprochen zu werden.

Vors.: Was der Gerichtshof machen wird, brauchen Sie nicht zu sagen, ich bin verpflichtet, Sie nach der wahren Absicht Ihrer Handlungen zu fragen. Wenn Sie jedoch die Antwort verweigern wollen, so steht Ihnen das zu. Ich frage Sie also, ist die Begehung von Verbrechen, wie sie hier zur Anklage stehen, mit den anarchistischen Bestrebungen vereinbar, und halten Sie derartige Mittel für geeignet, die anarchistischen Ideale zur Verwirklichung zu bringen?

R.: Bestimmte Mittel zur Erreichung der anarchistischen Ideale gibt es nicht; auf welche Weise die Ideale zu erreichen sind, ist jedem einzelnen selbst überlassen. Wenn der arme Weber Bachmann, an dem sich die heutige Gesellschaft so sehr versündigt hat, gegen die Reichen ein Dynamitattentat begeht, so kann ich es ihm nicht verdenken; angestiftet dazu habe ich ihn nicht.

Vors.: Halten Sie auch Attentate, wie sie gegen Ihren Landesherrn, den König von Sachsen und den Deutschen Kaiser versucht worden, zur Erreichung der anarchistischen. Ideale erforderlich?

R.: Die Geschichte zählt von gekrönten Häuptern eine ganze Reihe von Verfassungseidbrüchen und so weiter auf, sie haben fast alle ein schwarzes Blatt in der Geschichte. Was nun speziell den jetzigen Deutschen Kaiser anlangt – ...

Vors.: Ich warne Sie, gegen Se. Majestät den Kaiser eine Beleidigung auszusprechen. Ich würde in solchem Falle sofort gegen Sie einschreiten und dafür sorgen, daß die Öffentlichkeit Ihre Beleidigungen nicht erfährt.

R.: Beleidigt hätte ich den Deutschen Kaiser nicht, ich werde aber, wenn es gewünscht wird, hier abbrechen.

Vors.: Sie sollen meine Frage beantworten, eine Beleidigung gegen Se. Majestät den Kaiser werde ich jedoch nicht dulden. Es wird nun behauptet: Sie seien von London als Emissär der Internationale nach Berlin gesandt worden?

R.: Das ist nicht wahr, ich lasse mich überhaupt nicht schicken.

Vors.: Sie haben von London Gelder und Briefe bekommen?

R.: Ich erhielt wohl hin und wieder, da ich krank war, von London Unterstützungen, aber niemals zwecks irgendwelcher Agitation.

Der Vorsitzende verlas hierauf eine Anzahl bei Reinsdorf gefundener Briefe, woraus sich ergab, daß er mit zahlreichen Anarchisten Frankreichs, Londons und der Schweiz Briefwechsel unterhalten hatte. Der Angeklagte gab auch zu, vielfach unter falschem Namen aufgetreten zu sein, er habe dies getan, um von der Polizei unbehelligt zu bleiben.

Polizeikommissar Gottschalk (Elberfeld) bekundete: Es sei ihm von einer Seite, die er nicht näher namhaft machen könne, versichert worden, daß Reinsdorf als Emissär der „Internationale“ nach Elberfeld gekommen sei. Im weiteren bestätigte dieser Zeuge sowohl als auch Frau Dr. Hartmann (Tochter des inzwischen verstorbenen Restaurateurs Willemsen) und Kellner Fricke (Elberfeld) im wesentlichen die Angaben Bachmanns. Fricke, der zur Zeit bei Willemsen als Kellner konditionierte, sei bei Ausbruch der Explosion aus dem Zimmer geschleudert worden, so daß er ohnmächtig niederfiel. Es seien ihm in die Oberschenkel einige Glassplitter gedrungen, in welcher Folge er längere Zeit bettlägerig und in ärztlicher Behandlung war. Auch der Angeklagte Küchler bestätigte im wesentlichen die Äußerungen des Bachmann. Im Juli 1883 war er Krankenbesucher für den Elberfelder Buchdruckerverein, und da zur Zeit Reinsdorf im Elberfelder Krankenhause lag, lernte er Reinsdorf kennen. Er (Küchler) gehöre zur sozialdemokratischen Partei; welcher politischen Parteirichtung Reinsdorf, der sich John Penzenbach nannte, angehörte, wußte er zur Zeit nicht. Erst später habe er erfahren, daß Reinsdorf Anarchist sei. Reinsdorf habe geäußert: Bachmann habe die Explosion zu früh erfolgen lassen. Reinsdorf habe zu ihm (Küchler) am 4. September 1883 gesagt: Er werde am Abende etwas machen, ebenso auch Bachmann. Bei dieser Gelegenheit sei von der Frankfurter Bierhalle und von Willemsen die Rede gewesen.

Reinsdorf bestritt wiederholt, an dem Bachmannschen Attentat irgendwie beteiligt gewesen zu sein. Der Vorsitzende verlas hierauf eine Aussage des Küchler, wonach dieser beim Untersuchungsrichter bekundet halte: Reinsdorf habe zu ihm gesagt: die Sozialdemokraten und Anarchisten verfolgen dieselben Zwecke, nur ihre Mittel und Wege seien verschieden. Mit der Sozialdemokratie sei es nichts, es müsse schärfer vorgegangen werden. Als er dem Reinsdorf Einwendungen machte, habe Reinsdorf geäußert: Wenn er nur die anarchistischen Blätter lesen würde, dann würde er sich sehr bald zum Anarchismus bekennen. Er (Küchler) habe den „Sozial-Demokrat“ gelesen und ihn direkt von der Expedition in Zürich bezogen. Er habe etwa 5 bis 6 Nummern der „Freiheit“ aus London zugesandt erhalten, wer ihm die Blätter gesandt, ob dies Reinsdorf veranlaßt hatte, wisse er nicht.

Reinsdorf: Küchler hat vorhin gesagt: ich sei ihm jetzt nicht mehr sympathisch, ich frage Küchler, weshalb ich ihm nicht mehr sympathisch bin?

Küchler schwieg.

Reinsdorf: Ich werde dem Gedächtnis Küchlers zu Hilfe kommen. Gleich nachdem ich verhaftet wurde, erschienen im „Sozial-Demokrat“ eine Anzahl Schimpfartikel gegen mich, dies dürfte wohl mit der Grund zur plötzlichen Änderung seiner Gesinnung sein.

Küchler gab dies als möglich zu.

Am zweiten Verhandlungstage wurde zunächst Weber Palm (Elberfeld) als Zeuge vernommen: Ich wurde mit Reinsdorf im Mai 1883 bekannt. Ich wurde mit ihm befreundet, da ich gleich Reinsdorf aus Berlin ausgewiesen worden bin. Reinsdorf bekannte sich mir gegenüber als Anarchist und entwickelte derartig extreme Anschauungen, daß ich ihn entweder für einen sehr exaltierten Menschen oder für einen Polizeispion hielt. Reinsdorf sagte einmal: „Man muß nicht bloß vom Dynamit schreiben, sondern man muß es auch anwenden.“ Er sagte mir, er sei von London aus nach Deutschland zwecks Propaganda der anarchistischen Ideen gesandt worden; gleichzeitig seien zwei andere Agenten nach Österreich gesandt worden. Reinsdorf sagte: Wer ihn hier verrate, der würde auf Befehl von London getötet werden. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden gab Zeuge zu, daß unter seiner Adresse zwei Geldsendungen, einmal 20, das zweitemal 40 Mark an Reinsdorf aus London angekommen seien. Absender war ein gewisser Knauerhase. Reinsdorf verreiste einmal im Sommer 1883 auf kurze Zeit. Als er zurückkehrte, erzählte er: er sei in Wiesbaden gewesen wesen und wollte im dortigen Kursaale eine Dynamitexplosion vollführen. Er habe jedoch noch im letzten Augenblicke davon Abstand genommen, da ihm die dort in großer Anzahl versammelten Frauen und Kinder leid taten. Er sei in der am 30. August 1883 bei Holzhauer stattgehabten Versammlung gewesen. Dort sei davon gesprochen worden, daß die Arbeiter absolut kein Interesse an der Feier des bevorstehenden Sedanfestes hätten. Daß eine Dynamitexplosion vollführt werden sollte, habe er nicht gehört. Am 3. September 1883, abends, sei er, Reinsdorf, Küchler und Bachmann im „gemütlichen Gottlieb“, einem Restaurationslokale in Elberfeld, gewesen. Reinsdorf übergab dem Bachmann ein Paket, in dem, wie ich hörte, Dynamit enthalten war. Es war davon die Rede, daß das auf dem Markte in Elberfeld stehende Kriegerdenkmal in die Luft gesprengt werden solle. Ich sagte dem Bachmann, der von Reinsdorf zur Ausführung der Expedition bestimmt wurde: Wenn er erkennen sollte, daß Reinsdorf Polizeispion sei, so solle er ihm das Dynamit vor die Füße werfen. Ich sah, daß Reinsdorf dem Bachmann an jenem Abende des 3. September Geld gab; wieviel er gab und zu welchem Zwecke dies geschah, weiß ich nicht.

Vors.: Nun, Reinsdorf, was sagen Sie dazu, daß Sie von London Geld erhalten haben? Sie haben schon gesagt: Sie hätten Geld von einem Freunde erhalten, halten, es ist doch aber sehr eigentümlich, daß beide Male Knauerhase der Absender war, ein Mann, der die „Freiheit“ vertrieb und als hervorragender Anarchist bekannt war. Es liegt doch infolgedessen nahe, daß Sie das Geld zu propagandistischen Zwecken erhalten haben?

Reinsdorf: Wenn an Palm Geld aus London für mich gekommen ist, dann hat er es mir unterschlagen, denn ich habe kein Geld erhalten.

Vors.: Wie kam Knauerhase dazu, an Palm Geld zu senden?

Reinsdorf: Das kann ich ja nicht wissen, vielleicht geschah dies behufs Vertreibung der „Freiheit“.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bestritt Reinsdorf alle Angaben des Palm. Er sagte: Wenn die Angaben verschiedener Zeugen so genau übereinstimmen, so sei das sehr erklärlich: die Vorgänge waren im August 1883, und ich wurde am 11. Januar 1884 verhaftet. In der Zwischenzeit hatten die Zeugen ja Zeit genug, sich zu besprechen. Ich richte an den Zeugen die Frage: woher er das Geld zum Mieten eines großen Hauses in Elberfeld gehabt hat, da er bekanntlich vollständig mittellos ist?

Zeuge: Ich hatte stets Arbeit und erhielt auch zu jener Zeit 700 Mark von meiner Schwiegermutter. Ich mietete mir deshalb ein Häuschen in der Vorstadt von Elberfeld, das mit einem kleinen Garten verbunden ist. Ich habe eine große Familie und infolgedessen eine große Wohnung nötig. Wenn ich mir eine solche in der Stadt gemietet hätte, dann würde sie mich ebensoviel gekostet haben, und ich hätte keinen Garten dabei gehabt.

Reinsdorf: Ich glaube dem Zeugen nicht, daß er von seiner Schwiegermutter 700 Mark erhalten hat. Im weiteren richte ich an den Zeugen die Frage: ob er von der Polizei Geld bekommen hat?

Zeuge: Nein.

Vert. J.-R. Fenner: Herr Zeuge, stehen Sie mit dem Polizeikommissar Gottschalk in Verbindung?

Zeuge: Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Frage kommen?

Vert.: In meiner Eigenschaft als Verteidiger.

Vors.: Der Herr Verteidiger ist berechtigt, diese Frage an Sie zu stellen.

Zeuge: Eine solche beleidigende Frage beantworte ich überhaupt nicht.

Vors.: Dann richte ich die Frage an Sie: wann sind Sie mit dem Polizeikommissar Gottschalk bekannt geworden?

Zeuge: Als er Haussuchung bei mir hielt.

Vert. J.-R. Fenner: Es wird die Behauptung aufgestellt, daß der Zeuge überhaupt mit der Polizei in Verbindung stand, um diese über das Verhalten der Anarchisten und Sozialisten auf dem Laufenden zu erhalten? ten?

Vors.: Ist das wahr, Zeuge?

Zeuge: Dazu habe ich mich niemals gebrauchen lassen. Auf weiteres Befragen des Verteidigers, J.-R. Fenner, verneinte Palm die Frage, daß in seiner Gegenwart von einem bestimmten Attentat die Rede gewesen sei.

Angekl. Holzhauer gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, sowohl an der bei Weidenmüller, als auch an der in seiner Wohnung stattgehabten Versammlung teilgenommen zu haben. Er erinnere sich nur, daß von einer am Sedanfeste zu unternehmenden Demonstration die Rede gewesen sei.

Vors.: Sie haben früher erklärt, Reinsdorf habe den Vorschlag gemacht: am Sedanfeste in Elberfeld Dynamitpatronen unter die dort zu veranstaltenden Festversammlungen zu werfen?

Holzhauer: Das muß ein Irrtum sein, das habe ich nicht gesagt.

Schutzmann Pfeiffenschneider (Metz): Er habe Bachmann in Luxemburg verhaftet. Anfangs habe Bachmann geleugnet, schließlich habe er jedoch gestanden: er sei, nachdem er das Attentat bei Willemsen begangen, aus Angst, verhaftet zu werden, zu Fuß bis Neuß gelaufen. Er sei von Reinsdorf zur Begehung des Attentats veranlaßt worden. Er sei arbeits-und mittellos gewesen und habe das Attentat lediglich begangen, da ihm Reinsdorf dafür Geld versprochen habe. Geld habe ihm Reinsdorf jedoch nicht gegeben.

Reinsdorf: Ich stelle an den Zeugen die Frage: ob er von seiner Oberbehörde beauftragt worden sei, schwere Verbrecher zu inquirieren?

Vors.: Ich halte diese Frage als nicht zur Sache gehörig.

Wachtmeister Kritschker (Metz) bestätigte vollinhaltlich die Bekundungen des Vorzeugen. Bachmann habe ihm gesagt: es sei ihm von Reinsdorf eine große Summe Geldes versprochen worden.

Auf Befragen des Verteidigers, R.-A. Dr. Seelig, änderte der Zeuge seine Aussage dahin, daß ihm Bachmann von einer großen Geldsumme nichts gesagt habe.

Reinsdorf: Ich konstatiere nun, daß der Zeuge anfänglich die Unwahrheit gesagt hat.

Der Vorsitzende verlas hierauf einen Brief, den Bachmann aus dem Gefängnis an seinen Vater geschrieben hat. In diesem Briefe, in dem Bachmann seinen Vater um Verzeihung bat, schrieb er: „ein gewisser Reinsdorf hat mich verführt“.

Klempnermeister Stuhlmann (Elberfeld): Ende August oder Anfang September 1883 kam ein Mann zu mir, der sechs große Blechbüchsen bei mir bestellte. Der Mann hatte es sehr eilig mit den Büchsen; er wünschte dringend, daß die Büchsen binnen spätestens stens drei Tagen fertiggestellt seien, er hat sie jedoch nicht abgeholt.

Vors.: Würden Sie den Besteller der Büchsen wiedererkennen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Reinsdorf, stehen Sie einmal auf; Herr Zeuge, war das der Mann?

Zeuge: Jawohl, ich kenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder.

Reinsdorf: Sie haben einen Eid geleistet und behaupten mit voller Bestimmtheit, mich wiederzuerkennen?

Zeuge: Jawohl.

Reinsdorf: Beim Untersuchungsrichter haben Sie mich nicht wiedererkannt?

Zeuge: Ich erkenne den Mann mit voller Bestimmtheit wieder, ich habe ihn sofort erkannt, als mir seine Photographie vorgelegt wurde.

Reinsdorf: Ich richte an den Zeugen die Frage, ob jemand auf sein Zeugnis Einfluß ausgeübt hat?

Vors.: Die Frage gehört nicht zur Sache.

Reinsdorf: Dann stelle ich an den Zeugen die Frage, ob er von der Polizei für seine Angaben Geld erhalten hat?

Zeuge: Nein.

Reinsdorf: Wie kam der Zeuge dazu, der Polizei von der angeblichen Büchsenbestellung Anzeige zu machen?

Zeuge: Ich habe keine Anzeige gemacht, ich wurde plötzlich von dem Polizeikommissar Gottschalk vorgeladen; wodurch Gottschalk von der Büchsenbestellung Kenntnis erhalten hat, weiß ich nicht.

Reinsdorf: Der Zeuge will mich nämlich nach einer ihm vorgelegten Photographie erkannt haben. Ich bin aber nur ein einziges Mal in meinem Leben, und zwar in Berlin, anläßlich des Bräuderschen Hochverratsprozesses photographiert worden, diese Photographie ist jedoch sehr schlecht.

Vors.: Sie wurden auch nach Ihrer Verhaftung in dieser Angelegenheit photographiert. Sie verzogen allerdings das Gesicht, schlossen die Augen, schauten aber plötzlich wieder auf, um zu sehen, ob die Prozedur beendet sei. Diesen Augenblick benutzte der Photograph und erhielt ein Bild von Ihnen?

Bachmann (mit dem Finger nach dem Vorsitzenden deutend): Das geht ja gar nicht. (Heiterkeit im Auditorium.)

Der Vorsitzende zeigte dem Reinsdorf die Photographie.

Reinsdorf: Prima-Qualität ist das nicht.

Weber Voß (Elberfeld): Ich bin mit Bachmann seit 1877 bekannt und unterhielt auch einen Briefwechsel mit ihm, als er in Paris arbeitete. Bachmann schrieb nach seiner Flucht aus Luxemburg an mich und bat, ich solle seine Eltern veranlassen, ihm seine Sachen zu schicken. Ich glaube, Bachmann schrieb an mich, da ich bei der Polizei in keiner Weise verdächtig war. Die Polizei hielt jedoch kurz nach Eingang des Briefes Haussuchung, der Brief wurde bei mir gefunden und infolgedessen erfuhr die Polizei den Aufenthalt Bachmanns. Von dem Dynamitattentat selbst weiß ich nichts.

Samtweber Dahmer (Elberfeld): Bachmann habe zu ihm einmal gesagt, es werde nicht eher besser werden, als bis alle Fürsten beseitigt und alle Fabriken in die Luft gesprengt werden.

Bachmann bestritt dies mit dem Bemerken: Er konnte sich schon deshalb mit dem Zeugen über Politik nicht unterhalten, da dieser zumeist betrunken gewesen sei.

Vors.: Bachmann, es sind bei Ihnen gefunden worden 3 Exemplare der „Freiheit“, 1 Exemplar des in Budapest erscheinenden „Radikal“, Organ der Anarchisten Ungarns, und eine Broschüre, betitelt: „Die Gottespest und die Religionsseuche“. Diese Broschüre schloß mit einem kommunistischen Gebet, das ich Anstand nehme, hier öffentlich zu verlesen. Woher haben Sie die Broschüre bezogen?

Bachmann: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sowohl die Zeitungen, als auch die Broschüre waren Ihr Eigentum?

Bachmann: Jawohl.

Vors.: Haben Sie die Zeitungen und Broschüre gelesen?

Bachmann: Ja.

Sachverständiger, Chemiker Dr. Sintenis (Elberfeld): Nach den Zerstörungen bei Willemsen zu schließen, sind weniger als 100 Gramm Dynamit in der Blechbüchse gewesen. In der Büchse befand sich auch eine Quantität gehacktes Blei. Wenn dies explodiert wäre, während Menschen im Zimmer waren, dann wären sie sämtlich unfehlbar getötet worden.

Sachverständiger, Major und Kommandeur des Rheinischen Pionierbataillons, Pagenstecher (Koblenz) bestätigte die Bekundungen des Dr. Sintenis. Dynamit sei sehr schwer zur Explosion zu bringen. Am besten werde die Explosion mittels Zündhütchen oder Knallquecksilber ausgeführt. Die Explosion bei Willemsen sei mittels Zündhütchen zur Ausführung gebracht worden. Das Blei, dessen bereits Dr. Sintenis erwähnt, habe mit dem Dynamit in unmittelbarer Verbindung gestanden; eine Explosion des Bleies hätte im Zimmer befindliche Menschen zweifellos getötet.

Alsdann wurde Rupsch vernommen.

Vors.: Angeklagter Rupsch, bekennen Sie sich schuldig, den Versuch gemacht zu haben, Se. Majestät den Deutschen Kaiser, den Deutschen Kronprinzen zen und die bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals versammelten Fürsten zu töten?

Rupsch: Nein, ich bin unschuldig. Ich bin allerdings bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals gewesen, und Reinsdorf hat mich aufgefordert, das Dynamitattentat zu begehen, ich habe es aber nicht getan.

Vors.: Nun erzählen Sie einmal, wie Sie Sozialist und mit Reinsdorf bekannt geworden sind?

Rupsch: Ich bin weder Sozialist noch Anarchist; ich weiß gar nicht, was das bedeutet. Zum ersten Male habe ich gestern hier einigermaßen von Reinsdorf erfahren, was die Anarchisten bezwecken.

Vors.: Sie sind von Fellbecker entlassen worden, weil Sie ihm etwas entwendet hatten. Als Sie zur Rede gestellt wurden, antworteten Sie: „Eigentum ist Diebstahl!“ Erzählen Sie einmal, wie Sie mit den übrigen Angeklagten bekannt geworden sind?

Rupsch: Ich lernte eines Tages einen Schneider, namens Schütz, kennen; durch diesen wurde ich mit Holzhauer und schließlich mit allen anderen Angeklagten bekannt. Es wurde mit auch einmal von Holzhauer eine Broschüre, betitelt: „Die Entstehung des Sozialismus“, zum Lesen gegeben. Eine zweite Broschüre, die mir Holzhauer gab, die von Lassalle geschrieben war, las ich nur zum kleinen Teile, da sie zu langweilig war. Reinsdorf wurde August Penzenbach genannt. Am 23. September 1883 kam ich zu Küchler. Dieser sagte zu mir: Hast du schon mit August gesprochen? Nein, sagte ich. Küchler erwiderte: Da mußt du einmal hingehen, er hat dich ausersehen, nach Rüdesheim zu fahren und dort bei der Enthüllungsfeier des Niederwald-Denkmals am 28. September eine Dynamitexplosion zu vollführen, um dadurch den Kaiser, den Kronprinzen und die deutschen Bundesfürsten zu töten. Ja, sagte ich. Ich ging zu Reinsdorf. Dieser sagte mir genau dasselbe: Er habe mich ausersehen, nach Rüdesheim zu reisen und dort mittels einer Dynamitexplosion den Kaiser usw. zu töten. Er gab mir nun genaue Anweisungen, in welcher Weise ich dies tun solle. Speziell sagte er mir: die Kriegervereine werden jedenfalls, wenn der kaiserliche Festzug sich vom und zum Denkmal bewegen werde, Spalier bilden. Es müsse deshalb ganz außerordentliche Vorsicht angewendet werden. Das Dynamit usw. werde mir gegeben werden. Sollte ich gefaßt werden, dann solle ich ja nicht sagen, woher ich das Dynamit habe. Ich solle überhaupt nichts gestehen. Wenn genügend Geld zusammenkomme, solle noch einer mit mir reisen. Es wurde nun in der Wohnung von Holzhauer gesammelt. Söhngen gab 8 Mark, Rheinbach 9 Mark 50 Pf., Toellner 2 Mark 50 Pf. Holzhauer veranlaßte mich noch, meinen Reisekoffer zu versetzen. Ich glaube, es kamen im ganzen etwa 30 Mark zusammen. Ich glaubte ganz bestimmt, allein zu reisen, denn einmal glaubte ich nicht, daß Palm soviel Geld geben werde und andererseits dachte ich nicht, daß Küchler mitreisen werde, denn seine Frau lag am Nervenfieber danieder. Als jedoch Reinsdorf hörte, daß Palm 40 Mark gegeben, veranlaßte er, daß Küchler mitreiste. Ich war willens, wenn ich allein reiste, das Dynamit in Rüdesheim irgendwo zu verbergen. Ich reiste jedoch mit Küchler am 27. September des Morgens nach Rüdesheim und kam mittags dort an. Wir suchten zunächst einen Weinausschank auf und begaben uns dann zum Denkmal. Es wurde noch immer daran gearbeitet. Wir wollten auf die Plattform treten, dies wurde uns jedoch nicht gestattet. Ganz in der Nähe des Denkmals stand eine Mauer. Küchler machte den Vorschlag, in diese Mauer das Dynamit zu legen. Ich sagte, nein, das ist mir doch zu gefährlich. Ich wollte nämlich das Attentat verhindern. Wir gingen weiter, da sah ich eine Dränage. Ich sagte, in diese Dränage wollen wir das Dynamit legen. Ich machte deshalb diesen Vorschlag, weil ich glaubte, dort würde das Dynamit naß werden und nicht explodieren. Wir legten eine Steinkruke und eine Glasflasche, in denen Dynamit und Kupferhütchen enthalten waren, und verbanden diese Gefäße mittels einer Zündschnur, die wir bis zum Walde hinzogen. Ich bedeckte die Zündschnur mit Laub, Gras und Erde. Alsdann dann begaben wir uns nach Rüdesheim zurück. Wir begegneten einem jungen Manne, der uns ein Nachtquartier bei einem Schneider Engelmann nachwies. Am anderen Morgen begaben wir uns in aller Frühe nach dem Festplatz und suchten die Dränage auf. Wir sahen noch sehr wenig Menschen. Ich sollte nun die Zündschnur entzünden, wenn der Kaiser nahte. Küchler wollte mich von ferne beobachten. Als der kaiserliche Zug nahte, zündete ich die Schnur mittels einer kalten Zigarre an. Die Explosion erfolgte infolgedessen selbstverständlich nicht. Ich trat hierauf zur Seite und grüßte Se. Majestät. Ich begab mich darauf zu Küchler. Dieser machte mir heftige Vorwürfe, daß die Explosion nicht erfolgt war. Ich sagte zu ihm: der Schwamm wird wohl zu naß geworden sein. Nun forderte mich Küchler auf, noch einmal zurückzukehren, neuen Schwamm an die Schnur zu befestigen, und wenn ich das letzte Hoch auf den Kaiser hörte, die Explosion zur Ausführung zu bringen. Zu dieser Zeit sollte nämlich der Kaiser den Festplatz laut Programm verlassen, bemerkte Küchler. Ich ging zurück, befestigte neuen Schwamm an die Schnur, und da ich mich von Küchler nicht beobachtet glaubte, schnitt ich mit meinem Taschenmesser die Zündschnur durch und zündete das abgeschnittene Ende an. Dies brannte auch ab, die Explosion konnte jedoch nicht erfolgen. Als der Zug vorbei war, traf ich mit Küchler auf einem Seitenwege zusammen. Küchler war nunmehr noch mehr ungehalten; er kam zur Dränageöffnung und untersuchte selbst die gelegte Mine. Er war jetzt auch der Meinung, daß die Schnur zu naß geworden sei. Wir gingen darauf nach Rüdesheim zurück. Nach eingetretener Dunkelheit holten wir das Dynamit und die Zündschnur. Küchler forderte mich auf, mit dem nächsten Zuge nach Wiesbaden zu fahren und dort das Attentat zu vollführen, der Kaiser werde jetzt im Theater oder im Schloß sein. Ich weigerte mich jedoch mit den Worten: In Wiesbaden ist zuviel Polizei; dort könnten wir gefaßt werden. Ich wollte eben kein Attentat begehen, ich durfte davon jedoch nichts merken lassen, denn ich befürchtete, Küchler erzählt das dem Reinsdorf, und ich bin alsdann gefährdet. Ich ging nun mit Küchler nach Rüdesheim zurück, und nach längerem Sträuben entschloß ich mich schließlich zu dem Dynamitattentat in der Festhalle. Ich sagte zunächst: Küchler solle es tun, er sagte jedoch zu mir: „Dazu bist du da.“ Ich vollführte schließlich die Explosion und sagte dem Küchler, den ich in Rüdesheim auf dem Bahnhof traf: Die in der Festhalle versammelten Menschen sind alle in Stücke zerrissen worden. Ich sagte dies, um die Wut Küchlers einigermaßen zu beschwichtigen. Ich bemerke hierbei, daß mir Küchler alles Geld fortnahm und mich infolgedessen vollständig in seiner Gewalt hatte. Er sagte, wenn ich gefaßt werde, dürfe man kein Geld bei mir finden. Küchler hat mir das Geld nicht wiedergegeben. Wir reisten nun von Rüdesheim nach Aßmannshausen und übernachteten dort im Hotel Rheinstein. Am folgenden Morgen fuhren wir über Köln nach Barmen zurück. Als wir zu Holzhauer kamen und ihm unsere Erlebnisse erzählten, wurde dieser ganz blaß vor Zorn. Holzhauer sagte zu mir, nimm dich in acht, daß du nichts verrätst, du würdest sonst erschossen werden. Dem Reinsdorf erstatteten wir erst später Bericht, da dieser zur Zeit im Krankenhause lag. Am folgenden Sonntag traf ich Küchler in der Berliner Straße in Elberfeld. Dieser sagte zu mir, es ist gut, daß ich dich hier treffe, hier hast du eine Blechbüchse mit Dynamit, wir wollen eine Pastorenversammlung, wo Hofprediger Stoecker aus Berlin sprechen wird, in die Luft sprengen. Ich weigerte mich, Küchler drang jedoch in mich. Allein wir gingen zunächst zu Holzhauer, und dieser riet davon ab mit dem Bemerken, die Sache ist zu gefährlich, wir könnten leicht gefaßt werden. Küchler stand infolgedessen von dem Attentate ab. Am 19. Oktober reiste ich von Barmen weg und begab mich auf die Wanderschaft. Von Sangerhausen schickte ich an Holzhauer 13 Mark und ersuchte ihn, mir den versetzten Koffer zu schicken. Dies tat Holzhauer, gleichzeitig sandte er mir aber auch mehrere Exemplare der „Freiheit“. Ich verstand jedoch den Inhalt dieser Zeitung nicht, da ich Fremdwörter nicht verstehe.

Vors.: Diesen Ihren Angaben nach sind Sie also unschuldig, während die anderen Angeklagten in schwärzestem Lichte erscheinen?

Rupsch: Ich sage aber die Wahrheit.

Vors.: Nun sagen Sie einmal, von wem erhielten Sie das Dynamit?

Rupsch: Von Holzhauer.

Vors.: Sie haben vorher gesagt: am 24. September 1883 ist bei Holzhauer eine Konferenz gewesen, wo Holzhauer noch einmal alles genau erklärte?

Rupsch: Jawohl.

Vors.: Wer nahm an der Konferenz teil?

Rupsch: Küchler, Rheinbach, Söhngen, Töllner und Holzhauer.

Vors.: Sagte Holzhauer: Sie sollten Se. Majestät den Kaiser, den Kronprinzen usw. töten?

Rupsch: Holzhauer sagte: Bei der Enthüllungsfeier kommt die ganze Gesellschaft zusammen. Küchler sagte zu mir: Wir sollten den Kaiser, den Kronprinzen und alle Generale töten.

Vors.: An dieser Konferenz nahmen alle Angeklagten mit Ausnahme von Bachmann teil?

Rupsch: Ja, Bachmann kenne ich gar nicht. Söhngen, Rheinbach, Töllner und Holzhauer gaben Geld zur Reise. Töllner war an jenem Abend stark angetrunken, trunken, ich glaube, er wußte gar nicht, worum es sich handelte.

Vors.: Sie sollten also, wie Ihnen Küchler sagte, die Schnur entzünden, sobald sich der kaiserliche Festzug nahte; sie sollten den Kaiser auf 50 Schritt herankommen lassen?

Rupsch: Ob Küchler sagte, 50 oder 150 Schritt, weiß ich nicht mehr.

Vors.: Sie beschwärzten also mit Ihrer kalten Zigarre die Zündschnur, in welcher Folge die Explosion nicht zur Ausführung kam?

Rupsch: Ja.

Vors.: Nun gingen Sie zu Küchler zurück, dieser war über die Mißlingen des Attentats ungehalten und forderte Sie auf, zurückzugehen, neuen Schwamm anzumachen und die Entzündung noch einmal vorzunehmen. Sie sollten die Schnur anzünden, wenn Sie das letzte Hoch hörten und den Kaiser um die Biegung des Weges kommen sahen; Küchler sagte: Programmgemäß kehrt der Kaiser, wenn das Hoch ertönt, zurück?

Rupsch: Ja, ich habe aber weder die Hochs gehört, noch den Kaiser gesehen. Ich leistete jedoch der Aufforderung Küchlers Folge, ging zurück, steckte neuen Schwamm an, und um eine Explosion zu verhüten schnitt ich die Zündschnur entzwei und zündete sie an. Die Explosion konnte somit nicht erfolgen.

Vors.: In der Dämmerungszeit unternahmen Sie nun mit Küchler ein Attentat in Rüdesheim?

Rupsch: Jawohl.

Vors.: Erzählen Sie das einmal genau.

Rupsch: Wir banden mit Dynamit gefüllte Gefäße zusammen, und Küchler machte den Vorschlag, daß wir uns zunächst in die Festhalle setzen, Bier trinken und die Explosion in der Weise vorbereiten, daß, nachdem wir das Lokal verlassen, die Explosion erfolgen sollte. Dies lehnte ich jedoch ab, da mir dies zu grausam schien. Aus demselben Grunde lehnte ich es ab, das Dynamit unter den Teil der Festhalle zu legen, wo die meisten Menschen versammelt waren. Ich legte das Dynamit etwa 10 Schritt von der Festhalle entfernt, damit Menschen nicht getötet würden.

Vors.: Sie erstatteten nun, als Sie nach Barmen zurückkamen, auch dem Reinsdorf Bericht?

Rupsch: Jawohl, Reinsdorf lag damals, wie bereits erwähnt, im Krankenhause. Ich ging zu ihm, mit Söhngen, wenn ich nicht irre, war auch Holzhauer dabei. Als Reinsdorf hörte, daß die Schnur naß geworden, mithin nicht gebrannt habe, sagte er: „Hm, kann mir auch passieren.“

Vors.: Reinsdorf sagte einmal: Es müssen junge, unverheiratete Leute zur Ausführung von Taten genommen werden; wenn verheiratete Leute gefaßt werden, dann muß die Partei für Frauen und Kinder sorgen? gen?

Rupsch: Ja.

Vors.: Sie bleiben also dabei, unschuldig zu sein?

Rupsch: Ja.

Vors.: Ihre Angaben erscheinen wenig glaubhaft. Sie sagten vorhin. Sie haben den Auftrag übernommen, um das Attentat zu verhindern. Es lag doch bedeutend näher, daß Sie den Auftrag einfach abgelehnt hätten. Küchler machte Ihnen am 24. September von dem Plan Mitteilung, die Zeit drängte, es war mithin nicht so leicht möglich, in dieser kurzen Zeit einen unverheirateten Menschen zur Ausführung des Attentats zu finden?

Rupsch: Küchler sagte mir nachträglich: Wenn ich nicht mitgekommen wäre, dann wäre er allein gereist und hätte die Explosion vollführt. Der Polizei machte ich keine Anzeige, weil mich die Frauen und Kinder von Küchler und Holzhauer dauerten.

Vors.: Es ist nun eigentümlich, daß Sie verschiedene Male Ihre sozialdemokratischen Ansichten äußerten, daß Sie zu Zeugen sagten: Sie könnten leicht Dynamit anfertigen. Sie haben sich sozialdemokratische Schriften und die „Freiheit“ schicken lassen. Die „Freiheit“ ist ein Blatt, das den Fürstenmord predigt, das jubelt, wenn ein Attentat auf einen Fürsten gelingt, und es beklagt, wenn es mißlingt. Im übrigen werden auch Sachverständige bekunden, daß Sie Dynamit namit unter die Festhalle in Rüdesheim doch gelegt haben.

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Wann faßten Sie den Entschluß, die Explosion zu vereiteln?

Rupsch: Gleich als ich von dem Auftrage hörte. Ich hatte Se. Majestät den Kaiser und den Kronprinzen noch niemals gesehen und wollte einmal die Gelegenheit benutzen, dies zu tun und der Feier beizuwohnen.

Vors.: Das ist doch nicht glaublich. Sie wollten sich, um Ihre bloße Neugierde zu befriedigen, einer solch großen Gefahr aussetzen; im übrigen haben Sie doch sogar, um reisen zu können, Ihren Koffer verkauft?

Rupsch schwieg. Der Vorsitzende forderte Rupsch auf, die Zündschnur in derselben Weise, wie er es damals getan, zu zerschneiden. Rupsch tat dies.

Vors.: Hören Sie, Rupsch, Sie schwärzten mit der Zigarre die Zündschnur, das konnte doch nur einen Sinn haben, wenn Sie glaubten, Küchler werde sich die beschwärzte Schnur ansehen?

Rupsch: Jawohl.

Vors.: Dann mußten Sie sich doch sagen. Küchler werde sehen, daß die Schnur nicht gebrannt habe?

Rupsch: Das konnte Küchler nicht sehen.

Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie das zweitemal neuen Schwamm an die Zündschnur gemacht?

Rupsch: Das tat ich bloß provisorisch.

Vors.:

Was soll das heißen?

Rupsch: Ich ging alsdann zu Küchler zurück, um ihm zu zeigen, daß ich den Schwamm angemacht habe.

Vors.: Das ist ja ganz neu, das haben Sie bisher nicht gesagt.

Rupsch: Dann habe ich das vergessen, so wie ich es jetzt sage, ist es wahr.

Vors.: Sie behaupten also jetzt, daß, nachdem Sie zum zweiten Male Schwamm an die Schnur gemacht, Sie zunächst zu Küchler gingen, ihn holten, damit er sich ansehe, daß Sie neuen Schwamm angemacht haben?

Rupsch: Ja.

Angekl. Reinsdorf: Ich frage den Rupsch, wie oft er zu mir vor dem 28. September ins Krankenhaus gekommen ist?

Rupsch: Zweimal.

Reinsdorf: Rupsch hat schon gesagt, daß ich leise mit ihm gesprochen habe, hat er mich vielleicht mißverstanden?

Rupsch: Ich höre sehr gut und weiß sehr genau, was Reinsdorf zu mir gesagt hat. Es lagen mehrere Kranke im Zimmer, deshalb sprach Reinsdorf leise, ich habe ihn aber sehr genau verstanden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Rupsch: Ob ich die Schnur erst anzündete und sie alsdann durchschnitt, oder ob ich es umgekehrt tat, weiß ich nicht mehr.

Es wurde darauf zur Vernehmung des Küchler geschritten.

Vors.: Sie werden beschuldigt, mit Rupsch gemeinschaftlich den Versuch gemacht zu haben, Se. Majestät den Kaiser, den Kronprinzen und die deutschen Bundesfürsten zu töten?

Küchler: Ich bin unschuldig.

Vors.: Sie haben früher einmal gesagt, Sie seien vom 24. bis 28. September 1883 in Krefeld bei Ihrer Tante gewesen?

Küchler: Das habe ich nur gesagt, um nicht verhaftet zu werden, ich sah jedoch sehr bald ein, daß dies unklug war. Ich werde in der Anklage als ein Mensch gekennzeichnet, der für die menschliche Gesellschaft unnütz sei. Ich bin durchaus nicht Anarchist und habe keineswegs einen regen Verkehr mit den Elberfelder Anarchisten oder Sozialdemokraten unterhalten. Ich habe nicht den Anarchisten Reinsdorf, sondern den Schriftsetzer Penzenbach beherbergt. Nur als solcher, nicht aber als Anarchist habe ich den Reinsdorf beherbergt. Die Schriften, die bei mir gefunden wurden, besaß ich sämtlich schon lange vor Erlaß des Sozialistengesetzes. Ich habe, nachdem ich verhaftet, und zwar als Anarchist verhaftet wurde, doch bemüht sein müssen, der „Freiheit“ von unserer Verhaftung Mitteilung zu machen. Ich bezweckte damit lediglich, eine Unterstützung von der Parteileitung für meine Familie zu erreichen. Allein meine Familie ist bisher von keiner Seite unterstützt worden. Den Zeugen Kramer, der behauptet hat: ich hätte für meine Familie nicht gehörig gesorgt, werde ich, sobald Gelegenheit dazu gegeben wird, wegen Beleidigung verklagen. Etwa am 20. September 1883, als ich Reinsdorf im Krankenhaus besuchte, sagte mir dieser: Er hoffe, bis zum 28. September gesund zu werden, er wolle alsdann zur Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals reisen, um dort etwas zu unternehmen. Einige Tage darauf war ich wieder bei Reinsdorf, da sagte mir dieser: er habe den Rupsch ausersehen, nach dem Niederwald zu reisen, ich solle ihm Rupsch zuschicken. Ich wußte wohl, was Reinsdorf im Sinne hatte, und mir ging dies durch den Kopf. Ich wollte der Behörde Anzeige machen, allein ich hatte nicht direkte Beweise, und im übrigen wollte ich Reinsdorf als Kollegen und Freund nicht direkt denunzieren. Ich schickte am 24. September Rupsch zu Reinsdorf. Sehr bald kam Rupsch mit freudestrahlendem Gesicht zurück, machte mir von dem erhaltenen Auftrag Mitteilung mit dem Bemerken: es freue ihn, den Auftrag erhalten zu haben, er werde ihn schon zur Ausführung bringen. Ich dachte nun darüber nach, auf welche Weise es am besten möglich sei, das Verbrechen zu vereiteln. Ich hoffte aber ganz bestimmt, die Sache würde nicht zustande kommen, da das Geld nur schwer zusammen kam. Ich ging wegen Geld zu Palm; dieser gab mir 40 Mark mit dem Bemerken: Das ist ganz gut, es muß aber knallen, Als ich mit Rupsch die Zündschnur kaufte, sagte er mir: Ich fahre auf alle Fälle hin, die Sache muß zustande kommen, und wenn ich meinen Koffer versetzen soll. Am 26. September kam Rupsch ganz freudig zu mir und sagte: Nun habe ich Geld genug, nun können wir abreisen. Als ich Bedenken äußerte, sagte Rupsch: Wenn du keinen Mut hast, so reise ich allein. Ich reiste, da ich das Attentat vereiteln wollte, mit.

Vors.: Haben Sie die Schnur auch durchschnitten?

Küchler: Nein.

Vors.: Dann erzählen Sie, wie Sie bemüht gewesen sind, das Attentat zu vereiteln?

Küchler. Wenn ich sagte, die Sprengstoffe sollen in die Drainage gelegt werden, so hatte ich meinen guten Grund dazu, da ich, ohne daß Rupsch es merkte, die Sprengstoffe wieder herausnehmen konnte. Ich habe mich überhaupt nur insoweit an der Legung der Mine beteiligt, als daß ich die Zündschnur aufwickelte. Ich habe dem Rupsch die Sache schließlich vollständig überlassen, da ich überzeugt war, die Schnur würde sich infolge der großen Nässe nicht entzünden. Rupsch kam zu mir und sagte: Das Ding sei nicht losgegangen, ob ich nicht etwas Schwamm hätte. Ich hatte etwas Schwamm in der Westentasche, den ich aber fortgeworfen hatte.

Vors.: Weshalb warfen Sie den Schwamm fort?

Küchler: Ich glaubte, es sei besser, den Schwamm nicht zu besitzen.

Vors.: Genierte Sie der Schwamm?

Küchler: Ich sagte mir, wenn ich den Schwamm nicht mehr habe, brauch’ ich dem Rupsch keinen zu geben.

Vors.: Aber als er Sie nach Schwamm fragte, zeigen Sie ihm, wo er lag?

Küchler: Ja.

Vors.: Wenn Sie das Verbrechen vereiteln wollten, dann wäre es doch besser gewesen, wenn Sie ihm eine falsche Stelle gezeigt hätten?

Küchler schwieg. Er erzählte alsdann weiter: Das Messer von Rupsch habe ich in der Tasche gehabt, deshalb vermochte dieser die Schnur nicht zu durchschneiden. Wenn ich dem Rupsch den Vorschlag machte, nach Wiesbaden zu reisen, so geschah dies nur, um zu sehen, wieweit er gehe. Zu einer Reise und Aufenthalt in Wiesbaden fehlte uns im übrigen das nötige Geld und die nötige Garderobe. Auch die Explosion in Rüdesheim wollte ich vereiteln.

Der Vorsitzende verlas einen am Montag bei Küchler gefundenen „Kassiber“, den dieser, an seine Verwandten richten wollte. In diesem bat er, ihm 40 Mark zuzuwenden, damit er seine Flucht bewerkstelligen könne. Unterschrieben war der Brief „Feuerzeug“.

Vors.: „Feuerzeug“ ist wohl Ihr Spitzname?

K. schwieg.

Vors.: Wenn Sie, wie Sie behaupten, unschuldig sind, dann hatten Sie doch nicht nötig, eine Flucht vorzubereiten?

K.: Auf alle Fälle muß man sich doch vorsehen. Rupsch wollte mich doch heute „reinlegen“.

Reinsdorf beantragte am dritten Verhandlungstage, den Polizeikommissar Gottschalk ins Zeugenzimmer zu verweisen. Der Vorsitzende entsprach diesem Antrage.

Es wurde hierauf mit der Vernehmung des Küchler fortgefahren.

Vors.: Angeklagter Küchler, Sie sagten gestern, Reinsdorf habe zu Ihnen anfänglich gesagt, bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals muß etwas unternommen werden. Wenn ich gesund wäre, würde ich selbst hinreisen! Einige Tage darauf sagte Reinsdorf zu Ihnen, Sie sollten ihm Rupsch schicken, er habe diesen zu der Begehung eines Dynamitattentates bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals ausersehen?

Küchler: Ja, genau der Worte, die Reinsdorf damals gesagt, kann ich mich nicht erinnern.

Vors.: Aber der Sinn der Worte war derartig?

K.: Ja.

Vors.: Hat Ihnen Reinsdorf gesagt, der erste Wagen, in dem jedenfalls Se. Majestät der Kaiser sitzen werde, muß geschont werden?

K.: Ja, das sagte er.

Vors.: War bei dieser Äußerung noch jemand zugegen?

K.: Nein.

Vors.: Hat Ihnen Reinsdorf irgendwelche Anweisungen gegeben, in welcher Weise das Attentat ausgeführt werden sollte?

K.: Nein, er sagte bloß, ich solle den Rupsch beobachten!

Vors.: Sonst gab er Ihnen keine Anweisungen?

K.: Nein.

Vors.: Von wem erhielt Rupsch das Dynamit?

K.: Holzhauer gab ihm die Steinkruke.

Vors.: Von wem wurde Holzhauer von der Unternehmung des Attentats unterrichtet?

K.: Es wurde schon vorher darüber gesprochen!

Vors.: Was wurde gesprochen?

K.: Es wurde gesprochen, daß man am 28. September, wo die ganze Gesellschaft zusammenkomme, etwas unternehmen müßte.

Vors.: Wurde auch gesagt, was man unternehmen müsse?

K.: Das wurde nicht gesagt.

Vors.: Wer sagte: die ganze Gesellschaft kommt am 28. September zusammen, da muß etwas unternommen werden?

K.: Das sagte Holzhauer.

Vors.: Wie erfuhr nun Holzhauer, daß Reinsdorf dem Rupsch den Auftrag gegeben habe, zu der Enthüllungsfeier zu reisen?

K.: Rupsch teilte es ihm mit. Holzhauer sagte, die Sache kommt mir sehr überrascht. Rupsch sagte dem Holzhauer, es müsse Geld beschafft werden.

Vors.: Die Glasflasche mit Dynamit haben Sie dem Rupsch gegeben?

K.: Ja.

Vors.: Sie wußten doch, daß Dynamit in der Flasche enthalten war?

K.: Nein.

Vors.: Sie wollten nun das Attentat vereiteln, da hätte es sich doch empfohlen, daß Sie dem Rupsch eine Flasche mit Wasser anstatt mit Dynamit gefüllt übergaben?

K. schwieg.

Vors.: Wußten Sie, was in der Blechbüchse, die Rupsch von Holzhauer bekommen hatte, enthalten war?

K.: Nein.

Vors.: Sie wollten, wie Sie behaupten, das Attentat verhindern, aber Sie hielten es nicht einmal für nötig, nachzusehen, was in den Gefäßen enthalten war?

K. schwieg.

Vors.: Sie sagen, Sie wählten die Dränage, weil Sie glaubten, dort würde das Dynamit naß werden. War denn in der Dränage Wasser?

K.: Nein, aber es regnete heftig, und da nahm ich an, es würde Wasser in die Dränage kommen.

Vors.: Wo standen Sie, als Rupsch die Zündschnur anstecken wollte?

K.: Ich stand im Walde.

Vors.: Konnten Sie den Rupsch bei seinen Manipulationen beobachten?

K.: Ich sah bloß, wie Rupsch die Zündschnur mit dem Dynamit verband. Das geschah aber schon früher.

Vors.: Sie behaupten also, Sie hätten sich an der ganzen Geschichte nur insoweit beteiligt, als Sie die Zündschnur aufgewickelt haben?

K.: Jawohl.

Vors.: Sie sagten gestern, Sie hätten den Rupsch nur scheinbar aufgefordert, mit Ihnen nach Wiesbaden zu reisen, Sie wollten dem Rupsch nur gewissermaßen auf den Zahn fühlen, Sie besaßen aber gar nicht das nötige Geld, um nach Wiesbaden zu reisen. Sie haben aber, um nach Hause reisen zu können, Ihre Uhr versetzt, Sie hätten nun ebensogut gleich Ihre Uhr versetzen können, dann hätten Sie doch die Mittel zur Reise nach Wiesbaden gehabt!

K.: Wenn wir auch das Reisegeld gehabt hätten, dann besaßen wir nicht die erforderliche Garderobe. In unserer Garderobe wären wir wohl schwerlich weder in das Theater zugelassen, noch in der Nähe des königlichen Schlosses geduldet worden.

Vors.: Sie haben einmal im Januar d.J. in einer bei Söhngen stattgehabten Versammlung, an der 12-13 Leute zusammen waren, erzählt, in welcher Weise Sie mit Rupsch sowohl auf dem Niederwalddenkmal als auch in Rüdesheim manipuliert haben. In dieser Versammlung haben Sie offen ausgesprochen, daß Sie willens waren, den Kaiser usw. zu töten, daß aber in beiden Fällen des heftigen Regens wegen das Werk mißglückt sei?

K.: Ja, das ist wahr. In dieser Versammlung erfuhren wir nämlich von der Verhaftung des Reinsdorf. Deshalb kam das Gespräch auf unsere Reise nach Rüdesheim usw. Da ich einmal doch von den meisten der dort versammelten Leute Geld erhalten hatte, um das Attentat zu begehen, und ich außerdem Geld erhalten wollte, um meine, anläßlich der Reise versetzte Uhr wieder einzulösen, so erzählte ich den Hergang in dieser ser Weise.

Vors.: In jener Versammlung erhielten Sie auch das Geld zur Einlösung der Uhr, und zwar das Geld aus Einnahmen von einer am zweiten Weihnachtsfeiertage zu Elberfeld stattgehabten sozialdemokratischen Festlichkeit?

K.: Jawohl.

Vors.: Es wurden bei Ihnen gefunden mehrere Exemplare der „Freiheit“, ein „Anti-Syllabus“ und noch einige andere verbotene sozialdemokratische Broschüren. Sie sagen, die Broschüren haben Sie besessen, noch ehe sie verboten waren!

K.: Ja.

Vors.: Aus einem bei Ihnen gefundenen Briefe geht hervor, daß Sie gewissermaßen Korrespondent der „Freiheit“ waren. Sie schreiben an Ihre Angehörigen: Sie wollten der „Freiheit“ einen Artikel schicken?

K.: Das wollte ich nur tun, um der Zentralleitung von unserer Verhaftung Mitteilung zu machen und eine kleine Unterstützung für meine Frau und Kinder zu erwirken.

Ein Beisitzer: Ist es richtig, daß Küchler, entgegen der Anweisung des Reinsdorf, eine wasserdichte Zündschnur zu kaufen, eine hanfene gekauft hat?

K.: Jawohl.

Beisitzender: Nun hat gestern Küchler gesagt: Rupsch hat die Schnur nicht durchschnitten, sondern die Schnur war zum Teil verkohlt, und als er sie aufhob, fiel sie auseinander?

K.: Jawohl.

Vors.: Gingen Sie dann, nachdem der Festzug vorüber war, zu der Dränage, um zu sehen, aus welchem Grunde die Explosion nicht geglückt sei?

K.: Nein, deshalb nicht.

Vors.: Das interessierte Sie also auch nicht?

K.: Nein.

Vors.: Sie gingen also lediglich zu der Dränage, um das Dynamit und die Zündschnur zu holen?

K.: Ja.

Auf die Frage eines Beisitzenden sagte K.: Er habe allerdings zu Rupsch gesagt, man solle irgendwo an einem menschenleeren Ort eine Dynamitpatrone legen und diese entzünden, damit es wenigstens knalle. Palm, der 40 Mark gegeben, sagte ja: „Es muß wenigstens tüchtig knallen.“ Rupsch wollte die Explosion aber in der Festhalle in Rüdesheim zur Ausführung bringen.

Vors.: Nun, Angeklagter Rupsch, Sie haben gehört, was Küchler gesagt hat?

Rupsch: Das ist alles Lug und Trug. Es ist zum Beispiel eine offenbare Lüge, daß ich kein Messer gehabt habe; mag Küchler einmal das Messer beschreiben.

Vors.: Obwohl das zu keinem Ergebnis führen dürfte, fordere ich den Küchler auf, das Messer zu beschreiben. Dies geschah.

Rupsch: Das Messer, das ich bei mir geführt, war ein ganz kleines, nicht mit weißer, sondern mit schwarzer Schale; ich habe das Messer von Reinsdorf erhalten.

Vors.: Reinsdorf, ist das wahr?

Reinsdorf: Jawohl.

Vors.: Wo ist das Messer geblieben?

Rupsch: Das eine Messer habe ich an Reinsdorf zurückgegeben und das meinige habe ich verloren.

Vors.: Dann besaßen Sie also am 28. September zwei Messer?

Rupsch: Ja.

Vors.: Dann ist doch möglich, daß Küchler Ihr Messer gehabt hat?

Rupsch: Das ist möglich.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bezeichnete Rupsch alle Angaben des Küchler als Lügen. Am 23. September hat Küchler zu mir gesagt, Reinsdorf hat mich zur Begehung der Tat ausersehen. Am 24. September bin ich mit Küchler zu Reinsdorf gegangen, um von diesem die nötigen Instruktionen zu empfangen. Am 25. abends ist die Konferenz bei Holzhauer gewesen, und am 26. bin ich nochmals bei Reinsdorf gewesen. Daß Küchler nicht gewußt hat, was in der Flasche gewesen, ist Lüge. Ebenso hat Reinsdorf nicht gesagt, der erste Wagen, in dem jedenfalls der Kaiser sitzen würde, müsse geschont werden. Küchler hat mir gesagt: der Kaiser, der Kronprinz und alle Generale kommen dort zusammen, die müssen getötet werden. Auch Reinsdorf hat mir wiederholt gesagt, die Explosion solle erfolgen, um den Kaiser, den Kronprinzen und alle Fürsten zu töten, ich solle den Wagen auf 50 oder 150 Schritt herankommen lassen, ehe ich die Explosion ins Werk setze.

Küchler: Ich weiß mich nicht mehr genau zu erinnern, ob ich am Montag, den 24., bei Reinsdorf gewesen bin, ich bestreite jedenfalls, daß ich zu Rupsch gesagt habe: der Kaiser, der Kronprinz und alle Generale sollen getötet werden.

Vors.: Rupsch, wozu gab Ihnen Reinsdorf das Messer mit?

Rupsch: Um behufs Befestigung des Schwammes einen Einschnitt in die Schnur machen zu können.

Vors.: Sie hatten doch selbst ein Messer?

Rupsch: Reinsdorf sagte, das meinige würde nicht schneiden.

Es wurde hierauf zur Vernehmung des Angeklagten Holzhauer geschritten.

Vors.: Angeklagter Holzhauer, Sie werden, beschuldigt, dem Küchler und Rupsch, die den Versuch gemacht haben, Se. Majestät den Kaiser, den Kronprinzen und alle Bundesfürsten zu töten, behilflich gewesen zu sein.

Holzhauer: Nein, ich bin unschuldig.

Vors.: Erzählen Sie einmal von den Versammlungen, die bei Ihnen stattgefunden haben.

Holzhauer: Versammlungen haben bei mir überhaupt nicht stattgefunden. Es haben mich oftmals einige Freunde besucht, Versammlungen haben aber bei mir nicht stattgefunden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bestritt Holzhauer alle gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Er wußte weder vor- noch nachher etwas von der Reise des Küchler und Rupsch nach Rüdesheim oder gar von dem beabsichtigten Attentat. Ebensowenig habe er dem Küchler und Rupsch Instruktionen oder gar Dynamit gegeben. Der Vorsitzende hielt dem Holzhauer vor, daß er eidlich bekundet habe: er wisse nicht, ob Rupsch mit Reinsdorf bekannt war, während er heute sagte: es sei selbstverständlich, daß Rupsch und Reinsdorf bekannt waren, denn sie waren am 9. September zusammen in seiner (Holzhauers) Wohnung. Ferner hielt der Vorsitzende dem Holzhauer vor: er habe außerdem eidlich bekundet: Rupsch, der bei ihm gewohnt, sei immer zu Hause gewesen, während er heute sage, er wisse nicht, ob Rupsch in den Nächten vom 26. bis 29. September 1883 zu Hause gewesen sei.

Holzhauer: Das kann ich heute nicht mehr so genau wissen.

Vors.: Sie bestreiten also auch, daß am 25. September eine Konferenz in Ihrer Wohnung stattgefunden hat, wobei Sie noch einmal auseinandergesetzt haben, worauf es ankomme, und daß ferner in Ihrer Wohnung Gelder gesammelt wurden?

Holzhauer: Das ist alles nicht wahr.

Staatsanwalt Treplin: Ist die Bekundung des Rupsch wahr, daß, als er Sie, auf Reinsdorf deutend, gefragt: wer das sei, Sie mit den Achseln gezuckt haben?

Holzhauer: Davon weiß ich nichts.

Der Angeklagte Rheinbach bekannte sich ebenfalls für nichtschuldig. Reinsdorf sei ihm vollständig unbekannt. Am 9. September sei er bei Holzhauer nicht gewesen, dagegen am 25. September. Holzhauer sagte ihm: er solle ihm die 10 Mark, die er ihm schulde, geben, er brauche sie für Rupsch, der nach Hause reisen wolle. Daß Rupsch fortreisen wolle, um ein Attentat usw. zu begehen, habe er nicht gewußt; er habe überhaupt ähnliche Redensarten niemals gehört. Er habe dem Holzhauer die 10 Mark gegeben, obwohl er ihm volle 10 Mark nicht schuldig gewesen sei. Er habe aber das Geld gegeben, damit Rupsch abreisen könne, denn dieser sei schon 14 Tage arbeitslos gewesen. Im Monat Januar 1884 habe er einer Versammlung bei Söhngen beigewohnt. Dort habe Küchler ler erzählt: Er sei am 28. September in Rüdesheim, wo etwas unternommen werden sollte, gewesen. Küchler habe dabei auch von der Festhalle und dem Niederwalddenkmal gesprochen.

Vors.: Hat Küchler nicht auch von dem Kaiser und dem Kronprinzen gesprochen?

Rheinbach: Nein.

Vors.: Früher haben Sie das aber gesagt.

Rheinbach: Das ist möglich, ich weiß mich heute nicht mehr genau zu erinnern.

Vors.: Als Sie verhaftet wurden, sind Exemplare der „Freiheit“ per Post aus Paris für Sie angekommen. Außerdem ist ein Brief, den Holzhauer an Sie geschrieben, bei Ihnen gefunden worden. In diesem heißt es u.a.: „Die Marken für die Fr. hast Du immer noch nicht abgeschickt.“ Danach scheint es, als hätten Sie die Vermittelung der Abonnementsgelder für die Expedition der „Freiheit“ übernommen, denn jedenfalls werden die Abonnementsgelder in Briefmarken gezahlt?

Rheinbach: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Holzhauer, was verstanden Sie unter der Absendung von Marken?

Holzhauer: Dafür habe ich keine Erklärung.

Der Angeklagte Söhngen äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin unschuldig. Reinsdorf kannte ich nicht. Rupsch, den ich bei Holzhauer kennenlernte, te, klagte mir, daß er arbeitslos sei, und fragte mich, ob ich ihm Arbeit verschaffen könnte. Ich verneinte dies. Am 25. September morgens war Rupsch bei mir und ersuchte mich, ihm Geld zu geben, da er abreisen wolle. An demselben Abend kam ich zu Holzhauer, um dem Rupsch zu sagen, daß ich kein Geld habe. Töllner, Rheinbach und Küchler waren auch bei Holzhauer. Ich wurde von Holzhauer dringend aufgefordert, doch etwas Geld zu beschaffen. Ich holte 8 Mark, die ich dem Rupsch übergab. Als ich zurückkam, war die Rede von der bevorstehenden Enthüllungsfeier. Rupsch sagte: Dort könnte etwas passieren. Ich bemerkte: da wird sich wohl jeder hüten, denn dort wird sehr viel Polizei sein. Einige Tage darauf begegnete ich dem Rupsch zu meiner Verwunderung wieder, ich glaubte, er sei längst abgereist. Ich ging mit Rupsch in ein Bierlokal, und da sagte mir Rupsch: Er sei bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals gewesen, dort sollte etwas passieren, es ist jedoch unterlassen worden.

Vors.: Stimmt das? sagte Rupsch, es ist unterlassen worden?

Söhngen: Genau weiß ich es nicht mehr, möglich ist es auch, daß er gesagt hat: „Es ist nicht zur Ausführung gekommen.“ Ich ging alsdann mit Rupsch zu Reinsdorf ins Krankenhaus. Reinsdorf, den ich unter den Namen Penzenbach kannte, sprach längere Zeit sehr leise mit Rupsch; ich konnte von dem Gespräch nichts verstehen. Reinsdorf gab mir schließlich 3 Mark.

Vors.: Wozu gab er Ihnen die 3 Mark?

Söhngen: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sagte Ihnen Reinsdorf nicht, wofür er Ihnen die 3 Mark gab?

Söhngen: Nein.

Vors.: Wunderten Sie sich nicht, daß Ihnen Reinsdorf ohne weiteres 3 Mark gab?

Söhngen: Nein, ich glaubte, Reinsdorf gebe mir das, da ich eine große Familie zu ernähren habe.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte Söhngen noch: Im Monat Januar sei er in einer Versammlung gewesen, woselbst Küchler von einer versetzten Uhr gesprochen habe, etwas weiteres habe er jedoch nicht gehört.

Vors.: Nachdem Sie schon verhaftet waren, sind einige Exemplare der „Freiheit“ an Sie aus London angekommen?

Söhngen: Das ist möglich.

Der Angeklagte Töllner gab die Möglichkeit zu, daß er am 25. September bei Holzhauer gewesen sei; er sei jedoch an jenem Abend sinnlos betrunken gewesen und wisse absolut nicht, was dort gesprochen worden sei, ebensowenig, ob er jemandem Geld gegeben habe.

Alsdann wurde zur Vernehmung des Reinsdorf bezüglich der Niederwalddenkmal – und der Rüdesheimer Affäre geschritten. Vors.: Reinsdorf, Sie sind beschuldigt, Rupsch und Küchler angestiftet zu haben: das Dynamitattentat zu begehen und dadurch Se. Majestät den Kaiser, den Kronprinzen und überhaupt alle diejenigen, die in der Nähe des Denkmals sich aufhielten, zu töten, und ferner den Rupsch und Küchler angestiftet zu haben, das Attentat in Rüdesheim zu begehen.

Reinsdorf: An dem ersten Attentat habe ich meine Hand im Spiele gehabt, das zweite haben Rupsch und Küchler auf eigene Faust getan; ich konnte nicht wissen, daß die beiden Leute die Dummheit begehen werden, 10 Schritt von der Festhalle eine Dynamitexplosion zu vollführen. Als nach dem sogenannten glorreichen Kriege die neue Ära begann, da sollte eine bessere Zeit anbrechen. Es sollten Zustände eintreten, die empfehlenswert und nachahmenswert seien, wie diese liberalen Phrasen alle lauteten. Für die Arbeiter hat jedoch die neue Ära nicht das mindeste gebracht. Die Arbeiter darben nach wie vor, sie sind und bleiben nach wie vor die verachtete Klasse, sie arbeiten bloß für die oberen Zehntausend. Sie bauen die schönsten Paläste und wohnen in den armseligsten Hütten. Sollen wir uns das noch länger gefallen lassen? Ich sage, wer sich noch länger treten läßt, wer nichts tut, um die bestehenden Zustände zu ändern, der ist kein Mann. (Reinsdorf stampfte hier mit dem Fuße tüchtig auf die Erde.)

Vors.: Ich will Ihnen den größtmöglichsten Spielraum lassen, ich fordere Sie aber auf, etwas ruhiger zu bleiben und nicht mit den Händen öder Füßen aufzuschlagen.

R.: Um eine Änderung dieser Zustände herbeizuführen, hat sich in Deutschland eine sozialdemokratische Partei gebildet. Das kommunistische Manifest sagt: „Die Emanzipation der Arbeiter kann nur durch die Arbeiter selbst geschehen.“ Die sozialdemokratische Partei hat aber längst diesen Grundsatz verlassen, die sogenannte sozialdemokratische Partei hat sich in eine Bourgeoispartei verwandelt. Der Stimmzettel, sagen die sogenannten Sozialdemokraten, ist das Mittel, womit wir kämpfen. Ich sage aber, ob Bebel und Liebknecht in den Reichstag kommen, ist sehr gleichgültig, dadurch können die Zustände nicht besser werden. Wir wollen nicht warten, bis die Zustände auf Grund geschichtlicher Entwicklung besser werden, zumal die Reaktion bemüht ist, die Bestrebungen für Besserung der Verhältnisse soweit wie möglich zu inhibieren. Deshalb hat sich auch in Deutschland eine anarchistische Partei gebildet, die von Worten zur Tat übergehen will. Diese anarchistische Partei ist von den Sozialdemokraten mit allen erdenklichen denklichen Mitteln bekämpft worden. Als der arme Hödel in Berlin hingerichtet wurde, der doch immerhin als Mann starb, da waren es gerade die sogenannten Sozialdemokraten, die den Menschen noch nach dem Tode beschimpften. Die Sozialdemokraten bezeichneten sehr bald die Anarchisten als Polizeispione, weil ihnen diese Bewegung unbequem war. Die Sozialdemokraten haben ihre Agitation längst darauf beschränkt, daß eine Anzahl Menschen in den Reichstag kommen und daß für deren Magen von den Arbeitern gesorgt wird. Die große Masse der Arbeiter erblickt aber in dem Parlamentarismus, in dem Kampf mit dem Stimmzettel, keine Aussicht auf Besserung ihrer Verhältnisse. Nun sagt man, Attentate werden nur von vaterlandslosem Gesindel begangen. Das ist falsch. Wir deutschen Arbeiter haben mehr Patriotismus als die ganze Bourgeoisie, wenn wir auch den sogenannten heiligen Krieg nicht für einen heiligen, sondern für einen dynastischen Eroberungskrieg halten. Allein unsere Brüder in Frankreich haben schon 1830, 1848 und 1871 für die Befreiung der Arbeiter gekämpft. Sollen wir deutschen Arbeiter immer ruhig zusehen und die Kastanien aus dem Feuer für uns holen lassen? Und wenn wir nichts auf dem Wege der Revolution machen können, so muß dies auf andere Weise geschehen. Und wenn dies durch Attentate zu erreichen ist, so müssen eben Attentate begangen werden. den. Man wird einwenden: das ist doch aber schrecklich. Wie kann man Fürsten morden wollen? Es ist doch aber besser, daß einer stirbt, als daß viele Leute sterben. Wenn durch die Tötung eines Mannes bessere Zustände herbeigeführt werden, so darf man nicht zurückschrecken. Der Zweck heiligt eben das Mittel.

Oberreichsanwalt Dr. Freiherr von Seckendorf: Der Angeklagte hat hier den Fürstenmord als empfehlenswert bezeichnet; ich beantrage diese seine Äußerung zu protokollieren; ich werde alsdann gegen Reinsdorf die nötigen Strafen beantragen.

Vors.: Ich ersuche Sie, Herr Kanzleirat, diese letzten Worte des Angeklagten Reinsdorf zu Protokoll zu nehmen.

Reinsdorf fuhr fort: Ich habe bloß gesagt: „Der Zweck heiligt die Mittel“, das ist ein jesuitischer Grundsatz, damit habe ich doch noch nicht den Fürstenmord als empfehlenswert bezeichnet. Ich wurde ja schon am Montag unterbrochen, weil befürchtet wurde, ich könnte eine Beleidigung gegen den Deutschen Kaiser begehen. Das wollte ich nicht tun, ich wollte bloß einige historische Reminiszenzen anführen. Nun sage ich, wenn es im Interesse der Gesamtheit liegt, dann darf man auch nicht vor einem Attentate zurückschrecken. Wenn es die Durchführung der anarchistischen Grundsätze gilt, dann darf man sich eben nicht scheuen, auch das Leben zu opfern.

Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie hier keine propagandistische Rede halten, sondern vor einem Gerichtshofe stehen, um Ihre Verteidigung zu führen. Ich fordere Sie also auf, die Grenze der Verteidigung innezuhalten.

Reinsdorf: Ich bin eigentlich nicht hier, um mich zu verteidigen, es ist mir sehr gleichgültig, ob ich meinen Kopf verliere. Ein Anarchist muß auch im Interesse der Sache zu sterben wissen. Wie sehr diese anarchistischen Ideen bereits unter die deutschen Arbeiter gedrungen sind, können Sie aus dem Verhalten Rupschs und der übrigen Angeklagten ersehen. Ich sage dem Rupsch, der die anarchistischen Ideen kaum kennt, einige Worte ins Ohr, und er ist bereit, sofort das Attentat zu vollführen. Er erzählt meinen Auftrag anderen armen Arbeitern, diese tragen sofort die nötigen Gelder zusammen, um die Reise des Rupsch nach Rüdesheim zu ermöglichen. Rupsch versetzt sogar dazu seinen Koffer. Daß Rupsch die anderen Arbeiter mit in die Affäre gezogen, ist sehr unrecht, dies habe ich ihm ausdrücklich verboten. Er sollte den anderen irgend etwas vorspiegeln, damit sie ihm Geld geben, denn die Leute sind alle verheiratet und haben Kinder. Holzhauer hat fünf Kinder, Küchler ein halbes Dutzend usw. Rupsch ist dagegen ledig. Hätten diese später erfahren, zu welchem Zwecke das Geld gegeben worden, dann hätten sie sich nachträglich auch gefreut, freut, daß sie es im Interesse einer guten Sache gegeben haben.

Vors.: Sie haben also den Rupsch beauftragt, zu der Enthüllungsfeier zu fahren und dort mittels eines Dynamitattentates Se. Majestät den Kaiser, den Kronprinzen, Se. Majestät den König von Sachsen usw. zu töten?

Reinsdorf: Wer dadurch getötet werden sollte, war mir gleichgültig, mir kam es nur darauf an, daß dort eine Demonstration vorkam.

Vors.: Sie sagten dem Rupsch aber, daß die Explosion, um Leute zu töten, geschehen solle?

Reinsdorf: Auch das habe ich ihm nicht gesagt. Ob der erste, der zweite oder der dritte Wagen in die Luft gesprengt wurde, war mir gleichgültig, so genau läßt sich das ja auch nicht berechnen.

Vors.: Aber es lag doch in Ihrer Absicht, daß durch das Attentat Menschen getötet werden sollten?

Reinsdorf: Das nicht direkt, wenn ein Pferd dadurch getötet worden wäre, wäre es mir schließlich auch gleich gewesen.

Vors.: Sie mußten sich doch aber sagen, daß durch ein solches Attentat Menschen getötet werden konnten!

Reinsdorf: Allerdings, wenn man so etwas unternimmt, dann darf man auch nicht so kleinlich sein.

Vors.: Sie haben dem Rupsch genaue Instruktionen über sein Verhalten gegeben?

Reinsdorf: Jawohl.

Vors.: Welche Instruktionen gaben Sie dem Küchler?

Reinsdorf: Küchler sollte lediglich gewissermaßen als Deckung für Rupsch mitgehen. Handeln sollte allein Rupsch, Küchler sollte bloß beobachten. Ich sagte dem Rupsch: Wenn du durch dein Schwatzen oder dummes Vorgehen gefaßt wirst, dann hast du eben die Konsequenzen zu tragen, dann stirbst du für eine große Sache, verraten darfst du jedoch niemanden.

Vors.: Schlug Ihnen nicht Ihr Gewissen, als Sie einen anderen aufforderten, ein solches Verbrechen zu begehen, und diesen Menschen dadurch eventuell in ein furchtbares Unglück stürzten?

Reinsdorf: Wenn es die Förderung der anarchistischen Grundsätze gilt, dann darf man solche Kleinigkeiten nicht beachten. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Sie bekennen sich also dem Anklagebeschluß gemäß für schuldig: Rupsch und Küchler zur Tötung des Kaisers, des Kronprinzen, des Königs Albert von Sachsen usw. angestiftet zu haben?

Reinsdorf: Ich betrachte die ganze Angelegenheit, den Grund, daß ich hier stehe, überhaupt bloß für eine Machtfrage. Wenn wir eine Anzahl anarchistischer Armeekorps hätten, dann stände ich eben nicht hier. (Große, anhaltende Bewegung.)

Vors.: Was passieren dürfte, wenn anarchistische Armeekorps existieren. würden, lassen Sie einmal beiseite, sondern halten Sie an der Tatsache fest, daß Sie eben hier vor dem Reichsgerichtshof stehen. Also, ich stelle wiederholt die Frage an Sie: bekennen Sie sich dem Inhalt der Anklage nach für schuldig?

Reinsdorf: Ich kann darauf nicht antworten. Ziehen Sie aus meinen Ausführungen Ihre Konsequenzen, ich stehe hier, um Ihre Entscheidung abzuwarten.

Vorsitzender: Dann ist Ihre Vernehmung erledigt. Ich will Sie bloß noch fragen: Was haben Sie zu Rupsch gesagt, als er Ihnen nach seiner Rückkunft über seine Taten Bericht erstattete?

Reinsdorf: Ich zuckte mit den Achseln, denn ich konnte ihn doch für seine Heldentaten nicht loben, tadeln wollte ich ihn aber auch nicht.

Rupsch bezeichnete es als Lüge, daß Reinsdorf gesagt: er solle den anderen von dem erhaltenen Auftrage keine Mitteilung machen.

Es wurde alsdann Landrichter Schäfer (Elberfeld) als Zeuge vernommen. Dieser, der mit Rupsch auf dem Niederwald und in Rüdesheim gewesen und die Untersuchung gegen Rupsch geführt hatte, bekundete: Rupsch habe in allen Dingen große Offenheit an den Tag gelegt und bei der Besichtigung des Niederwaldweges volle Sicherheit bewahrt. Nur in Rüdesheim wurde er etwas unsicher, da begann er plötzlich zu suchen.

Förster Fleckner (Rüdesheim), Waldarbeiter Keßler (Preßburg bei Rüdesheim) und Katasterkontrolleur Karst (Rüdesheim) schilderten die Örtlichkeit des Weges zum Niederwald-Denkmal.

Bei dieser Gelegenheit wurden die Bäume in Augenschein genommen, die behufs Anlegung eines Promenadenweges allerdings längst abgeschnitten worden sind. In diese Bäume hatte Rupsch Einschnitte gemacht, um die Zündschnur wiederzufinden. Rupsch gab als möglich zu, diese Einschnitte gemacht zu haben.

Fräulein Rosa und Louise Liebler (Rüdesheim), bei deren Eltern Rupsch und Küchler am 27. September Wein getrunken und alsdann das Paket mit den Dynamitgefäßen zurückgelassen hatten, um zum Denkmal zu gehen, vermochten die genannten Angeklagten nicht genau wiederzuerkennen. Die Zeuginnen erinnerten sich, daß die beiden Männer behutsam ein Paket auf den Schrank gelegt und gesagt haben: das Paket müsse mit Vorsicht behandelt werden.

Frau Schneider Engelmann (Rüdesheim), in deren Wohnung Rupsch und Küchler vom 27. zum 28. September übernachtet hatten, bekundete, daß Rupsch die 5 Mark gezahlt habe; Küchler habe das Geld dem Rupsch behufs Bezahlung gegeben. Rupsch behauptete, tete, daß nicht er, sondern Küchler der Frau das Geld gegeben habe.

Am vierten Verhandlungstage stellte der Angeklagte Reinsdorf den Antrag: Frau Klempnermeister Stuhlmann (Elberfeld) als Zeugin vorzuladen. Er wolle dadurch den Beweis führen: in welch leichtfertiger Weise in dem gegenwärtigen Prozeß Zeugnis abgelegt werde.

Der Gerichtshof beschloß; den Antrag als unerheblich abzulehnen.

Es wurde alsdann nochmals Weber Palm (Elberfeld) vernommen: Küchler habe ihm einmal erzählt: Er sei mit Rupsch bei der Denkmalsenthüllung auf dem Niederwald gewesen und habe dort in eine Dränage eine Dynamitpatrone gelegt, diese sei jedoch infolge des heftigen Regens nicht losgegangen. Am 25. September 1883 seien Rupsch und Küchler zu ihm gekommen und haben gesagt: sie hätten Hunger. Er habe infolgedessen den Leuten Brot gegeben. Alsdann habe Küchler zu ihm gesagt: er solle ihm Geld leihen. Da er es nicht hatte, habe er es sich beschafft und dem Küchler gegeben.

Vors.: Wieviel gaben Sie ihm?

Zeuge: 40 Mark.

Vors.: Sagte er Ihnen, wozu er des Geldes bedürfe?

Zeuge: Er sagte, er wolle nach London reisen, um eine große Anzahl „Freiheiten“ und andere sozialdemokratische mokratische Schriften zu holen.

Vors.: Wann wollte er Ihnen das Geld zurückerstatten?

Zeuge: Gleich nach seiner Rückkunft aus London; er sagte: er erhalte in London so viel Geld, daß er mir die 40 Mark sofort zurückgeben könne.

Vors.: Küchler behauptet, er hätte Ihnen gesagt, Sie sollten ihm die 40 Mark leihen, da er nach Rüdesheim reisen wolle, um dort ein Attentat zu begehen. Sie sollen geantwortet haben: das ist gut, es muß aber tüchtig knallen?

Zeuge: Das ist nicht wahr. Küchler sagte mir allerdings einmal, wenn etwas passieren sollte, dann werde er es zu verhindern suchen.

Vors.: Hat Ihnen Küchler später einmal etwas mitgeteilt?

Zeuge: Im Monat Januar war eine Anzahl Leute bei Söhngen versammelt. Dort erzählte Küchler, er sei mit Rupsch bei der Enthüllungsfeier auf dem Niederwald gewesen, um ein Dynamitattentat zu begehen. Die Explosion sei infolge der großen Nässe jedoch nicht erfolgt. Sie hätten alsdann neuen Schwamm angemacht, um die Explosion erfolgen zu lassen, wenn der Festzug zurückkomme, allein auch diese Manipulation sei mißglückt.

Vors.: Hat das Küchler laut erzählt, so daß es alle Anwesenden hören konnten?

Zeuge: Ja, der es hören wollte, konnte es hören.

Vors.: Zu welchem Zwecke erzählte das Küchler?

Zeuge: Ich nehme an, daß Küchler das gesagt hat, um 9 Mark behufs Einlösung seiner Uhr zu erhalten, die er anläßlich der erwähnten Reise nach dem Niederwald versetzt hatte.

Vors.: Erhielt Küchler das Geld?

Zeuge: Ja, der Weber Vestweber gab es ihm.

Vors.: Gab ihm Vestweber das Geld aus eigenen Mitteln oder aus irgendeiner Kasse?

Zeuge: Ich glaube, er gab es ihm aus den Einnahmen, die bei Gelegenheit eines am zweiten Weihnachtsfeiertage zu Elberfeld stattgehabten Arbeiterfestes erzielt wurden.

Vors.: Wurde Ihnen nicht einmal gedroht, wenn Sie etwas verrieten?

Zeuge: Wann das gewesen ist, weiß ich nicht mehr, ich glaube, es war am zweiten Osterfeiertage, da kamen mehrere Arbeiter in Elberfeld zusammen. Es wurde mir gesagt, wenn ich zur Sache halten wolle, dann dürfe ich nichts verraten, sonst könnte es mir ans Leben gehen.

Vors.: Wer sagte das zu Ihnen?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Bei Ihrer früheren Vernehmung sagten Sie: Küchler habe geäußert: Da das erstemal die Zündschnur versagt hatte, so beschlossen wir, die Explosion on erfolgen zu lassen, sobald der Festzug zurückkam. Wir banden deshalb neue Zündschnur an. Ist das wahr?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr genau. Ich will dabei bemerken, daß, als ich von dem Herrn Landrichter Schäfer vernommen wurde, dieser sagte, wenn ich nicht gestehe, werde ich angeklagt, wenn ich aber gestehe, sei ich bloß Zeuge. Ich habe selbstverständlich die volle Wahrheit gesagt, ich halte jedoch diese Äußerung des Herrn Landrichters für eine Drohung.

Vors.: Wir werden Herrn Landrichter Schäfer darüber vernehmen. Küchler und Vestweber haben einmal einen Brief nach Neuyork geschrieben, der in der „Freiheit“ veröffentlicht werden sollte?

Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt. Das Zentralkomitee zu Neuyork, zu dem auch mein Bruder und ein Weberssohn aus Ronsdorf gehört, erfuhren von meiner Verhaftung. Sie schickten deshalb an mich bzw. zur Unterstützung meiner Frau 100 Mark unter der Deckadresse eines Webers in Ronsdorf. Inzwischen war ich aber schon entlassen und bedürfte der Unterstützung nicht mehr. Ich veranlaßte, daß das Geld unter einer anderen Deckadresse den Familien der anderen noch in Haft Befindlichen zugehe.

Vors.: Bei einer früheren Vernehmung haben Sie gesagt: Es wurde Ihnen bemerkt, über die Versammlung bei Söhngen müsse Schweigen beobachtet werden, den, wer etwas verrate, dem würde etwas passieren?

Zeuge: Ich glaube, daß es so war.

Landrichter Schäfer: Palm hat zum Teil recht. Ich habe zu ihm und allen Verhafteten gesagt, Sie können mir nichts mehr Neues sagen, da die anderen bereits alles gestanden haben. Gedroht habe ich niemandem, sondern sie bloß auf die Folgen des Meineides aufmerksam gemacht. Ich bemerke jedoch, daß ich zunächst alle Verhafteten uneidlich vernommen habe. Bei Palm hätte ich am allerwenigsten nötig gehabt, Drohungen anzuwenden, denn dieser erzählte mir sehr viel. Wenn er nicht gleich etwas wußte, dann dachte er nach und erzählte mir immer wieder etwas Neues.

Vors.: Zeuge Palm, Sie haben bei einer Ihrer früheren Vernehmungen gesagt: Sie hätten nicht so viel erzählt, wenn Sie nicht einen Eid geleistet hätten?

Zeuge: Das ist wahr.

Vors.: Dann haben Sie also die volle Wahrheit gesagt?

Zeuge: Jawohl.

Auf Befragen des Vorsitzenden erzählte Küchler: Da die Explosion zum ersten Male nicht erfolgt sei, so habe ihm Rupsch ein Stück Schwamm, das angebrannt war, gebracht, um ihm zu zeigen, daß der Schwamm zu naß gewesen sei.

Vors.: Rupsch, ich habe Ihnen schon einmal vorgehalten, daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß Sie die Zündschnur mittels einer kalten Zigarre angeschwärzt haben, um den Küchler glauben zu machen, daß die Schnur angebrannt, aber wegen zu großer Nässe wieder erloschen sei?

Rupsch: Das ist aber doch wahr.

Vors.: Küchler, können Sie das dem Rupsch ins Gesicht sagen?

Küchler (zu Rupsch gewendet): Das, was ich gesagt habe, ist wahr.

Rupsch: Dann lügst du.

Reinsdorf: Ich richte an den Zeugen Palm die Frage, woher er die 40 Mark, die er dem Küchler gegeben, genommen hat? Ich behaupte nämlich, die 40 Mark waren von der Polizei?

Vors.: Sie haben nur Anträge zu stellen, ich will jedoch den Zeugen fragen: ob er hierüber Auskunft gehen will?

Palm: Ich verweigere hierüber die Aussage, da ich sonst eventuell selbst mit reinkommen kann.

Reinsdorf: Ich bin befriedigt.

Der nächste Zeuge war Färber Külpmann (Barmen). An diesen war folgender Brief angelangt:

„Neuyork, den ... 1884. Werte Freunde und Genossen! Ich will Euch hiermit benachrichtigen, daß ich den Brief bekommen habe von Euch, ich habe ihn direkt besorgt. Genosse J.M. ist jetzt nicht in Neuyork. Er macht eine Agitationsreise durch die Vereinigten Staaten. Als Justus Sch. den Brief gelesen halte, hat er den Brief sofort J.M. nachgeschickt. Er hat zurückgeschrieben, daß 10 D. vorläufig geschickt, werden sollen, und ich werde auch sorgen, daß ich auf eigene Faust Euch bald was schicken werde. Der G.V. kann zu meinen Eltern gehen und holt dasselbige ab, was ich einem mitgab, der den 10. Juli nach hier abfährt, es sind Schriften. Dann seid so gut und schreibt mir, ob J. Sch. Euch dasjenige auch geschickt hat, er wollte auch Schriften über die deutsche Grenze bringen, denn es ist augenblicklich niemand da, der sie von Belgien über die deutsche Grenze bringt. Es gehen jede Woche 1000 Exemplare der Fr. nach Europa. Wilhelm Weidenmüller ist schon einige Male bei mir gewesen, er hat direkt Arbeit bekommen. Ich habe ihn neulich in unsere Gruppe J.A.A. genommen. Millenberger ist auch hier. Sonst kann ich Euch nicht viel Neues schreiben bis nächstens. Schreibt nur immer andere Adressen, die nicht bekannt sind. Ich werde alles besorgen, macht nur voran. Mit sozialrevolutionärem Gruß gez. Friedr. Erlenköller. Adr. Mr. Friedr. Erlenköller. Neuyork. An Mr. Richard Külpmann, Bismarckstraße Nr. 63. Unter-Barmen. Germany. Rheinprovinz.“

Der Zeuge bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er nicht wisse, wie er zu diesem Briefe gekommen sei.

Packer Vestweber (Barmen) gab zu, dem Küchler in einer bei Söhngen im Januar 1884 stattgehabten Zusammenkunft 9 Mark gegeben zu haben. Zu welchem Zwecke er das Geld gegeben, wisse er nicht mehr. Von der Unternehmung eines Attentats wisse er nichts.

Polizeikommissar Gottschalk (Elberfeld): Rupsch habe mit geringen Abweichungen dasselbe gesagt, wie er es hier erzählt habe. Rupsch habe ihm gesagt, die Schnur sei so naß gewesen, daß sie nicht brennen konnte. Er habe bei Küchler und Holzhauer Haussuchung gehalten, bei keinem sei aber Dynamit gefunden worden. In dem Garten von Holzhauer habe er Löcher gefunden, die auf Dynamitvergrabungen schließen ließen.

Holzhauer bestritt das.

Auf Befragen des Reinsdorf bestätigte Polizeikommissar Gottschalk, daß infolge der felsigen Gegend viele Hausbesitzer im Wuppertal Dynamit besitzen; daß dort auch Arbeiter Dynamit besitzen, stelle er in Abrede. Weidenmüller habe allerdings, wie er gehört, Dynamit besessen, doch soviel er wisse, habe er es verkauft.

Reinsdorf: Von wem hat der Herr Polizeikommissar gehört, daß Weidenmüller Dynamit besitzt, vielleicht von Weidenmüller selbst?

Zeuge: Darüber verweigere ich die Antwort.

Polizeikommissar Wilsing (Barmen): Er habe dieselben Wahrnehmungen in dem Garten des Holzhauer wie Gottschalk gemacht.

Buchbinder Hocke (Barmen): Ich habe wasserdichte und nichtwasserdichte Zündschnur zum Verkauf. Die erstere kostet 75 Pf., die andere 30 Pf. Welche ich dem Rupsch und Küchler zur Zeit verkauft, und ob ich überhaupt einmal eine Zündschnur verkauft habe, weiß ich nicht; ich kenne die Leute nicht.

Färber Külpmann (Barmen): Zur Zeit der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals habe ich dem Söhngen einmal Geld geliehen. Wieviel das gewesen und zu welchem Zwecke ich es ihm geliehen habe, weiß ich nicht mehr.

Schlossermstr. Lennarr (Barmen): Er habe im Sommer 1883 dem Rheinbach auf zwei Wechsel Geld geliehen. Etwa am 26. oder 27. September mittags oder vielleicht abends habe er dem Rheinbach 10 Mark geliehen. Soweit er sich erinnere, habe ihm Rheinbach gesagt, er bedürfe des Geldes, da ein Freund von ihm nach Amerika reisen wolle.

Rheinbach: Ich gebe zu, die letzterwähnte Bemerkung zu dem Zeugen getan zu haben, ich konnte ihm doch nicht sagen, ich bedürfe des Geldes, um eine Schuld zu bezahlen.

Bürgermeister Alberti (Rüdesheim): Soweit er ermittelt, sei durch die Explosion in Rüdesheim ein Schaden von mindestens 400 Mark entstanden; genau wisse er das nicht mehr. Es entstand zunächst die Vermutung, daß die Explosion von einem Bahnwärter, alsdann daß sie von einem Gastwirt aus Konkurrenzneid, im weiteren daß sie von einem weggejagten Kellner aus Rache verübt worden sei. Er habe die ganze Umgegend untersucht, habe jedoch an der Stelle, an der Rupsch die Dynamitpatrone gelegt haben will, keinerlei Vertiefung gefunden, die des Rupschs Angaben bestätigen könnten. Er hätte eine solche Vertiefung, wenn sie vorhanden gewesen wäre, finden müssen. Er sei der Überzeugung, daß die Dynamitpatrone unterhalb einer zur Festhalle gehörenden Bretterwand gelegt worden sei. Diese Wand sei sofort eingefallen und habe ganz besonders in der Vorratskammer Verheerungen angerichtet. Die ganze Festhalle bestand aus Bretterwänden, und der Vorratsraum war von den übrigen Räumen auch nur durch Bretterwände geschieden.

Rupsch: Es ist ja möglich, daß auch von einem anderen eine Explosion unternommen worden ist, ich habe das Dynamit 10 Schritt vor der Festhalle gelegt.

Vors.: Angeklagter Reinsdorf, haben Sie dem Rupsch gesagt: er solle den Wagen Sr. Majestät des Kaisers auf 50 oder 150 Schritt herankommen lassen?

R.: Das weiß ich nicht mehr.

Vors.: Haben Sie dem Rupsch gesagt, eine Zündschnur, schnur, wie er sie kaufen solle, brenne 15 bis 20 Minuten?

R.: Das weiß ich auch nicht mehr.

Restaurateur Porsberger (Mainz), der Wirt, der zur Zeit provisorisch erbauten Festhalle in Rüdesheim, gab eine genaue Beschreibung über die Einrichtung der Festhalle. Es wurden beschädigt: Wein, Gulasch, Kalbskotelettes und Kalbsnierenbraten. (Allgemeine Heiterkeit, in die auch die Angeklagten, ganz besonders Reinsdorf, einstimmten.) Die Explosion erfolgte am 28. September 1883 gegen 8 Uhr abends, zu einer Zeit, zu welcher Konzert in der Festhalle stattfand und letztere mit Menschen gefüllt war. In den Vorratsraum kam hin und wieder das Kochpersonal hinein.

Küfer Lauter (Rüdesheim): Am 28. September, abends gegen 8 Uhr, habe er aus der Vorratskammer Wein geholt. Da hörte er plötzlich einen heftigen Knall, er wurde weit weggeschleudert und konnte viele Stunden lang nichts hören. Unterhalb der Bretterwand sei eine Vertiefung gewesen.

Sachverständiger, Major und Kommandeur des Rheinischen Pionierbataillons Pagenstecher (Koblenz): Wenn die Explosion auf dem Niederwald erfolgt wäre, dann wären die vorüberfahrenden Wagen in höchstem Maße gefährdet gewesen, und man dürfe wohl mit Sicherheit sagen, daß die in dem Wagen sitzenden zenden Menschen getötet worden wären. Obwohl Zündschnur sehr regelmäßig brenne, so lasse sie doch eine Berechnung nach Sekunden nicht machen, und die Attentäter konnten nicht mit Sicherheit berechnen, daß der Wagen Seiner Majestät des Kaisers gerade getroffen werden würde. Die Explosion in Rüdesheim könne nur von der Stelle aus erfolgt sein, wo die Vertiefung gefunden worden sei. Menschen, die sich zur Zeit im Vorraume der Festhalle befanden, seien aufs äußerste gefährdet gewesen. Wenn der Küfer Lauter sich an einer anderen Stelle im Vorratsraum befunden hätte, dann wäre seine Tötung höchstwahrscheinlich erfolgt. Ein nasser Schwamm, wie er infolge des Regens auf dem Niederwald beschaffen gewesen sein müsse, könne wohl ankohlen, aber nicht verbrennen. Um neuen Schwamm zu befestigen, sei es erforderlich gewesen, die Zündschnur zu durchschneiden. Selbst wasserdichte Zündschnuren können, wenn sie sehr durchnäßt seien, versagen. Es sei denkbar, daß eine total durchnäßte Zündschnur, wenn sie aufgehoben werde, in Stücke zerfalle.

Sattlermeister Kretzschmer (Naumburg a.d.S.): Rupsch hat bei mir das Sattlerhandwerk erlernt; er war ein sehr ordentlicher Mensch und, soweit ich weiß, der Sohn braver Eltern. Kurz vor seiner Verhaftung hat er wieder bei mir gearbeitet und sich ebenfalls ganz ordentlich geführt. Als seine Verhaftung erfolgte folgte und ich ihn fragte, was das sei, versetzte er: „Ja, Meester, da kann jeder einmal dazu kommen.“ Ob Rupsch Sozialdemokrat ist, weiß ich nicht.

Sattlermeister Fellbecker (Barmen): Rupsch hat bei mir vom September 1882 bis dahin 1883 gearbeitet und sich sehr ordentlich geführt. Später vernahm ich, daß er zur sozialdemokratischen Partei gehörte. Er gab dies auch zu und sagte mir: Er sitze oftmals abends mit seinen Parteigenossen in einem Restaurationslokale zusammen, um Parteiangelegenheiten zu besprechen. Wenn ein verdächtiger Mensch komme, begännen sie sofort über gleichgültige Dinge zu reden. Rupsch hat mir einmal etwas entwendet. Ich habe ihn nicht angezeigt, ihm aber gesagt, es scheine, daß die Sozialdemokraten ihn verführt hätten. Das ist wahr, antwortete Rupsch, die Sozialdemokraten sagen: Eigentum ist Diebstahl. Als ich ihm sagte: Da siehst du doch, wohin dein Umgang mit den Sozialdemokraten führt, antwortete er: „Ich will mit den verdammten Kerls jetzt auch nichts mehr zu tun haben.“ Einmal sagte Rupsch zu mir: Es gibt jetzt noch ein bedeutend besseres Sprengmittel als Dynamit.

Klempnermeister Brinkmann (Barmen): Ich bin mit Rupsch bekannt gewesen. Dieser sagte mir, daß er zur Sozialdemokratie gehöre und es ihm ein leichtes sei, 500 Gesinnungsgenossen zusammenzubringen. Als ich ihm bedeutete, daß seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie einmal ein schlechtes Ende für ihn nehmen könne, antwortete er: es ist mir gleichgültig, auf welche Art ich zugrunde gehe, sollte ich einmal bei einem Verbrechen ertappt werden, dann nehme ich eine Nitro-Glyzerinhülse in den Mund und töte mich selbst. Ferner sagte er mir einmal: er sei imstande, aus Säuren Dynamit herzustellen und habe auch Dynamit in der Werkstatt.

Schneidermeister Cramer (Barmen): Ich bin ein streng-kirchlicher Mann. Als Küchler bei mir eine Wohnung mieten wollte, erschien er, es war an einem Sonntage, mit einem Gebetbuch unter dem Arm. Er sagte: er komme direkt aus der Kirche; das Gebetbuch sei ihm das Heiligste, das habe ihm seine Mutter eingeschärft. Ich nehme an, daß dies Heuchelei war, denn ich habe ihn niemals in die Kirche gehen sehen. Auch habe ich einmal gehört, wie Küchler sagte: er glaube an nichts. Bei Küchler haben sehr viele Leute verkehrt. Küchler sagte: Das sind alles Leute, die zur Buchdruckerkasse gehören.

Küchler: Daß ich mit einem Gebetbuch zum Zeugen gekommen bin und gesagt, ich käme aus der Kirche, ist unwahr. Im übrigen werde ich den Zeugen gerichtlich belangen, weil er gesagt hat: ich sorge nicht in gehöriger Weise für meine Familie.

Der Vorsitzende verlas darauf einige Stellen aus der zur Zeit in Rüdesheim erschienenen Festzeitung und einen Bericht des Polizeipräsidenten von Wiesbaden über die Ordnung des Festzuges.

Schriftsetzer Sommereisen (Barmen): Ich war mit Reinsdorf bekannt; ich habe mit ihm eine Zeitlang zusammen gearbeitet. Über sozialistische Dinge habe ich mit Reinsdorf nicht gesprochen. Eines Sonntags sah ich, daß Reinsdorf einen Brief in französischer Sprache schrieb. Er bat mich, ihm zu gestatten, daß Briefe für ihn unter meiner Adresse ankommen könnten. Ich lehnte dies jedoch ab. Einmal erhielt Reinsdorf einen Brief aus Paris, in dem ein Hundert-Frank-Billett enthalten war.

Färber Böllhoff (Elberfeld): Er habe eines Tages von Neuyork 100 Mark erhalten; er vermochte sich nicht zu erklären, wie er zu dem Gelde komme, später erfuhr er, daß Palm ihn als Deckadresse bezeichnet habe.

Weber Schiebeck (Elberfeld): Ich wurde mit Reinsdorf durch Weidenmüller bekannt. Im Züricher „Sozialdemokrat“ wurde Reinsdorf als Polizeispion denunziert. Ich wollte deshalb Reinsdorf, dessen richtiger Name schon bekannt war, sagen: er möchte sich aus dem Staube machen, sobald die Elberfelder und Barmer Sozialisten von diesem Artikel im „Sozialdemokrat“ Kenntnis erhielten. Eines Sonntags traf ich mit Reinsdorf bei Weidenmüller zusammen. Da sagte er: ich denke nicht daran, Deutschland zu verlassen. Ich werde den Zürichern noch einen Streich spielen. Ich werde eine Tat begehen, so daß über Barmen-Elberfeld der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt wird und Deutschland an mich denken wird. Reinsdorf trug stets einen Revolver bei sich. Eines Tages trug Reinsdorf Schwefelsäure bei sich; er sagte: damit könne man Dynamit bereiten.

Reinsdorf: Ich frage den Zeugen, ob er Sozialdemokrat ist?

Zeuge: Nein, ich gehöre gar keiner Partei an.

Reinsdorf: Der Zeuge glaubt vielleicht, daß er sich durch die Bejahung dieser Frage strafbar macht. Ich bemerke deshalb, daß man der sozialdemokratischen Partei nicht mehr angehören darf, da diese aufgelöst ist, aber man kann trotzdem Sozialdemokrat von Gesinnung sein?

Zeuge: Ich gehöre gar keiner Partei an.

Reinsdorf: War der Zeuge früher Sozialdemokrat?

Zeuge: Ja.

Reinsdorf: Hat jemand auf den Zeugen Einfluß ausgeübt?

Zeuge: Nein.

Hierauf wurden einige Artikel aus dem Züricher „Sozialdemokrat“ verlesen, in denen Reinsdorf mit Neve, dem früheren Expedienten der „Freiheit“, und dem bekannten Nihilisten Hartmann zusammen genannt wurde. In einem Artikel der „Freiheit“ hieß es: „Genosse Reinsdorf ist nicht entlassen, wie telegraphisch gemeldet wurde. Dagegen wird uns berichtet: Reinsdorf leugnet hartnäckig, obwohl sich ein Mann gefunden hat, der ihn furchtbar anschwärzt. Er legt ein derartiges mannhaftes Benehmen an den Tag, daß der Untersuchungsrichter einmal ausgerufen hat: ?Da möchte man ja alle Lust verlieren.? Wir glauben’s gern.“ Der „Sozialdemokrat“ bezeichnete Reinsdorf als Oberspitzel und schrieb: „Wir stehen jetzt vor den Wahlen. Je mehr Anarchisten, desto weniger Stimmen, deshalb nieder mit den Anarchisten.“ In einem weiteren Artikel der „Freiheit“ hieß es: „Jeder, der sich zur sozial-revolutionären Partei bekennt, muß sich mit den technischen Fortschritten der Sprengstoffe, ganz besonders mit denen des Nitroglyzerins beschäftigen, wenn sie gleich jenen edlen russischen Jünglingen handeln wollen.“ Ferner wurde in eingehender Weise über einen in Neuyork gehaltenen Vortrag berichtet, in dem technische Anleitungen zur Herstellung von Nitroglyzerin gegeben werden. Weiter hieß es in der „Freiheit“: „Das Nitroglyzerin steht auf einer Stute mit der Erfindung der Buchdruckerkunst. Ersteres liefert uns die Mittel, um unsere Ideen zu verbreiten, letzteres, um unsere Ideen zur Verwirklichung zu bringen.“ In einem ferneren Artikel der „Freiheit“ wurde der Raubanfall in Stuttgart besprochen und dabei der „Rebell“, Organ der deutschredenden Anarchisten chisten in Budapest zitiert, in welchem der überfallene Bankier ein privilegierter Räuber genannt und das Verbrechen als eine Heldentat bezeichnet wurde. Die „Freiheit“ bemerkte dazu: „Wir sind selbstverständlich mit unserem Bruderorgan einverstanden. Wir sind der Meinung, daß im Kriege nicht bloß hinüber und herüber geschossen werden muß, es müssen auch dem Feinde die Mittel zur Kriegführung genommen werden. Die herrschenden Klassen müssen einsehen, daß wir selbst vor dem Schafott nicht zurückschrecken. Die feige Züricher Bande wird uns ja wieder nach Möglichkeit beschimpfen.“ In einem weiteren Artikel der „Freiheit“ wurde beklagt, daß das Attentat auf das Frankfurter Polizeigebäude mißglückt sei, und dabei der Rat erteilt, in Zukunft lieber etwas mehr als weniger Dynamit bei solchen Attentaten zu verwenden. „Lange genug sind wir geknechtet worden; es ist hohe Zeit, daß wir zur Tat übergehen. Die herrschenden Klassen sollen einsehen, daß wir weder vor dem Beil noch vor dem Galgen zurückschrecken. Es lebe die soziale Revolution.“

Der Gerichtshof beschloß: die Zeugen Weber Palm und Packer Vestweber, da sie der Teilnahme an den zur Anklage gestandenen Verbrechen verdächtig waren, nicht zu vereidigen.

Am fünften Verhandlungstage erteilte der Vorsitzende, Senatspräsident Drenkmann, das Wort zur Schuldfrage dem Vertreter der Reichsanwaltschaft, Ersten Staatsanwalt Treplin: Die Begebenheiten, die die Beweisaufnahme zutage gefördert, bilden eine tiefe Kluft mit den Anschauungen unserer heutigen Kulturzustände. Sie sprechen aller Ethik Hohn und man fühlt sich veranlaßt, zu fragen: Ist es nicht eine Mystifikation, ist es nicht eine Übertreibung? Allein die Verhandlung hat uns den Beweis geliefert, daß wir vor ernsten Tatsachen stehen. Es kann den hohen Gerichtshof wenig interessieren, welche politischen Ansichten Reinsdorf hat, ich werde deshalb auch bei diesem Punkte nur sehr kurz verweilen. Ich will zunächst bloß bemerken, daß er die Expropriierung alles Eigentums geltend gemacht hat, daß er ein hervorragendes Mitglied der internationalen Anarchistenpartei ist. Wenn ich zu dem ersten Anklagepunkte, dem Dynamitattentat in der Willemsenschen Restauration zu Elberfeld übergehe, so werden wir zunächst zu untersuchen haben, inwieweit Reinsdorf an diesem Verbrechen beteiligt ist. Die Teilnahme des Reinsdorf hierbei ist nicht ohne Interesse für das Verbrechen auf dem Niederwald. Ich erinnere an die verschiedenen Zusammenkünfte bei Weidenmüller, woselbst Reinsdorf wiederholt geäußert hat: man müsse zur Tat übergehen, man dürfe von Dynamit nicht bloß schreiben, sondern müsse es auch zur Anwendung bringen, man müsse das Sedanfest durch eine Demonstration stören. Ich erinnere an die Auslassungen des Bachmann und der übrigen Angeklagten, ich erinnere an die Bekundungen der Schutzleute, die den Bachmann verhaftet haben. Letzteren hat Bachmann sofort erklärt: Reinsdorf hat mich verführt. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß es in Reinsdorfs Absicht lag, nicht bloß in dem Willemsenschen Saale, sondern auch in der Frankfurter Bierhalle in Elberfeld ein gleiches Verbrechen zu begehen. Daß es dem Bachmann bloß darum zu tun war, eine Knalldemonstration ins Werk zu setzen, ist nicht wahr. Objektiv ist nachgewiesen, daß die Explosion geeignet war, Menschen zu töten. Der Kellner Fricke ist in der Tat erheblich verwundet worden. Es konnte dem Bachmann nicht unbekannt sein, daß im Nebenzimmer Menschen versammelt waren. Es waren etwa 50 Elberfelder Ärzte versammelt, die über die Arbeiter-Krankenkassen eine Beratung hielten. Es ist anzunehmen, daß diese Beratungen so geführt wurden, daß man in dem stillen Zimmer, wo Bachmann saß, wohl die Anwesenheit von Menschen merken mußte. Außerdem öffnete der Kellner Fricke wiederholt die zu dem Ärztezimmer führende Tür, um Bier in das Zimmer zu tragen. Daß Dynamit in dem Gefäß enthalten war, das ihm Reinsdorf gab und welche Wirkung Dynamit hat, konnte dem Bachmann einmal nach den vielen Unterredungen mit Reinsdorf und das anderemal nach der von ihm gepflegten pflegten Lektüre der „Freiheit“ nicht unbekannt sein. Ich wende mich nun zu dem zweiten Verbrechen, zu dem Attentate auf dem Niederwald. Reinsdorf hat offen bekundet, daß er den Rupsch zu diesem Attentat angestiftet hat, daß er ihm die nötigen Instruktionen gegeben hat; daß Reinsdorf sich der Tragweite seiner Handlungsweise bewußt war, unterliegt keinem Zweifel. Wieweit er den Küchler zu der Tat angestiftet hat, darüber hat uns Reinsdorf weniger Aufklärung gegeben. Als Täter dieses Verbrechens treten hier Rupsch und Küchler auf. Als man anfänglich hörte, daß dem Rupsch in dem letzten Momente das Gewissen schlug, und er deshalb die Ausführung des Verbrechens vereitelte, da konnte man es, solange man den Rupsch bloß oberflächlich kannte, glauben. Nachdem wir ihn hier aber von Angesicht zu Angesicht gesehen, muß man sagen, daß er im Gegenteil ein trotziger Verbrecher ist. Jeder Christenmensch wird unterscheiden können zwischen einem reuevollen Sünder und einem trotzigen Verbrecher. Ich habe aus dem Auftreten des Rupsch die Überzeugung gewonnen, daß er nicht ein verführter junger Mann ist, sondern daß er sich der Tragweite seiner Handlungen vollständig bewußt war. Wir haben gehört, daß er den extrem anarchistischen Anschauungen huldigte, daß er eifriger Leser der „Freiheit“ war, daß er von der Anfertigung von Dynamit sprach und einmal die Äußerung tat: „Es ist mir gleichgültig, ob ich so oder so ums Leben komme, sollte ich einmal ertappt werden, dann werde ich mich sofort selbst entleiben.“ Ganz besonders spricht aber für die Schuld des Rupsch sein ganzes Verhalten auf dem Niederwald. Ich will den hohen Gerichtshof nicht mit der Vorführung aller Einzelheiten ermüden, allein soviel steht fest: hätte Rupsch das Attentat verhindern wollen, dann brauchte er nicht am Abend vorher einen Schnitt in den Baumstamm zu machen, um am folgenden Tage die Zündschnur wiederzufinden. Im weiteren ist aber auch sein Benehmen nach der Tat sehr charakteristisch. Anstatt vor den Leuten, mit denen er nichts mehr zu tun haben will und deren Rache er fürchtet, zu fliehen, kehrt er ganz ruhig nach Elberfeld zurück, erstattet dem Reinsdorf ordnungsmäßig Bericht und bricht in keiner Weise den Verkehr mit jenen Leuten ab, im Gegenteil, noch lange nachher ersucht er den Holzhauer, ihm „Freiheiten“ zu schicken. Ferner ist es unglaublich, daß Rupsch die Zündschnur zunächst mit einer kalten Zigarre entzündet und das zweitemal die Zündschnur durchschnitten hat, um die Explosion zu verhindern. Gegen diese Behauptung spricht zunächst die Erzählung des Küchler in der Wohnung von Söhngen, bei welcher Gelegenheit Küchler keine Veranlassung hatte, etwas Unwahres zu sagen. Er erzählte: zunächst habe die Zündschnur nicht gebrannt, da der Schwamm zu naß geworden war, darauf habe Rupsch neuen Schwamm an die Schnur gemacht, und nun habe die Schnur nur zum Teil gebrannt, der großen Nässe wegen sei jedoch die Explosion nicht erfolgt. Diese Erzählung stimmt mit der des Sachverständigen, Herrn Majors Pagenstecher, vollständig überein. Die Anheftung von einem Schwamm ist erforderlich gewesen, um die geschehene Wirkung hervorzubringen. Diese Manipulation spricht nicht dafür, daß Rupsch die Explosion vereiteln wollte. Alles in allem spricht dafür, daß Rupsch nicht mit einer kalten Zigarre, sondern mit einer brennenden Zigarre die Zündschnur entzündet, daß diese aber der großen Nässe wegen nicht gebrannt hat, daß er alsdann neuen Schwamm in der Schnur befestigt hat, und daß infolgedessen die Schnur nur zum Teil gebrannt hat. Was den Angeklagten Küchler anlangt, so unterliegt es keinem Zweifel, daß dieser nicht nur generelle Instruktionen von Reinsdorf erhalten hat, sondern daß er selbst handelnd aufgetreten ist. Reinsdorf instruierte ihn ebenso wie den Rupsch über alle Einzelheiten, und er fand sich auf Auffordern des Reinsdorf sofort bereit, den Rupsch zu begleiten, obwohl zur Zeit seine Frau schwerkrank daniederlag. Er diente dem Rupsch nicht bloß als Deckung, er wickelte am Abend vorher die Zündschnur auf, half bei der ganzen Vorbereitung des Unternehmens, er ist also nicht bloß als der Beihilfe, sondern als Mittäter schuldig zu erachten. Daß Küchler nicht mitging, um das Attentat zu vereiteln, dafür ist nicht nur nicht der mindeste Beweis erbracht, sondern im Gegenteil: Küchler hat selbst nicht das mindeste vorbringen können, was er getan hat, um das Attentat zu vereiteln. Er hat, wie Rupsch wenigstens behauptet, den Vorschlag gemacht, in einer in unmittelbarer Nähe des Denkmals stehenden Wand das Dynamit zu legen, er hat selbständig dem Rupsch den Vorschlag gemacht, mit ihm nach Wiesbaden zu reisen, um dort ein Attentat zu begehen. Er behauptet allerdings jetzt, daß er diesen Vorschlag nur machte, um zu sehen, wieweit Rupsch gehen würde, und daß ihre Garderobe eine Reise nach Wiesbaden ausgeschlossen hätte. Ich bedauere, hierbei nicht den Gegenbeweis angetreten zu haben, ich will deshalb bloß historisch bemerken, die Garderobe der Leute war so beschaffen, daß sie wohl nach Wiesbaden hätten reisen können. Was aber auch für sein Schuldbewußtsein spricht, ist, daß er die falsche Eintragung in das Fremdenbuch im Gasthof zu Aßmannshausen veranlaßt hat. Außerdem ist zu erwägen, daß Küchler es gewesen ist, der den Rupsch zu dem Attentat in Rüdesheim veranlaßt hat. Aber auch hier ist Küchler als Mittäter anzusehen. Er war dem Rupsch behilflich, die Dynamitgefäße zusammenzubinden, und er bezeichnete dem Rupsch die Stelle, wo er sie hinlegen solle. Daß Rupsch die Dynamitgefäße nicht 10 Schritte von der Festhalle entfernt, sondern unterhalb der Festhalle gelegt hat, steht nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme außer Zweifel. Es steht ferner fest, daß die Explosion geeignet war, die in der Festhalle versammelten Menschen zu töten. Es ist außerdem in Erwägung zu ziehen, daß Küchler ein hervorragendes Mitglied der Anarchistenpartei war. Ich gehe nun zu den anderen Angeklagten über. Da will ich zunächst bemerken, daß ich gegen Töllner die Anklage fallen lasse. Es bestimmt mich hierzu die übereinstimmende Bekundung, daß Töllner an jenem Abende, an dem das Geld für die Reise des Rupsch gesammelt wurde, sinnlos betrunken war; es ist mithin nicht bewiesen, daß er sich seiner Handlungsweise bewußt war. Was den Angeklagten Holzhauer anbelangt, so ist zu erwägen, daß in seinem Garten Dynamit vergraben war, und daß er dem Rupsch das Dynamit zur Reise nach Rüdesheim gegeben hat. Anfänglich wurde er wohl, als er den Auftrag des Reinsdorf hörte, etwas stutzig. Die Autorität des Reinsdorf imponierte ihm jedoch so sehr, daß er den Plan gleich darauf billigte und alles tat, um die Reise des Rupsch zu ermöglichen. Er veranlaßte in seiner Wohnung sofort eine Zusammenkunft, bei welcher er nicht nur sofort eine Geldsammlung zur Reise veranlaßte, sondern in der er auch dem Rupsch noch einmal eingehende Instruktionen gab. In seiner Wohnung haben vielfache Zusammenkünfte stattgefunden, in denen über zu unternehmende Dynamitattentate verhandelt wurde; er hat dem Rupsch gedroht, erschossen zu werden, wenn er etwas verrate, er vertrieb die „Freiheit“ und andere sozialdemokratische bzw. anarchistische Schriften. Er sowohl als auch die Angeklagten Söhngen und Rheinbach behaupteten: sie hätten dem Rupsch das Geld nur gegeben, um seine Abreise, da er keine Arbeit hatte, zu bewirken. Diese Ausrede erscheint um so weniger glaubhaft, wenn man erwägt, mit welcher Eile und unter welchen Schwierigkeiten die Angeklagten das Geld zusammenbrachten. Es ist ferner zu erwägen, daß auch Söhngen und Rheinbach der anarchistischen Partei angehören. Ich halte damit die Anklage für vorläufig genügend begründet und komme nun zu den Strafanträgen. Gegen Reinsdorf ist der Tatbestand der Anstiftung zum Hochverrat, zum Mordversuch und zur Brandstiftung erwiesen, und zwar zum Hochverrat im Sinne des § 80 des Strafgesetzbuches. Ich beantrage gegen Reinsdorf die Todesstrafe, 15 Jahre Zuchthaus, Ehrverlust und Polizeiaufsicht. Rupsch und Küchler sind zu bestrafen wegen Hochverrats, versuchten Mordes und Brandstiftung. Ich beantrage gegen beide: die Todesstrafe, 12 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Bachmann wegen versuchten Mordes des und Brandstiftung 12 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Holzhauer wegen Beihilfe zum Hochverrat 10 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Söhngen und Rheinbach wegen Beihilfe zum Hochverrat je 5 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Töllner beantrage ich aus den bereits angeführten Gründen die Freisprechung.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Thomsen (für Rupsch): Wenn ich mich meiner gesetzlichen Pflicht als Offizialverteidiger unterziehe, so muß ich bekennen, ich habe es anfänglich auch nicht für glaubhaft gehalten, daß Rupsch den Auftrag von Reinsdorf nur scheinbar übernommen hat, um sich auf Kosten anderer die Enthüllungsfeier anzusehen. Er mußte sich sagen, daß das Vergnügen die große Gefahr, der er sich dabei aussetze, nicht aufwiegt. Allein, nachdem ich den Rupsch näher kennengelernt, bin ich doch zu der Ansicht gelangt, daß die Richtigkeit seiner Behauptung immerhin möglich war. Ich will absehen davon, daß als Hauptzeuge der Angeklagte Küchler gegen ihn aufgetreten ist. Allein feststeht, daß Rupsch in geistiger und moralischer Beziehung ein so wenig entwickelter und außerdem ein noch so junger und unerfahrener Mensch ist, daß ihm die von ihm behauptete Handlungsweise wohl zuzutrauen ist. Wenn die Oberreichsanwaltschaft sagt: Es ist auffallend, daß Rupsch vor den Leuten nicht geflüchtet ist, so ist zu erwägen, daß Holzhauer die Drohung zu ihm geäußert: „Wenn du etwas verrätst, so wirst du erschossen, wo du dich auch befinden magst.“ Der Terrorismus unter den Anarchisten läßt es wohl erklärlich erscheinen, daß Rupsch die Verbindung mit ihnen nicht ohne weiteres abbrach. Ganz besonders spricht aber für die Wahrheit seiner Behauptung sein Verhalten bei seiner Verhaftung. Er kaufte sich bekanntlich auf dem Bahnhof zu Rüdesheim eine Photographie von dem Niederwalddenkmal für 30 Pf. Kaum war er aber in Elberfeld angelangt, so verlangte er in ganz ungestümer Weise, obwohl er wissen mußte, was ihm bevorsteht, die Photographie. Dies Verlangen ist ein so kindliches, daß man wohl zu der Annahme gelangen kann: seine Behauptungen sind wahr. Daß dieser junge Mann sozialdemokratische Redensarten geführt hat, dürfte wohl nicht ernst aufzufassen sein. Was nun den objektiven Tatbestand anlangt, so spricht doch wesentlich dafür, daß er zum mindesten im letzten Augenblick die Explosion vereitelt hat, denn fest steht, daß die Zündschnur und der Schwamm, der auf dem Niederwald angeblich versagte, in Rüdesheim wirkungsvoll war, obgleich sowohl Zündschnur als Schwamm im nassen Walde aufbewahrt waren. Daß zehn Schritt von der Festhalle in Rüdesheim eine Vertiefung nicht gefunden wurde, beweist noch nicht, daß die Angaben des Rupsch falsch seien. Ob wirklich gleich nach der Tat nach einer solchen Vertiefung gesucht wurde, erscheint mir wenig glaubhaft. Was das beantragte Strafmaß anlangt, so habe ich nichts dagegen zu bemerken.

Vert. Justizrat Busenius (für Küchler): Ich bin als Offizialverteidiger beauftragt worden, den Küchler zu verteidigen. Küchler behauptet, er habe den Rupsch begleitet, um das Verbrechen zu verhindern. Diese seine Behauptung wird auch bestätigt durch die Aussagen des Zeugen Palm, wonach Küchler schon vor der Reise nach Rüdesheim gesagt hat: Sollte etwas unternommen werden, dann würde er es zu verhindern suchen, und ferner, daß er in öffentlicher Versammlung, bloß um 9 Mark für Einlösung seiner Uhr zu erlangen, die Einzelheiten der Tat anstandslos erzählte. So handelt nicht ein schuldbewußter Mensch. Gegen Küchler spricht hauptsächlich die Aussage des Rupsch. Ob diesem aber voller Glaube beizumessen ist, überlasse ich der Beurteilung des hohen Gerichtshofes. Nimmt man an, daß Küchlers Angaben unwahr sind, so ist doch Küchler jedenfalls nur wegen Beihilfe zu bestrafen. Küchler hat nachweislich in der Tat nichts begangen, was auf seine direkte Täterschaft schließen läßt. Er hatte auch von Reinsdorf nur den Auftrag, als Deckung, gewissermaßen als Wächter mitzugehen. Ob der § 46 auch beim Hochverrat in Anwendung kommen kann, überlasse ich dem hohen Gerichtshof. Daß Küchler an dem Attentat in Rüdesheim beteiligt ist, ist in keiner Weise nachgewiesen. Ich beantrage also, wenn eine Freisprechung meines Klienten nicht erfolgen kann, bloß auf eine zeitige Zuchthausstrafe zu erkennen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Seelig für Holzhauer, Bachmann, Söhngen, Rheinbach und Töllner: Ich werde mich zunächst mit meinem Klienten Holzhauer beschäftigen. Ich hege Zweifel an den Angaben des Rupsch, daß Holzhauer ihm das Dynamit gegeben hat, vielmehr glaubhaft scheint es mir, daß Rupsch, der selbst Dynamit besaß, und wie er vorgab, auch solches anzufertigen verstand, eigenhändig in dem Garten des Holzhauer, bei dem er bekanntlich wohnte, Dynamit vergraben hatte. Daß es dem Rupsch gegenüber, dem Reinsdorf alles bereits in ausführlichster Weise auseinandergesetzt hatte, einer Instruktion seitens des Holzhauer noch bedurfte, kann ich auch nicht glauben. Nun wird aus dem Umstande, daß Holzhauer, Söhngen und Rheinbach mit der Hergabe des Geldes es sehr eilig hatten, die Beihilfe zu dem Verbrechen geschlossen. Wenn man erwägt, daß Rupsch vorgab, am folgenden Morgen abreisen zu wollen, dann wird man in der Eile, mit der die Angeklagten das Geld beschafften, noch keine Schuld finden. Es erscheint aber zweifelhaft, ob und inwieweit Gehilfen bei einem nicht zur Ausführung gekommenen Verbrechen zu bestrafen seien. Ob der § 46 auch auf das Verbrechen des Hochverrats Anwendung zu finden hat, überlasse ich, gleich meinem Herrn Mitverteidiger, dem Ermessen des hohen Gerichtshofes. Ich bin aber prinzipaliter der Meinung, daß der Beweis einer Schuld der Angeklagten Holzhauer, Söhngen und Rheinbach nicht erwiesen ist. Bezüglich des Angeklagten Töllner schließe ich mich dem Antrage des Herrn Vertreters der Oberreichsanwaltschaft an. Es steht zweifellos fest, daß Töllner an jenem Abende sinnlos betrunken war, er mithin keine Ahnung hatte, zu welchem Zwecke er das Geld hergab. Was den Angeklagten Bachmann anlangt, so hat mir sein ganzes Verhalten in der Verhandlung die Überzeugung beigebracht, daß seine Erzählung: als wollte er nur einen Schreck herbeiführen, wahr ist; daß er von Reinsdorf für seine Tat Geld erhalten hat, ist ebensowenig erwiesen, wie daß er die Wirkung des Dynamits gekannt hat. Ich beantrage daher, ihn nicht auf Grund des § 306, al. 2, sondern ihn bloß auf Grund des § 308 des Strafgesetzbuches zu bestrafen. Bei Abmessung der Strafe bitte ich in Betracht zu ziehen, daß Bachmann Werkzeug in der Hand des Reinsdorf war und bisher unbescholten ist.

Die Angeklagten, die sämtlich die Plädoyers mit der größten Gleichgültigkeit anhörten, ließen es sich während der Pause ganz gut schmecken. Sie wurden nämlich nicht hinausgeführt, sondern nahmen ihr Mittagbrot auf der Anklagebank sitzend ein.

Nach Wiederaufnahme der Verhandlung nahm das Wort Vert. Justizrat Fenner (für Reinsdorf): Ich bin als Verteidiger des Angeklagten Reinsdorf bestellt, Reinsdorf ist dreier Verbrechen beschuldigt: des Attentats in Elberfeld, des Attentats auf dem Niederwald und des Attentats in Rüdesheim. Was das letzte Attentat anlangt, so erübrigt es sich wohl, mich hierüber weiter zu äußern. Die Verhandlung hat nicht das mindeste ergeben, was für die Beteiligung des Reinsdorf an diesem Verbrechen spricht. Es bleiben also die Attentate auf dem Niederwald und in Elberfeld. Bezüglich des Niederwalddenkmals haben mir meine Herren Mitverteidiger meine Aufgabe wesentlich erleichtert. Bezüglich des Attentats in Elberfeld teile ich vollständig die Auffassung des Herrn Rechtsanwalts Dr. Seelig. Jemand, der in einer volkreichen Stadt morden will, sucht sich nicht ein menschenleeres Zimmer aus. Reinsdorf leugnet, den Bachmann angestiftet zu haben, und wir haben keinen Grund, diese Behauptung ihm nicht zu glauben, denn es wäre eigentümlich, daß er das große Verbrechen eingesteht und das kleinere leugnet. Das Attentat auf dem Niederwald hat das eigentümliche, daß ein objektiver Tatbestand nicht vorhanden ist. Wir haben davon nur Kenntnis durch die Aussagen der dabei beteiligt gewesenen Rupsch und Küchler. Ich glaube, der Herr Vertreter der Oberreichsanwaltschaft hat sich seine Aufgabe etwas zu leicht gemacht. Er erachtet den Rupsch für schuldig auf Grund der Aussagen des Küchler und den Küchler auf Grund der Aussagen des Rupsch. Ich bin der Meinung, wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, dann darf man beiden nicht glauben. Glauben darf man ihnen nur, insoweit ihre Aussagen übereinstimmen. Und was bekunden sie übereinstimmend? Daß sie das Gefäß in die Dränage gelegt und die Zündschnur und den Schwamm daran befestigt haben. In allen übrigen Punkten gehen ihre Aussagen auseinander. Beide besitzen einen Bildungsgrad, der sie nicht unterscheiden läßt, was zu ihrer Entlastung dient. Die Aussagen von Rupsch und Küchler bilden aus diesem Grunde ein Gewirr von Wahrheit und Unwahrheit, daß der unparteiische Richter nur schwer ermessen kann, wo die Wahrheit beginnt und die Unwahrheit aufhört. Es ist immerhin sehr gewagt, auf Grund einer Aussage eines Mitgefangenen ein Urteil abzugeben. Man kann wohl auf die Aussage eines einzelnen Menschen, wenn er glaubwürdig ist, drei Menschen zum Tode verurteilen, nicht aber auf Grund einer unbeeideten Aussage eines Mitgefangenen. Nun kommt allerdings das Zeugnis Palms hinzu. Ich muß aber bekennen, und der hohe Gerichtshof scheint ja diese Auffassung zu teilen, ich messe allen acht Angeklagten mehr Glauben als dem Zeugen Palm bei. Jedenfalls steht soviel fest, dem Rupsch, der gleich von Anfang an die Aussage wie hier gemacht hat, ist mehr Glauben beizulegen als dem Küchler. Nimmt man das aber an, dann muß man zu der Annahme gelangen, daß nur eine vorbeireitende Handlung zum Hochverrat vorliegt. Das Dynamit und die Zündschnur waren gelegt, etwas weiteres ist nicht erwiesen. Dies sind aber nur vorbereitende Handlungen zum Hochverrat. Der Versuch ist erst dann gemacht, wenn die Zündschnur angesteckt ist. Solange dies nicht geschehen ist, sind bloß vorbereitende Handlungen zum Hochverrat begangen. Wenn jemand irgendwo einsteigt, um zu morden, so ist das bloße Einsteigen kein Mordversuch. Ich gehe nun zu der Frage der Anstiftung über. Man wird sagen, wie kann man in dieser Beziehung noch ein Wort verlieren, nachdem Reinsdorf sich so offen schuldig bekannt hat. Allein man darf nicht vergessen, daß ein Schuldbekenntnis immer noch nicht überzeugend für die Schuld des Angeklagten spricht. Daß Reinsdorf sagt: er scheue sich nicht, das Schafott zu besteigen, ist erklärlich, wenn man erwägt, daß er als völlig brustkranker Mensch ohnehin nicht mehr lange zu leben hat. Warum soll er in solchem Falle einem Tode im Zuchthause nicht ein sofortiges Sterben auf dem Schafott vorziehen, um so mehr, da er annimmt, daß seiner Sache dadurch gedient ist und er berühmt wird. Diese seine Äußerung: er wisse, daß er hingerichtet werde, spricht also noch nicht für seine volle Schuld? Herostrat wäre, wenn er bloß vor Gericht gesagt hätte: er habe den Tempel der Diana zu Ephesus angesteckt, ebenso berühmt geworden, als durch den Umstand, daß er in der Tat den Tempel angesteckt hat. Reinsdorf soll nun Rupsch und Küchler angestiftet haben, den Kaiser zu töten. Allein die Instruktion, die Reinsdorf den beiden gab, war nicht geeignet, eine Tötung des Kaisers herbeizuführen. Nach den Auslassungen des Reinsdorf bin ich der Meinung: es ist den Angeklagten nicht darauf angekommen, den Kaiser zu töten, denn der Kaiser hat ihnen in Wirklichkeit nichts getan. Sie wollten eine Explosion vollführen, um, wie sie sich ausdrückten, den herrschenden Klassen von der bevorstehenden Unsicherheit Kenntnis zu geben. Ich glaube demnach, daß eine Verurteilung nach § 80 des Strafgesetzbuches nicht wird erfolgen können. Der gegenwärtige Prozeß ist ein politischer, die Angeklagten sind politische Verbrecher. Bei derartigen Prozessen ist die Richterbank gewöhnlich aus politischen Gegnern zusammengesetzt; dieser Prozeß hat aber das Eigentümliche, daß nicht bloß die Richterbank, sondern auch die Verteidigerbank aus politischen Gegnern der Angeklagten zusammengesetzt ist. Es hat mich deshalb gefreut, daß der Herr Vertreter der Oberreichsanwaltschaft alle politischen Anzüglichkeiten aus dem Spiel gelassen hat, daß er es z.B. unterlassen hat, an den Patriotismus des hohen Gerichtshofes zu appellieren. Ich bin nun bemüht gewesen, meine eigene politische Überzeugung in den Hintergrund zu drängen und mich auf den politischen Standpunkt der Angeklagten zu stellen. Ich glaube, der hohe Gerichtshof wird bei der Beurteilung der Sache nicht außer acht lassen, daß die Angeklagten sich in politischer und sozialer Beziehung bedrückt glauben, und daß sie die Handlungen begangen haben, um ihrer Ansicht nach bessere politische und gesellschaftliche Zustände herbeizuführen.

Oberreichsanwalt Dr. Freiherr v. Seckendorf: Ich kann nicht umhin, die Auslassungen der Angeklagten als unerhört zu bezeichnen. Es kommt vor, daß ein Angeklagter die Schuld der andern auf sich nimmt. Selten habe ich es aber gehört, daß ein Angeklagter sich immer auf Kosten des andern zu entlasten sucht. Der Gang der Verhandlungen hat den vollen Beweis geliefert, daß Rupsch und Küchler alles taten, um das Verbrechen zu vollführen. Der Umstand, daß Rupsch einen neuen Schwamm an die Schnur befestigte und diesen noch einmal anzündete, beweist, mit welch zäher Konsequenz beide das Verbrechen ausführten. Daß die Explosion trotzdem auch zum zweitenmal nicht erfolgte, ist einer höheren Hand, der Hand der Vorsehung zu danken. Wenn einer der Herren Verteidiger gesagt hat: die Zündschnur hätte sich in Rüdesheim entzündet, sie wäre mithin auch auf dem Niederwald noch explosionsfähig gewesen, dann erwidere ich: am 28. September regnete es nicht, und die Zündschnur konnte mithin bis zum Abend wohl trocken sein. Im übrigen hat ja der Angeklagte Reinsdorf selbst mit größter Offenheit bekannt, daß es in seiner Absicht gelegen habe, Se. Majestät den Kaiser zu töten, und daß Rupsch und Küchler seinen Auftrag vollständig verstanden haben. Es dürfte mithin kein Zweifel bestehen, daß hier Hochverrat im Sinne des § 80 des Strafgesetzbuches vorliegt.

Nach noch kurzer Replik und Duplik des Vertreters der Ober-Reichsanwaltschaft, Staatsanwalts Treplin, und den Verteidigern, erhielt das Wort zur Verteidigung Angeklagter Reinsdorf: Es haben zwei Attentate stattgefunden, das eine in Elberfeld, das andere an der Festhalle zu Rüdesheim. Es hat ferner die Absicht bestanden, ein Attentat auf dem Niederwald zu begehen, um gegen die Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals zu demonstrieren. Dieses Attentat ist leider mißglückt. Ich bin der Überzeugung, daß daran nicht die höhere Hand der Vorsehung, sondern die Hand des Rupsch schuld ist. Nun bedenke man, mit welchem Menschenmaterial diese Attentate ausgeführt wurden. Diese Leute erzählen ihre Taten offen vor aller Welt, als wenn es überhaupt keine Polizei gäbe. Und trotzdem wissen wir, wie groß das Polizeiheer in Zivil und Uniform in Deutschland ist. Allein erst nach vollen 6 Monaten kamen die Attentate zur Kenntnis der Behörde, aber keineswegs durch die Ermittelung der Polizei, sondern durch Verräter. Was tut denn bei uns die Polizei? Sie nimmt am frühen Morgen oder späten Abend, wenn sie die Leute zu Hause glaubt, Verhaftungen und Haussuchungen vor und stört dadurch aufs empfindlichste das Familienleben, denn alle diejenigen, die einmal einen derartigen Besuch erhalten, sind bei ihren Nachbarn und Freunden sofort für immer gekennzeichnet. Man spricht von der Heiligkeit der Familie. Ist das Verfahren der politischen Polizei vielleicht eine Heilighaltung der Familie? Die Polizei nimmt ferner keinen Anstand, Leute zu verführen ...

Vors.: Diese Angriffe auf die Polizei gehören nicht zu Ihrer Verteidigung.

Reinsdorf: Doch, Sie werden sofort sehen, Herr Präsident, daß sie wohl zu meiner Verteidigung dienen. Ich bemerke also, die Polizei verführt Sozialdemokraten, um ihre eigenen Genossen zu verraten, und bezahlt somit ein ganzes Heer von Spitzeln. Jeder Polizeikommissar hat nun wiederum seine eigenen Zuträger, wie wir es aus den Bekundungen des Polizeikommissars kommissars Gottschalk hier erfahren haben. Es liegt sehr nahe, daß Weidenmüller auf Veranlassung der Polizei nach Amerika gegangen ist, um dort Spionendienste zu tun. Wird nun ein solcher Polizeimann nach seinen Quellen gefragt, dann hat er das Recht, sich hinter das Dienstgeheimnis zu stecken und die Aussage zu verweigern. Hätte Gottschalk hier offen antworten müssen, dann hätten wir vielleicht erfahren, woher Palm die 40 Mark hatte, die er dem Küchler gab. Es hätte sich alsdann vielleicht herausgestellt, daß Küchler durch die indirekte Schuld der Polizei nach Rüdesheim gereist ist. Allerdings wäre ja ohne die 40 Mark das Attentat auf dem Niederwald auch gemacht worden, denn Rupsch wäre dann einfach allein gereist. So aber muß Küchler ebenso wie Rupsch das Schafott besteigen. So hat die Polizei in Deutschland überall ihre Hand im Spiele. Sie beschlagnahmt auf der Post Briefe.

Vors.: Ich muß dem Angeklagten bemerken, daß die Polizei eine Beschlagnahme von Briefen gar nicht vornehmen kann, das kann lediglich auf richterlichen Beschluß erfolgen. Ich ersuche Sie aber, jetzt zu Ihrer Verteidigung überzugehen.

Reinsdorf: Nun, mein Herr Verteidiger hat sich alle Mühe gegeben, meinen Kopf zu retten; ich sage ihm dafür meinen besten Dank. Allein ich bemerke, wenn ich noch zehn Köpfe hätte, dann würde ich sie mit Freuden opfern um diese elende, erbärmliche Gesellschaft.

Vors.: Ich kann nicht dulden, daß Sie derartige Beleidigungen aussprechen.

R.: Ich frage, was ist denn bisher für die Arbeiter geschehen? Man sagt: die Regierung hat das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz gegeben. Man vergißt bloß, daß daneben das Sozialistengesetz und der Belagerungszustand besteht, und daß, sobald ein Arbeiter aus einem Orte ausgewiesen, er gewissermaßen aus ganz Deutschland ausgewiesen ist. Er muß ins Ausland gehen, und auch dorthin verfolgt ihn noch die Polizei. Die Lage der Arbeiter in Deutschland ist eine zu traurige, als daß solche Brosamen, wie sie seitens der Regierung gezeigt werden, helfen können. Der Herr Reichsanwalt sagte: Man steht vor einer ernsten Tatsache. Ernst sind aber ganz besonders die Ursachen, die die Tatsachen, die hier zur Verhandlung gekommen, geschaffen haben. Oder glauben Sie vielleicht, daß alle diese Leute, die hier sitzen, zum Vergnügen die Attentate begangen haben? Und erwägen Sie doch, daß es noch eine unendlich große Zahl gibt, die gleich mir zur Begehung solcher Attentate sofort bereit sind! Der Herr Reichsanwalt sagte: Jeder Christenmensch muß zurückschrecken vor solchen Verbrechen. Ja, warum schrecken denn die Christenmenschen nicht vor der Ausbeutung der Arbeit zurück? Wenn die Arbeiter sich die Ausbeutung ruhig gefallen lassen würden, ohne dagegen etwas zu unternehmen, dann müßte der Kulturfreund verzweifeln und die Arbeiter wären wert, ausgebeutet zu werden. Die Arbeiter werden sich die Ausbeutung aber nicht länger gefallen lassen, sie haben Dynamit genug, denn sie sind diejenigen, die das Dynamit bereiten. Wenn die Zustände nicht bald besser werden, dann ist kein Bourgeois auf der Straße oder im Kasino mehr sicher ...

Vors.: Ich kann es nicht dulden, daß Sie derartige Drohungen ausstoßen.

R.: Nun, ich werde schließen und bemerke nur noch: Ehe ich langsam im Zuchthaus sterbe, sterbe ich lieber schnell auf dem Schafott.

Die Angeklagten Rupsch und Küchler beteuerten mit weinerlicher Stimme ihre Unschuld. Rupsch sagte mit weinender Stimme: Sollte ich zum Tode verurteilt werden, dann bitte ich, Sr. Majestät dem Kaiser vorgestellt zu werden oder mir wenigstens zu gestatten, an diesen ein Gnadengesuch zu richten.

Bachmann: Er habe niemanden töten, sondern der Bourgeoisie bloß einen Schreck einjagen wollen.

Die übrigen Angeklagten baten um Freisprechung.

Am sechsten Verhandlungstage wurde

das Urteil

gesprochen.

Unter lautloser Stille des überfüllten Zuhörerraums verkündete der Vorsitzende, Senatspräsident Drenkmann: Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, daß der Angeklagte Bachmann wegen versuchten Mordes und Brandstiftung mit 10 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht, Angeklagter Rupsch wegen Hochverrats mit dem Tode und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, außerdem wegen versuchten Mordes und Brandstiftung mit 12 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht, der Angeklagte Küchler wegen Hochverrats mit dem Tode und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, ferner wegen versuchten Mordes und Brandstiftung mit 12 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht, der Angeklagte Reinsdorf wegen Anstiftung zum Hochverrat mit dem Tode und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, und wegen Anstiftung zum versuchten Morde und zur Brandstiftung mit 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht zu bestrafen, dagegen der Angeklagte Reinsdorf wegen Anstiftung eines weiteren versuchten Mordes und Brandstiftung freizusprechen, der Angeklagte Holzhauer wegen Beihilfe zum Hochverrat mit 10 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust, wegen Beihilfe zum versuchten Morde und zur Brandstiftung freizusprechen, daß ferner die Angeklagten Söhngen, Rheinbach und Töllner von der Anklage wegen Beihilfe zum Hochverrat und wegen Beihilfe zum versuchten Morde und zur Brandstiftung freizusprechen und daß die Kosten des Verfahrens den verurteilten Angeklagten zur Last zu legen seien. Die Gründe sind folgende: Es sind zwei Attentate zur Ausführung gelangt, das eine in dem Willemsenschen Lokale zu Elberfeld, das andere in einer Festhalle zu Rüdesheim. Ein drittes Attentat auf dem Niederwald ist versucht worden, jedoch nicht zur Ausführung gekommen. Das Attentat in dem Willemsenschen Lokale zu Elberfeld ist am 4. September 1883 passiert. Dies hat in dem betreffenden Gebäude einen erheblichen Schaden angerichtet. Es ist außerdem vollführt worden zu einer Zeit, als sich etwa 30 Ärzte in einem Nebenlokale befanden. Der Angeklagte Bachmann, der einmal sich selbst als Täter bekannt, andererseits vom Kellner Fricke auf das bestimmteste wiedererkannt worden ist, hat nach Lage der Dinge unzweifelhaft die Absicht gehabt, nicht bloß eine Brandstiftung zu begehen, sondern auch Menschen zu töten. Der in der Nähe gewesene Kellner Fricke ist im übrigen durch die Explosion sehr erheblich verwundet worden, andererseits mußte B. sehen, daß noch eine Anzahl anderer Menschen im Lokale sich aufhielten. Es ist zu erwägen, daß das Attentat von Bachmann, Reinsdorf und dem flüchtig gewordenen Weidenmüller lange vorher geplant worden ist, und zwar sollte es unternommen nommen werden, weil in jenem Lokale die besitzenden Klassen verkehren. Hieraus, aber auch aus dem ferneren Umstande, daß Bachmann längere Zeit im Lokale gesessen, ehe er das Attentat vollführte, geht hervor, daß er mit voller Überlegung gehandelt hat. Es ist des weiteren zu erwägen, daß Bachmann ein hervorragendes Mitglied der Anarchistenpartei war, daß noch bei seiner Verhaftung mehrere Exemplare der „Freiheit“ bei ihm gefunden wurden, ein Blatt, das in wildester Sprache die Propaganda der Tat empfiehlt, Dynamitattentate glorifiziert und über die Handhabung des Dynamits technische Vorschläge gibt. Dem Leser eines solchen Blattes konnte mithin die Wirkung des Dynamits nicht unbekannt sein. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, daß Bachmann nicht bloß wegen Brandstiftung im Sinne des § 306 al. 3 und § 311 des Strafgesetzbuches, sondern auch wegen versuchten Mordes zu bestrafen ist. Hierbei ist in Betracht zu ziehen, daß der Mordversuch nicht gegen einen einzelnen Menschen, sondern gegen eine größere Volksmenge begangen ist und daß er begangen war aus Haß gegen die besitzenden Klassen. Der Gerichtshof erblickt daher in der Handlungsweise des Bachmann eine ehrlose Gesinnung und hat deshalb neben einer 10jährigen Zuchthausstrafe auf 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht erkannt. Zweifellos steht nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme fest, daß Reinsdorf den Bachmann zu der Tat angestiftet hat. Der Anstifter ist gleich dem Täter zu bestrafen, es ist deshalb wegen dieses Vergehens gegen Reinsdorf eine 15jährige Zuchthausstrafe, 10 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht erkannt worden. Ich komme nun zu dem Attentate auf dem Niederwald. Rupsch und Küchler sind beschuldigt, hierbei als Täter, Reinsdorf als Anstifter gewirkt zu haben. Schon am 9. September hat eine Konferenz stattgefunden, in welcher Reinsdorf vorschlug, bei der Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals etwas zu begehen. Reinsdorf wollte selbst nach Rüdesheim reisen. Am 23. September sagte jedoch Küchler dem Rupsch: er solle zu Reinsdorf, der zur Zeit im Krankenhause lag, gehen, dieser habe ihn ausersehen, zu der Enthüllungsfeier zu fahren und dort Se. Majestät den Kaiser, den Deutschen Kronprinzen und alle Generale, wie Küchler sich ausdrückte, zu töten. Rupsch leistete dieser Aufforderung des Küchler auch sofort Folge, und nachdem ihm Reinsdorf den Auftrag persönlich mitgeteilt und er von Holzhauer das Dynamit und das nötige Reisegeld erhalten hatte, reiste er in Begleitung des Küchler nach Rüdesheim. Hier handelten beide in sehr wohlüberlegter Weise. Sie suchten sich am Abende vorher zunächst den Ort aus, wohin sie das Dynamit legen wollten, holten es alsdann und verbanden es mit einer bis in den Wald sich hinziehenden Zündschnur, welch letztere sie mit Gras, Laub und Erde bedeckten. Am folgenden Tage waren sie bemüht, die Explosion zu vollführen, dies gelang ihnen jedoch nicht. Es entsteht nun hier die Frage: Ist die ganze Geschichte glaubhaft, da ein objektiver Tatbestand nicht vorliegt? Der Gerichtshof hat die volle Überzeugung gewonnen, daß die Explosion in der von den Angeklagten erzählten Weise versucht worden ist. Es entsteht die Frage: sind hier Handlungen begangen worden, die einen Anfang der Ausführung des beabsichtigten, aber nicht zur Vollendung gekommenen Verbrechens betätigt haben, oder sind nur vorbereitende Handlungen zum Hochverrat begangen worden? Der Gerichtshof hat die erstere Frage bejaht, und zwar aus dem Grunde, da Rupsch die Zündschnur bereits entzündet hatte. Der Gerichtshof hält in dieser Beziehung die Aussage des Küchler für glaubwürdig, daß Rupsch zunächst den Schwamm entzündete, dieser aber infolge der großen Nässe nicht brennen wollte, daß Rupsch alsdann neuen Schwamm von ihm forderte, aber das Anzünden des letzteren ebenfalls wirkungslos blieb, da die Zündschnur vollständig durchnäßt war. Es steht nun fest, daß es in der Nacht vom 27. zum 28. September 1883 sehr geregnet hat und nach den Bekundungen des Sachverständigen, Majors Pagenstecher, ist es daher ganz erklärlich, daß die Explosion nicht erfolgte. Daß Rupsch die Zündschnur durchschnitten, um die Explosion zu vereiteln, glaubt der Gerichtshof nicht. Einmal erscheint es sehr unglaublich, daß er die Schnur zunächst mit einer kalten Zigarre entzündet hat, denn diese Manipulation konnte bloß einen Zweck haben, um den Küchler zu überzeugen, daß die Zündschnur nicht anbrennen wolle. Er mußte sich sagen, daß Küchler sehen werde, der Schwamm habe überhaupt nicht einmal geglimmt. Der Gerichtshof ist aber im übrigen der Meinung, Rupsch ist gar nicht willens gewesen, das Attentat zu vereiteln, denn einmal behauptet er selbst nicht, daß er nach Rüdesheim gefahren sei, um das Attentat zu vereiteln, sondern um sich auf Kosten anderer zu amüsieren, und andererseits ist der Gerichtshof der Meinung, wenn es dem Rupsch mit der Verhinderung des Attentats ernst gewesen wäre, dann hätte er nicht nötig gehabt, die Einschnitte in die Baumstämme zu machen, um am folgenden Tage die Zündschnur wiederzufinden. Für seine fernere Schuld spricht, daß, nachdem das Attentat mißlungen, er gleich darauf den Entschluß faßte, die Festhalle in Rüdesheim in die Luft zu sprengen und diesen Entschluß auch zur Ausführung brachte. Es ist undenkbar, daß jemand, der soeben von der Begehung eines Mordes freiwillig Abstand genommen hat, sofort den Entschluß faßt, einen anderen Mord zu begehen. Küchler ist nun gleich dem Rupsch als Täter zu bestrafen. Er hat nicht bloß Wache gestanden, er nahm an der Legung des Dynamits teil, wickelte die mit dem Dynamit verbundene Zündschnur auf und half dem Rupsch neuen Schwamm suchen. Dies alles sind Handlungen, die zweifellos für die Mittäterschaft sprechen. Daß Küchler nur mitgereist war, um das Attentat zu verhindern, kann ihm in keiner Weise geglaubt werden. Er leugnete anfänglich, den Rupsch überhaupt zu kennen, suchte durch seine Verwandten einen Alibibeweis zu führen, und als ihm nachgewiesen wurde, daß er in Koblenz seine Uhr versetzt habe, gab er dies wohl zu, leugnete aber immer noch, überhaupt auf dem Niederwald gewesen zu sein. Noch in den jüngsten Tagen hat man einen „Kassiber“ bei ihm gefunden, in welchem er seine Verwandten um Geld bat, um seine Flucht zu bewerkstelligen. Erst hier in der Verhandlung ließ er sich zu dem Geständnis herbei, dabei gewesen zu sein, dies sei aber nur geschehen, um das Attentat zu verhindern. Ist es einmal unglaubhaft, daß zwei Leute die Begehung eines Attentats unternehmen, um die Ausführung zu verhindern, so hat Küchler absolut nichts getan, um das Attentat zu vereiteln. Er sagt wohl: er habe deshalb das Dynamit in die Dränage gelegt, weil er hoffte, es werde Wasser hineinkommen, und daß alsdann das Dynamit wirkungslos bleiben werde. Er mußte sich jedoch aber auch sagen, daß seine Hoffnung ihn täuschen und daß nicht soviel Wasser in die Dränage kommen könnte, um die Wirkung zu verhindern. Daß bei Rupsch und Küchler die Absicht vorgewaltet hat, Se. Majestät den Kaiser, den Deutschen Kronprinzen nebst Umgebung zu töten, steht außer allem Zweifel. Dafür spricht die bekannte Äußerung des Küchler zu Rupsch und das Geständnis von Reinsdorf selbst, der dem Rupsch ganz direkt gesagt hat: er solle die Explosion vollführen, um Se. Majestät den Kaiser, den Deutschen Kronprinzen und die deutschen Bundesfürsten zu töten. Daß auch die volle Absicht bei beiden Angeklagten obgewaltet hat, geht aus der Erzählung des Rupsch hervor, der bekundet hat: Er solle das erstemal den Wagen des Kaisers auf 50 oder 150 Schritt herankommen lassen und das zweitemal die Explosion dann vollführen, wenn das letzte Hoch auf Se. Majestät den Kaiser ertönt war, ein programmäßiges Zeichen, daß der Festzug, an der Spitze der kaiserliche Wagen zurückkomme. Daß die Explosion, wenn sie nicht durch den Regen vereitelt worden wäre, objektiv geeignet gewesen wäre, die Insassen der vorüberfahrenden Wagen zu töten, hat uns der Sachverständige, Herr Major Pagenstecher bekundet. Es ist nun in Erwägung zu ziehen, daß Rupsch den anarchistischen Ideen huldigte, daß er ein eifriger Leser der „Freiheit“ war, daß, als er bei seinem Prinzipal einmal einen Diebstahl beging, er zur Rede gestellt, antwortete: „Eigentum ist Diebstahl“, daß er ferner äußerte: Es sei ihm ein leichtes, 500 Gesinnungsgenossen zusammenzubringen, er könne aus Säuren Dynamit bereiten, ja daß er sogar einmal, über sein Treiben zur Rede gestellt, antwortete: „Es ist mir sehr gleichgültig, auf welche Art ich zugrunde gehe, werde ich einmal gefaßt, dann nehme ich eine Nitroglyzerin-Hülse in den Mund und töte mich selbst.“ Es besteht ferner kein Zweifel, daß Reinsdorf gewußt hat, Rupsch sei der geeignete Mensch zur Ausführung des Attentats, und wenn Reinsdorf dem Rupsch den Küchler noch zur Begleitung mitgab, so geschah dies nicht, weil er an der Zuverlässigkeit des Rupsch, sondern nur, weil er an seinem Mut etwas zweifelte. Was nun den Küchler anlangt, so zählte dieser ebenfalls zu den eifrigsten Anhängern der anarchistischen Partei und beherbergte sogar längere Zeit den Reinsdorf. Reinsdorf bekennt frei und offen, daß er die Angeklagten Rupsch und Küchler angestiftet hat, nach dem Niederwald zu reisen und dort Se. Majestät den Kaiser, den Deutschen Kronprinzen und überhaupt alle dort versammelten deutschen Bundesfürsten zu töten. Er sagte dem Rupsch: Eine solche Gelegenheit, wie die Enthüllungsfeier, biete sich nicht wieder, dort sei die ganze Gesellschaft zusammen. Ja, Reinsdorf bekennt frei und offen: er habe die Absicht gehabt, eine Ermordung des Kaisers zu veranlassen, er bezeichnet diese Tat als eine Notwendigkeit zur Ausführung seiner anarchistischen Ideen und sagt: es sei besser, daß einer stirbt, als daß für einen Hunderttausende hingeschlachtet werden sollen. Danach ist Reinsdorf als Anstifter des Hochverrats zu bestrafen. Es ist nun in Erwägung zu ziehen, in welch schleichender Weise das Verbrechen zur Ausführung gebracht werden sollte. Während die Täter selbst in Sicherheit waren, sollte eine Explosion erfolgen, die geeignet war, eine große Anzahl von Menschen zu töten, und zwar an einem Tage, der für ganz Deutschland ein Nationalfesttag war. Es ist des weiteren zu erwägen, daß gegen Se. Majestät den Kaiser der Mordversuch zunächst gerichtet war, der Landesherr von Rupsch, Küchler und Reinsdorf ist. Es ist den Angeklagten nicht gelungen, den Nachweis zu führen, daß sie aus politischen Motiven gehandelt haben. Das Verbrechen ist demnach eine ehrlose Handlung, es mußte mithin neben der Todesstrafe auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Was nun den Angeklagten Holzhauer anlangt, so hat sein Haus offenbar den Herd der anarchistischen Bewegung in Barmen-Elberfeld gebildet. In seiner Wohnung fanden mehrfach Zusammenkünfte statt, in denen Verschwörungen geplant wurden. Der Gerichtshof hat die Überzeugung gewonnen, daß Holzhauer dem Rupsch das Dynamit übergeben, ihn ebenfalls mit Instruktionen versehen und ihm durch Sammlungen das nötige Reisegeld verschafft hat. Ohne Holzhauer säßen Söhngen, Rheinbach und Töllner nicht auf der Anklagebank. Er hat diese zur Hergabe des Reisegeldes an Rupsch verleitet. Daß Holzhauer gleich Reinsdorf, Rupsch und Küchler mit voller Überlegung gehandelt hat, daß er wußte: es handle sich um die Tötung Sr. Majestät des Kaisers, ist zweifellos erwiesen, Holzhauer war deshalb, wie geschehen, wegen Beihilfe zum Hochverrat zu bestrafen. Bezüglich der Angeklagten Söhngen, Rheinbach und Töllner hat der Gerichtshof nicht als erwiesen erachtet, daß diese den wahren Zweck ihres Geldleihens gekannt haben. Aus diesem Grunde ist auf Freisprechung dieser Angeklagten erkannt worden. An dem Attentat an der Festhalle in Rüdesheim ist nur Rupsch und Küchler beteiligt. Dies wurde von den beiden letzteren erst geplant, nachdem das Attentat auf dem Niederwald mißlungen war. Der Gerichtshof hat auch hier als erwiesen erachtet, daß beide, Rupsch und Küchler, gemeinschaftlich als Täter zu betrachten sind und daß sie die Absicht gehabt haben, einen Massenmord zu begehen, denn es waren zu dieser Zeit mindestens 1000 Menschen in der Festhalle anläßlich eines Konzerts versammelt. Daß das Dynamit 10 Schritt von der Festhalle gelegt wurde, ist nicht erwiesen, es ist vielmehr zeugeneidlich festgestellt, daß das Dynamit dicht unterhalb der Festhalle gelegt war und infolgedessen geeignet gewesen wäre, Menschen zu töten. Es ist deshalb dieses Verbrechens wegen gegen Küchler und Rupsch auf je 12 Jahre Zuchthaus und 10 Jahre Ehrverlust erkannt worden, während Reinsdorf und Holzhauer bezüglich dieses Verbrechens freizusprechen sind. Die Kosten des Verfahrens, insoweit auf Freisprechung erkannt ist, fallen der Reichskasse zur Last, die übrigen Kosten haben die verurteilten Angeklagten zu tragen. Die Angeklagten Söhngen, Rheinbach und Töllner sind sofort aus der Haft zu entlassen, die übrigen Angeklagten sind in Haft zu behalten. Ich schließe die Sitzung.

Angeklagter Reinsdorf hörte die Urteilsverkündung mit der größten Gleichgültigkeit an, Küchler und Rupsch dagegen drohten, als sie ihr Todesurteil vernahmen, förmlich zusammenzubrechen. Die freigesprochenen Angeklagten schüttelten den Verurteilten sämtlich zum Abschied freundlichst die Hand.

Rupsch wurde, seiner großen Jugend wegen, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Reinsdorf und Küchler wurden an einem kalten Wintermorgen (Februar 1885) auf dem Hofe des Zuchthauses zu Halle a.d.S. hingerichtet. Zunächst wurde Reinsdorf zur Richtstätte geführt. Er sang mit ziemlich lauter Stimme: „Stiefel, du mußt sterben, bist noch so jung, jung, jung.“ Als ihm die Henkersknechte das Hemd heruntergezogen hatten und ihn auf dem Schafott festschnallten, schnallten, rief Reinsdorf: „Ich sterbe für die Befreiung der Menschheit. Es lebe die Anarchie.“ In demselben Augenblick blitzte das Henkerbeil in der Luft und sauste auf den Hals Reinsdorfs nieder. Der Kopf war vom Rumpfe getrennt. „Herr Reichsanwalt, das Urteil ist vollstreckt,“ rief der Scharfrichter. Küchler hatte die Hinrichtung des Reinsdorf von seiner Zelle aus gesehen. Kaum war diese grauenhafte Prozedur beendet und die Leiche Reinsdorfs auf einem Hundewagen nach der Leichenhalle des Zuchthauses geschafft, da ertönte wiederum die „Armensünderglocke“ in die kalte Morgenluft hinaus. Ein furchtbares Schreien und Wehklagen vernahm man. Unter Führung des Oberinspektors transportierten drei Zuchthauswärter Küchler zur Richtstätte. Küchler mußte förmlich getragen werden. Er schrie: „Ich sterbe unschuldig. Meine arme Frau, meine armen Kinder.“ In diesem Augenblick hatte auch schon das Henkerbeil dem Küchler den Kopf vom Rumpfe getrennt. Zwei Reichsgerichtsräte und ein Reichsanwalt waren in ihren scharlachroten Talaren zu der Doppelhinrichtung in amtlicher Eigenschaft erschienen. Es wohnten nur wenige Personen dem traurigen Akte bei.

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Der Klub der Harmlosen

Das Glücksspiel ist zweifellos eine der größten Leidenschaften der Menschheit, das schon im grauen Altertum nicht unbekannt war. Das „Corriger la fortune“ hat in unserem materiellen Zeitalter alle Gesellschaftskreise ergriffen. Schon in alten Rom muß das Glücksspiel eine sehr große Ausdehnung angenommen haben, denn es wurde ein Gesetz erlassen, wonach Schulden, die aus dem Glücksspiel entstanden waren, nicht eingeklagt werden durften. Das Verlorene konnte gesetzlich zurückgefordert werden, und das Haus, in welchem Glücksspieler auf der Tat betroffen wurden, unterlag der Konfiskation. Nach dem älteren deutschen Recht galten Spielgeschäfte als erlaubte Geschäfte. Das Verlorene konnte demgemäß auch von dem Gewinnenden eingeklagt werden. Allein schon im vierzehnten Jahrhundert, mehr aber noch im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, erachtete man es in Deutschland als notwendig, das hohe und übermäßige Spiel, besonders das auf Borg, bei Strafe zu verbieten. Auf diese Weise gelangte man zur Unterscheidung zwischen verbotenen und erlaubten Spielen, die sich weniger auf die Art als auf die Höhe des Spiels bezog. Es wurde dabei immer der Grundsatz festgehalten, daß Spielschulden nicht einklagbar klagbar seien. In Frankreich gab es in früheren Jahren in fast allen größeren Städten privilegierte Spielhäuser. Bereits 1839 wurden jedoch alle Spielhäuser in Frankreich geschlossen. Die französischen Bankhalter Benazet, die Gebrüder Blanc u.a. errichteten deshalb Spielbanken in Deutschland. Jedoch schon 1848, noch vor der Märzrevolution wurden in Preußen die Spielbanken aufgehoben. In den 1866 annektierten Ländern wurde den dort auf Grund von Verträgen mit den früheren Regierungen errichteten Spielbanken die Fortdauer bis zum Schluß des Jahres 1872 gestattet. Sie hatten dabei die Bedingung zu erfüllen, daß ein bedeutender Teil des Reingewinns der Banken zur Bildung eines Kur- und Verschönerungsfonds für die beteiligten Städte gegeben wurde. Ende 1872 wurden die Spielbanken in Baden-Baden, Homburg, Wiesbaden, Ems, Nauheim und Pyrmont geschlossen. Das österreichische Strafgesetzbuch verbietet alle Hasardspiele und bedroht alle Spieler, sowie denjenigen, der in seiner Wohnung spielen läßt, mit Strafe; dem Denunzianten wird Straffreiheit und außerdem ein Drittel der Geldstrafen gewährt. Nach dem deutschen Reichs-Strafgesetzbuch werden diejenigen bestraft, die aus dem Glücksspiel ein Gewerbe machen. Ferner werden die Inhaber eines öffentlichen Versammlungsortes bestraft, welche Glücksspiele gestatten, oder zur Verheimlichung solcher Spiele mitwirken. Bekannte Spielbankorte im Auslande waren Spaa in Belgien und Saxon im schweizer Kanton Wallis. Jetzt besteht in Europa noch eine große öffentliche Spielbank in Monte Carlo. Trotz gesetzlichen Verbots ist das Glücksspiel und wohl auch das Falschspiel ungemein, und zwar in fast allen Gesellschaftsreisen verbreitet. Das Kümmelblättchen, „Meine Tante, deine Tante“ wird in den Vorstadtkneipen der Großstädte, insbesondere von den Bauernfängern noch immer mit Vorliebe gespielt. Es ist geradezu beschämend, daß es in unserem fortgeschrittenen Zeitalter noch immer einer Anzahl Gauner in der deutschen Reichshauptstadt und auch anderen deutschen Großstädten gelingt, ankommende Fremde in ein obskures Vorstadtlokal zu verschleppen und diesen beim Kümmelblättchen – oder beim „Meine Tante deine Tante“ – Spiel die gesamte Barschaft abzunehmen. Diese Gauner, die mit gezeichneten Karten spielen, lassen ihre verschleppten Opfer zunächst gewinnen. Dadurch werden die Verschleppten zu höheren Einsätzen verleitet, und nach kaum einer halben Stunde ist zumeist die ganze Barschaft Eigentum der Falschspieler. Der „olle ehrliche Seemann“, einer der Hauptangeklagten in dem großen hannoverschen Spielerprozeß (Oktober 1893; siehe Band 1) durchzog mit einer Roulette alle größeren Städte Europas. Er hatte selbst aus den höchsten Kreisen einen ungeheuren Zulauf; insbesondere, so versicherte Seemann in der erwähnten Strafkammerverhandlung, gehörten junge Offiziere zu seinen Kunden. Diese sollen ihm auch, wie Samuel Seemann allen Ernstes beteuerte, die Bezeichnung

der olle ehrliche Seemann

beigelegt haben. Seitdem Seemann das in öffentlicher Gerichtssitzung mitgeteilt hatte, ist dieser Spitzname eine allgemeine Bezeichnung für Falschspieler und Gauner aller Art geworden. Samuel Seemann hatte selbst unter dem hohen Adel seine Helfershelfer. Er wohnte selbstverständlich in den feinsten Hotels. Wenn er nach Hannover kam, da hatte der Husarenrittmeister a.D. Freiherr v. Meyerinck schon vorher im feinsten Hotel die erforderlichen Zimmer bestellt. Ein Offizier eines feudalen Kavallerieregiments von hohem Adel bekundete in Hannover als Zeuge: „Ich sagte mir, ob ich nach Monaco gehe oder zu Seemann, das bleibt sich im Grunde genommen ziemlich gleich.“ Obwohl Seemann mit gezeichneten Karten spielte und sein Roulettespiel auf offenbarem Betrug beruhte, sollen die Offiziere in Scharen zu ihm gekommen sein. Der letzte Prozeß gegen den Rumänen Buis und den Grafen Gisbert von Wolff-Metternich, der im März 1912 die erste Strafkammer des Landgerichts Berlin I unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Schmidt beschäftigte, hat den Beweis geliefert, daß noch immer gemeingefährliche Falschspieler spieler die europäischen Lande, insbesondere Weltbadeorte und Weltstädte durchziehen und es durch Beilegung hochadliger Namen verstehen, immer wieder zahlungsfähige Leute zu rupfen. Und immer wieder sind es zumeist junge, unerfahrene Offiziere, die diesen internationalen Hochstaplern bzw. Falschspielern ins Garn gehen. Der erwähnte Prozeß hat allerdings auch den Beweis geliefert, daß eine Anzahl ehemaliger Offiziere, zum Teil solcher von hohem Adel, zu den Falschspielern oder deren Schleppern zählen. Das ist wohl auch der Erklärungsgrund, daß sich junge deutsche Offiziere, zum großen Schaden nicht nur ihres Vermögens, sondern auch ihrer militärischen Karriere, von Falschspielern einfangen lassen. Im Interesse der Gerechtigkeit muß ausdrücklich gesagt werden, daß Graf Gisbert von Wolff-Metternich wohl mit internationalen Falschspielern, wie dem sogenannten „König der Falschspieler“, Baron v. Korff-König, oder richtiger gesagt, dem ehemaligen Handlungsgehilfen Stallmann u.a. bekannt war, es konnte aber nicht nachgewiesen werden, daß er sich des gewerbsmäßigen Glücksspiels oder gar Falschspiels schuldig gemacht oder Schlepperdienste geleistet hat. Er ist auch in dem Prozeß, in dem er zusammen mit Buis angeklagt war, lediglich wegen Betruges, den er begangen haben soll, weil er sich von dem Oberkellner des Café Astoria am Potsdamer Platz in Berlin unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Darlehn von hundert Mark hatte geben lassen, zu acht Tagen Gefängnis verurteilt worden. Diese Strafe wurde selbstverständlich durch die lange Untersuchungshaft, die er in der Hauptsache wegen Verdachts des Falschspiels zu erleiden hatte, als verbüßt erachtet.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts soll das Hasardspiel in der vornehmen Gesellschaft Berlins in erschreckender Weise überhand genommen haben. Viele junge Edelleute aus den ersten Familien des Landes, so erzählt Adolf Streckfuß in seiner „Berliner Geschichte“, sollen, infolge Spieles, moralisch und finanziell ruiniert worden sein. Die Brutstätte des wildesten Spiels war der Jockeyklub, dessen Mitglieder dem höchsten Adel angehörten. Der damalige Berliner Polizeipräsident v. Hinckeldey schritt gegen diesen Klub, der im „Hotel du Nord“ Unter den Linden eine Spielhölle heimlich unterhielt, ein. Der Klub wurde eines Abends von Polizeibeamten „im Namen des Gesetzes“ aufgelöst. Es kam infolgedessen zwischen einem Mitglied des Herrenhauses, Herrn v. Rochow-Plessow, und dem Polizeipräsidenten zu einer peinlichen Auseinandersetzung, die mit einer Pistolenforderung endete. Am 10. März 1856 fand in der Jungfernheide, in der Nähe des Försterhauses „Königsbau“ das Duell statt, in dem Polizeipräsident v. Hinckeldey erschossen wurde.

Schon während des hannoverschen Spielerprozesses ging das Gerücht, daß in Berlin ebenfalls geheime Spielklubs existieren, in denen gewiegte Falschspieler, die bereits mit Zuchthaus bestraft sind, eine hervorragende Rolle einnehmen, und in denen junge Offiziere und Beamte, die zum Teil dem preußischen Hochadel angehören, Unsummen verspielen. Es wurde festgestellt, daß seit einer Reihe von Jahren eine große Gesellschaft von jungen Offizieren, Beamten und Lebemännern, zumeist im Anschluß an Pferderennen, sich zusammenfanden, um beim Bakkaratspiel ihr Glück zu versuchen. Es wurde gespielt bei Lauter, im Savoy-Hotel (Dorotheenstraße), im Café Josty am Potsdamer Platz, im Restaurant von Philipp Albrecht in der Mohrenstraße, bei Hecht in der Jägerstraße, in der Eremitage in der Jägerstraße, bei Knoop in der Potsdamer Straße, bei Wittkopp in der Kleinen Mauerstraße. In den Jahren 1894 bis 1898 soll vorzugsweise an den Sonnabend-Abenden im Viktoriahotel gespielt worden sein. Dort sollen an einem Abend viele Tausende verspielt worden sein. Der Spielklub im Viktoriahotel ging aber eines Tages, aus Anlaß eines unliebsamen Vorfalls, in die Brüche. Man hatte einen Bankhalter im Verdacht, an jenem Abend unredlich gespielt zu haben. Dieser Verdacht wurde dadurch bestärkt, daß, als man die Karten nachzählte, sich herausstellte, daß statt sechs vollständiger ständiger Spiele, d.h. anstatt 312 Karten 360 Karten vorhanden waren. Dieses Vorkommnis führte zur Auflösung der Spielergesellschaft im Viktoria-Hotel. Es fand nun eine Scheidung statt. Ein Teil bestand zumeist aus Offizieren, die nach dem Vorfall das Bedürfnis einer größeren Abgeschlossenheit empfanden. Diese Herren arrangierten nunmehr Spielabende unter sich im Savoyholel und bei Philipp Albrecht in der Mohrenstraße. Der andere Teil wechselte mehrfach seine Klublokale. Im Winter 1896/97 tauchten in diesen Spielerkreisen zwei Personen auf, die offenbar nicht dahin gehörten, aber von einem jungen Gardeoffizier eingeführt waren. Der eine war der in Spielerkreisen sehr bekannte Ernst Levin, der andere der bekannte Glücksspieler Hermann Wolff. Letzterer hatte in den 1880er Jahren in Gemeinschaft mit dem bekannten Falschspieler Konrad Reuter dem Fabrikbesitzer Arthur Prins-Reichenheim in der Tiergartenstraße zu Berlin in einer Nacht über 100000 Mark im Spiel abgenommen. Er wurde, da er nachweislich falsch gespielt hatte, zu einer längeren Gefängnisstrafe und Ehrverlust verurteilt. Dieser sehr fein auftretende alte Herr war zur Zeit bereits 60 Jahre – wurde als ein sehr reicher Rentier eingeführt. Er sprach ein sehr elegantes Französisch, so daß der junge Fürst von Thurn und Taxis, der als Leutnant beim Garde-Kürassierregiment stand, es als großes Vergnügen empfand, sich an den Spielabenden in den Wandelgängen des vornehmen Berliner Zentralhotels stundenlang mit Wolff zu unterhalten. Wolff wurde von den jungen Offizieren „Kartenkünstler“ genannt. Allerdings soll er eine Geschicklichkeit im Kartenspiel besessen haben, die schließlich den Mitspielern großes Unbehagen bereitete. Aber auch der Regierungsreferendar v. Kayser, Leutnant der Reserve v. Kröcher und Kaufmann v. Schachtmeyer hatten ein geradezu fabelhaftes Spielglück, so daß die Mitspieler schließlich mißtrauisch wurden. Als dies Mißtrauen zum Ausdruck kam, gründeten v. Kayser, v. Kröcher und v. Schachtmeyer den

„Klub der Harmlosen“,

dessen Sitz das Zentralhotel in der Friedrichstraße wurde. Es wurde ein Saal und zwei Zimmer für monatlich tausend Mark gemietet. Der Klub wurde am 14. Oktober 1898 durch ein glänzendes Diner eröffnet. Die Werbetrommel war für den Klub tüchtig in Bewegung gesetzt worden. Es wurden die Offiziere aller feudalen Regimenter, aber auch Hermann Wolff und Ernst Levin zu dem Eröffnungsdiner eingeladen. Kurze Zeit nach diesem Diner schieden Leutnant Graf von Egloffstein und Graf v. Königsmarck aus dem Vorstande. An deren Stelle wurde v. Schachtmeyer gewählt. Ende November 1898 siedelte der Klub in das Minerva-Hotel über, weil der Pächter des Zentral- Hotels Unannehmlichkeiten befürchtete und die Auflösung des Mietvertrages durchsetzte. Im Dezember 1898 brachte das „Berliner Tageblatt“ aus der Feder eines Dr. Kornblum Aufsehen erregende Artikel über das Leben und Treiben in dem „Klub der Harmlosen“. Diese Artikel hatten zur Folge, daß das Klubunternehmen zusammenbrach und Wolff, Levin und auch der Klubdiener von der Bildfläche verschwanden. Nach einiger Zeit wurden v. Kayser, v. Kröcher und v. Schachtmeyer verhaftet und die Anklage wegen Falschspiels und gewerbsmäßigen Glücksspiels gegen sie erhoben. Die Eröffnungskammer hatte es aber wegen Mangels an Beweisen abgelehnt, das Verfahren wegen Betruges zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft führte Beschwerde. Das Kammergericht trat jedoch dem Beschluß der Eröffnungskammer bei: v. Kayser, v. Kröcher und v. Schachtmeyer hallen sich deshalb nur wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Gegen Dr. Kornblum wurde das Verfahren wegen Mangels an Beweisen gänzlich, gegen Wolff und Levin wegen ihrer „Abwesenheit“ vorläufig eingestellt. Die Verhandlung gegen v. Kayser und Genossen begann am 2. Oktober 1899 im großen Schwurgerichtssaale des alten Moabiter Gerichtsgebäudes. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Denso. Die Anklage vertrat trat der Erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin I, Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel. Die Verteidigung führten Justizrat Dr. Sello und Rechtsanwalt Dr. Schachtel für v. Kayser, Rechtsanwalt Dr. Schwindt für v. Kröcher und Rechtsanwalt Dr. Pincus I für v. Schachtmeyer. Der Angeklagte Bruno v. Kayser, der bereits acht Monate in Untersuchungshaft saß, war 30 Jahre alt, Regierungsreferendar bei der Regierung zu Frankfurt a.d.O., Leutnant der Reserve im zweiten Garde-Ulanenregiment. Er war der Sohn eines Oberst. Hans Bernhard v. Kröcher war 23 Jahre alt, gleichfalls seit acht Monaten in Untersuchungshaft und Leutnant der Reserve im zweiten Garde-Feldartillerieregiment. Er war der Sohn eines Generalmajors und Brigadekommandeurs. Alexander Paul v. Schachtmeyer war 27 Jahre alt, Kaufmann und Unteroffizier der Reserve im Feldartillerieregiment Nr. 3. Er war der Sohn eines Eisenbahnassistenten. Alle drei Angeklagten waren noch unbestraft. Es wurde behauptet, daß sie ein sehr luxuriöses Leben geführt haben, das mit ihren Einnahmen in keinem Verhältnis stand. v. Kayser soll trotz des geringen Zuschusses stets in den feinsten Hotels verkehrt haben und wie ein steinreicher Mann aufgetreten sein. v. Kröcher, der wegen seiner Spielwut den aktiven Dienst quittieren mußte, hielt sich Pferd und Wagen und einen Kammerdiener, der ihn auf seinen kostspieligen Reisen nach Ostende, Monte Carlo, Aachen, Wiesbaden, Paris usw. begleitete. Er hatte außerdem in der Friedrich-Wilhelm-Straße in Berlin eine elegant eingerichtete Wohnung und unterhielt mit einer Sängerin ein Liebesverhältnis.

Der Angeklagte v. Kayser erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei der Sohn des verstorbenen Oberst z.D. Edwin v. Kayser. Seine Mutter sei mit dem Oberlandforstmeister Ministerialdirektor Donner eine zweite Ehe eingegangen. Am Tage nach seiner Verhaftung sei er durch Verfügung des Bezirkskommandos zur Garde-Landwehrkavallerie übergeführt worden. Zwei jüngere Brüder von ihm seien Offiziere; einer von diesen sei sehr reich verheiratet. Seine Mutter habe in den letzten Jahren etwa 70000 Mark für ihn bezahlt, darunter befanden sich im Jahre 1894 17000 Mark Spielschulden. Als er in Berlin Referendar war, wurde ihm ein Kapital von 12000 Mark überwiesen. Durch Vermittelung seiner Mutter wurde ihm ein Legat von 4000 Mark überwiesen. Außerdem habe er durch Vermittelung seiner Brüder und anderer Leute Darlehen erhalten. Seine Mutter sei jederzeit in der Lage und auch stets bereit gewesen, Schulden in bedeutender Höhe für ihn zu bezahlen. Im Jahre 1895 habe er große Spielverluste gehabt, die teilweise auch darauf zurückzuführen seien, daß er einmal in großer Trunkenheit sich auf Spiele eingelassen habe, auf die er in nüchternem Zustande nicht eingegangen wäre. Im Winter 1894/95 sei er nach anfänglichen Verlusten im Glück gewesen, so daß er über 30000 Mark besessen habe; diese seien aber im folgenden Winter wieder verloren worden. Schon im Oktober 1896 habe er seiner Mutter einen sehr großen Posten Spielschulden beichten müssen. Er habe jetzt noch 14000 Mark Spielschulden, er habe aber 15300 Mark Außenstände. Er gebe zu, bisweilen an Spielabenden Oberkellner angeborgt zu haben. Auch Bleichröder würde, wenn ihm während des Spiels das Geld ausginge, sich Geld borgen, da er doch nicht des Nachts auf die Bank gehen könne.

Vors.: Sie haben doch aber bisweilen recht bedenkliche Äußerungen getan, die mit Ihren jetzigen Angaben im Widerspruch stehen. Sie haben z.B. dem Leutnant v. Neymann gesagt: „Sie sind Offizier, Sie bekommen nichts, ich bin im übrigen gänzlich mittellos.“

Angekl.: Wenn ich das gesagt habe, dann kann es nur in der Trunkenheit geschehen sein. Ich habe auch schließlich Herrn v. Neymann einen Teil meiner Schulden bezahlt, er hat also dadurch den besten Gegenbeweis von meiner Vermögenslage erhalten.

Es wurde alsdann die Aussage der Mutter des Angeklagten verlesen. Sie hatte bekundet: Bis zur großen Beichte habe sie von der Spielleidenschaft ihres Sohnes nichts gewußt; sie habe aber die Spielschulden stets anstandslos bezahlt. Ihr Sohn habe einmal 17000 Mark und bald darauf 4000 Mark Erbschaftsbeträge erhalten. Außerdem habe er jährlich 3 bis 4000 Mark Unterhaltungsgelder bekommen. Sie habe ihm niemals das Versprechen, nicht mehr zu spielen, abgenommen. Ihr Sohn habe darauf rechnen können, daß sie ihm nochmals aus der Not helfen würde.

Vors.: Sie sollen ein sehr luxuriöses Leben geführt haben?

Angekl.: Das bestreite ich ganz entschieden; ich habe nicht übermäßig gelebt. Ich habe sehr fleißig gearbeitet, zumal ich vor dem Assessorexamen stand. In der letzten Zeit hatte ich viel Pech. Ich wurde sehr von den Gläubigern gedrängt.

Vors.: Sie haben ein Liebesverhältnis mit einem Fräulein Frida Vogt gehabt, das zweifellos viel Geld gekostet hat?

Angekl.: Keineswegs. Fräulein Vogt war Schauspielerin und verfügte selbst über einige Mittel.

Vors.: Sie haben dem Fräulein Vogt aber kostspielige Geschenke gemacht?

Angekl.: Das ist ein Irrtum.

Vors.: Sie haben der Dame doch einen Brillantring geschenkt?

Angekl.: Das ist allerdings richtig.

Vors.: Haben Sie sie denn nicht außerdem für ihre Liebesdienste entschädigt?

Angekl.: Nein. (Allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Von dem Angekl. v. Kröcher wird erzählt, daß er jährlich etwa 30000 Mark ausgegeben hat. Sie waren mit v. Kröcher befreundet und haben wahrscheinlich einen ähnlichen Aufwand getrieben?

Angekl.: Keineswegs. Meine Ausgaben sind mit denen des Herrn v. Kröcher gar nicht zu vergleichen. Ich habe mit Frida Vogt einen ganz bescheidenen Hausstand geführt.

Vors.: Mit den Berliner Schneidern scheinen Sie aber nicht zufrieden gewesen zu sein. Ich finde hier eine Rechnung vom Schneider Ebenstein aus Wien.

Angekl.: Ebenstein hat hier eine Filiale.

Vors.: So, dann ist diese Sache aufgeklärt. (Heiterkeit.) Waren Sie nicht mit v. Kröcher sehr befreundet?

v. Kayser: Befreundet eigentlich nicht, erst später sind wir uns nähergetreten.

Vors.: Es liegen aber Postkarten v. Kröcher an Sie aus Monte Carlo recht freundschaftlichen Inhaltes vor. Sie sind in sehr burschikosem Sinne gehalten. Es finden sich nur für Spieler verständliche Ausdrücke darin. Auch von „zarten Beziehungen“ des Absenders spricht der Inhalt. Die eine Karte schließt: „Habe jetzt Schicksal von O. übernommen. Hier ist jetzt alles da, unbar wird nicht angenommen.“ Auf Befragen erklärte der Angeklagte weiter: Er habe immer ein großes Spielinteresse gehabt, als Korpsstudent sei ihm das Hasardspiel verboten gewesen. Erst als er als Referendar nach Berlin kam und von seiner Mutter ihm das Kapital überwiesen worden war, sei er hier in die Spielgesellschaft geraten, die im Hotel Lauter zusammenkam. Er sei da gleich am ersten Abend von einem Grafen Flatow ganz gehörig „angeschossen“ worden. Im übrigen habe er bei Lauter etwa 30000 Mark gewonnen, die er im nächsten Jahre im Viktoria-Hotel auf Heller und Pfennig wieder verloren habe. Der unliebsame Vorfall mit Herrn v. Schrader, bei welchem dieser verdächtigt wurde, falsch gespielt zu haben, habe sich im Jahre 1896 zugetragen. Dieser Vorfall sei keineswegs aufgeklärt gewesen. Herr v. Schrader habe das über ihn umgehende Gerücht mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Dieser Vorfall habe auch nicht zu einer Zweiteilung der Spielgesellschaft geführt, sondern die Tatsache, daß Herr v. Zedlitz, der dem Ganzen vorstand, von hier nach London ging. Im Jahre 1897 sei er (v. Kayser) in Kottbus gewesen und sei ganz sporadisch einmal des Sonnabends nach Berlin gekommen. Die Gesellschaft spielte dann zunächst bei Hecht. Dies war ein widerliches, ungemütliches Lokal, und da man gern von Herrn Dr. Kornblum los sein wollte, habe man es vorgezogen, die Spielabende nach dem Zentralhotel zu verlegen. Die Persönlichkeit des Wolff sei für diese Übersiedelung sehr gleichgültig tig gewesen.. Es handelte sich darum, daß die Offiziere und andere Kavaliere, die von ganz anderem Holz geschnitzt waren, als der Mann mit den großen Perlen im Hemde, sich von Kornblum sowohl als auch von Wolff zurückziehen wollten.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie von Dr. Kornblum wirtschaftlich abhängig waren.

Angekl.: Das behauptet bis jetzt nur die Anklage. Wer Herrn Dr. Kornblum kennt, weiß, daß dies ganz unmöglich war.

Vors.: Der Zeuge Moos hat Sie und Dr. Kornblum als „siamesische Zwillinge“ bezeichnet.

Angekl.: Mit viel größerem Recht würde man behaupten können, daß die Zeugen Moos, Moers und Dr. Kornblum ein Terzett aufgeführt hätten.

Vors.: Nun lassen Sie sich einmal über den Artikel im „Tageblatt“ aus.

Angekl.: Dr. Kornblum ist eines Tages zu mir gekommen und hat allerlei Verdächtigungen über Wolff ausgesprengt. Er hat dies aber auch bezüglich anderer Personen getan; er hat sämtliche Rennstallbesitzer, die Mitglieder des Turfklubs u.a. in der schmutzigsten Weise verdächtigt, ebenso seine eigene Verwandtschaft. Bezüglich des Wolff hat er mir nur gesagt, ich soll einmal auf diesen achten und mich in den Kreisen der Buchmacher nach einem Mann erkundigen, der den Spitznamen „Oberförster“ trägt. Ich habe mit Herrn v. Schachtmeyer darüber gesprochen, und wir hatten beide beschlossen, auf Wolff möglichst acht zu geben. Inzwischen erschien aber plötzlich der Artikel im „Berliner Tageblatt“.

Angeklagter v. Schachtmeyer bestätigte diese Angaben v. Kaysers.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel stellte bezüglich des Angeklagten v. Kayser fest, daß er außer der Wohnung in der Werftstraße auch die Wohnung der Familie Vogt in der Lüneburger Straße bezahlt habe. Er rechnete dem Angeklagten vor, daß er 600 Mark monatliche reguläre Ausgaben hatte, die er mit regulären Einnahmen nicht decken konnte.

v. Kayser: Ich habe eben Schulden gemacht, das kommt doch aber auch hier nicht in Betracht.

Oberstaatsanwalt: Das ist für mich aber von allergrößter Wichtigkeit, ich will beweisen, daß der Angeklagte erheblich über seine Verhältnisse gelebt hat. Wie groß waren Ihre Spielverluste?

Angekl.: In der ganzen Periode 56000 Mark. Seit der Gründung des Klubs habe ich nicht mehr wie 25000 Mark verloren. Ich hätte mich für das Geld, was mir meine Mutter gegeben hat, tausendmal besser amüsieren können, wenn ich nicht gespielt hätte.

Oberstaatsanwalt: Das mag sein. Sie sprachen vorhin von „Dr. Kornblum und den anderen Juden“. Wen meinten Sie damit?

Angekl.: Herrn Stern, Herrn Konsul Moos, Herrn Tonn, einen Herrn Meyer.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie denn Einwendungen gegen die Ehrenhaftigkeit dieser Herren zu machen?

Angekl.: Nein, sie haben nur immer die Gelder sehr rigoros eingetrieben.

Seitens des Oberstaatsanwalts wurde klargelegt, daß die Anklagebehörde sich alle Mühe gegeben hat, des Zeugen Dr. Kornblum habhaft zu werden, aber leider erfolglos. Der Staatsanwalt teilte dabei die verschiedenen Schritte mit, die zwecks Ermittelung des Zeugen Dr. Kornblum unternommen worden seien. Justizrat Dr. Sello stellte fest, daß hiernach Dr. Kornblum schon außerhalb Deutschlands sich befunden habe, als er noch sehr stark Angeschuldigter war.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt behielt sich die Ladung des Adjutanten des Generalkommandos des Gardekorps vor, um zu beweisen, daß sein Klient v. Kröcher seinerzeit freiwillig aus dem aktiven Dienst geschieden sei.

Hierauf wurde der Angeklagte v. Kröcher vernommen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab der Angeklagte an: Er sei der Sohn des Generalmajors v.K. Er war Leutnant im zweiten Garde-Feldartillerieregiment. Mit einundzwanzig Jahren habe er aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied genommen und beabsichtigt, das Abiturientenexamen zu machen und zu studieren. Diese Absicht sei durch schwere Erkrankung vereitelt worden. Als er wieder gesund geworden, habe sein Vater, dem bekannt war, daß er zwar leichtsinnig sei, aber einen soliden Kern besitze, ihm 90000 Mark zur Verfügung gestellt zur Beteiligung an der Holzhandlung von Otto Kleinschmidt. Diese 90000 Mark seien eigenes Vermögen seines Vaters gewesen.

Vors.: Sie sollen beim Spiel viel gewonnen haben?

Angekl.: Meine Gelder stammten nicht vom Spiel her, sondern vorwiegend durch mein Rennpferd „Hagelschlag“ und durch Gewinne an einer Spielbank in Namur und Monte Carlo. An letzterem Orte habe ich nachweisbar 20000 Francs auf einen Schlag gewonnen. Ich habe mit meinen Rennpferden – es liefen noch zwei andere Pferde unter meinem Namen – etwa 8000 Mark vom Rennplatze, außerdem 10000 Mark durch Wetten und auch noch größere Summen am Totalisator gewonnen.

Vors.: Sie haben ein sehr flottes Leben geführt.

Angekl.: Das ist auch sehr übertrieben.

Vors.: Sie haben ein Taschengeld von 110 Mark bezogen und sollen einen Haushaltsetat von jährlich 30000 Mark gehabt haben.

Angekl.: Durch die Beweisaufnahme wird der sogenannte „Luxus“ sehr zusammenschrumpfen. Mein Vater stand mir stets, wenn ich Geld brauchte, um Spielschulden zu begleichen, hilfreich zur Seite.

Vors.: Sie sollen den schönsten Luxuswagen „Selbstkutschierer“ in Berlin gehabt haben.

Angekl.: Das steht im „Berliner Tageblatt“, darum braucht es aber doch nicht zuzutreffen. Der Wagen und das Pferd, welches ich kaufte, waren keineswegs sehr teuer, ich habe sie sogar mit kleinem Nutzen wieder verkauft.

Vors.: Sie sollen eine luxuriöse Wohnung gehabt haben?

Angekl.: So luxuriös war die Wohnung nicht. Die ganze Einrichtung kostete 6300 Mark, einschließlich der persischen Teppiche, die zu kaufen ich mich eines Tages von einem Herrn beschwatzen ließ. Diese Teppiche mögen auf Herrn v. Manteuffel vielleicht einen so luxuriösen Eindruck gemacht haben.

Vors.: Sie haben sich auch ein Reitpferd gehalten?

Angekl.: Ich habe mir das Pferd für 4000 Mark gekauft; ich sagte mir, ob du das Pferd kaufst oder die 4000 Mark schließlich wieder im Spiel verlierst, kommt doch schließlich auf dasselbe hinaus.

Vors.: Sie sollen auch kostspielige Reisen gemacht haben, nach Monte Carlo, Wiesbaden, Aachen.

Angekl.: In Aachen war ich nicht zu meinem Vergnügen, sondern aus Gesundheitsrücksichten.

Vors.: Sie waren auch in Paris.

Angekl.: Ich bin nach Paris gefahren, weil ich die Absicht hatte, mich an der Ausbeutung eines Patentes zu beteiligen.

Vors.: Wenn Sie immer behaupten, daß Ihr Vater Ihnen in Notfällen sicher beigesprungen wäre, so würde Ihr Herr Vater doch schließlich nicht seine Aussage verweigert haben. Das ist doch immer etwas bedenklich.

Angekl.: Doch nicht. Mein Vater ist ein alter aktiver General, dem es natürlich höchst unangenehm wäre, hier in einem Spielerprozesse als Zeuge auftreten zu müssen. Er steht außerdem augenblicklich vor dem Avancement; alle diese Gründe haben mich und meinen Verteidiger bisher veranlaßt, meinen Vater nicht in diese Affäre hineinzuziehen. Aber wenn mein Vater sehen wird, daß es vielleicht auf seine Aussage besonders ankommt, wird er sicher sich der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, nicht entziehen. Zu meinem Bedauern würde ich evtl. darauf zurückkommen müssen.

Vors.: Ihr Vater könnte doch hier ebensogut erscheinen wie die anderen Offiziere auch.

Angekl.: Nein, doch nicht; es ist etwas anderes, ob hier junge Spieler auftreten oder ein alter ergrauter General.

Vorsitzender: Sie sollen einen Kammerdiener, namens Meyer, gehabt haben und diesen mit der ganzen Zulage, die Sie erhielten, bezahlt haben?

Angekl.: Für mich spielte die Zulage keine Rolle, weil ich damals große Renngewinne hatte.

Vors.: Meyer behauptet, Sie hätten auf Ihren Reisen oft eine Roulette und Karten mitgenommen.

Angekl.: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Sie sollen sie in Ihrem Koffer gehabt haben?

Angekl.: Nein. In Aachen hatte der Leutnant a.D. von Schrader eine Roulette mit und brachte sie mir in mein Hotelzimmer, weil er mir ein System zeigen wollte, mit dem man die Bank von Ostende sprengen könnte. (Heiterkeit.) Herr v. Schrader ging nach Ostende und ließ die Roulette in meinem Zimmer; er hat dann in Ostende so toll gespielt, daß er sich schließlich vergiften mußte. Ich habe die Roulette im Hotel „Zum großen Monarch“ zurückgelassen.

Vors.: Sie hatten ein Verhältnis mit der Sängerin Lona Kussinger?

Angekl.: Jawohl, drei Wochen lang.

Vors.: Hat Sie die Dame viel gekostet?

Angekl.: Nein nur ab und zu kleinere Geschenke.

Vors.: Solche Damen verlangen doch viel Schmuck und Goldsachen, sonst ist es bald mit der Liebe aus.

Angekl.: Die ganze Geschichte hat ja auch nur drei Wochen gedauert. (Heiterkeit.)

Vors.: Das ist schon lange genug. Übrigens sagen alle Zeugen, die Sie kennen, daß Sie mit 30000 Mark kaum Ihren fürstlichen Aufwand bestreiten konnten.

Angekl.: Diese Zeugen haben ein sehr schlechtes Urteil. Ich lebte doch mit ihnen genau so wie sie selber, und sie werden doch nicht behaupten wollen, daß sie auch jährlich 30000 Mark ausgeben. Nur in Monte Carlo habe ich größeren Aufwand getrieben. Wenn man da den ganzen Tag in dieser Spielhölle sitzt, weiß man abends nicht recht, was man tut.

Vors.: Wie haben Sie nun Wolff kennengelernt?

Angekl.: In Aachen, im Hotel „Zum großen Monarch“. Dort saß er mit Schrader. Er wurde mir erst als Amerikaner bezeichnet, der reich sei. Da er mit Schrader verkehrte, mußte ich annehmen, daß er ein Gentleman sei. Er machte den Eindruck eines reservierten, sehr wohlerzogenen Menschen.

Vors.: Wolff mag sich ja etwas herausgemacht haben, ich habe ihn früher verurteilt und kenne ihn ganz genau, aber er macht doch einen recht bedenklichen Eindruck gleich auf den ersten Blick.

Angekl.: Auf mich machte er nicht den Eindruck der Talmieleganz. Mir war Wolff viel sympathischer als Kornblum und viele andere Spieler.

Vors.: Hat sich Wolff sehr an Sie herangedrängt?

Angekl.: Nein, im Gegenteil, er verhielt sich sehr zurückhaltend; ich habe ihn zum Spielen animieren müssen. Aber ich will für mich keine große Erfahrung in Anspruch nehmen. Ich war damals kaum 20 Jahre alt.

Vors.: In Aachen spielten Sie nach kurzer Zeit Bakkarat.

Angekl.: Ja, es entwickelte sich bald ein kleines Jeu mit einem Herrn Bancart, der absolut keine Mittel hatte. Dieser spielte gleich wie ein Wahnsinniger darauf los und verlor unbar 20000 Mark an Wolff, der an mich 10000 Mark verlor und mich an Bancart verwies.

Vors.: Es ist doch auffällig, daß Sie sich von dem kapitalkräftigen Wolff an den Bancart verweisen ließen.

Angekl.: Das entsprach gewissen Usancen, die bei solchen Regulierungen zwischen uns Platz griffen.

Vors.: Von Herrn Bancart ist dann einmal ein Brief geschrieben worden, der manche bedenkliche Stellen für Sie enthält.

Angekl.: Der Brief ist zu einer Zeit geschrieben worden, als die ganz falschen Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen waren. Ich hielt den Brief für eine kleine Erpressung und habe ihn selbst Herrn v. Manteuffel überantwortet, obgleich dieser sich alle mögliche Mühe gab, alles mögliche Belastende gegen uns zusammenzutragen. Ich habe Herrn Bancart auf diesen Brief energisch geantwortet und von ihm einen Entschuldigungsbrief erhalten.

Vors.: Herr v. Schachtmeyer war auch in Aachen und hat ebenfalls mitgespielt?

Angekl.: Herrn v. Schachtmeyer kannte ich damals noch nicht näher, er trat mir gegenüber noch mit der Zurückhaltung auf, die ein Unteroffizier der Reserve seinem ehemaligen Offizier gegenüber hat. Wir waren weit entfernt davon, etwa eine ganze Falschspielerbande gebildet zu haben.

Vors.: Auffallend ist es, daß, als Sie später in Wiesbaden eintrafen, dort auch wieder Herrn Wolff antrafen, im Hotel Kaiserhof sofort wieder spielten und auch noch Herrn v. Schachtmeyer telegraphisch nach Wiesbaden zitierten.

Angekl.: Das ist ein unglücklicher Zufall. Herr Wolff, ein älterer Herr, war in Wiesbaden, um Moorbäder zu nehmen. Ich langweilte mich in Wiesbaden, und da ich gern ein Jeu mache, so telegraphierte ich an Schachtmeyer.

Vors.: Eine der Depeschen, die Sie an Herrn v. Schachtmeyer richteten, soll den Inhalt gehabt haben: „Anschuß in Sicht“.

Angekl.: Eine solche Depesche existiert nicht. Sie existiert nur in der Phantasie des „Berliner Tageblattes“ und des Herrn Kornblum, der die erlogenen Artikel veröffentlicht hat.

Vors.: Angeklagter, hüten Sie sich, daß Sie sich nicht noch eine Beleidigungsklage zuziehen. Sie wissen doch, was es heißt, wenn man jemanden der Lüge zeiht. Sagen Sie lieber „Unwahrheit“.

Angekl.: Ich kenne den Unterschied sehr genau und bleibe dabei, daß es sich um total erlogene Geschichten handelt, um bewußte Unwahrheiten.

Vors.: Ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich zu mäßigen. Sie sollen, was ja auch auffällig ist, in Wiesbaden dem Stud. v. Schrader, der doch gar nicht Geld zum Spielen bei sich hatte, sofort 1500 Mark vorgeschossen haben, die Sie ihm natürlich sofort wieder abnahmen.

Angekl.: Es ist doch nichts Auffälliges, daß man einem Spieler, der kein Geld bei sich hat, aushilft.

Auf weitere Fragen des Vorsitzenden erklärte der Angeklagte v. Kröcher, daß er allerdings gar keinen Anstand genommen habe, den alten Wolff, den er in Berlin traf und den er als einen guten „Schießer“, d.h. Spieler kannte, bei Hecht und bei Albrecht einzuführen. Der alte Herr sei durchaus nobel aufgetreten, habe sich immer nett gezeigt und sei nicht verdächtig gewesen. Er bestreite aber entschieden, daß er mit Herrn v. Kayser und Herrn Wolff immer zusammengehockt habe. Wenn das Dienstmädchen des v. Schachtmeyer dies behauptet, so erklärt sich dies dadurch, daß die drei natürlich nach dem Erscheinen des Artikels im „Tageblatt“ darüber berieten, was dagegen zu tun sei. Auf eine ganze Reihe von Kreuz- und Querfragen des Oberstaatsanwalts erklärte Angeklagter v. Kröcher, daß er früher als sehr solide und sparsam sam gegolten habe; erst als er die großen Renngewinne gemacht, habe er sich natürlich nicht besonnen, das viele Geld auch auszugeben. Die Behauptung, daß er 20000 Mark im Spiel gewonnen habe, sei absolut aus der Luft gegriffen. Er habe im Laufe des Jahres höchstens ein Plus von 10000 Mark gehabt.

Der Angeklagte v. Schachtmeyer, der alsdann vernommen wurde, sagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei der Sohn eines Eisenbahnassistenten, der kein Vermögen gehabt habe. Im Jahre 1893 sei ihm ein Legat von 30000 Mark zugefallen. Schon als er Lehrling in einem Bankgeschäft war, habe er mit großem Glück an der Börse spekuliert. Er habe sich an einem Fuhrgeschäft als stiller Sozius mit 18000 Mark beteiligt. Herrn v. Kröcher kenne er von seiner Militärdienstzeit her. Er bestreite, übermäßigen Aufwand getrieben zu haben; seine sogenannte luxuriöse Einrichtung sei von Markiewicz auf Abzahlung entnommen und erst zum kleinen Teil bezahlt. Wenn er die Bilanz seiner fünfvierteljährigen Spieltätigkeit ziehe, so ergebe sich ein Plus von vielleicht 15000 Mark. Anfänglich habe er mit Unglück, später mit viel Glück gespielt. In Aachen habe er Herrn v. Kröcher, den er damals mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Hochachtung, wie sie einem militärischen Vorgesetzten zukomme, behandelt und mit diesem, Herrn Wolff und Bancart zum ersten Male in seinem Leben Bakkarat gespielt. Er habe Wolff für einen Gentleman gehalten, wie alle übrigen, die mit ihm zu tun hatten. Die Behauptung, daß v. Kröcher ihm von Wiesbaden telegraphiert habe: „Anschuß in Sicht“, sei pure Erfindung. In Aachen habe er selbst 400 Mark verloren. Er sei dann in die Spielerkreise hineingeraten, habe aber immer in bescheidenen Grenzen gespielt. Was Herrn Wolff betrifft, so seien auch noch nach dem Artikel des „Berliner Tageblattes“ fast alle beteiligten Personen der Ansicht gewesen, daß dieser unmöglich der vom „Tageblatt“ gemeinte „Schwindler“ und „Gauner“ sein könne.

Vors.: Nun, Angeklagter v. Kayser, sagen Sie einmal, was war die Veranlassung zur Begründung des „Klubs der Harmlosen“?

Angekl.: Der Hauptgrund war, daß die besten Elemente der Spielgesellschaft nicht mehr mit Herrn Dr. Kornblum bei Hecht zusammentreffen wollten. Von Herrn Dr. Kornblum wurden so widerwärtige, ekelhafte Geschichten erzählt, daß niemand mit ihm mehr zu tun haben und am wenigsten sich von ihm terrorisieren lassen wollte. Mit Herrn Wolff bin ich nicht in andere Berührung gekommen, wie die übrigen Spieler, er wurde mir „im Ramsch“ einmal vorgestellt, ich habe aber außerhalb des Spielzimmers niemals mit ihm verkehrt. Eine besondere Formalität hat bei der Begründung des neuen Klubs nicht stattgefunden. Die Statuten, die ich gewissermaßen aus Spielerei angefertigt hatte, sind niemals praktisch in Anwendung gekommen. In allen Spielkreisen ist es Mode, daß jeder Spieler etwas in die „Pinke“ zahlen muß. So ist es auch bei diesem Klub gewesen. Wer 100 Mark Eintritt bezahlt hatte, mußte bei Beginn der Spielabende 10 Mark in die „Pinke“ zahlen, wer keinen Eintritt bezahlt hatte, 30 Mark, doch durfte dies nur zweimal geschehen.

Vors.: Sie sollen aber dem Wolff besondere Erleichterungen gewährt und ihn ohne Bezahlung des Eintrittsgeldes zugelassen haben?

Angekl. v. Kayser: Das bestreite ich.

Angekl. v. Kröcher: Herr Wolff hatte beim Eröffnungsdiner die Bank gehalten und uns die Hälfte des Ertrages überwiesen.

Vors.: Das ist doch gerade auffallend.

Angekl. v. Kayser: Niemand der Beteiligten, selbst nicht Herr v. Gali, der der eifrigste Spieler in ganz Europa ist, hat dies auffallend gefunden, nur dem Kriminalkommissar v. Manteuffel war dies vorbehalten. Im übrigen war damals Graf Königsmarck der Träger des Klubs.

Vors.: Was wurde denn nun aus der „Pinke“ bezahlt?

Angekl.: Wir hatten doch allabendlich sehr große Ausgaben an Mieten und sonstigen Spesen, Sekt, Rotwein, Selterwasser usw.

Angekl. v. Kröcher: Es wurden abends immer ca. 20 Flaschen Sekt getrunken.

Angekl. v. Kayser (unterbrechend): O, viel mehr. Herr Baron Recum trank allein 5 Flaschen.

Im weiteren Verlaufe seiner Aussage behauptete v. Kayser, daß es nicht wahr sei, wenn die Anklage es so darstelle, als ob die Herren Graf Königsmarck, Graf Egloffstein und v. Kusserow gleich nach dem Eröffnungsdiner aus dem Klub wieder ausgeschieden seien. Graf Egloffstein sei der Kassierer des Klubs gewesen, und da sich bezüglich einer Summe von 4000 Mark Unregelmäßigkeiten ergeben hatten, sei ihm gesagt worden, daß er sich vom Klub fernhalten solle. v. Kusserow sei wegen anderer Dinge nach Amerika gegangen.

Sämtliche Angeklagten behaupteten im weiteren Verlauf – entgegen der Anklage – daß sie als Bankhalter fast nie die Karten anders als „vom Block“ gezogen haben. Ferner behaupteten die Angeklagten übereinstimmend, daß die ganze Art der Einladungen zum Klub (an 500 Personen) auf Herrn Grafen Königsmarck zurückzuführen sei.

Vors.: Auffallend ist es, daß zu den Spielen Karten in Frankfurt bestellt, wurden, und zwar auf Anraten Wolffs.

Angekl. v. Kröcher: Das ist in absolut unverdächtiger ger Weise geschehen; auch die Karten waren ganz unverdächtig. Freilich, nach den Theorien, die Herr v. Manteuffel vertritt, müßte jede Karte eine Bauernfängerkarte sein.

Vors.: Angeklagter v. Kayser, wer hat dem Klub den Namen gegeben?

Angekl.: Um einen Klub handelte es sich eigentlich gar nicht, und deshalb hat er auch nie einen Namen getragen. In den Vorverhandlungen hat Herr v. Zedlitz einmal aus Scherz den Namen der „Harmlosen“ gebraucht. Die Anwendung dieses Namens auf den Klub ist eine Erfindung des „Berliner Tageblattes“.

Vors.: Herr v. Zedlitz hat einmal einen kleinen Vers auf Sie gemacht, der immerhin interessant ist. Er lautete in seinen ersten Zeilen: „Ich bin der Herr v. Kayser, – Man nennt mich den Verreiser.

Von Frankfurt komm’ ich öfters her, – Ich habe Schneid wie keiner mehr.

Ich halte jeden Coup, juchhe, – Als Pointeur und als Bankier.

Und wenn die Sache schief mal geht, – Dann wird der Reiz dadurch erhöht; – Nur keine Angst, davon nach neune, – Ich komm’ doch wieder auf die Beine.“ (Allgemeine Heiterkeit.)

Angekl.: Das war ein Scherzvers, den ich selbst zu den Akten eingereicht habe, denn er war zu einer Zeit geschrieben, als ich gerade ganz bedeutende Spielverluste luste gehabt habe.

Der Angeklagte v. Kayser bestritt im weiteren entschieden die Behauptung, daß er besonders „rigoros“ im Spiele gewesen sei. Er habe sich von dem Gros der Mitglieder in keiner Weise unterschieden, weder bezüglich der Promptheit seiner eigenen Zahlungen, noch bezüglich der Zahlungsbedingungen, die er im Falle des Gewinnes anderen Mitspielern auferlegte. In einer längeren Erörterung über die Spielregeln beim Bakkarat behauptete v. Kayser, daß dabei durchaus die feststehenden Spielregeln befolgt worden seien. Die gegenteiligen Behauptungen seien nur der „orientalischen Phantasie“ des Dr. Kornblum entsprungen. Richtig sei es, daß er nicht zuviel Geld vor sich auf dem Tisch liegen ließ, das tun aber auch sehr viele andere Spieler nicht und das beruhe eben auf persönlicher Gewohnheit. Entschieden müsse er bestreiten, daß er und Herr von Kröcher immer „eng mit Herrn Wolff“ zusammen gesessen und mit ihm Bank gehalten haben. Ebenso wie er haben auch zahlreiche andere Mitspieler in ganz gleicher Weise mit Herrn Wolff zusammen gespielt. Schon die Tatsache, daß sie oft auch nur gegen Wolff spielten, beweise doch, daß sie nicht mit ihm gemeinschaftliche Sache gemacht haben können. Denn Leute, die unter einer Decke stecken, werden sich doch nicht gegenseitig das Geld abnehmen.

Vors.: Es wird aber behauptet, daß Sie das nur getan haben, um den anderen Mut zu machen.

Angekl.: Das ist natürlich grundfalsch.

Der Angeklagte v. Kayser machte ferner mit großem Nachdruck darauf aufmerksam, daß er in den Artikeln des „Berliner Tageblattes“ nicht ein einziges Mal genannt worden sei. Gegen ihn habe tatsächlich nicht das geringste vorgelegen, und er begreife absolut nicht, wie es möglich war, ihn in Haft zu nehmen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Über der Verhaftung des Herrn v. Kayser liegt in der Tat ein sonderbares Dunkel; alle in Betracht kommenden Stellen haben sich gegen die Verhaftung erklärt und doch ist sie erfolgt. Ich werde später durch Herrn v. Manteuffel bestätigen lassen, daß auch dieser durchaus die Ansicht vertreten hat, gegen Herrn v. Kayser liegt nichts vor, was eine Verhaftung rechtfertigen könnte.

In sehr ausführlicher, nachdrücklichster und teilweise erregter Ausführung legte Angeklagter v. Kayser dar, wie er und mit wem er gespielt habe und betonte immer wieder, es sei nach all den tatsächlich vorhanden gewesenen Umständen gänzlich ausgeschlossen, daß er ein gewerbsmäßiger Glücksspieler oder gar ein Falschspieler sei. Diese Unterstellung sei geradezu unerhört, sie sei eine Erfindung des Herrn Kornblum, der darauf ausging, durch die Artikel des „Berliner Tageblattes“ ihn und seine Mitangeklagten zu vernichten. Es sei eine entschiedene Unwahrheit, daß er mit Falschspielern eine unanständige Verbindung unterhalten haben könne; niemand, der ihn kenne, habe gewagt, einen solchen Verdacht gegen ihn zu schleudern. Er wisse überhaupt gar nicht, was er zu solcher Beschuldigung sagen solle; denn es lasse sich doch nicht von der Hand weisen, daß er eine lange Liste von Personen vorlegen könne, an die er sämtlich große Summen verloren habe. Auch das ganze Verhalten des Herrn v. Manteuffel kurz vor seiner Verhaftung habe ihm keinen Zweifel darüber gelassen, daß er nicht eine solche böse Meinung von ihm hatte. Er könne sich heute noch gar nicht vorstellen, wie seine Verhaftung überhaupt zustande gekommen sei. Er behaupte mit aller Entschiedenheit, daß Herr v. Manteuffel von Herrn Dr. Kornblum und Herrn Moers planmäßig getäuscht worden sei. Tatsächlich habe keine der im Vorverfahren befragten Personen eine derartige schnöde Verdächtigung gegen ihn ausgesprochen. Charakteristisch sei doch auch folgendes: Als der erste Artikel im „Tageblatt“ erschienen sei, habe Dr. Leipziger im „Kleinen Journal“ auf ihre Bitten eine kleine Notiz aufgenommen, in welcher die Persönlichkeit des Dr. Kornblum gekennzeichnet wurde. Darauf habe Herr v. Manteuffel Herrn Dr. Leipziger eine Karte geschickt und ihn bewegen wollen, gegen den „kleinen Doktor“ nicht vorzugehen, zugehen, da dies ein „hochachtbarer“ Herr sei. Wenn Herr v. Manteuffel dem Reserveleutnant v. Kröcher nicht glaubte, dagegen Herrn Kornblum vollen Glauben schenkte, so sei das doch etwas eigenartig und zeige, daß v. Manteuffel wohl ohne Zweifel seine Pflicht erfüllen zu müssen glaubte, sich aber von Dr. Kornblum gründlich habe täuschen lassen.

Vors.: Nun lassen wir Dr. Kornblum beiseite, er ist ja nicht hier.

Vert. Justizrat Dr. Sello: Wir haben aber ein großes Interesse an der Persönlichkeit des Dr. Kornblum.

Vors.: Wenn jedoch andere Zeugen auch noch kommen, die dasselbe behaupten wie Dr. Kornblum?

Angekl. v. Kayser erregt dazwischen rufend: Das wird und kann kein einziger Zeuge!

Justizrat Dr. Sello: Uns ist sehr wichtig, das Milieu der Gegnerschaft der Angeklagten sofort zu kennzeichnen und vor allem Herrn Kornblum, der durch seine Entfernung ins Ausland sich schon selbst gekennzeichnet hat.

Der Angeklagte v. Kayser verteidigte sich noch weiter gegen den Vorwurf des Falschspiels. Er erzählte, daß er eines Abends aus den „Amorsälen“ mit einem Leutnant v. Schultz und dem Leutnant v. Schrader nach seiner Wohnung gefahren sei und dort gespielt habe. Zuerst habe er Glück gehabt, Schultz sei ihm 1400 Mark schuldig gewesen, nachdem er an ihn schon sein bares Geld in Höhe von 1400 Mark verloren hatte. Als aber das Spiel zu Ende war, hatte Herr v. Schultz nicht nur seinen Verlust wieder eingebracht, sondern noch weitere 1800 Mark von ihm gewonnen, die er auch in barem Gelde bezahlt bekommen habe. In seiner Wohnung habe er mit Klubkarten gespielt. Wenn er mit diesen Karten Manipulationen unlauterer Art hätte ausführen können, dann würde er doch nicht verloren haben.

Vors.: Sie scheinen mit dem Leutnant v. Schrader intim verkehrt zu haben. Es liegt hier eine Karte Schraders des Inhalts vor: „Hoffentlich ist Dein Schuß in gutem Gange. Da ich nun heute furchtbar zahlen muß, zahlst Du vielleicht an Moers 400 Mark; denn Du bist ja in der Lage, ihn besser abzuschießen als ich.“

Angekl.: Besonderer Verkehr hat zwischen mir und Schrader nicht bestanden. Schrader wollte mich zur Übernahme von 400 Mark an Moers bewegen.

Vors.: Was soll das heißen, daß Sie Moers besser abschießen können?

Angekl. v. Kayser: Herr v. Schrader war in Wesel, ich und Herr Moers in Berlin. Schrader konnte also nicht mit Moers zusammenkommen.

Auch der Angeklagte v. Schachtmeyer trat mit Lebhaftigkeit dem Gedanken entgegen, als ob er und seine Mitangeklagten ein falsches Spiel getrieben haben könnten, und als ob dies unter den begleitenden Umständen überhaupt möglich gewesen wäre. Geradezu absurd sei die Vermutung, daß sie sich Karten aus Frankfurt a.M. bestellt hätten, die die Möglichkeit des Erkennens offen ließen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Pincus: Sehr wichtig sei es, daß auch in diesem Klub, wie in allen solchen Klubs, die gebrauchten Karten sofort den Kellnern überlassen wurden. Das würde doch unmöglich geschehen sein, wenn die Karten irgendwelche Kennzeichen gehabt hätten.

Vors.: Das Falschspielen kann auch auf andere Weise geschehen als mit Hilfe erkennbarer Karten, beispielsweise durch Zeichengeben von Person zu Person.

Rechtsanwalt Dr. Pincus: Das war doch unmöglich, da es sich um gewiegte Spieler handelte, die gegenseitig aufeinander achteten.

Vors.: Darum wurde ja der Name „Klub der Harmlosen“ gewählt, weil die Mitspieler so harmlos waren, solche Zeichen nicht zu merken.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Aber Herr Vorsitzender, die bekanntesten Jeuratten, die wir in Berlin haben, wie Herr v. Recum, Graf Königsmarck usv., sollen so etwas nicht gemerkt haben? Das wäre doch zuviel Harmlosigkeit!

Justizrat Dr. Sello: Wenn der Gerichtshof auch der durch den Vorsitzenden bekundeten Ansicht ist, so wird die Verteidigung in der bedauerlichen Lage sein, die Verhandlung weit auszudehnen, denn sie wird beantragen müssen, sämtliche Herren, die mit den Angeklagten im Laufe der letzten Jahre gespielt haben, als Zeugen zu laden.

Angekl. v. Kayser: Als er eines Abends nach Hause gekommen war, habe er zwei Karten von Herrn v. Manteuffel vorgefunden. Er habe diesen dann in seiner Wohnung aufgesucht und von ihm die Mitteilung erhalten, daß er von ihm in Haft genommen werden sollte. Die sofortige Verhaftung sei aber noch unterblieben, man sei vielmehr gemeinschaftlich zu dem Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Herr, gegangen, habe diesen aber in seiner Wohnung nicht angetroffen. Sie seien alsdann nach dem Kriminalgerichtsgebäude gegangen, wo man den Untersuchungsrichter aber auch nicht antraf. Herr von Manteuffel erklärte darauf, daß es ihm überlassen sei, die Verhaftung so vorzunehmen, wie er es für angemessen erachtete; beide seien dann zum Souper in die Eggebrechtsche Weinstube gegangen. Alsdann sei er ruhig nach Hause gegangen, habe dort unbehelligt die Nacht zugebracht, und die Verhaftung sei erst am nächsten Morgen erfolgt. Er habe also ganz genau gewußt, daß er verhaftet werden würde. Wenn er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, würde er sehr leicht sein Geld zusammenraffen und ins Ausland haben reisen können.

Justizrat Dr. Sello: Das ist doch in der Tat höchst wichtig.

Angekl. v. Kröcher trat den Ausführungen v. Kaysers bei. Auch ihm sei bekannt gewesen, daß seine Verhaftung bevorstand, und es wäre doch seltsam, wenn er dann nicht die Gelegenheit wahrgenommen hätte, dahin zu gehen, wohin sein angeblicher ?Komplice? Wolff schon gegangen war. v. Kröcher beklagte sich im weiteren lebhaft über das Verhalten des Herrn v. Manteuffel. Dieser habe schlechte Aussprengungen über die Angeklagten in der Presse nicht verhindert, was doch seine Pflicht als Beamter gewesen wäre. Er habe, wie wohl die Beweisaufnahme ergeben werde, bei der Vernehmung von Zeugen sich etwas eigentümlich gestellt. Er habe ihm und den anderen wiederholt Fallen zu stellen gesucht und einen gegen den anderen angeschwärzt.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schachtel erklärte Angeklagter v. Kröcher, daß er, um die Sache von vornherein aufzuklären, Herrn v. Manteuffel als alten Kameraden und Mitglied eines Ehrenrats aufgesucht habe. Herr v. Manteuffel habe aber die Gelegenheit benutzt, um ihn auszuhorchen.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Haben Sie Herrn v. Manteuffel als Kriminalkommissar oder als Ehrenrat aufgesucht?

Angekl. v. Kröcher: In der Hauptsache als Ehrenrat, freilich auch, weil er als Kriminalkommissar in Spielerangelegenheiten bewandert war. Ich habe noch hinzuzufügen, Herr v. Manteuffel wollte in mir den Eindruck erwecken, daß Herr v. Kayser über mich schlecht gesprochen habe. Ich durchschaute aber Herrn v. Manteuffel, da ich keine Ursache hatte, Herrn v. Kayser zu mißtrauen.

Angekl. v. Kayser: Genau dasselbe Spiel hat Herr v. Manteuffel mir gegenüber getrieben, er hat sich aber nicht nur damit begnügt, Bekannte von mir anzuschwärzen, sondern er hat auch hochgestellte preußische Generale verdächtigt.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Herr v. Kröcher, warum haben Sie sich nicht an den Vorsitzenden Ihres Ehrenrats gewandt?

Angekl.: Man geht nicht gern gleich zu einem alten Oberst, sondern wendet sich lieber an einen jüngeren Kameraden.

Hierauf wurde der erste Artikel des ?Berliner Tageblattes? verlesen. Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel beantragte, dem Angekl. v. Kröcher Gelegenheit zu geben, sich über den Inhalt dieses Artikels zu äußern.

v. Kröcher und v. Kayser behaupteten, daß der Artikel viele Unwahrheiten enthalte. Es habe niemand der Spielenden je 120000 Mark in einer Nacht verloren, ren, es sei nicht höher gespielt worden als üblich, v. Kayser trat namentlich der Behauptung entgegen, daß ein Herr v. Galy eine kolossale Summe verloren habe. Dieser Herr sei mit einem angeblichen Marquis Challancourd, der aber tatsächlich ein Markör aus dem Orte Challancourd gewesen sei, nach Ostende gereist, wo beide dem Freiherrn v. Recum 40000 Mark abgewonnen hätten. Um diesen Verlust wieder einzutreiben, habe v. Recum Herrn v. Galy in den Klub der Harmlosen eingeführt. Wenn letzterer bei diesem Bestreben hineingefallen sei und noch größere Verluste erlitten habe, so sei ihm nur recht geschehen. Herr v. Galy habe eine eigentümliche Art gehabt, die Karten mit einem Kniff zu versehen.

Die Verteidiger betonten wiederholt, daß die Staatsanwaltschaft für geeignetere Sachverständige hätte sorgen müssen. Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Die Anklagebehörde habe nach dieser Richtung ihre volle Pflicht getan. Sie habe sich an den Vorstand des Unionklubs gewendet, aber den Bescheid erhalten, daß man mit einem Sachverständigen nicht aufwarten könne, da im Unionklub überhaupt nicht gespielt werde. Da habe man sich denn auf den Kriminalkommissar v. Manteuffel, einen auf dem Gebiete des Glücksspiels besonders erfahrenen Beamten, berufen.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel wendete ein, daß Herr v. Manteuffel schon deshalb nicht als Sachverständiger ger werde fungieren können, weil er als Kriminalkommissar in der Sache tätig gewesen sei.

Rechtsanwalt Dr. Pincus schlug vor, die Vorsitzenden des Turfklubs, Dr. Hartogensis und Graf Hahn-Basedow als Sachverständige über das Wesen des Bakkarals zu vernehmen.

Der Angeklagte v. Kayser suchte durch längere Ausführungen zu beweisen, daß Herr v. Manteuffel von vornherein von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei. Dieser Herr möge ein vorzüglicher Kriminalist für Bauernfänger, Buchmacher und Bäckergesellen sein, aber in den Kreisen, in denen er, der Angeklagte, verkehrt habe, sei Herr v. Manteuffel nicht heimisch. Er (Angeklagter) habe in den vier Jahren, in denen er spiele, mit allen möglichen Personen, vom Prinzen v. Wales bis zum Dr. Kornblum herunter, gespielt, aber solche Personen, wie sie Herr v. Manteuffel im Auge habe, seien nicht in dieser Gesellschaft gewesen. Herr v. Manteuffel verstehe von diesen Dingen herzlich wenig; es sei sonderbar, daß er die Rolle eines Sachverständigen spielen könne.

Vors.: In einem ähnlichen Prozeß, der vor wenigen Tagen hier stattgefunden, ist Herr v. Manteuffel gleichfalls als Sachverständiger vernommen worden, weil er eben in diesen Dingen versiert ist.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Gerade in jenem Prozeß ist Herr von Manteuffel als Sachverständiger abgelehnt, gelehnt, und es ist auf andere Sachverständige zurückgegriffen worden. Wenn übrigens die Sachverständigen aus den Turfkreisen nicht kommen sollten, würde er den Vorschlag machen, einen anderen Sachverständigen zu vernehmen, vielleicht einen rechtsverständigen Kollegen, der hier und da einmal ein Jeu macht. (Heiterkeit.)

Der Gerichtshof beschloß, Herrn v. Hahn-Basedow und Herrn Dr. Hartogensis als Sachverständige zu laden.

Hierauf wurde Bücherrevisor Reuter über die Konten vernommen, die v. Kröcher bei der Deutschen Bank hatte. Über die Einzahlungen und Auszahlungen gab v. Kröcher eingehend Auskunft. Die Konten schlossen mit einem Saldo von 3540 M. ab. Der Sachverständige gab ferner Auskunft über die Abrechnungen, die der Unionklub bezüglich des Rennpferdes „Hagelschlag“ mit dem Angeklagten v. Kröcher gehabt hat, sowie über die Abrechnungen der Deutschen Bank mit Herrn, v. Kayser und Herrn v. Kröcher über die Gelder des „Harmlosen“-Klubs, die zumeist aus den Erträgnissen der „Pinke“ bestanden.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt stellte über Einzelheiten dieser Ein- und Auszahlungen mehrere Anträge, die dem Sachverständigen zur Erledigung überwiesen wurden.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Nachdem der vorgeschlagene geschlagene Sachverständige v. Arnim das Erscheinen abgelehnt hat, auch die telephonisch angestellten Versuche, Herrn v. Hahn und den Baron Hartogensis als Sachverständige über Spielusancen zur Stelle zu schaffen, vergeblich gewesen sind, gebe ich der Verteidigung anheim, einen Sachverständigen zu benennen.

Von den Verteidigern wurde nochmals darauf hingewiesen: Es wäre in diesem Falle ein nobile officium, daß die Staatsanwaltschaft sich die Mühe gäbe, aus der von der Verteidigung überreichten Vorschlagsliste von etwa 12 Personen einen geeigneten Sachverständigen auszuwählen. Die Angeklagten können den Kriminalkommissar v. Manteuffel unter keinen Umständen als Sachverständigen annehmen; dieser sei als Polizeibeamter in der Sache tätig gewesen. Er sei der Sachverständige des Staatsanwalts und nach Ansicht der Angeklagten auch nicht fähig, über Dinge, die er weder beruflich noch sonst näher kennenzulernen Gelegenheit hatte, ein Gutachten abzugeben.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Es sei das gute Recht der Verteidigung, Herrn v. Manteuffel abzulehnen, sie müsse dann aber doch einen andern Sachverständigen benennen. Die Anklage habe einen solchen nicht weiter nötig, da sie der Ansicht sei, daß fast jeder Zeuge Sachverständiger sei.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt schlug vor, ein im Zuschauerraum anwesendes Mitglied des Turfklubs als Sachverständigen zu vernehmen. Dieser erklärte sich auf Befragen des Vorsitzenden außerstande, ein Gutachten abzugeben.

Angeklagter v. Kayser: Er lege in erster Linie das größte Gewicht auf das Gutachten einiger Offiziere. Da es aber doch nicht gut angängig sei, diese Herren hier als Gutachter in einem Spielerprozesse vorzuladen, so würde es wertvoll für ihn sein, wenn der Leutnant der Res. Graf Reventlow als Sachverständiger vorgeladen würde.

Der Gerichtshof beschloß die Vorladung. Herr v. Manteuffel soll in Gegenwart des Grafen Reventlow vernommen werden.

Als Zeuge wurde alsdann Kaufmann Kleinschmidt vernommen. Er habe sich an dem Holzsägewerk des Herrn v. Kröcher mit etwa 100000 M. beteiligen wollen. Er hatte bereits 80000 M. eingezahlt, die Verbindung sei aber schließlich nicht zustande gekommen, weil Herr v. Kröcher durch Einflüsterungen Dritter veranlaßt worden sei, zu seinem eigenen Schaden den Vertrag zu lösen. Der Vertrag sei ein durchaus ernstgemeinter gewesen. Herr v. Kröcher war auch sehr eifrig bestrebt, durch den Eintritt in das Geschäft sich einen ernsten Lebensberuf zu schaffen. Die Chancen des Jahresverdienstes für Herrn v. Kröcher würden sich auf etwa 48000 M. gestellt haben.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Herr v. Kröcher hat nachher sehr bedauert, daß er den ungünstigen Einflüsterungen Gehör geschenkt habe.

Rendant des Union-Klubs Michaels bekundete: Er habe aus den Büchern festgestellt, daß die Pferde „Hagelschlag“, „Ilse“ und „Bevormundung“, an denen Herr v. Kröcher als Besitzer bzw. Vertreter des Besitzers interessiert war, im Jahre 1897 12151 M. gewonnen haben. Darauf habe er 5729 M. bar erhoben. „Hagelschlag“ habe allein etwa 9000 M. gewonnen. Die Unkosten für alle drei Pferde betrugen 5078 M.

Angekl. v. Kröcher: Die Unkosten entfielen in erster Linie auf die beiden Pferde, die ihm nicht gehörten. Wieviel er durch die Pferde mit Wetten auf „Hagelschlag“ oder durch Rennpreise verdient habe, könne er nicht genau sagen; er sei ein leichtsinniger Mensch gewesen und habe das, was er auf den Rennplätzen eingeheimst, abends sehr schnell wieder im Spiel in den Wind geschlagen.

Aus der Vernehmung des Trainers Bié, der den „Hagelschlag“ gekauft und für v. Kröcher trainiert hatte, wurde festgestellt, daß Herrn v. Kröcher aus dem Rennen der drei Pferde etwa 17000 M. zugeflossen seien, darunter etwa 9000 M. aus Wetten und 8000 M. als Rennpreise.

Der folgende Zeuge Adolf Maier bekundete: Er sei vom 16. Oktober 1898 bis 13. Januar 1899 Kammerdiener des Angeklagten v. Kröcher gewesen. Herr v.K. bewohnte damals ein Zimmer im Zentralhotel. Er sei dann mit Herrn v.K. nach Wiesbaden gereist. In dem Koffer des v. Kröcher haben sich zwei gewöhnliche Spiele Karten befunden. Unwahr sei es, daß auch eine Roulette darin gewesen sei. Seine entgegengesetzte Aussage bei seiner früheren Vernehmung müsse entschieden auf einem Irrtum des Protokollanten beruhen. Er habe auch die Reise nach Monte Carlo mitgemacht, wisse aber nicht, daß v.K. dort viel gespielt habe. Er wisse auch, daß v.K. nach seiner Rückkehr nach Berlin das Verhältnis mit Frl. Lona Kussinger gehabt habe. v.K. habe mit dieser in der Friedrich-Wilhelm-Straße 6 eine aus 7-8 Piecen bestehende Wohnung gehabt, die nicht übermäßig üppig ausgestattet gewesen sei. Er wisse auch nichts von den angeblich kostbaren Geschenken, die v.K. dem Fräulein Kussinger gemacht haben soll.

Vors.: Sie haben es doch aber früher gesagt.

Zeuge: Nein, das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil, ich habe gefunden, daß Herr v.K. mit Fräulein Kussinger sehr einfach lebte. Wenigstens haben meine früheren Herren viel größere Summen für ihre Damen ausgegeben. (Heiterkeit.) Der Zeuge, der verneinte, Herrn Wolff gekannt zu haben, wurde auch darüber gefragt, ob ihm bekannt sei, unter welchen Umständen und aus welchem Grunde der Klubdiener Montagli ebenso schnell aus Berlin verschwunden sei, wie Wolff. Zeuge: Er wisse nur, daß Montagli Reisegeld erhalten habe, um in seine Heimat zu reisen.

Angeklagter v. Kayser: Montagli war nach dem Erscheinen des ersten Artikels brotlos geworden und wandte sich an die Vorstandsmitglieder mit der Frage, was nun nach dem Auffliegen des Klubs mit ihm werden sollte. Er habe Aussicht gehabt, Maitre eines der ersten Hotels in Genua zu werden und habe ein ziemlich hohes Abstandsgeld beansprucht. Bewilligt seien ihm schließlich 650 M., wovon 550 M. für von ihm gemachte Auslagen entfielen und 80 bis 100 M. eine Abfindung darstellten. Montagli sei danach mehrere Tage in Berlin gewesen und nicht verschwunden, sondern ganz langsam von Berlin nach seinem neuen Bestimmungsort Genua abgereist. Wie würde denn ein Kellner, der da weiß, daß die Herren – wie die Anklage fälschlich behaupte – 100000 Mark im Spiele gewonnen haben, sich mit 80 M. begnügen.

Oberstaatsanwalt: Warum sind denn die Quittungen des Montagli vernichtet worden?

Angeklagter v. Schachtmeyer: Er habe sie nach Auflösung des Klubs mit vielen anderen Rechnungen verbrannt.

Angekl. v. Kayser: Es sei falsch, daß Herr Montagli li schon am 19. Dezember abgereist sei und es sei ebenso falsch, daß er dem Montagli Geld zur Flucht gegeben habe. Montagli habe sich eben aus Berlin entfernt, das habe Herr Kornblum doch auch getan. Auf seine Veranlassung und mit Unterstützung seiner Mutter habe seinerzeit Herr R.-A. Dr. Schachtel eine Reise nach Genua unternommen; Dr. Schachtel habe dort Montagli selbstverständlich angetroffen und versucht, ihn zur Stelle zu schaffen. Er habe eine eidesstattliche Versicherung des Montagli erhalten und es sei unbegreiflich, daß Montagli nicht als Zeuge vernommen sei.

Dr. Schachtel bestätigte diese Mitteilung. Er habe seinerzeit den Untersuchungsrichter benachrichtigt, daß Montagli nicht verschwunden, sondern in Genua weile und bereit sei, Zeugnis abzulegen. Der Untersuchungsrichter habe hiervon aber keinerlei Gebrauch gemacht. Unter diesen Umständen würde es eine Verletzung der strafprozessualen Gepflogenheiten sein, wenn der Staatsanwalt nicht auf alles, was Montagli betrifft, Verzicht leisten wollte.

Über die Frage, ob Montagli, der sich jetzt in Paris befinden soll, als Zeuge zu laden sei, entspann sich eine längere Erörterung zwischen dem Oberstaatsanwalt und den Verteidigern. v. Kayser erklärte sehr lebhaft, daß er das dringendste Interesse an der Vernehmung des Montagli habe, denn er müsse beweisen können, daß die Behauptung unwahr sei, wonach er den Montagli mit Geld versehen und aus Berlin spediert habe. Oberstaatsanwalt: Wieviel Gehalt hatte der Zeuge Mayer bei Herrn v. Kröcher?

Zeuge: 125 M. monatlich und 90 M. für Verpflegung.

Oberstaatsanwalt: Auf Grund welcher Zeugnisse sind Sie durch den Angeklagten v. Kröcher engagiert worden?

Zeuge: Ich war zuletzt bei dem Markgrafen Alfons Pallavicini in Wien Kammerdiener und bin vordem mit verschiedenen vornehmen Herren auf Reisen gewesen.

Vors.: Sie haben bei dem Herrn Kriminalkommissar v. Manteuffel gesagt: Montagli habe zu Ihnen geäußert: Er habe den Wolff schon längere Zeit als Gauner durchschaut und bedauere, daß die Herren mit solchem Manne spielen.

Zeuge: Einen so scharfen Ausdruck hat Montagli nicht gebraucht, er hat sich nur abfällig über Wolff geäußert.

Oberstaatsanwalt: Hat Herr v. Kröcher nicht besonderen Aufwand in bezug auf seine Kleidung getrieben?

Zeuge: Das habe ich nicht gefunden.

Oberstaatsanwalt: Nach den vorliegenden Rechnungen hat v. Kröcher in den beiden Jahren 1897/98 4000 M. für Garderobe ausgegeben, das macht pro Jahr 2000 M.

v. Kröcher: Damit ist doch nicht gesagt, daß diese Ausgaben jedes Jahr wiederkehren würden. Man muß doch bedenken, daß ich mich nach dem Austritt aus dem aktiven Dienst gänzlich neu für das Zivil equipieren mußte.

Vors.: Macht der betreffende Schneider etwa auch Damenkleider und sind da vielleicht Kleider für die Lona mit bei?

Angekl.: Nicht ein Pfennig!

Dem Zeugen Mayer wurde dann noch die Aussage vorgehalten, die er früher vor dem Kommissar v. Manteuffel gemacht hatte. Er behauptete mit Entschiedenheit, daß einzelnes, was in dem betreffenden Protokoll stehe, nicht in dieser Art oder überhaupt nicht von ihm gesagt worden sei.

Fuhrherr Siegfried Schatz: Der Angeklagte v. Schachtmeyer habe sich mit einem Kapital von 18000 M. an seinem Fuhrgeschäft beteiligt.

Ein anderer Zeuge bestätigte die Behauptung des Angeklagten v. Schachtmeyer, daß er mit großem Glück an der Börse spekuliert und große Einnahmen dadurch gehabt habe.

Fräulein Marie Ulrich: Sie sei seit 1895 die Hausgenossin des Angeklagten v. Schachtmeyer gewesen; dieser habe mit ihr die Wohnung geteilt und mit ihr zusammen gewirtschaftet. Sie habe 150 M. Wirtschaftsgeld erhalten. Das bei ihnen tätige Dienstmädchen habe sie nicht für ganz geistesklar gehalten; es habe beispielsweise beim Stiefelputzen immer gelacht. Herr v. Kayser und Herr v. Kröcher seien einmal zusammen bei v. Schachtmeyer gewesen und haben Roulette gespielt. Herr v. Kröcher sei öfter mit v. Schachtmeyer zusammengewesen. Richtig sei es, daß v. Schachtmeyer öfter mit ihr in hocheleganter Equipage ausgefahren sei; das erkläre sich aber daher, daß ihm eine solche aus seinem Fuhrgeschäft zur Verfügung stand. Sie kannte auch Herrn Wolff, könne aber nicht sagen, wer mit diesem besonders verkehrte, namentlich nicht, ob der Prinz von Thurn und Taxis mit Herrn Wolff eng verkehrte und Arm in Arm mit ihm gegangen sei.

Oberstaatsanwalt: Sie haben früher gesagt, daß Herr v. Kröcher häufig bei Herrn v. Schachtmeyer war. Haben Sie da gehört, daß die Herren über Spielangelegenheiten konferierten?

Zeugin: Darüber kann ich nichts sagen.

Oberstaatsanwalt: Hat die Zeugin nicht einmal bei Gelegenheit eines Balles bei dem Fräulein Lona Kussinger einen sehr kostbaren Fächer bemerkt, den diese von Herrn v. Kröcher erhalten hatte. Wie teuer sollte der Fächer sein?

Zeugin: Herr v. Kröcher sagte damals, etwa 300 M.

Vors.: Auf Grund eines anonymen Schreibens frage ich die Angeklagten v. Kayser und v. Kröcher: Kennen Sie eine Valerie Schäfer oder eine Dörthe Eckardt, oder haben Sie bei der zurückgelassenen Gattin des „ollen ehrlichen Seemann“ hannoverschen Andenkens verkehrt?

Beide Angeklagten bestritten entschieden alle diese Andeutungen des anonymen Schreibens.

Justizrat Dr. Sello hielt eine Vorladung der Frau Seemann und des Herrn Eichler für notwendig, wenn auf solch anonymes Geschreibsel überhaupt etwas gegeben werden sollte.

Die nächste Zeugin war das Dienstmädchen Anna Beyer, über deren Geisteszustand Bedenken obwalteten. Sie hatte seinerzeit bei dem Angeklagten v. Schachtmeyer bzw. dem Fräulein Ulrich gedient. Sie behauptete: sie habe mehrfach Ohrfeigen erhalten. Eines Tages habe sie gehört, daß v. Schachtmeyer das Fräulein Ulrich schlug, und da habe sie sich furchtbar erschrocken und sei davongelaufen. Sie habe die Angeklagten v. Kröcher und v. Kayser öfter bei v. Schachtmeyer gesehen; sie spielten Roulette. Auch ein älterer Herr sei öfter bei v. Schachtmeyer gewesen. Die Zeugin begleitete ihre Aussagen wiederholt mit einem eigentümlichen Lachen. Der Oberstaatsanwalt verzichtete auf eine Vereidigung der Zeugin, da er Bedenken denken bezüglich ihres Geisteszustandes habe. Der Gerichtshof beschloß, die Zeugin nicht zu vereidigen, da sie sich über die Tragweite ihrer Aussage nicht klar sein dürfte.

Am dritten Verhandlungstage bestritt der Angeklagte v. Kayser, daß er für die Familie Voigt in der Lüneburger Straße die Wohnungsmiete bezahlt habe. Da er Beamter sei, der sich später vor dem Minister zu verantworten haben werde, so liege ihm daran, die Dinge richtigzustellen.

Graf Reventlow bekundete hierauf als Zeuge: Er habe nur einmal im „Klub der Harmlosen“ gespielt und dabei 800 M. gewonnen. Man könne den drei Angeklagten jedenfalls nicht den Vorwurf des Falschspiels machen. Es sei ihm auch nicht bekannt, daß die drei Angeklagten das Direktorium des „Klubs der Harmlosen“ gebildet haben. Auf Befragen des Angeklagten v. Kröcher erklärte Graf Reventlow: Es sei nicht verdächtig, wenn der Pointeur auf „Sechs“ noch zukaufe. Es deute keineswegs darauf hin, daß der Pointeur die nächste Karte kennen müsse. In anderen Klubs sei es Bestimmung, daß, wenn der Pointeur auf „Sechs“ zukauft und ungünstig kauft, er diejenigen Mitspieler, die mit ihm zusammen pointieren, schadlos halten müsse. Im Klub der Harmlosen sei aber so rigoros nicht gespielt worden wie in anderen Klubs, wo ein solches Zukaufen auf sechs teilweise verboten sei. Es sei auch nicht verdächtig, wenn Spieler, die sich kennen, die Karten nicht vom Block, sondern von der Hand ziehen.

Der Angeklagte v. Kröcher bestritt auf Befragen des Vorsitzenden, daß er fast ausnahmslos gewonnen habe. Der größte Gewinn, den er im Klub der Harmlosen erzielt, sei einmal 12000 Mark gewesen. Mit vollster Entschiedenheit müsse er die Behauptung zurückweisen, daß er dem verstorbenen Erbprinzen von Koburg große Summen im Spiel abgenommen habe. Er habe nur einmal von dem Prinzen einen unbaren Gewinn von 3000 Mark gehabt.

Vors.: Sie sollen selbst erzählt haben, daß Ihnen der Prinz eine Rente zum Ausgleich für Spielverluste ausgesetzt hat.

Angekl. v. Kröcher: Das ist eine böswillige Erfindung. Herr Vorsitzender, Sie glauben nicht, wie sehr in Spielerkreisen gelogen wird.

Zeuge Fieberkorn, Angestellter im Bankhause Lagowitz, bestätigte, daß der Angeklagte v. Schachtmeyer mit großem Glück an der Börse spekuliert habe.

Oberstaatsanwalt: Halten Sie die kaufmännische Ausbildung des v. Schachtmeyer für genügend?

Zeuge: Im Bankgeschäft ist eine dreijährige Lehrzeit usuell. v. Schachtmeyer hat nur 2 Jahre gelernt, trotzdem ist gegen seine Leistungen niemals etwas einzuwenden gewesen.

Alsdann wurde Kriminalkommissar v. Manteuffel als Zeuge vereidigt. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Wolff sei ziemlich groß, beleibt, brünett, fast schwarz im Haar, trage modernen Spitzbart, habe sehr wohlgepflegte, mit vielen Ringen geschmückte Hände, sei tadellos gekleidet, trage Lackstiefel und stets einen Zylinder.

Der Vorsitzende verlas das Urteil vom 19. Februar 1899, durch welches der wegen Diebstahls wiederholt und zuletzt mit zwei Jahren Zuchthaus bestrafte Wolff zu vier Monaten Gefängnis und 3000 Mark Geldstrafe verurteilt worden ist. Die Strafe wurde über ihn verhängt, weil er im Verein mit dem Spieler Reuter nach dem Besuche von Rennplätzen im Glücksspiele Offizieren und anderen Herren aus der „Gesellschaft“ nach vorher vereinbartem Plane 100000 M., dem Herrn Prins-Reichenheim in einer Nacht 400000 M. abgenommen hat. Reuter ist zu 8 Monaten Gefängnis und 6000 M. Geldstrafe verurteilt worden.

Vors. (zum Zeugen v. Manteuffel): Was wissen Sie nun über die Beteiligung des Wolff an dem „Klub der Harmlosen“ und über die Art, wie er Eingang in diese Kreise gefunden hat?

v. Manteuffel: Als die ersten sensationellen Enthüllungen im „Berliner Tageblatt“ erschienen, kam dies den polizeilichen Kreisen sehr überraschend, denn wir hatten keine Ahnung davon. Wir dachten zunächst, daß die Artikel lediglich auf unsaubere Motive zurückzuführen seien, als dann aber Artikel mit näheren Angaben erschienen, war es klar, daß diese Dinge nicht aus den Fingern gesogen sein konnten. Schon im Herbst 1897 hatte ich gerüchtweise vernommen, daß Wolff wieder in bessere Kreise Zutritt gefunden habe, und da ich wußte, daß jüngere Offiziere häufiger in Berlin spielten, hielt ich es für nötig, Ermittelungen anzustellen. Dies war aber sehr schwierig, denn in solchen Spieleraffären wird, wenn die Aufmerksamkeit der Polizei erweckt wird, der Ort, wo gespielt wird, immer sehr schnell gewechselt. Ich mußte deshalb mit einem Herrn in Verbindung zu kommen suchen, der zu den betreffenden Kreisen Zutritt hatte. Dies war der Redakteur Fölzer, dem ich bei einer Begegnung sagte, er möge die Herren vor einem Verkehr mit Wolff warnen. Um zu zeigen, daß diese Warnung sehr ernst sei, habe ich hinzugesetzt: Sagen Sie den Herren, daß ich sie nicht schützen kann, wenn es zum Skandal kommt. Ich war dann höchst unangenehm überrascht, als die weiteren Artikel erschienen. Ich habe mich mit ausdrücklicher Bewilligung meines Präsidenten mit der Redaktion des „Berliner Tageblattes“ in Verbindung gesetzt, aber nicht viel erfahren.

v. Manteuffel erzählte alsdann eingehend die Mitteilungen, teilungen, die ihm Dr. Kornblum gemacht habe. Über Kornblum sei ihm einmal gesagt worden, daß er Spieler sei, und es seien allerlei Verdächtigungen daran geknüpft worden, die aber nicht genügend begründet waren. Er habe sich nach Kornblums Vermögensverhältnissen erkundigt und erfahren, daß diese gut seien, v. Manteuffel teilte hierauf die Angaben des Dr. Kornblum mit, die mit ihren Belastungen die Grundlage der Anklage bildeten.

Angekl. v. Kröcher erklärte diese für erlogen oder für „freie Phantasien“ des Dr. Kornblum. Er bestritt namentlich, daß Kornblum ihn vor Wolff gewarnt habe.

Zeuge v. Manteuffel bekundete des weiteren: Kornblum habe ihm wiederholt sein Erstaunen ausgedrückt, daß Wolff fast wortgetreu darüber unterrichtet war, was er warnend Herrn v. Kröcher gesagt habe. Als Wolff dem Kornblum eines Tages begegnete, habe der erstere dem Kornblum Vorwürfe gemacht, daß er ihn so öffentlich blamiere; er sei sehr froh, daß er wieder nach langen Mühen Eingang in bessere Kreise gefunden habe und da wäre es doch netter gewesen, wenn ihn Herr Kornblum nicht öffentlich blamiert, sondern privatim Winke gegeben hätte.

Vors.: Welche Beziehungen bestanden zwischen Herrn Wolff und v. Kayser nach den Behauptungen des Kornblum?

Zeuge: Es scheine ihm so, als ob v. Kayser der Meinung sei, daß Dr. Kornblum ihm gegenüber gehässig aufgetreten und gehässig ausgesagt habe. Dies sei aber nicht der Fall, tatsächlich habe ihm gegenüber Dr. Kornblum Herrn v. Kayser energisch in Schutz genommen.

Nachdem der Zeuge die Spielszene in Leipzig geschildert, bei welcher mit Marks gespielt wurde, wurde er aufgefordert, mitzuteilen, welche Maßnahmen er zur Verhaftung der Angeklagten getroffen habe, da die Angeklagten behaupteten, daß sie von der bevorstehenden Verhaftung Kenntnis hatten und sehr leicht hätten entfliehen können. Der Zeuge bekundete: Ich glaube nicht, daß die angeklagten von dem Haftbefehl früher Kenntnis erhalten konnten, bevor ich mich ihnen offenbarte. Am Abend erhielt ich den Haftbefehl, der vom Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Herr, verfügt und von der Strafkammer bestätigt worden war. Landgerichtsrat Herr hielt die Verhaltung des Herrn v. Kröcher für am wichtigsten. Ich begab mich deshalb am folgenden Morgen in der Frühe zu Herrn v. Kröcher. Da ich nicht wußte, was ich, der ich ja auch Offizier bin, in einer solchen Lage tun würde, so hatte ich einen Beamten mitgenommen, der jede Bewegung des Herrn v. Kröcher zu beobachten hatte. Ich gab Herrn v. Kröcher gegenüber zu erkennen, daß es mir peinlich sei, ihn behelligen zu müssen, aber es hätten sich Umstände gegen ihn herausgestellt, welche eine Haussuchung notwendig machten. Er möge so liebenswürdig sein und mir sämtliche in seiner Wohnung befindlichen Behälter öffnen. Ich muß bemerken, daß ich mir vom Landgerichtsrat Herr die Erlaubnis ausgewirkt hatte, bei der Verhaftung so schonend und rücksichtsvoll wie nur möglich vorzugehen. Herr v. Kröcher kam meinem Wunsche bereitwillig nach. Als ich die Durchsuchung beendet hatte, würgte ich an dem Ausdruck herum, wie ich ihm die Mitteilung von seiner Verhaftung beibringen sollte. Mich fror innerlich. Ich sagte ihm, daß ich ihn dem Richter vorführen müsse. Er ging sofort mit.

Vors.: War er nicht konsterniert?

Zeuge: Nein, im Gegenteil, ich war konsterniert, weil er so auffallend gleichgültig war. Herr v. Kröcher fragte mich, ob die anderen auch verhaftet seien. Ich war neugierig, wer die anderen sein sollten. Herr v. Kröcher fragte sehr bald: Ist Herr v. Schachtmeyer auch verhaftet? Als wir von der Friedrich-Wilhelm-Straße durch den Tiergarten über die Brücke bei der Paulstraße fuhren, sagte Herr v. Kröcher plötzlich: Hier wohnt ja auch Herr v. Kayser, vielleicht können wir hinaufgehen und ihn gleich mitnehmen.

Vors.: Herr v. Kröcher, verhält sich das so?

Angekl.: Nicht ganz. Herr v. Manteuffel hat den Haftbefehl nicht aus der Tasche gezogen. Er teilte mir meine Verhaftung auch nicht auf der Treppe mit, sondern unten am Gartentor. Ich bin das erstemal in meinem Leben verhaftet worden und erinnere mich deshalb ganz genau darauf (Heiterkeit). Ich habe diese Bemerkung über das Mitnehmen des Herrn v. Kayser nur scherzhaft gemacht, nachdem Herr v. Manteuffel mir gesagt hatte, Herr v. Kayser sei auch in die Affäre verwickelt.

Zeuge v. Manteuffel: Ich glaube nicht, daß ich den Namen des Herrn v. Kayser schon genannt hatte. Vielleicht können meine Beamten darüber Auskunft geben. Es sind ehemalige Unteroffiziere; sie haben mir auch gesagt, ein solcher Gleichmut bei einem ehemaligen Offizier sei ihnen noch nicht vorgekommen.

Angekl. v. Kayser: Für mich ist es von größter Wichtigkeit, ob Herr v. Kröcher meinen Namen zuerst genannt hat. Meine Existenz steht auf dem Spiele, und es würde mich doch verdächtigen, wenn Herr v. Kröcher sofort meinen Namen genannt hätte. Das sähe ja gerade so aus, als hätte Herr v. Kröcher sagen wollen: Na, wenn ich verhaftet werde, dann muß doch Kayser auch dran glauben.

Vors.: Da haben Sie ganz recht.

Beisitzer Landgerichtsrat Queck: Herr v. Manteuffel, ist der Name des Herrn v. Kayser zuerst von Ihnen oder von Herrn v. Kröcher genannt worden?

Zeuge v. Manteuffel: Das kann ich nicht genau sagen.

J.-R. Dr. Sello: Sie haben doch die Äußerung des Herrn v. Kröcher nur als eine scherzhafte, von Galgenhumor diktierte Äußerung aufgefaßt?

Zeuge: Jawohl, immerhin fiel sie mir auf, weil sie doch ein Schuldbekenntnis in sich schloß für sich und Herrn v. Kayser.

J.-R. Dr. Sello: Gerade deshalb ist von großer Wichtigkeit, festzustellen, wer zuerst den Namen des Herrn v. Kayser genannt hat.

Zeuge: Ich glaube, Herr v. Kröcher.

Angekl. v. Kayser: Ich bitte den königlichen Kriminalkommissar, sein Gedächtnis zu schärfen. Als vorhin der Herr Beisitzer Herrn v. Manteuffel fragte, antwortete er, er wisse das nicht.

Beisitzer Dr. Queck: Ich konstatiere, daß meine Frage lautete: Wer hat zuerst den Namen des Herrn v. Kayser genannt? und daß die Antwort des Zeugen lautete: Das weiß ich nicht.

v. Kröcher: Während der Unterhaltung im Wagen hat v. Manteuffel versucht, mir beizubringen, daß v. Kayser Schlechtes über mich redete.

Der Zeuge v. Manteuffel erzählte dann den Vorgang der Verhaftung des Angeklagten v. Kayser. Als er in die Wohnung des Herrn v.K. gekommen sei, habe ihm der Kammerdiener aufgemacht.

D. Kayser: Was? Mein Kammerdiener?!

v. Manteuffel: Es war ein kleiner, halbwüchsiger Junge.

v. Kayser: Also gerade das Gegenteil von dem, was der Zeuge soeben unter seinem Eide behauptet hat!

Zeuge v. Manteuffel erzählte dann, daß er zweimal vergeblich in v. Kaysers Wohnung war und dort zwei Visitenkarten zurückgelassen habe, wie dann am nächsten Morgen v. Kayser ihn aufgesucht habe, daß der Versuch, den Untersuchungsrichter Herr sofort zu sprechen, verunglückte und darauf eine Haussuchung bei v. Kayser stattfand. Er war kolossal überrascht von der tadellosen Ordnung, in welcher sich die Papiere des Herrn v.K. befanden. Letzterer habe ihm bereitwilligst alles überlassen, er hatte absolut nichts verborgen, alles sei wunderschön geordnet gewesen. Er (Zeuge) hatte die Überzeugung gewonnen, daß „nichts mehr da“ sei. Gegen die Zweideutigkeit des letzteren Ausdrucks verwahrte sich v. Kayser entschieden. Der Zeuge erzählte weiter: Er habe Herrn v. Kayser auf dessen Bitten gestattet, in seiner Gegenwart auf einen kurzen Moment Frieda Voigt zu sprechen. Dann war es natürlich für ihn von Wichtigkeit, durch Herrn v. Kayser zu erfahren, wie er sich zu der ganzen Angelegenheit stelle. Es sei überlegt worden, wo dies am besten geschehen könne, und so habe man dann die Weinstube von Eggebrecht aufgesucht. Bei diesen Erzählungen habe v. Kayser auf ihn einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck gemacht, wenn er auch nicht habe begreifen können, warum v. Kayser so entschieden für Herrn v. Kröcher eintrat. Bei der eminenten Begabung und bei der Geschicklichkeit, mit welcher v. Kayser seine Ausführungen machte, seien ihm vorübergehend Zweifel gekommen, ob es unter solchen Umständen nötig sei, ihn sofort in Haft zu nehmen. Er glaubte überzeugt sein zu dürfen, daß v. Kayser nicht entfliehen würde und habe sich deshalb entschieden, Herrn v. Kayser in der Nacht noch in seiner Wohnung zu lassen und ihn erst am nächsten Morgen abzuholen. Herr v. Kayser habe ihm das Versprechen gegeben, seine Wohnung nicht zu verlassen. Am nächsten Morgen habe er Herrn v. Kayser abgeholt. Letzterer habe erst noch den Raseur aufgesucht und sei dann mit ihm zu dem Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Herr, gegangen.

Der Angeklagte v. Kayser behauptete auf das bestimmteste, daß v. Manteuffel dabei sofort seine Ansicht dahin ausgesprochen habe, es werde sogleich wieder seine Entlassung erfolgen.

v. Manteuffel: Er habe das nicht so bestimmt ausgesprochen, aber allerdings gesagt, wenn das alles so richtig ist, wie er behauptet, dann würde er wohl freikommen. Er sei auch mit dem Untersuchungsrichter Herr zum Oberstaatsanwalt gegangen und habe seine Zweifel darüber ausgedrückt, daß die Haft fortzudauern habe. Der Oberstaatsanwalt habe aber die Haft aufrechtzuerhalten bestimmt.

Oberstaatsanwalt: Die Aufrechterhaltung der Haft ist ja gar nicht der Entscheidung des Kriminalkommissars unterstellt, sondern dem Richter. In diesem Falle ist die Aufrechterhaltung der Haft von der zustehenden Strafkammer beschlossen worden. Es wurde dagegen Beschwerde erhoben und der Beschluß der Strafkammer durch das Kammergericht bestätigt. In betreff der Verhaftung v. Schachtmeyers machte Zeuge v. Manteuffel folgende Angaben: Auch bei diesem Angeklagten habe er eine Haussuchung vorgenommen. Er habe ihm gesagt, daß es ihm hauptsächlich daran liege, eine Quittung des Herrn Montagli zu bekommen. Der Angeklagte habe erklärt, daß er dies Papier sowie einen ganzen Wust anderer Papiere, die den Klub betrafen, verbrannt habe.

Der Angeklagte v. Schachtmeyer gab dies zu. Er habe dies auf Anraten des Mitangeklagten v. Kayser getan, aber keineswegs, um die Sachlage zu verdunkeln. Bei Auflösung des Klubs habe er v. Kayser gefragt, was mit den Druckschriften und Quittungen geschehen solle. von Kayser habe erwidert, er möge nur die ganze Geschichte in seiner Wohnung verbrennen, er stehe gerade im Examen, und es sei ihm unangenehm, wenn es bekannt würde, daß er sich für einen Spielklub interessiert habe. Die Druckschriften hätten ebensowenig Wert gehabt wie die den Klub betreffenden Quittungen. Es sei ein Spielreglement gewesen, welches von Herrn v. Zedlitz verfaßt worden sei, ferner eine Liste der Mitglieder usw. Herr v. Manteuffel müsse auch zugeben, daß er sofort alle seine Behältnisse zur Verfügung gestellt habe.

Zeuge v. Manteuffel: Das gebe ich zu.

Auf Fragen des Oberstaatsanwalts erklärte sich v. Kayser nochmals über den „Kammerdiener“ oder „Reitknecht“, der dem Zeugen v. Manteuffel die Tür geöffnet haben soll. Dieser „Kammerdiener“ sei ein kleiner Junge gewesen, der im November 6 Mark und im Dezember, mit Rücksicht auf Weihnachten, 10 Mark erhalten habe. Im gewöhnlichen Leben nenne man solche „Kammerdiener“ Laufjungen.

Auf eine Reihe von Fragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt erklärte v. Manteuffel, daß ihm Kornblum niemals gesagt, v. Kröcher habe falsch gespielt. Ob Redakteur Fölzer die ihm aufgetragene Warnung an die Offiziere auch wirklich bestellt habe, wisse er nicht.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: v. Kröcher hat jedenfalls mit Herrn Fölzer nicht gesprochen und keine Warnung vor Wolff erhalten.

v. Manteuffel: Es ist richtig, daß v. Kröcher nach den ersten im Tageblatt geschriebenen Artikeln eines Tages zu mir gekommen ist, um von mir, der ich Hauptmann der Landwehr und ein älterer Kamerad des v.K. war, einen Rat zu erbitten. Er sagte, daß in den Artikeln seine Person so deutlich gezeichnet worden sei, daß sie sofort erkennbar war. Er wollte gern Rat haben, wie er sich zu verhalten habe. Ich habe Herrn v. Kröcher darauf gefragt, wodurch er sich beleidigt fühle. Dieser erwiderte, daß er ja zugeben müsse, leidenschaftlich gespielt und auch gewonnen zu haben. Darauf sagte ich, daß das bloße Spielen nicht strafbar ist, und es auch nichts Böses ist, wenn man beim Spielen Glück hat, das ist vielmehr für jeden Spieler angenehm. Ich habe v.K. geraten, sich so schnell als möglich an den Ehrenrat zu wenden, dessen stellvertretender Präses ich bin. Damit war die Sache zu Ende. Ich habe nur noch meine Verwunderung ausgesprochen, daß v. Kröcher so spät gekommen war. v. Manteuffel bekundete ferner: v. Kröcher habe dann noch einen Brief hervorgezogen, den er für einen gemeinen Erpresserversuch hielt. Der von dem Leutnant Bancart herrührende Brief habe ihn (Zeugen) natürlich sehr interessiert, da ihm kurz vorher Redakteur D. Moritz Friedländer vom „Berliner Tageblatt“ mitgeteilt hatte, daß er aus London Mitteilungen über Spielaffären erhalten habe und der Verdacht vorlag, daß beide Schreiben denselben Verfasser haben könnten, v. Kröcher habe ihm den Brief des Herrn Bancart überlassen, er habe sich Abschrift davon genommen und das Original Herrn v. Kröcher wieder zugestellt.

v. Manteuffel überreichte die Antwort, die v. Kröcher dem Leutnant Bancart erteilt hatte. Aus dem Inhalt gehe hervor, daß er Wolff dem Bancart gegenüber in Schutz nahm. Zeuge v. Manteunel erklärte auf Befragen, daß er nicht begreifen könne, wie der Angeklagte als Offizier, dem doch direkt vorgeworfen wurde, mit einem „geschickten“ Bankhalter zusammenzuhalten, eine solche Antwort erteilen konnte.

v. Kröcher wies darauf hin, daß Bancart sich damals und noch heute in London befunden habe.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Herr Zeuge, ist es richtig, daß Sie dem Vater des Herrn v. Kröcher, dem General v. Kröcher, geraten haben, sein Sohn solle nichts gegen Dr. Kornblum unternehmen, denn dieser habe nur Gutes über ihn gesprochen?

Zeuge v. Manteuffel: General v. Kröcher hat mich einmal in meiner Wohnung aufgesucht, mich aber nicht getroffen. Dann habe ich den General einmal auf dem Korridor vor dem Amtszimmer des Landgerichtsrats Herr gesprochen, ich entsinne mich aber nicht, ob der Name des Dr. Kornblum erwähnt wurde. General v. Kröcher sprach die Erwartung aus, daß gegen seinen Sohn ehrengerichtlich vorgegangen werden würde, aber er befürchte auch, daß außerdem das gerichtliche richtliche Strafverfahren gegen seinen Sohn eingeleitet werden könnte. Ich verhielt mich zurückhaltend, worauf der General erklärte, er wisse, daß sein Sohn gewerbsmäßig spiele. Ich erwiderte: Um Gottes willen, sagen Sie so etwas nicht, Sie könnten ja als Zeuge vernommen werden. General v. Kröcher fragte mich darauf, welche Strafe auf gewerbsmäßigem Glücksspiel stehe. Ich verwies ihn an den Landgerichtsrat Herr. Auch dieser hatte es abgelehnt, sich auf die Frage auszulassen.

Angekl. v. Kröcher: Ich bleibe dabei, daß mein Vater mir dreimal die Äußerung des Herrn v. Manteuffel, ich solle nicht gegen Dr. Kornblum vorgehen, wiedererzählt hat.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Ich kann es mir kaum denken, daß ein Vater seinen Sohn des gewerbsmäßigen Glücksspiels bezichtigen sollte. Ich beantrage nunmehr die Ladung des Generals v. Kröcher oder dessen kommissarische Vernehmung in Halle.

Oberstaatsanwalt Isenbiel teilte mit, daß er gestern eine Depesche vom General von Kröcher erhalten habe, worin er erklärt, daß er von seinem Rechte der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen und unter keinen Umständen als Zeuge auftreten werde. Auf Antrag des Rechtsanwalts Dr. Schwindt beschloß der Gerichtshof, nochmals eine Anfrage an den General v. Kröcher zu richten, ob er als Zeuge erscheinen wolle.

Alsdann wurde Rittmeister v. Eynard vernommen. Dieser äußerte sich über einen Reserveleutnant v. Radecke, der bei seiner Vernehmung in der Voruntersuchung ungünstige Aussagen über v. Kayser gemacht hat. Letzteren kenne er (v. Eynard) als vollkommenen Gentleman, v. Radecke habe ihn in schnödester Weise um 1000 Mark bares Geld gebracht. Es wurde festgestellt, daß v. Radecke in einem gegen v. Eppard angestrengten Prozeß den Einwand der Unzurechnungsfähigkeit mit Erfolg gemacht habe.

Am vierten Verhandlungstage teilte der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schwindt ein soeben an ihn eingegangenes Telegramm des Generalmajors v. Kröcher, des Vaters des Angeklagten v.K., mit, in welchem dieser erklärte, daß (bezüglich der von ihm angeblich bekundeten Überzeugung, sein Sohn sei ein gewerbsmäßiger Glücksspieler) natürlich ein Mißverständnis vorliege. Generalmajor v. Kröcher erklärte sich zur Zeugenaussage bereit.

Zeuge v. Kardorff: Er war etwa sieben- bis achtmal in der Spielgesellschaft. Nach seiner Meinung wußte „jeder Mensch“, daß im Viktoriahotel gespielt wurde, er sei daher nicht etwa dorthin „geschleppt“ worden. Es wurde meist bacc tournante gespielt. Er sei auch dreimal in der Gesellschaft des Zentralhotels gewesen. Die Einladung zum Eröffnungsdiner sei nur vom Grafen Egloffstein unterschrieben gewesen, er habe aber nicht daran teilgenommen, „denn zu einem Diner, zu dem Graf Egloffstein einladet, geht man nicht.“

Vors.: So, so, das ist mir interessant zu hören. Weshalb steht Graf v. Egloffstein in so schlechtem Rufe?

Zeuge: Nun, Egloffstein ist von den 10. Ulanen unter sehr fragwürdigen Umständen abgegangen. Ich habe Herrn v. Kayser gegenüber auch mein Erstaunen ausgedrückt, daß man Egloffstein die Einladungen habe unterzeichnen lassen.

Angekl. v. Kayser: Ich glaube, das hat mir der Zeuge erst nach dem Diner gesagt.

Zeuge v. Kardorff: Nein, ich glaube, es war schon vor dem Diner.

Vors.: Waren Sie auch bei Ph. Albrecht?

Zeuge: Jawohl, einmal bei Albrecht. Zwei- bis dreimal war ich bei Hecht.

Vors.: Kannten Sie Wolff?

Zeuge: Nein.

Vors.: Hat nicht v. Kayser mit einem alten Herrn in Ihrer Gegenwart die Bank zusammen gehalten?

Zeuge: Es wäre mir auffällig gewesen, wenn sich v. Kayser mit einem Manne wie Wolff zur Bank assoziiert hätte.

Vors.: War Herr v. Kayser Arrangeur der Spielabende im Viktoriahotel?

Zeuge: Nein. Im Viktoriahotel gab es keine Arrangeure. geure. Man traf sich dort und war da.

Vors.: Herr v. Kayser soll an Sie einmal 1500 Mark verloren haben?

Zeuge: Ob verloren oder gepumpt, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich einmal von v. Kayser 1500 Mark geschickt bekommen.

Oberstaatsanwalt: Können Sie über die Einkünfte und die Lebenshaltung des v. Kayser Auskunft geben?

Zeuge: v. Kayser hatte einen Wechsel ungefähr wie wir alle. Er wird sich zwischen 200 und 400 Mark bewegt haben. Ich kann nur sagen, v. Kayser hat nicht luxuriös gelebt. Daß er natürlich, während er gespielt, mehr ausgegeben hat wie 400 Mark, das ist ja klar. Das ist ja eben der Fluch des Spiels, daß alle, die spielen, über ihre Verhältnisse leben. Ich mag dieser Äußerung wegen angegriffen werden, aber es ist doch einmal Tatsache. Es mag ja sehr bedauerlich sein, aber es ist einmal so.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Weshalb sind Sie denn in den Spielzirkel gegangen. Hatten Sie denn die Absicht, dort tüchtig Gewinne zu machen und dann mit den erworbenen Schätzen vergnügt nach Breslau abzudampfen?

Zeuge: Die Frage ist schwer zu beantworten. Man setzt sich natürlich nicht zum Spiel hin, um zu verlieren. Ich spiele eben um des Spiels willen, um zu spielen. len.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Sie wollen sagen, Sie spielten aus Passion.

Zeuge: Jawohl, ich bemerke übrigens, daß ich jetzt nicht mehr spiele.

Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Schachtel sagte Zeuge v. Kardorff: Er sei mit v. Kayser befreundet. v. Kayser sei hochbegabt, aber auch ein beißender, rücksichtsloser Witz sei ihm eigen. Das habe ihm auch manchen Feind gemacht. Er halte v. Kayser für einen anständigen Menschen, ebenso wie sein Korps Saxonia, das Herrn v. Kayser noch nicht das Band entzogen habe.

Angekl. v. Kayser bestätigte, daß ihn das Korps Saxonia trotz seiner Lage noch hochhalte und ihm das Band nicht entzogen habe. Er erwähnte gleichzeitig, daß er noch in das Untersuchungsgefängnis von seinem Korpsbruder v. Hasselbarth einen freundschaftlichen Brief erhalten habe, in welchem dieser mitteilte, daß er die Doktorarbeit Kaysers sehr gut habe benutzen können.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel stellte den Antrag, verschiedene Herren zu laden, die den Angeklagten v. Kayser ganz genau kennen, Korpsbrüder, Offiziere usw., die in Anschreiben an den Untersuchungsrichter ihrer vollen Überzeugung Ausdruck gegeben haben, daß sie v. Kayser nicht für fähig halten, unanständige Handlungen zu begehen.

Vors.: Herr Verteidiger, wenn Sie bei jedem Zeugen sofort solche neuen Anträge stellen, dann dürfte die Verhandlung sechs Wochen dauern.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Darauf würde es schließlich nicht ankommen, es soll doch die ganze Sache aufgeklärt und die Wahrheit gefunden werden.

Vors.: Der Herr Verteidiger kann solche Anträge bis auf spätere Zeit vertagen und den weiteren Gang der Verhandlung abwarten. Es könnte doch sein, daß die Verhandlung sich so gestaltete, daß eine Verurteilung nicht erfolgen könnte, und dann würden die Anträge überflüssig sein.

Auf weiteres Befragen erklärte der Zeuge v. Kardorff noch: Die Tatsache, daß das Korps „Saxonia“ dem Angeklagten v. Kayser das Band belassen hat und daß letzterer bei den 2. Ulanen verblieb, obgleich der Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen war, sprechen für sich selbst und beweisen, was man von Herrn v. Kayser hielt. Das „Senken“, das „Übertragen“, das Spielen auf „Seeschlangen“, die Teilnahme an der Begründung des Klubs usw. könne dem Angeklagten v. Kayser absolut nicht als moralisch Anrüchiges angerechnet werden. Er kenne den Angeklagten v. Kayser von der Jugendzeit her und wisse, daß er sich stets vollständig makellos geführt habe. Das „Übertragen“ von Guthaben von einem auf den anderen ren sei nichts Ungewöhnliches. Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bekundete der Zeuge noch, daß er die kurze Zeit, wo er dann und wann spielte, hoch gespielt und erhebliche Summen verloren, aber auch gewonnen habe. Vom Spielgewinn habe er natürlich nicht einen Teil seiner Lebenshaltung bestritten, aber es sei selbstverständlich, daß jemand, der einmal einen größeren Gewinn macht, auch leicht größere Luxusausgaben macht.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt erklärte der Zeuge, daß nach seinem Empfinden bei seiner Vernehmung, die beim Untersuchungsrichter Herr unter Anwesenheit des Herrn v. Manteuffel stattfand, er unwillkürlich durch die Fragen, die ihm gestellt wurden, präokkupiert werden sollte. Tatsächlich sei es ihm vorgekommen, daß Herr v. Manteuffel der eigentliche Spiritus rector sei.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Haben Sie den Eindruck gehabt, als ob der Untersuchungsrichter Herr mit den Mysterien des Bakkaratspiels vertraut war?

Zeuge: Keineswegs. Ich bin aber überzeugt, daß auch Herr v. Manteuffel nicht viel davon versteht.

Der Oberstaatsanwalt ließ bestätigen, daß das Protokoll nicht von Herrn v. Manteuffel, sondern vom Untersuchungsrichter ordnungsmäßig aufgenommen und von dem Zeugen unterschrieben worden sei. Über den Inhalt des Protokolls und die Art, wie dem Zeugen gen bei seiner Vernehmung die Fragen vorgelegt wurden, entspannen sich lange und zum Teil so erregte Erörterungen, daß der Vorsitzende zu einer ernsten Rüge an den Zeugen sich veranlaßt sah. „Das wäre ja noch schöner, wenn hier die Zeugen denken, sie könnten die Situation beherrschen!“

Oberstaatsanwalt: Wenn Herr Rechtsanwalt Dr. Schachtel bei jeder Aussage eines Zeugen so weitgehende Ausführungen macht, so erkläre ich schon jetzt, daß ich nicht des längeren darauf erwidern werde, daß ich aber damit keineswegs meine Übereinstimmung mit den Ausführungen der Verteidigung ausdrücken will.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Die Verteidigung muß bei denjenigen Zeugen, die besonders wichtig sind, auch längere Fragen stellen.

Der nächste Zeuge, Leutnant v. Vollert-Poppenberg bekundete: Er habe mehrmals mit dem Angeklagten v. Kayser zusammen gespielt, er könne aber über dessen Verhalten beim Spiel absolut nichts Ungünstiges sagen. Er glaube bestimmt nicht, daß es überhaupt möglich gewesen wäre, in jenem Spielkreise Tricks auszuführen, die nicht gentleman-like waren, v. Kayser habe an ihn 700 Mark verloren, die er in Raten auch bezahlt habe.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt bestätigte der Zeuge, daß der Angeklagte v. Kröcher krankheitshalber Urlaub und dann seinen Abschied genommen hat. Es sei Herrn v. Kröcher zu Ehren auch das übliche Abschiedsdiner gegeben und das übliche Ehrengeschenk überreicht worden. Rechtskandidat v. Matzdorff, der etwa dreimal im Klub war, hatte dort im ganzen etwa 1000 Mark gewonnen. Er vermochte Nachteiliges über die Angeklagten nicht auszusagen. Er sei vom Klub ferngeblieben, weil ihm die Person des Leutnants a.D.v. Prillwitz unsympathisch war; dieser hatte keine weitere Beschäftigung, sondern lag nach seiner Meinung lediglich dem Spiel ob.

Justizrat Dr. Sello ließ den Zeugen bestätigen, daß auch er, ebenso wie die Angeklagten, seinen Spielgewinn nicht weggelegt, sondern ausgegeben habe.

Der nächste Zeuge war der 23 Jahre alte Leutnant Prinz Max Theodor von Thurn und Taxis. Er bekundete: Er habe bei Albrecht, im Zentralhotel usw. mehrmals an den Spielabenden teilgenommen und kenne alle drei Angeklagten. Es sei richtig, daß er von dem Angeklagten v. Kayser auch gewonnen habe. Daß die Angeklagten die Bank zusammen gehalten haben, sei ihm nicht erinnerlich.

Vors.: Durchlaucht sollen auch Herrn Wolff gekannt haben.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Haben Durchlaucht freundschaftlich mit diesem gestanden?

Zeuge: Nein.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie mit Wolff Arm in Arm gesehen worden seien.

Zeuge (nach einigem Besinnen): Das kann ich mir nicht denken. Ich habe Wolff außer im Zentralhotel vorher nie gesehen.

Angekl. v. Schachtmeyer: Ich habe Durchlaucht einmal auf dem Korridor des Zentralhotels Arm in Arm mit Wolff promenieren sehen und habe mich später daran erinnert, da ich mich wundern mußte, daß mir aus meinem Verkehr mit Wolff ein Vorwurf gemacht wurde.

Vors.: Haben Sie nie ein Fragezeichen hinter die Person des Wolff gesetzt?

Zeuge: Keineswegs, Wolff machte den Eindruck eines durchaus anständigen Mannes. Ich konnte auch durchaus nicht annehmen, daß in jenem Klub eine zweideutige Persönlichkeit verkehren könnte.

Vors.: Herr Wolff ist wohl aalglatt gewesen?

Zeuge: Herr Wolff war liebenswürdig und wohlerzogen. Auf weiteres Befragen erklärte der Zeuge, daß er auch mal an Kröcher verloren und ebenso von diesem gewonnen habe und daß die Regulierung sehr bald erfolgt sei. Auch Herr v. Kayser habe die Regulierung bald vorgenommen.

Angekl. v. Kayser: Ich muß bemerken, daß Prinz v. Thurn und Taxis auch zweimal mein Schuldner war. Er hat mir die Beträge, die allerdings nur gering waren, innerhalb 24 Stunden zugeschickt.

Vors.: Durchlaucht, haben Sie je bemerkt, daß es nicht richtig zuging, wenn die Herren v. Kayser und v. Kröcher die Bank hielten, daß sie mit dem Herrn Wolff paktierten oder dergleichen?

Zeuge: Nein, mir ist niemals irgend etwas Verdächtiges vorgekommen, ich habe die Herren für tadellose Kavaliere gehalten.

Vors.: Weshalb sind Sie vom Klub zurückgetreten?

Zeuge: Das waren ganz zufällige Gründe.

Angekl. v. Kayser: Durchlaucht, ist es Ihnen erinnerlich, daß ich bei Ihnen recht hoch in der Kreide stand, als wir zum letzten Male im Hotel Minerva spielten?

Zeuge: Das ist richtig.

v. Kayser: Durchlaucht, entsinnen Sie sich, daß wir uns am 27. Januar vorigen Jahres, am Geburtstage Seiner Majestät, im Foyer des Opernhauses trafen und uns etwa 10 Minuten unterhielten?

Zeuge: Gewiß, dessen entsinne ich mich.

v. Kayser: Haben wir nicht ferner auf dem sogenannten „kleinen Hofball“ zusammen gesprochen?

Zeuge: Jawohl.

v. Kayser: Gut. Das war also zwei Tage vor meiner Verhaftung und lange nach dem Erscheinen der Artikel im „Berliner Tageblatt“. Hatten Sie den leisesten Verdacht, daß diese Artikel sich auf meine Person beziehen sollten?

Zeuge: Nein.

Angekl.: Ich nehme auch an, daß Sie dann nicht mit mir gesprochen haben würden.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt ließ sich vom Prinzen bestätigen, daß v. Kröcher an jenem Abend bei Albrecht, als er angeblich selbst die Karten mitgebracht hatte, bedeutend im Verlust gewesen ist.

Angekl. v. Kröcher: Durchlaucht werden sich entsinnen, daß ich mich fast jedesmal tot kaufte. Sie gewannen 1600 Mark, Graf Pocci ein paar tausend, ich muß im ganzen 7000 Mark verloren haben.

Zeuge: Ich schätze Ihren Verlust auch so hoch.

Rechtsanwalt Dr. Pincus: Durchlaucht, würde es Ihnen aufgefallen sein, wenn v. Kayser und v. Kröcher zusammen die Bank gehalten hätten?

Zeuge: Keineswegs.

v. Kayser: Durchlaucht bestätigen mir also, daß Wolff tadellose Manieren und das Auftreten eines Kavaliers hatte?

Zeuge: Gewiß, ich habe auch mehrfach Französisch mit ihm gesprochen und wahrgenommen, daß er ein elegantes Französisch sprach.

Zeuge Wüst aus Frankfurt a.M., von der Spielkartenfabrik Wüst und Co. daselbst, bekundete, daß weder die Art der Bestellung der Karten für den Klub, noch die Herstellung dieser selbst, noch die Beschaffenheit der Rückseiten der Karten irgend etwas Bedenkliches oder Verdächtiges haben. Es seien die gewöhnlichen Karten, wie sie an die verschiedensten Klubs geliefert werden. Diese Klubkarten gebe es nicht an allen beliebigen Orten, denn sie seien besonderer Art, insbesondere handlicher wie die gewöhnlichen Karten. Die dem Klub der Harmlosen gelieferten Karten seien das allgemeine französische Modell, welches in Frankreich, im Elsaß und fast in allen Weltteilen gebraucht wird.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Weiß der Zeuge irgend etwas davon, daß solchen Karten die Bezeichnung „Bauernfängerkarten“ beigelegt wird?

Zeuge: Das ist mir absolut unbekannt, ich wüßte auch keinen Grund zu einer solchen Bezeichnung.

v. Kayser wünschte vom Sachverständigen Graf Reventlow zu erfahren, ob ihm ein Wort davon bekannt sei, daß – wie in der Anklage behauptet wird – diese Karten in Spielerkreisen sehr gefürchtet seien.

Es wurde beschlossen, die Erörterung dieser Frage bis zur weiteren Vernehmung des Herrn v. Manteuffel zu vertagen.

Der Zeuge wurde noch veranlaßt, sich über die Behauptung v. Manteuffels zu äußern, daß infolge der Art des Abschneidens der Karten bei der Fabrikation ganz bestimmte „Naturmarken“ auf der Rückseite entstehen, an denen ein sorgsamer Beobachter leicht erkennen könne, welche Karten Neunen, Zehnen, Könige usw. sind.

Der Zeuge bestritt dies entschieden. Die Dessins der Karten seien natürlich nicht genau übereinstimmend herzustellen, es sei aber nicht zutreffend, daß bei allen Karten einer bestimmten Gattung eine Gleichmäßigkeit der Dessins an den Ecken sich zeige. Dies sei namentlich nicht der Fall, wenn mit mehreren Karten gespielt werde.

v. Kayser: Hat der Sachverständige Graf Reventlow den Ausdruck „Naturmarken“ überhaupt schon gehört?

Graf Reventlow: Nie.

Vors.: Ich dächte, von den „Naturmarken“ haben wir nun vollständig genug!

Hauptmann v. Unger: Es sei ihm über die Verabschiedung v. Kröchers selbst nichts bekannt. v. Kröcher, den er für einen durchaus honetten Mann gehalten und noch halte, habe in seiner Familie verkehrt. Bei einem Liebesmahl habe ihm einmal ein Leutnant v. Alvensleben erzählt, im Hotel Müller in Potsdam hätten mehrere Herren mit v. Kröcher zusammen gespielt, sich aber von ihm zurückgezogen, weil er „zuviel Glück“ hatte. Er (Zeuge) habe das darin liegende Bedenken entschieden zurückgewiesen, da er Herrn v. Kröcher für einen Gentleman halte. Er sei auch heute noch der Überzeugung, daß v. Kröcher absolut nicht fähig sei, falsch zu spielen, sondern durchaus unschuldig sei.

Angekl. v. Kröcher: Es liegt mir daran, hervorzuheben, daß der Zeuge mich einer unfairen Handlungsweise nicht für fähig hält.

Zeuge (mit Nachdruck): Herr v. Kröcher, Sie haben in meiner Familie und unter meinem Dache verkehrt, und deshalb ist es schon selbstverständlich, daß ich Sie eines Falschspiels für unfähig halte.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt wünschte zu wissen, wie der Zeuge überhaupt als Zeuge vorgeschlagen werden konnte.

Hauptmann v. Unger: Zu meiner großen Verwunderung ist das durch Herrn v. Manteuffel geschehen. Herr. v. Manteuffel hat zu meinem Befremden behauptet: ich habe bei Gelegenheit eines Liebesmahles ihm erzählt, daß v. Kröcher ein luxuriöses Leben geführt habe. Ich habe gar nicht daran gedacht. Ich bin meines Wissens nie in das Wohnzimmer Kröchers gekommen, jedenfalls kann ich positiv sagen, daß ich nichts davon weiß, ob er persische Teppiche und dergleichen: gehabt hat, was ich angeblich soll bekunden können. Als ich Herrn v. Manteuffel darauf aufmerksam machte, behauptete dieser, ich hätte ihm noch viel mehr erzählt, und als ich ihm erwiderte, daß er sich irren müsse, sagte er, er irre sich selten. Daß er sich tatsächlich irrt, geht aus folgendem hervor: ich soll angeblich auch gesagt haben, daß v. Kröcher als mein Untergebener öfter zu spät in den Dienst gekommen ist. Nun ist aber v. Kröcher nie mein Untergebener gewesen!

Hierauf erschien als Zeuge Generalmajor Adolf v. Kröcher. In energischem Ton erklärte er auf Befragen des Vorsitzenden, daß er bereit sei, sich vernehmen zu lassen.

Vors.: Wir wünschen von Ihnen zunächst Auskunft über die 80000 Mark.

Zeuge: Ich möchte einige Vorbemerkungen machen: Bisher hatte ich mich meines Zeugnisses enthalten, weil ich glaubte, dieser Punkt wäre der einzige, über den ich vernommen werden sollte, und daß dieser unwesentliche Punkt durch Belege sofort aufgeklärt werden könnte. Nun habe ich aber aus den Verhandlungen ersehen, daß ich durch Ablehnung meines Zeugnisses meinem Sohne schaden würde, mit dem ich in durchaus guten Beziehungen lebe, oder daß ich gar in den Verdacht komme, ihn selbst für einen gewerbsmäßigen Glücksspieler zu halten. So bin ich aus meiner Reserve herausgetreten und hierher geeilt.

Vors.: Herr General, in welcher Weise haben Sie Ihren Herrn Sohn nach seinem Austritt unterstützt?

Zeuge: Wie erwiesen sein wird, ist mein Sohn aus dem Militärstande ausgeschieden, weil sein schwankender kender Gesundheitszustand dies notwendig machte. Er hat schon als Kind schwere Krankheiten durchgemacht. Ich wollte ihm nun einen neuen Lebenserwerb schaffen, und als das Anerbieten des Herrn Kleinschmidt aus Bochum an uns herantrat und ich erfuhr, daß sein Unternehmen gut fundiert sei, war ich sofort bereit, ein Kapital von 82000 Mark, das mir aus einer Erbschaft zugefallen und bei der Deutschen Bank hinterlegt war, auf das Konto meines Sohnes zu übertragen. Als dann die Verbindung mit Kleinschmidt wieder aufgelöst wurde, fiel mir die Einlage wieder zu, sie wird mir nach und nach in Monatswechseln wieder zurückgezahlt.

Vors.: Wieviel Zuschuß gaben Sie Ihrem Sohne während seiner Dienstzeit?

Monatlich 130 Mark, in letzter Zeit aber nur 110 Mark.

Vors.: Wußten Sie, daß Ihr Sohn spielte?

Zeuge: Ja, ich wußte es, ich habe einmal 5000 Mark Spielschulden bezahlt.

Vors.: Weitere Spielschulden nicht?

Zeuge: Nein.

Vors.: Wann erfuhren Sie von der Verhaftung Ihres Sohnes?

Zeuge: Ich habe davon erst Kenntnis durch die Zeitungen erhalten. Ich wußte ja allerdings, daß er einen Hang zum Spielen hatte, daß er Rennpferde hielt, Reisen sen machte und auch bedeutende Gewinne erzielt hatte.

Vors.: Er soll gegen 30000 Mark in einem Jahre verbraucht haben.

Zeuge: Das ist wohl stark übertrieben. Ich weiß, daß er das ist, was man einen „guten Wirt“ nennt. So ist er wenigstens bei seiner Familie bekannt. Als der Artikel gegen meinen Sohn erschien, depeschierte ich ihm: „Sofort Ehrenrat!“ Dann reiste ich nach Berlin, und in einer Nacht haben wir die Sache zusammen besprochen.

Vors.: Haben Sie auch mit Herrn v. Manteuffel gesprochen?

Zeuge: Ja, ich fragte ihn, wie die Sache stände, und erhielt die Antwort: „Seien Sie ohne Sorge, Herr General, es liegt nichts Besonderes gegen Ihren Sohn vor!“ Herr v. Manteuffel hat mir dann bei einer Unterhaltung gesagt: „Sagen Sie nur Ihrem Sohn, daß Dr. Kornblum nicht sein Gegner, sondern sein Freund ist.“

Vors.: Herr v. Manteuffel hat behauptet, Sie hätten selbst Ihren Sohn als einen gewerbsmäßigen Spieler bezeichnet.

Zeuge: Aber ich bitte Sie um Gottes willen! Das habe ich nie in meinem Leben gedacht und meines Wissens auch nie geäußert. Ich habe einmal Herrn v. Manteuffel besucht am Morgen nach der Verhaftung meines Sohnes, weil ich nach den Andeutungen meines Sohnes glaubte, daß v. Manteuffel seine Interessen aufs beste wahrnehmen würde. Soweit ich mich erinnere, habe ich Herrn v. Manteuffel gefragt: „Sagen Sie, was ist eigentlich ?gewerbsmäßiges Glücksspiel??“ Die Erklärung, die mir v. Manteuffel gab, schien mir schrecklich für die ganze Spielerwelt, und ich mußte mir sagen, daß danach jeder, der nach dem Spiel etwas Aufwand treibt, ein gewerbsmäßiger Spieler sein würde, und daß dann die Sache für meinen Sohn auch nicht günstig stehen könnte.

Der Zeuge erklärte dann auf das bestimmteste, daß er dem Sinne nach jedenfalls – der Worte wisse er sich nicht mehr zu erinnern, da er begreiflicherweise in einer großen Aufregung war – den Kriminalkommissar v. Manteuffel nur habe fragen wollen, was unter gewerbsmäßigem Glücksspiel eigentlich zu verstehen sei. Über den Klub der Harmlosen habe er, da er Berlin ziemlich fernstehe, nichts gehört. Herrn v. Schachtmeyer habe er bei Gelegenheit eines Pferdekaufes kennengelernt.

Der Vorsitzende stellte nunmehr den Zeugen v. Manteuffel dem General v. Kröcher gegenüber, v. Manteuffel blieb dabei, daß der General ihm gesagt habe: Ich weiß ja, daß mein Sohn ein gewerbsmäßiger Spieler ist. Darauf will v. Manteuffel den General ersucht haben, nicht weiter zu reden, da er, v. Manteuffel, fel, sonst vielleicht als Zeuge vernommen werden würde. General v. Kröcher blieb aufs bestimmteste dabei, daß er niemals seinen Sohn für fähig halten werde, gewerbsmäßiger Glücksspieler zu sein.

v. Manteuffel berief sich darauf, daß er seinerzeit sofort dem Untersuchungsrichter Herr Mitteilung von der Äußerung des Generals gemacht habe.

Generalmajor v. Kröcher bestritt nochmals mit großer Entschiedenheit, daß der Sinn seiner Worte der behauptete habe sein können. Übrigens habe er Herrn, v. Manteuffel gegenüber nicht die Worte ängstlich auf die Wagschale gelegt, da er ja glaubte, daß die Interessen seines Sohnes bei Herrn v. Manteuffel in den besten Händen ruhten.

Der Vorsitzende hielt eine sofortige Vernehmung des Untersuchungsrichters, Landgerichtsrats Herr, für notwendig. Letzterer erklärte jedoch, daß er zunächst die Genehmigung des Landgerichtspräsidenten einholen müsse.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt bestätigte General v. Kröcher, daß sein Sohn unbedingt auf ihn rechnen konnte und genau wußte, daß er sich in finanziellen Nöten auf ihn verlassen konnte. Ein „Versprechen“, nicht mehr zu spielen, habe er seinem Sohn nicht abgenommen, sondern ihm nur ernste Vorhaltungen gemacht und den väterlichen, dringenden Rat erteilt, vom Spielen abzulassen.

Auf Antrag des Rechtsanwalts Dr. Schwindt wurde die Mutter des Angeklagten v. Kröcher vernommen, die bestätigte, daß ihr Gatte bei der Heimkehr aus Berlin ihr die Szene mit Herrn v. Manteuffel genau so erzählt habe, wie dem Gericht. Sie gab auf Befragen zu, daß auch sie ihrem Sohne häufig kleine Unterstützungen zugewendet habe, wogegen dieser sich bei Geburtstagen durch kleine Geschenke, wie ein Paar Handschuhe, ein Brillenfutteral oder dergleichen revanchiert habe.

Kriminalkommissar v. Manteuffel wurde wieder in den Saal gerufen. Der Präsident fragte ihn, wann v. Kayser zuerst Aufschluß über die Vergangenheit Wolffs erhalten haben könne.

Der Zeuge erklärte: Er habe selbst mit v. Kayser über diesen Punkt gesprochen. v. Kayser habe erzählt, daß Kornblum nach dem Erscheinen des ersten Artikels mit Verdächtigungen in betreff Wolffs an ihn herangetreten sei. Er habe aber kein Gewicht darauf gelegt, da Kornblum für seine Angaben keine Unterlage hatte. Dies sei etwa am 15. September 1898 gewesen. Der Angeklagte v. Kayser gab dies zu.

Vors.: Herr Kommissar, Sie haben gesagt, daß Sie von dem Spieler Reuter wertvollen Unterricht in betreff des Falschspiels erhalten haben. Wollen Sie darüber etwas mitteilen?

Zeuge v. Manteuffel: Da muß ich zunächst erzählen, len, wie ich dazu gekommen bin. Der bekannte Reuter ist seit der Zeit, daß er seine Spielertätigkeit aufgegeben hat, bei der Polizei eine angenehme Nachrichtenquelle. Er kam auch häufig zu mir. Als vor Jahren ein Verfahren gegen einige gewerbsmäßige Spieler schwebte, kam Reuter auch zu mir. Er wollte augenscheinlich für die Angeklagten Stimmung machen; denn er ließ Äußerungen fallen, daß es doch so harmlose, anständige Menschen seien, ich möchte doch nicht so scharf gegen sie vorgehen. Um mich in guter Stimmung zu erhalten, erbot er sich, mir zu zeigen, wie man falsch spiele. Ich nahm dies Anerbieten gern an. Auf den Wunsch Reuters ließ ich zwei Spiele neuer Karten kommen. Reuter riß den Verschlußstreifen vor meinen Augen durch und steckte die Karten durcheinander. Er machte mir sodann ein Spiel vor und gewann so lange, bis er erklärte: „So, nun müssen Sie auch mal gewinnen.“ Die nächste Karte fiel zu meinen Gunsten aus. Reuter erzählte mir dann, daß er beim Mischen der Karten mit großer Fingerfertigkeit die Karten „gepackt“ habe, das heißt die Reihenfolge kenne. Es sei auch durch den sogenannten „Naturpunkt“, der sich auf der gravierten Rückseite einer jeden Karte befinde, die Karte zu erkennen, es gehöre aber ein scharfes Auge und lange Übung dazu. Weitere Enthüllungen habe Reuter nicht machen wollen.

Der Vorsitzende ersuchte den Kriminalkommissar, dem Gerichtshof das Reutersche Kunststück vorzuführen, v. Manteuffel machte, unter wiederholter Heiterkeit der Zuhörer, einige Tricks vor, wie man durch „Packen“ und geschicktes Mischen sich über die Reihenfolge der Karten orientieren könne. Die interessanten Ausführungen schlossen damit ab, daß auf Befragen des Oberstaatsanwalts v. Manteuffel zugab, daß zu diesem Trick des „Packens“ immer gehört, daß sich der Betreffende die Karten des Spieles angesehen haben müsse. Graf Reventlow erklärte, daß ein solches „Packen“ an den Spielabenden absolut ausgeschlossen war, und überdies die Karten nicht nur vom Bankhalter, sondern auch noch von möglichst vielen am Spieltisch versammelten Personen gemischt wurden.

Der Sachverständige Herrmann gab unter fröhlicher Aufmerksamkeit der beteiligten Faktoren einige Proben seiner Kunst, die das alte Wort illustrieren sollen: „Geschwindigkeit ist keine Hexerei.“

Die Angeklagten wünschten die Künste des Herrn Herrmann auch mit anzusehen und traten deshalb ebenfalls an den Tisch, vor welchem Herr Herrmann seine Experimente machte. Sie waren der Ansicht, daß diese Tricks doch nur von geübten Prestidigitateurs ausgeführt werden können. Der Sachverständige meinte aber, daß „Falschspieler“ dies sehr leicht erlernen, und wenn sie andere Leute betrügen wollen, auch sehr leicht die Kartengattungen an den Schraffierungen erkennen wollen.

v. Kayser: Na, dann bitte, betrügen Sie uns doch mal!

Sachverständiger Herrmann: Ich bin doch kein Falschspieler!

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Zur Ausführung der hier so interessant geschilderten Tricks gehört doch wohl eine sehr lange Übung?

Sachverständiger Herrmann: Keineswegs.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Würden Sie es unternehmen, beispielsweise mich selbst in 14 Tagen in der Kunst so weit zu unterrichten, daß ich diese Tricks beim Spiel anwenden könnte?

Sachverständiger Herrmann: Ihnen, Herr Rechtsanwalt, bringe ich es in einem Tage bei! (Große Heiterkeit.)

Sachverständiger Graf Reventlow: Er sei der Ansicht, daß die Kenntnis der Karten für den Bankier nicht viel wert sei, da ja die Sätze des Pointeurs schon fest auf den Karten stehen und der Bankhalter nicht weiß, ob der Pointeur zukaufen wird oder nicht. Ein betrügerisches Verhalten werde allerdings begünstigt, wenn – wie dies in nicht sehr rigorosen Klubs ja wohl vorkommt und auch im Klub der Harmlosen vorkam – noch nachgesetzt werden kann, selbst wenn die erste Karte bereits ausgegeben ist.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte v. Manteuffel: Graf Königsmarck habe ihm gesagt, er habe von dem Zeugen Zakzerczewski gehört, daß v. Kröcher und v. Kayser dem Klubdiener Montagli 700 bis 800 Mark gegeben haben und dieser schleunigst „verduftet“ sei. Den Wortlaut der Mitteilung wisse er nicht mehr, es habe aber auf ihn den Eindruck gemacht, als ob gesagt werden sollte, daß die beiden Angeklagten den Montagli über die Grenze geschafft haben.

Angekl. v. Kayser wünschte zu wissen, mit welchem Recht Herr v. Manteuffel die im Klub benutzten Karten als „Bauernfängerkarten“ bezeichne, die als solche „in Spielerkreisen“ bekannt seien.

v. Manteuffel: Diese Behauptung könne nur durch ein Mißverständnis in die Anklage übergegangen sein. Er habe tatsächlich nur von den Karten mit schraffierter Rückseite gesprochen.

v. Kayser: Auf welche „Spielerkreise“ bezieht sich denn Herr v. Manteuffel immer?

v. Manteuffel: Ich greife dabei auf Konrad Reuter zurück, der in sehr vornehmen Kreisen verkehrte.

v. Kayser: Was waren das für Kreise?

v. Manteuffel: Es ist aktenmäßig festgestellt, daß Konrad Reuter mit Mitgliedern des Unionklubs auf der Fahrt nach und von Hoppegarten gespielt hat.

Der alsdann vorgerufene Zeuge Graf Günther Königsmarck nigsmarck bekundete: Er habe dem Kommissar v. Manteuffel wohl die Ansicht des Leutnants v. Zakzerczewski mitgeteilt. Er habe nie etwas Verdächtiges beim Spiel bemerkt, er wäre verpflichtet gewesen, sofort einzuschreiten, wenn etwas passierte, was nicht gentleman-like war. Allerdings haben die Angeklagten viel gewonnen; das sei aufgefallen, ohne daß dabei der Gedanke des Falschspiels aufkam. Herrn Wolff habe er nicht gekannt. Sein Ausscheiden aus dem Klub sei durch einen recht großen Spielverlust an Herrn v. Wrede veranlaßt worden. Er hat einmal, als der Angeklagte v. Kröcher auffallend lange im Glücke saß, „aus Scherz“ an diesen geschrieben, daß er doch aufhören solle zu spielen, da er sonst leicht den § 284 des Strafgesetzbuches, der vom gewerblichen Glücksspiel handelt, verletzen könnte. Herr v. Kröcher sei über diesen „Scherz“ – der tatsächlich nur ein solcher sein sollte – sehr empört gewesen.

Der Zeuge hat, wie der Oberstaatsanwalt hervorhob, bei seiner Vernehmung im Vorverfahren manches zuungunsten der Angeklagten ausgesagt und den Inhalt des Artikels des „Berliner Tageblatts“ in verschiedenen Punkten unterstützt. Heute klingen seine Bekundungen viel milder. Dem Zeugen wurden einige Punkte aus dem betr. Protokoll vorgehalten, in denen der Oberstaatsanwalt Widersprüche fand. Der Zeuge erklärte, daß seine Vernehmung an einem Tage stattfand, fand, als er müde und von einer Reise zurückgekehrt war. Vor der Vernehmung habe er vier oder fünf Konferenzen mit Herrn v. Manteuffel gehabt, der ihm manches sagte, was andere ausgesagt haben sollen. Er sei deshalb bei seiner Vernehmung präokkupiert gewesen.

Oberstaatsanwalt: Wie meint der Herr Zeuge das?

Zeuge: Als der erste Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen war, sei er zum Polizeipräsidium gefahren und habe den Polizeidirektor v. Meerscheidt-Hüllessem gefragt, ob es nicht möglich sei, solche Artikel zu unterdrücken, denn es würden dadurch etwa 200 Offiziere und Kavaliere und die ganze junge vornehme Welt von Berlin in Mitleidenschaft gezogen. Er sei auch zum Geheimen Rat Dieterici gegangen, ferner zum Polizeipräsidenten v. Windheim, der ihm aber ziemlich schroff entgegengetreten sei. Herr v. Manteuffel habe ihm gesagt, wir müssen hier so scharf vorgehen, wie wir können. In den fünf bis sechs Konferenzen habe Herr v. Manteuffel die Sache stets schroffer aufgefaßt, als sie tatsächlich war, und es sei leicht möglich, daß er infolge der Konferenzen mit v. Manteuffel bei der Vernehmung manches Urteil schärfer abgegeben habe, als dies sonst der Fall gewesen wäre.

v. Manteuffel: Ich muß im Namen der Polizeibehörde, deren einziger Vertreter ich hier im Saale bin, ausdrücklich erklären, daß ich die Unterstellung, als ob ich den Herrn Grafen Königsmarck in irgendeiner Weise beeinflußt hätte, entschieden zurückweisen.

Graf Königsmarck: Ich habe eine solche Behauptung auch gar nicht aufgestellt. Es entspann sich darauf auf Anregung des Rechtsanwalts Dr. Schwindt eine lange Auseinandersetzung über einige Vorfälle, die sich wie folgt abgespielt haben. Das „Kleine Journal“ hatte einen Artikel gebracht, in welchem auf die Schwierigkeiten dieses Prozesses hingewiesen wurde. Dieser Artikel beruhte auf Mitteilungen, welche v. Manteuffel dem Grafen Königsmarck auf dessen Ersuchen bei einer Zusammenkunft bei Trarbach in Anwesenheit des Dr. Leipziger gemacht hatte. In diesem Artikel war auch behauptet worden, daß der Zeuge, Assessor Moers nicht auffindbar sei. Als Dr. Moers dies las, hatte er sofort recherchiert, von wem diese Mitteilung herrühre, und als er erfahren, daß v. Manteuffel der Gewährsmann sei, hatte er eine Beschwerde über v. Manteuffel an den Polizeipräsidenten gerichtet. In dem Verfahren mußte natürlich auch Graf Königsmarck vernommen werden. Nun behauptete Rechtsanwalt Dr. Schwindt – und Graf Königsmarck bestätigte das – daß v. Manteuffel sich an den Grafen gewendet habe mit dem Bemerken: „Wir Ehrenmänner müssen zusammenhalten“. Die Aussage, die der Graf in dem Beschwerdeverfahren abgeben sollte, habe v. Manteuffel auf einen Zettel geschrieben. Graf Königsmarck legte den Zettel vor.

v. Manteuffel: Graf Königsmarck habe ihm gesagt, er habe ein schlechtes Gedächtnis, aus diesem Grunde habe er die von ihm bei der Zusammenkunft bei Trarbach getanen Äußerungen noch einmal fixiert.

Graf Königsmarck: Hier spielt Herrn v. Manteuffel seine üppige Phantasie einen Streich. Er könne sich auf Dinge, die erst acht Tage alt seien, noch sehr gut erinnern.

v. Manteuffel: Er sei über die Form des im „Kleinen Journal“ enthaltenen Artikels sehr erstaunt gewesen und habe seinem Erstaunen dem Grafen Königsmarck gegenüber Ausdruck gegeben. Er habe gesehen, daß der Artikel, der nur die Schwierigkeiten, die sich auftürmen, kennzeichnen sollte, weitergegangen sei und allerlei über die einzelnen Zeugen bemerkt habe.

Dem Zeugen Graf Königsmarck wurde aus dem Protokoll über seine Vernehmung vorgehalten, daß er damals ausdrücklich gesagt habe, er halte den Angeklagten v. Kröcher für einen gewerbsmäßigen Glücksspieler. Der Zeuge erklärte, daß er nicht genügend juristische Kenntnisse besitze, um den Begriff des gewerbsmäßigen Glücksspiels genau zu umgrenzen. Er habe nur daran gedacht, daß Herr v. Kröcher ein flottes Leben geführt und eine kleine Zulage gehabt habe.

Oberstaatsanwalt: Er könne nicht begreifen, daß der Zeuge den erwähnten Brief an v. Kröcher „aus Scherz“ geschrieben haben solle. Das würde doch ein sehr bedenklicher „Scherz“ sein, denn unter Umständen würden es die Angeklagten einem solchen Scherz zu verdanken haben, daß sie so lange in Untersuchungshaft sitzen. Überdies habe der Zeuge bei seiner Vernehmung auch gesagt, v. Kröcher sei drei Tage nach jenem Briefe abgereist.

v. Kröcher ließ sich durch den Kammerdiener Mayer bestätigen, daß diese Reise schon längst geplant war.

Graf Königsmarck bestätigte das.

Oberstaatsanwalt: Er wundere sich, daß der Zeuge dies bei seiner Vernehmung nicht auch gleich hervorgehoben habe.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte Graf Königsmarck, daß auf ihn nachträglich von keiner Seite eingewirkt worden sei und daß er zu der Familie v. Kröcher keine Beziehungen habe. Er sei jetzt sportlicher Mitarbeiter des „Kleinen Journals“.

Darauf zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Nach einer Viertelstunde trat der Gerichtshof wieder in den Saal. Der Vorsitzende verkündete zur Überraschung aller Anwesenden, daß der Gerichtshof aus eigener Initiative in Beratung darüber getreten sei, ob es nicht angezeigt sei, die Angeklagten mit Rücksicht sicht darauf, daß ein Fluchtverdacht nicht mehr vorliege, aus der Haft zu entlassen. Der Oberstaatsanwalt beantragte, vor der Beschlußfassung das Protokoll über die frühere Aussage des Grafen Königsmarck zur Verlesung zu bringen, denn auf Grund dieser seien die Angeklagten gerade in Haft behalten worden. Nachdem die Verteidiger für die Haftentlassung eingetreten waren und die Angeklagten die Erklärung abgegeben hatten, daß sie sich einer weiteren Verhandlung nicht entziehen würden, beschloß der Gerichtshof, die Angeklagten aus der Haft zu entlassen.

Am fünften Verhandlungstage war von dem Zeugen Ernst v. Gersdorff ein Schreiben an den Vorsitzenden eingegangen. Er teilte darin mit, daß er noch krank und nicht imstande sei, vor Gericht zu erscheinen; es liege ihm aber daran, vernommen zu werden; er bitte um kommissarische Vernehmung. Er bestritt gleichzeitig die Ansicht des Angeklagten v. Kayser, daß er über diesen in der Voruntersuchung ungünstige Aussagen gemacht habe. Er versicherte, daß er über ihn absolut nichts Böses sagen könne, sondern ihn für einen hochanständigen Mann halte.

Von dem ehemaligen Klubdiener Montagli war eine Nachricht aus London eingegangen, wonach er vor Gericht erscheinen wolle und auf dem Wege hierher sei.

Ehe in die Verhandlung eingetreten wurde, bat Graf Königsmarck zu einer Erklärung ums Wort. Er beschwerte sich, daß in der Presse es so dargestellt worden sei, als wenn er schuld an der monatelangen Untersuchungshaft der Angeklagten gewesen sei.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Er habe gestern nur gesagt, daß die vom Grafen Königsmarck in der Voruntersuchung abgegebene Aussage nach seinem Dafürhalten mitgewirkt habe, die Angeklagten in Haft zu behalten.

Zeuge Hauptmann v. Unger berichtigte eine unrichtige Mitteilung in der Presse. Nicht ein Herr v. Alvensleben, sondern ein Herr v. Maltzahn habe mit ihm über den Angeklagten v. Kröcher in etwas ungünstigem Sinne gesprochen. Der Zeuge bestritt, daß er mit Herrn v. Manteuffel über den Angeklagten v. Kröcher gesprochen und sich ungünstig geäußert habe. Herr v. Manteuffel muß sich in der Person geirrt haben.

v. Manteuffel gab die Möglichkeit eines Irrtums zu.

Landrat v. Wackerbarth (in der Uniform eines Hauptmanns der Reserve) bestätigte, daß der Angeklagte v. Kayser bei ihm in Kottbus als Referendar fleißig und tüchtig gearbeitet habe. Seine Arbeiten waren so exakt geschrieben, wie er es eigentlich noch nie gesehen habe.

Vors.: Wann war Herr v. Kayser bei Ihnen beschäftigt?

Zeuge: Vom Februar bis September 1897.

Oberstaatsanwalt: Hat v. Kayser einmal eine Dame in Kottbus bei sich gehabt? War er oft in Berlin?

Zeuge: Er war wohl hin und wieder in Berlin. Ob eine Dame in Kottbus war, weiß ich nicht. Ich habe später davon gehört, gesehen habe ich sie nicht.

Oberstaatsanwalt: Von einem besonders luxuriösen Leben des Herrn v. Kayser haben Sie wohl nichts bemerkt?

Zeuge: Nein.

Vert. Dr. Schachtel: Hat sich nicht Herr v. Kayser für einen Rennverein interessiert und Statuten ausgearbeitet?

Zeuge: Ich kann das bestätigen. Herr v. Kayser hatte viel Geschick für solche Arrangements.

Der Angeklagte v. Kayser gab zu, daß ihn Fräulein Voigt einmal in Kottbus besucht habe.

Geh. Reg. Rat a.D. Freitag, der Repetitorien für Regierungsreferendare gab, stellte dem Angeklagten v. Kayser das Zeugnis eines tüchtigen, ernststrebenden Mannes aus, der in der Vorbereitungszeit bemüht gewesen sei, sich theoretisch weiterzubilden.

Regierungsrat v. Buggendorf von der Regierung in Frankfurt a.d.O.: Er habe dieselbe günstige Meinung über den Angeklagten v. Kayser; er glaube auch nicht, daß v. Kayser großen Aufwand getrieben habe.

Sodann wurde Redakteur des „Sporn“, Fölzer als Zeuge vernommen. Er bekundete, daß v. Manteuffel ihm allerdings einmal in einer Unterhaltung nahegelegt habe, die Herren vom „Klub der Harmlosen“ vor unsauberen Elementen zu warnen. Er selbst sei nie im Klub gewesen, stehe aber den Herren, die dem Rennsport huldigen, nahe; er habe aber nicht Gelegenheit gefunden, die Warnung des Herrn v. Manteuffel weiterzugeben, speziell nicht an die Angeklagten. Er wisse sich nicht zu erinnern, daß v. Manteuffel ihm den Namen Wolff genannt habe; v.M. habe auch nur ganz allgemein gesprochen und nicht etwa gesagt, daß die Warnung speziell an v. Kayser und v. Kröcher weitergegeben werden solle. Er (Zeuge) habe sich darauf beschränkt, einige ihm bekannte Offiziere im allgemeinen aufzufordern, doch nicht mehr in den Spielklub im Zentralhotel zu gehen. Ein außerordentlich großes Gewicht habe er der Mitteilung des Herrn v. Manteuffel nicht beigelegt, er habe das Gefühl gehabt, daß v. Manteuffel nur einen Skandal vermeiden wollte. Letzterer habe übrigens eine Rückfrage, ob die Warnung erfolgt sei, nie gehalten. Den Angeklagten v. Schachtmeyer kenne er nicht.

Dr. Leo Leipziger: Der Angeklagte von Kayser habe früher für das „Kleine Journal“ Artikel „Aus der Gesellschaft“ geschrieben. Nachdem der erste Artikel im „Berl. Tageblatt“ erschienen war, kamen eines Tages v. Kayser und v. Kröcher zu ihm und baten um Aufnahme eines Artikels „Der Hintermann des Berliner Tageblattes“, in welchem ausgeführt wurde, daß Dr. Kornblum, der Gewährsmann des „Tageblattes“, nur Rache für seinen Ausschluß aus dem Spielklub nehmen wollte. Zwei Tage, nachdem der Artikel im „Kleinen Journal“ erschienen war, erhielt er von Herrn v. Manteuffel einen Brief; darin wurde er aufgefordert, den Einflüsterungen über Dr. Kornblum kein Gehör zu schenken. Kornblum sei nach seiner Meinung ein hochachtbarer Herr, ein Gentleman, es sei nicht wahr, daß Ermittelungen gegen Dr. K. wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels eingeleitet seien. Man sei es der Ehre des Mannes schuldig, solche falschen Nachrichten nicht in die Presse zu lancieren.

Auf Befragen gab von Manteuffel zu, daß tatsächlich Ermittelungen wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels gegen Kornblum schwebten; ihm sei es aber darauf angekommen, daß Dr. K. nicht gewarnt und etwa zur Flucht veranlaßt werden könnte.

Dr. Leipziger: Vom Standpunkt der Presse muß ich es für mindestens eigentümlich halten, daß Kriminalkommissar von Manteuffel, der mir in demselben Briefe seine Dankbarkeit für eine Gefälligkeit ausdrückte, sich bemühte, eine ganz falsche Nachricht in die Presse zu lancieren.

R.-A. Dr. Schachtel: Ich stelle also fest, daß das, was v. Manteuffel in dem Briefe geschrieben, das „Gegenteil der Wahrheit“ gewesen ist.

v. Kayser: Es ist interessant, daß v. Manteuffel, der tatsächlich wußte, daß schon lange ein Verfahren wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels gegen Dr. Kornblum schwebte, diesen für einen hochanständigen Mann gehalten hat.

Dr. Leipziger: Leider habe ich Herrn v. Manteuffel Glauben geschenkt, und so habe ich mich denn veranlaßt gesehen, die Herren v. Kröcher und v. Kayser zu desavouieren. Die Folge war, daß die gegnerischen Blätter über mich herfielen.

R.-A. Dr. Schachtel wünschte in ziemlich erregt verlaufenden Auseinandersetzungen Auskunft über folgendes: Herr v. Manteuffel ist der einzige, der gegen Herrn v. Kayser Ermittelungen angestellt hat und auf dessen Ermittelungen die ganze Anklage beruht. v. Manteuffel hat hier unter seinem Eide erklärt, daß gegen v. Kayser von keiner anderen Seite Verdächtigungen erhoben worden seien und daß auch Dr. Kornblum gesagt habe, er könne Herrn v. Kayser nichts Ehrenrühriges nachsagen. Wie ist es nun möglich, daß trotz alledem, jedenfalls auf Grund der Stellungnahme des Herrn v. Manteuffel, die Verhaftung des Herrn v. Kayser stattfinden und die Untersuchungshaft acht Monate andauern konnte?

v. Manteuffel: Ich bin für die Verhaltung nicht die verantwortliche Stelle.

Über die Frage, ob und wer verantwortlich für die Verhaftung v. Kaysers sei und weshalb die Verhaftung beschlossen worden sei, entspann sich eine sehr lebhafte Erörterung zwischen dem Oberstaatsanwalt, der Verteidigung und Herrn v. Manteuffel. Letzterer meinte, daß doch eine Reihe von Momenten vorlag, die die Verhaftung rechtfertigen konnten, beispielsweise daß Papiere weggeschafft worden waren und Gefahr vorlag, daß der Tatbestand verdunkelt würde.

Der Oberstaatsanwalt lehnte es ab, über die Veranlassung zur Verhaftung, die auf inneren Gründen beruhe, nähere Auskunft zu geben. Die Verhaftung sei von den maßgebenden Instanzen als gerechtfertigt anerkannt worden. Das genüge. Er müsse auch hervorheben, daß vor der Verhaftung die eidliche Vernehmung des Grafen Königsmarck liege.

In sehr lebhafter Weise wünschte v. Kayser eine Aufklärung von Herrn v. Manteuffel, wie er zu der ungeheuerlichen Behauptung gekommen sei, daß er (Angekl.) in der Wohnung der Frau Frieda Voigt „Leute ausgenommen“ habe. Er wünsche eine ganz präzise Antwort.

Zeuge v. Manteuffel berief sich auf Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen seien.

v. Kayser: Kann der Zeuge einen Mann nennen, von dem er dies falsche Gerücht, welches belastend gegen mich verwertet wurde, erhalten hat?

v. Manteuffel: Ich glaube, daß ich vom Grafen Königsmarck so etwas gehört habe.

v. Kayser: Der königliche Kriminalkommissar v. Manteuffel hat zunächst den Vornamen „Frieda“ Voigt gar nicht gekannt, er hat erst geglaubt, es handle sich um ein Fräulein Tilly Voigt.

v. Manteuffel: Ich glaubte zuerst, daß es sich um ein Fräulein Tilly Voigt handelte, die mir noch aus meiner Leutnantszeit in der Erinnerung vorschwebte.

v. Kayser: Wann war die Leutnantszeit des Herrn, v. Manteuffel?

Zeuge: Vor 20 Jahren etwa.

v. Kayser: Da war Frieda Voigt 4 Jahr alt! (Große Heiterkeit.) Ich stelle also fest, daß der königliche Kriminalkommissar v. Manteuffel ohne jeden Anhalt Herrn v. Kröcher gegenüber gesagt hat: „Ach, Herr v. Kayser scheint schon der rechte zu sein, der nimmt ja in der Wohnung der Frieda Voigt die Leute aus.“ Hält der Zeuge dies mit seinem Amte für vereinbar?

v. Manteuffel (erregt): Ich muß doch entschieden bitten, daß hier meine Person von meinem Amte getrennt wird. Ich kann als Beamter sehr wohl in die Lage kommen, an Personen Fragen zu stellen, die den Zweck haben, andere Dinge zu erforschen.

R.-A. Schachtel: Dann werden wir den Herrn Minister des Innern fragen müssen, ob es seinen Intentionen nen entspricht, daß ein königlicher Kriminalkommissar in dieser Weise, lediglich um auf den Busch zu klopfen, über einen Regierungsreferendar solche Gerüchte ohne positiven Untergrund verbreitet.

Vors.: Ich muß doch entschieden bitten, nicht fortgesetzt Ausführungen zu machen, die nicht mit der Sache zusammenhängen.

R.-A. Dr. Schachtel: Diese Ausführungen sind doch sehr wichtig, es handelt sich für uns darum, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu prüfen. Sie wollen doch nicht vergessen, daß sich Herr v. Kayser auch vor dem Minister zu verantworten haben wird und wenn sich herausstellen sollte, daß Herr v. Manteuffel sich solche Dinge aus den fünf Fingern gesogen haben sollte, so wird er vielleicht in die Lage kommen, sich vor dem Minister verantworten zu müssen. Der Herr Minister wird es jedenfalls weit von sich weisen, daß ein solches Verfahren eines königlichen Kriminalkommissars gebilligt werden könnte.

Der Oberstaatsanwalt stellte fest, daß Herr v. Manteuffel gesagt hat, er könne in die Lage kommen, Fragen zu stellen und daß er nur der vorgesetzten Behörde dafür verantwortlich sei, wie er die Untersuchung führe. Der Angeklagte v. Kayser machte darauf aufmerksam, daß v. Manteuffel dem Zeugen Grafen Königsmarck die Verteidigungsschrift v. Kaysers überreicht und gefragt habe, ob das mit dem Amte eines Kriminalkommissars vereinbar sei.

v. Manteuffel erklärte den Fall für unbedenklich, als rein private Handlung. Der Oberstaatsanwalt trat dieser Auffassung bei.

Zeuge, Vizekonsul a.D. Moos bekundete: Er habe nur vor der Eröffnung des Klubs bei den „Harmlosen“ verkehrt. Er habe schon im Winter 1895/96 bei Josty, später bei Hecht, Knoop und Wittkop gespielt. Seit März 1898 habe er nicht mehr gespielt. Im ganzen habe er etwa 16000 bis 20000 M. gehabt. Die Angeklagten kenne er aus der letzten Zeit. An den Angeklagten v. Kayser habe er verloren.

Vors.: Sie haben die Herren v. Kayser und Kornblum als „siamesische Zwillinge“ bezeichnet.

Zeuge: Jawohl, Herr v. Kayser hat ja selbst zugegeben, daß er mit Kornblum befreundet war.

Vors.: Ist sehr hoch gespielt worden?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie sind ja auch Schuldner des Herrn v. Kayser gewesen?

Zeuge: Ich bin es noch. Ich schulde ihm noch eine Restsumme von 1060 Mark. Auch früher habe ich schon einmal eine größere Summe an ihn verloren, wohl über 1000 Mark. Ich habe aber auch von ihm gewonnen.

Der Zeuge bestritt, Wolff näher gekannt zu haben, auch zu den Artikeln des „Berliner Tageblattes“ habe er keine Beziehungen gehabt. Er habe auch die Verteidigungsschrift gelesen. Er glaube, sie im Zeugenzimmer gefunden zu haben.

R.-A. Dr. Schachtel gab Auskunft, daß er die Verteidigungsschrift in 100 Exemplaren habe drucken lassen, damit später der Angeklagte jedem zeigen könne, was gegen ihn vorgelegen habe. Einige wenige Exemplare seien jetzt schon an die Mitglieder des Gerichts und einige Interessenten abgegeben worden.

Zeuge Moos: Er habe einmal bei Hecht den Wolff die Bank halten sehen. Wolff habe stark gewonnen, sonst habe er nichts Auffälliges bemerkt. Der Geleimte sei an diesem Abend Kornblum gewesen. Kornblum habe an diesem Abend wohl über 2000 Mark an Wolff verloren. Der Wagemut Kornblums sei ihm aufgefallen. An jenem Abend seien die drei Angeklagten nicht zugegen gewesen.

Es wurde alsdann das Protokoll über die Vernehmung des Grafen von Königsmarck vor dem Untersuchungsrichter verlesen. Es ergab sich daraus, daß Graf v.K. bei dieser Vernehmung recht ungünstig über den Angeklagten v. Kröcher ausgesagt und sich u.a. dahin geäußert hat, daß der Artikel im „Tageblatt“ nicht übertrieben, sondern in allen wesentlichen Teilen den Tatsachen entspreche. Er halte Herrn v. Kröcher für einen gewerbsmäßigen Spieler, dieser habe sich einmal geweigert, die Karten vom Block abzuziehen, v. Kröcher habe Herrn v. Galy in wenigen Tagen 40000 M., Herrn Baron v. Reccum 20000 Mark abgenommen, v. Kayser habe im Oktober und November zusammen 50-100000 Mark gewonnen.

Graf Königsmarck erklärte hierzu, daß er an dieser beeideten Aussage natürlich festhalte, aber doch folgendes nochmals betonen wolle: Er habe vorher fünf bis sechs Konferenzen mit Herrn v. Manteuffel gehabt, in denen dieser immer wieder sagte, es seien soundso viel Herren vernommen worden, die sehr belastend ausgesagt haben. Außerdem habe er damals viel im Spiel verloren. Nun sei es psychologisch natürlich, daß nach solchen Besprechungen Kleinigkeiten oft in ganz anderem Lichte erscheinen, als wenn man sie ruhigen Blickes betrachte.

Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Herr bestätigte, daß v. Manteuffel ihm allerdings seinerzeit gesagt habe, General v. Kröcher habe selbst seinen Sohn als einen gewerbsmäßigen Spieler bezeichnet, indem er sagte: „Ich weiß ja, daß mein Sohn ein gewerbsmäßiger Spieler ist.“

General v. Kröcher wiederholte seine Aussage. Er habe keineswegs seinen Sohn für einen gewerbsmäßigen Spieler gehalten und glaube kaum, daß er eine solche Wendung gebraucht habe, denn er habe damals noch gar nicht gewußt, was eigentlich gewerbsmäßiges Spiel sei, sondern Herrn v. Manteuffel erst danach gefragt. Er wolle indessen offen anerkennen, daß in diesem vertraulichen Gespräch Herr v. Manteuffel eine von ihm (Zeugen) in dem Zustande größter Aufregung getane Bemerkung mißverstanden haben könne.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Die Staatsanwaltschaft legt auf diese Bemerkung eines in voller Bestürzung über die Verhaftung seines Sohnes befindlichen Vaters keinen Wert. Wenn General v. Kröcher das Gespräch mit Herrn v. Manteuffel damals als vertrauliches gehalten hat, so wird er doch wissen, daß v. Manteuffel amtlich verpflichtet war, mit seiner Kenntnis nicht zurückzuhalten.

General v. Kröcher: Er habe das damals allerdings nicht gewußt.

Landgerichtsrat Herr wurde alsdann auch noch über das Protokoll betr. die Vernehmung des Grafen Königsmarck vernommen. Die Aussage des Grafen Königsmarck sei der Hauptgrund gewesen, die Haft gegen v. Kröcher und v. Kayser zu beschließen. Landgerichtsrat Herr trat mit großem Nachdruck für die Zuverlässigkeit der Protokolle ein, die mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser Sache besonders penibel und äußerst sorgfältig abgefaßt seien und eine ungeheure Arbeit verursacht hätten. Er müsse absolut verneinen, daß Graf v. Königsmarck bei der Vernehmung den Eindruck eines präokkupierten Zeugen gemacht macht habe. Im Gegenteil, er habe den Eindruck gehabt, daß im Gegensatz zu manchem anderen Zeugen Graf K. ein Zeuge sei, der redlich sich bemühte, die volle Wahrheit zu sagen. Er habe mit Verwunderung gelesen, daß Graf K. gestern behauptet habe, sein Brief an Herrn v. Kröcher, in welchem er ihm schrieb, man sei auf ihn aufmerksam, sei nur „Scherz“ gewesen. Davon sei bei der Vernehmung gar keine Rede gewesen, im Gegenteil, es sei bitterer Ernst gewesen! Bei der Verhaftung des Angeklagten v. Kayser habe auch die Behauptung des Grafen K. eine Rolle gespielt, daß v. Kayser und v. Kröcher zusammen getuschelt hätten und v. Kayser wegen jenes Briefes dem Grafen Königsmarck Vorwürfe gemacht habe.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Hat Herr v. Manteuffel auf die Protokolle irgendwelchen Einfluß ausgeübt?

Landgerichtsrat Herr: Ich habe Herrn v. Manteuffel zu den Vernehmungen, bei denen es sich um Einzelheiten des Bakkarats handelte, zugezogen. Ich übernehme jede Verantwortlichkeit für die Zuverlässigkeit der Protokolle; Herr v. Manteuffel hat mir allerdings bei der Redaktion und der Niederschrift der Protokolle geholfen, ich habe aber immer, sobald ein Zeuge durch irgendeine Geste anzeigte, daß er nicht ganz richtig verstanden sei, durch eingehende Fragen die Sachen genau festgestellt. Der Zeuge wies alsdann noch auf die unendlichen Schwierigkeiten hin, die bei der Erledigung der Voruntersuchung zu überwinden waren, das Peinliche zu ersparen; er habe das Menschenmögliche geleistet, um die Voruntersuchung verhältnismäßig schnell abzuschließen. Dies sei am 20. April geschehen. Daß die Angeklagten vom 20. April bis jetzt gesessen haben, sei nicht seine Schuld.

General v. Kröcher und Gattin erklärten sich auf Befragen bereit, ihre Aussagen zu beeidigen. Der Gerichtshof verzichtete auf diesen Eid, wobei der Vorsitzende hervorhob, daß der Gerichtshof in der Lage sei, auch ohne Eid diesen Aussagen vollen Glauben beizumessen.

Es folgte die Vernehmung mehrerer Zeugen, die mit den Angeklagten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gespielt haben. Der eine bekundete, daß im Viktoriahotel v. Kröcher einen „Riesen-Dusel“ an einzelnen Abenden gehabt habe. Solchen Dusel haben aber manche Spieler, v. Schachtmeyer habe nur klein gespielt, v. Kayser sei ein riskierter Spieler gewesen. Verdächtiges habe sich beim Spiel nicht gezeigt, auch das „Zukaufen auf Sechs“ sei nicht auffällig gewesen.

Gutsbesitzer D. Schrader wurde über das schon mehrfach erwähnte Spiel in Wiesbaden, an welchem auch v. Kröcher, v. Schachtmeyer und Wolff teilnahmen, vernommen. Die Anklagebehörde war der Meinung, nung, daß hier ein zwischen den dreien abgekartetes Spiel vorgelegen habe und es nur darauf angekommen sei, Herrn v. Schrader „auszunehmen“.

Angeklagter v. Kröcher bestritt dies ganz entschieden. Es sei nicht wahr, daß er Wolff als einen „reichen Franzosen“ vorgestellt und dem Zeugen v. Schrader erst Geld habe leihen müssen, damit er spielen konnte.

v. Schrader bekundete, daß das Spiel in keiner Weise Verdacht bei ihm erregt, sondern in ganz fairer Weise vor sich gegangen sei.

Die nächste Zeugin war die Schauspielerin Lona Kussinger, die seinerzeit vorübergehend im Zentraltheater engagiert war. Die 19jährige, schneidig gekleidete, hübsche Dame hatte den Angeklagten v. Kröcher in Berlin kennengelernt.

Vors.: Wo war denn das?

Zeugin: Ich kann mich nicht darauf besinnen.

Vors.: War es in den Amorsälen oder Blumensälen oder solchen Orten?

Zeugin: Solche Orte besuche ich nicht.

Vors.: Oder war es in der American Bar?

Zeugin: Das weiß ich wirklich nicht.

Vors.: Sie haben ein Verhältnis mit Herrn v. Kröcher gehabt?

Zeugin: Ja, aber nur drei Wochen lang.

Vors.: Hat Herr v. Kröcher großen Aufwand für Sie gemacht?

Zeugin: O bewahre!

Vors.: Haben Sie nicht zusammen diniert und soupiert und viel Geld ausgegeben?

Zeugin: Nein, das hat nicht viel gekostet. Wir verkehrten gewöhnlich im Savoy-Hotel.

Vors.: Na, da pflegt man auch nicht Weißbier zu trinken. (Heiterkeit.)

Zeugin: Wir haben ja manchmal Sekt getrunken, zumeist aber Pilsener Bier und die Rechnung der Mahlzeiten war nicht sehr groß.

Die Zeugin bestritt des weiteren, daß v. Kröcher ihr kostbare Geschenke gemacht habe. Sie habe weder Brillantringe noch Wohnungsmiete von ihm erhalten, v. Kröcher habe vielmehr nur einmal eine Schneiderrechnung von etwa 150 M. für sie bezahlt und ihr einen Fächer geschenkt, der etwa 140 M. gekostet haben dürfte.

Kriminalkommissar Damm, der alsdann als Zeuge vernommen wurde, wußte nichts Wesentliches zu bekunden. Graf Königsmarck war einmal bei ihm und habe ihm gesagt, daß ein Jeuklub begründet werden solle. Er wünsche zu wissen, was da zu tun sei und ob eine polizeiliche Anmeldung notwendig sei?

Er, Zeuge, habe geantwortet, daß das Spielen in einem Klub an sich nicht strafbar sei, man müsse sich aber vor dem Eindringen schmutziger Elemente hüten. Er habe dem Grafen ferner gesagt, daß er nähere Auskunft über die Pflicht zur Anmeldung in der betreffenden Abteilung des Polizeipräsidiums erhalten könne. Als dann der Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen war, habe er dem Polizeidirektor v. Meerscheid-Hüllesem mitgeteilt, daß Graf Königsmarck damals wegen der Begründung eines Klubs bei ihm war.

Die Angeklagten behaupteten, daß sie geglaubt hätten, durch die Unterhaltung des Grafen Königsmarck mit dem Kriminalkommissar Damm sei die polizeiliche Anmeldung, wenn es einer solchen bedürfe, erledigt.

Am sechsten Verhandlungstage erbat sich Kriminalkommissar v. Manteuffel das Wort: Es ist mir vorgeworfen worden, daß ich wissentlich die Unwahrheit gesagt hätte, indem ich den bekannten Brief an Dr. Leipziger richtete, der den Satz enthält, daß gegen Dr. Kornblum kein Ermittelungsverfahren wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels schwebe. Ich erkläre hiermit, daß ich tatsächlich keine Ermittelungen wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels gegen Dr. Kornblum angestellt hatte, und wenn gegenteilige Behauptungen in der Presse aufgestellt werden, so habe ich nochmals darauf hinzuweisen, daß ich Konferenzen mit dem Oberstaatsanwalt Drescher und dem Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Herr gehabt habe. Damals war ich als Sachverständiger zugezogen worden den und habe Kenntnis davon bekommen, daß gegen Dr. Kornblum eine Untersuchung beschlossen war. Ich habe sofort ganz bestimmt meiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß Dr. Kornblum vollständig intakt war, und das gründete sich auf folgendes: Ich hatte ohne behördlichen Auftrag, lediglich um das Terrain zu sondieren, Ermittelungen angestellt, die sich auf die Person des Dr. Kornblum bezogen. Und auf Grund dieser Ermittelungen habe ich sofort mitgeteilt, daß absolut kein Grund vorläge, weitere Ermittelungen gegen Dr. K. anzustellen, weil 1. Dr. K. im Besitz eines bedeutenden Vermögens war, 2. weil er keinen Anhang in den Kreisen gewerbsmäßiger Spieler hatte, 3. weil er aus einer anständigen Familie stammte und 4. weil mir gesagt wurde, daß nichts gegen Dr. Kornblum vorliege als ganz beweislose Verdächtigungen. Ich bin also nicht mit Ermittelungen gegen Dr. Kornblum beauftragt worden und habe auch keine angestellt.

Auf eine Frage des Oberstaatsanwalts Dr. Isenbiel erklärte v. Manteuffel weiter: Meine Befugnis, auf den Artikel im „Kleinen Journal“ über Dr. Kornblum zu antworten, um eine Preßfehde zu unterdrücken, gründete sich auf einen ausdrücklichen Auftrag des Landgerichtsrats Herr, der es für zweckmäßig hielt, daß Dr. Kornblum durch Artikel der Presse nicht vor den Kopf gestoßen werde.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Wir müssen uns unsere Stellungnahme zu diesen Äußerungen des Zeugen v. Manteuffel, die ja ganz überraschend gekommen sind, vorbehalten. Ich kann nur sagen, eine ganze Reihe von Personen aus Spielerkreisen behaupten, daß v. Manteuffel und Dr. Kornblum schon längere Zeit miteinander bekannt waren.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Bei Vernehmung des Dr. Leipziger hat der Angeklagte v. Kayser gesagt, er habe durch einen Vertrauensmann die Akten einsehen lassen und erfahren, daß ein Verfahren gegen Dr. Kornblum schwebe.

Angekl. v. Kayser: Er habe es von einem ihm bekannten Referendar gehört, dessen Namen er aber nicht nennen wolle.

Der Vorsitzende teilte ein Schreiben des Generalkommandos mit, wonach der Angeklagte v. Kröcher aus Gesundheitsrücksichten zur Reserve übergetreten sei.

Gerichtsassessor Dr. v. Mörs: Er habe auch eine Zeitlang an Spielabenden teilgenommen, an der Begründung des Klubs sich aber nicht beteiligt, sondern sich vorher gänzlich zurückgezogen. Auf eine Frage des Vorsitzenden bestätigte er, daß er einmal eine größere Summe vom Angeklagten v. Kayser gewonnen habe, daß damals v. Kayser etwas „im Brand“ war und seine Schuld erst etwas später reguliert habe. Er sei aber auch häufig Schuldner des Angekl. v. Kayser gewesen. Dieser habe auch einmal einen höflichen Brief an ihn gerichtet, in welchem er an die Tilgung einer kleinen Schuld mahnte. Wolff habe er nicht näher gekannt; er würde es aber vorgezogen haben, nicht mit ihm zu spielen, denn ein alter Herr, der sich in die Gesellschaft junger Leute eindränge, erscheine ihm von vornherein verdächtig. Er habe auch gehört, daß einmal ein Mann, namens Wolff, den Fabrikbesitzer Prins-Reichenheim stark gerupft habe. Er (Zeuge) habe den unbestimmten Verdacht gehabt, daß dies vielleicht derselbe Wolff sei, der jetzt an den Spielabenden teilnehme. Wer Wolff eingeführt habe, wisse er nicht. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erklärte der Zeuge, es sei keine Rede davon, daß er von dem Angeklagten zum Spiel besonders animiert worden sei. Richtig sei es, daß nach seiner Meinung der Angeklagte v. Kröcher fast nie verloren, sondern zumeist gewonnen habe; ob er auch in auffälliger Weise oft größere „Seeschlangen“ gehabt habe, wisse er (Zeuge) nicht.

Vors.: Was wissen Sie von der Lebenshaltung des Angeklagten v. Kröcher?

Zeuge: Es kam mir so vor, daß v. Kröcher großen Aufwand trieb, denn er hielt sich einen Wagen und eine Mätresse.

Vors.: Wie hoch schätzten Sie den jährlichen Aufwand wand des Angeklagten v. Kröcher?

Zeuge: Ich schätzte ihn auf 20 bis 25000 Mark.

Justizrat Dr. Sello: Hat Herr v. Kayser auch zumeist gewonnen?

Zeuge: Ich habe Herrn v. Kayser öfter verlieren als gewinnen sehen.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Ihren Verdacht bezüglich des Wolff den Angeklagten einmal geäußert?

Zeuge: Ich habe einmal in der Englischen Bar über Wolff mit den Angeklagten gesprochen und mich etwa dahin geäußert: Ihr habt ja einen recht dunkeln Ehrenmann bei euch aufgenommen. Auf die Frage, wer dies sei, habe ich Wolff genannt; die Angeklagten v. Kröcher und v. Kayser haben den Verdacht mit allem Nachdruck bestritten und behauptet, daß Wolff gewissermaßen ein reiner Engel sei.

Der Zeuge trat alsdann mit großem Nachdruck der von v. Kayser geäußerten Ansicht entgegen, daß er (v. Mörs) mit Dr. Kornblum gemeinschaftliche Sache gemacht habe, um v. Kayser auf die Anklagebank zu bringen. Diese ungeheuerliche Verdächtigung müsse er entschieden zurückweisen. Dr. Kornblum habe ihn einmal nach dem Erscheinen des Tageblattartikels gebeten, als Kartellträger für ihn bei dem Angeklagten v. Kayser zu fungieren. Er habe Dr. Kornblum zunächst gesagt, er halte denjenigen, der den Artikel gebracht, für ein „Schwein“ und könne ihm die Ehre, für ihn Kartellträger zu sein, nur antun, wenn er die Versicherung gebe, daß er nicht der Verfasser des Artikels sei. Diese Versicherung habe Dr. Kornblum – wie ja nun feststeht, fälschlich – gegeben; die Differenz mit Herrn von Kayser sei gütlich beigelegt worden. Dies sei der einzige Zusammenhang, in dem er mit Dr. Kornblum gestanden. Er habe Dr. Kornblum wiederholt gesagt, er solle sich vor Herrn v. Manteuffel in acht nehmen, mit einem Polizeikommissar lasse sich ein anständiger Mensch nicht in der Weise ein, daß er ihm Informationen gebe.

v. Kayser: Herr v. Mörs wird zugeben, daß er sich auch durch Herrn Dr. Kornblum hat täuschen lassen; ich habe aus den Verhältnissen zu meinem Leidwesen den falschen Schluß gezogen, daß er mit Dr. Kornblum zusammenhalte.

Der Zeuge Dr. v. Mörs protestierte schließlich energisch dagegen, daß eine gerichtliche Zustellung an ihn nicht habe bestellt werden können, und daß das Gerücht verbreitet wurde, er sei „verduftet“. Das sei eine böswillige Erfindung, die ihn in seiner Ehre als Mensch und Beamter empfindlich kränken mußte. Er sei, als die Vorladung an ihn erging, verreist gewesen, habe aber bei der Post gebeten, daß ihm Eingänge nachgeschickt werden. Wenn dann der betreffende Vorladungsbrief einfach auf der Post niedergelegt wurde, so sei dies nicht seine Schuld.

v. Manteuffel erklärte mit erhobener Stimme, daß die Sache hier wieder so „gedreht“ zu werden scheine, als ob er absichtlich die Vorladung in dieser Form erledigt habe. Er habe ausdrücklich den schriftlichen Auftrag erhalten, die Vorladung, weil die Bestellung unausführbar sei, auf der Post niederlegen zu lassen.

Zeuge Dr. v. Mörs: Eine einfache Anfrage bei der Post hätte genügt. Daß Herr v. Manteuffel aber, wie doch unbestreitbar ist, im „Kleinen Journal“ solche Gerüchte über mich verbreiten läßt, geht doch über meinen Horizont.

Oberstaatsanwalt: Die Staatsanwaltschaft und Herrn v. Manteuffel kann in Sachen der Vorladung gar kein Vorwurf treffen.

Nachdem Rechtsanwalt Dr. Schachtel und Justizrat Dr. Sello von dem Zeugen nach den verschiedensten Richtungen Auskunft über Vorgänge erforderten, die in dem Protokoll eine Färbung zuungunsten der Angeklagten erhalten hatten, fragte Rechtsanwalt Dr. Schwindt, ob dem Zeugen bekannt sei, daß Dr. Kornblum mit Herrn v. Manteuffel wiederholt freundschaftlich verkehrt habe.

Zeuge Dr. v. Mörs; Er habe Dr. Kornblum wiederholt in der Potsdamer Straße getroffen. Dieser habe mehrfach behauptet, daß v. Manteuffel ihm vieles gesagt habe, wie die Zeugen ausgesagt haben. Dr. Kornblum sei nach seinen Behauptungen alle naselang mit Herrn v. Manteuffel zusammengewesen.

R.-A. Dr. Schwindt: Haben Sie auch Briefe gesehen, die Dr. Kornblum von Herrn v. Manteuffel erhalten hat?

Zeuge: Jawohl.

R.-A. Dr. Schwindt: Haben Sie die Überzeugung, daß diese Briefe die Behauptungen des Dr. Kornblum stützten?

Zeuge: Gewiß.

R.-A. Dr. Pincus: Bestätigt der Zeuge, daß der Angeklagte v. Schachtmeyer nur mit niedrigen Sätzen pointiert hat.

Zeuge: Jawohl. Ich habe Herrn v. Schachtmeyer als äußerst anständig in jeder Beziehung kennengelernt.

v. Manteuffel: Es sieht so aus, als hätte ich dem Dr. Kornblum Mitteilungen gemacht über das, was v. Kröcher bei seiner Vernehmung ausgesagt hat. Ich erkläre ausdrücklich, daß es umgekehrt ist, ich erfuhr die den Herrn v. Kröcher betreffenden Mitteilungen vom Dr. Kornblum. Dieser hatte mir gegenüber auch seine Verwunderung ausgesprochen, daß gegen Wolff nicht ein Haftbefehl erlassen sei.

Es folgte die Vernehmung des Studenten Hans v. Gersdorff aus Leipzig: Ich habe zuerst vor etwa drei Jahren im Viktoriahotel an dem Spiel teilgenommen, dann nach längerer Zeit wieder im Zentralhotel.

Vors.: Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die Angeklagten klagten in der „American Bar“ Kavaliere darauf aufmerksam machten, daß da und da gespielt wurde?

Zeuge: Nein, das war allgemein bekannt.

Vors.: Kannten Sie Herrn Wolff?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Welchen Eindruck machte er auf Sie?

Zeuge: Einen guten, es war ein ungeheuer freundlicher Herr. Ich habe wiederholt neben ihm gesessen, wenn er die Bank hielt.

Vors.: Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß er besonderes Glück hatte?

Zeuge: Ja, er gewann ja häufig, aber ich habe auch gesehen, daß er verlor.

Vors.: Hat er nicht bestimmten Herren gegenüber sich geweigert, sich am Spiel zu beteiligen mit dem Bemerken, daß die Karten einen zu großen Respekt vor ihnen hätten?

Zeuge: Ja, das hat er einmal gesagt, ich habe aber etwas Verfängliches nicht darin gefunden. Solche Redensarten macht man wohl mal. Es kommt auch vor, daß einer der Spieler äußert: „Gegen den Herrn setze ich nicht mehr!“ Das sagt man z.B., wenn der Bankhalter großen „Dusel“ hat; dies gibt zu irgendwelchen für den Bankhalter nachteiligen Schlußfolgerungen keine Veranlassung. Ich habe immer die Ansicht gehabt, daß völlig korrekt verfahren wurde, bin aber erst durch die fortgesetzten Andeutungen des Herrn v. Manteuffel, daß dies nicht der Fall war, zu einer anderen Ansicht gelangt. Meine Vernehmung hat unter eigentümlichen Verhältnissen stattgefunden.

Vors.: Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß dem Wolff einmal ein besonderes Entgegenkommen gezeigt wurde, als er es ablehnte, die Bank zu halten?

Zeuge: Ja. Es war Gebrauch, daß ein Spieler, der die Bank übernahm, bei der Übernahme 20 M. und bei der Abgabe wieder 20 M. an die „Pinke“ abzuführen hatte. Wolff legte nur 20 M. in die Pinke, ohne daß einer der Direktoren Veranlassung nahm, dies zu monieren.

Auf Antrag des Verteidigers R.-A. Dr. Schachtel wurde der Zeuge ersucht, den Gang seiner Vernehmung im Zusammenhange zu erzählen.

Zeuge v. Gersdorff: Ich bekam nach Leipzig ein Schreiben von Herrn v. Manteuffel, worin er mir mitteilte, daß meine Vernehmung notwendig sei, ich möchte auf einen Tag nach Berlin kommen. Ich antwortete, daß ich am kommenden Sonntag in Berlin sein und im Minervahotel absteigen würde. Hoffentlich könne meine Vernehmung trotz des Sonntags erfolgen. Herr v. Manteuffel stellte sich im Hotel ein und näherte sich mir gewissermaßen kameradschaftlich. Wir begaben uns zum Landgerichtsrat Herr nach Moabit. Unterwegs fragte er mich, was ich von der Sache wisse. Ich erklärte zunächst, daß der Artikel im „Berliner Tageblatt“ unwahr sei. Dann hat Herr v. Manteuffel mich allmählich suggeriert, indem er mir vorhielt, daß Wolff verschwunden sei und viele Tatsachen dafür sprächen, daß es nicht korrekt zugegangen sei. Ich mußte mir sagen, daß alle die kleinen Tatsachen zusammengehalten und unter einem bestimmten Gesichtswinkel vor Augen geführt, wohl dafür sprächen, daß die Ansicht des Herrn v. Manteuffel richtig sein könne. Meine Vernehmung konnte an dem Sonntage nicht erfolgen. Herr v. Manteuffel hat dann aus der Unterhaltung mit mir einen langen Bericht gemacht und mir Aussagen in den Mund gelegt, von denen ich nichts wußte.

R.-A. Dr. Schachtel erklärte, es liege der Verteidigung daran, nachzuweisen, daß die Zeugenaussagen unter dem Einfluß des Herrn v. Manteuffel zustande gekommen seien.

Der Zeuge erklärte ferner auf Befragen, daß, als er das zweitemal vernommen wurde, es ihm auffiel, daß zwischen dem Untersuchungsrichter und ihm fortwährend Mißverständnisse vorkamen, die er für unerklärlich gehalten hat. Endlich sei ihm das schriftliche Protokoll vorgelesen worden und er habe darauf bestehen müssen, daß einzelne Sätze aus dem Protokoll gestrichen wurden. Er sei zu der Überzeugung gekommen, daß v. Manteuffel den Landgerichtsrat Herr ebenso beeinflußt habe, wie ihn, und zwar durch den Bericht des Herrn v. Manteuffel über die von diesem vorher vorgenommene informatorische Vernehmung. Es wäre ihm sehr interessant, diesen Bericht auch einmal kennenzulernen, um zu sehen, inwieweit er den Tatsachen entspreche.

v. Manteuffel: Er habe dem Landgerichtsrat Herr nur das mitgeteilt, was er von Herrn v. Gersdorff gehört habe.

Zeuge v. Gersdorff: Wie wenig ich bei der Vernehmung der Ansicht war, daß falsch gespielt worden, geht daraus hervor, daß ich vor dem Untersuchungsrichter sagte, man macht sich jedenfalls ein völlig falsches Bild von den Vorgängen. Der Untersuchungsrichter sagte mir aber, daß sich dies meiner Beurteilung entzöge.

Ein Beisitzer wünschte zu wissen, ob dem Zeugen mit klaren Worten gesagt worden sei, daß das Falschspiel bereits erwiesen sei?

Zeuge: Ja, positiv, von Herrn v. Manteuffel und Herrn Landgerichtsrat Herr. Ich wiederhole, daß das Protokoll an sich durchaus Richtiges über meine Aussagen enthält, daß aber diese immer unter dem Eindruck der mir gewissermaßen suggerierten Überzeugung standen, es sei entschieden falsch gespielt worden. Wenn die Fiktion des Falschspiels weggenommen wird, dann bleiben nur Vorgänge übrig, die ganz unverdächtig sind und überall vorkommen. Ich habe nachher das unangenehme Gefühl gehabt, daß ich über den Löffel barbiert sei.

Der Zeuge betonte noch, daß bei seiner Vernehmung an einzelnen Ausdrücken längere Zeit „herumgewürgt“ worden sei, ehe es gelang, das niederzuschreiben, was er wirklich habe sagen wollen.

Oberstaatsanwalt: Der Zeuge hat doch das Protokoll unterschrieben und Wort für Wort als richtig anerkannt.

Zeuge: Das ist richtig, aber ich bleibe dabei, daß, wenn die Fiktion des Falschspiels genommen wird, verdächtige Momente nicht übrigbleiben.

Das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen v. Gersdorff wurde hierauf in Gegenwart des herbeigerufenen Landgerichtsrats Herr verlesen. v. Gersdorff: Er erkenne das Protokoll Wort für Wort als richtig an, bleibe aber bei seiner vorherigen Bemerkung.

Landgerichtsrat Herr: Er konstatiere vor der Öffentlichkeit, daß das Protokoll mit der außerordentlichsten Gewissenhaftigkeit aufgenommen und daß der Zeuge von keiner Seite beeinflußt worden sei. Er wiederhole, daß er jedes Wort des Protokolls aufrechterhalte und die Verantwortung dafür übernehme. Wort für Wort habe er dem Zeugen das Protokoll vorgelesen und über einzelne Sätze sei 1 1/2 Stunden gesprochen worden. Die Vernehmung des Zeugen sei eine der schwierigsten gewesen, die ihm vorgekommen. men.

Zeuge v. Gersdorff: Infolge des Berichts des Herrn v. Manteuffel!

Oberstaatsanwalt: Hat der Herr Untersuchungsrichter dem Zeugen v. Gersdorff gesagt: Der Beweis des Falschspiels sei bereits „erbracht“?

Zeuge Landgerichtsrat Herr: Nein, ich habe ihm nur gesagt, es seien bereits Momente ermittelt, die unter Umständen dafür sprechen könnten.

Zeuge v. Gersdorff: Aber Herr v. Manteuffel hatte vorher schon im Korridor dies gesagt.

Auf Antrag der Verteidigung wurde der Bericht verlesen, den v. Manteuffel über seine erste Unterhaltung mit dem Zeugen v. Gersdorff dem Untersuchungsrichter erstattet hatte.

v. Gersdorff: Von der Bestimmtheit, die in jenem Bericht zum Ausdruck gekommen, ist gar keine Rede gewesen. Einzelne Sachen, die in dem Protokoll als von mir bekundet, angegeben worden, habe ich gar nicht aus eigenem Antrieb erzählt, sondern v. Manteuffel hat sie mir erzählt und ich habe nur bestätigt, daß ich mich an solche Vorgänge erinnere. Warum hat denn v. Manteuffel mir nicht gesagt, daß er mich vernimmt, dazu ist doch stundenlang Zeit gewesen, v. Manteuffel hätte doch die Mitteilungen niederschreiben und von mir unterschreiben lassen können. v. Manteuffel hat sich mir als Offizier vorgestellt und sich in der allerjovialsten Weise unterhalten, während er doch tatsächlich vom Landgerichtsrat Herr beauftragt war, mich zu vernehmen. Die ganze Art und Weise, wie v. Manteuffel sich mir gegenüber benommen hat, ist, um einen milden Ausdruck zu wählen, „nicht sehr nett“ gewesen; nachher hat er mich noch in der Zeitung so hingestellt, als ob ich mich „dünne“ gemacht habe.

Der Oberstaatsanwalt legte entschieden Protest dagegen ein, daß hier eine Art Untersuchung gegen Herrn v. Manteuffel geführt werde. Dieser habe sich ausschließlich seiner vorgesetzten Behörde gegenüber zu verantworten. Wenn der Zeuge es hier so hinstelle, als ob Herr v. Manteuffel gewissermaßen „hinter seinem Rücken“ etwas aus jovialen Unterhaltungen mitgeteilt habe, so hebe er hervor, daß Herr v. Manteuffel durchaus berechtigt war, Fragen zu stellen. Ein Vorwurf könne Herrn v. Manteuffel aus seinem Verhalten nicht gemacht werden.

R.-A. Dr. Schachtel: Er gebe demgegenüber die Erklärung ab, daß die Verteidigung der Auffassung des Staatsanwalts nicht beitreten könne, sondern in dem Verhalten des Herrn v. Manteuffel eine große Menge Inkorrektheiten erblicke.

Über die Frage, ob der Zeuge v. Manteuffel nicht in einzelnen Punkten seine subjektive Auffassung mit den Aussagen des Zeugen v. Gersdorff verquickt habe, kam es zu längeren, sehr lebhaften Auseinandersetzungen zwischen dem K.-A. Dr. Schachtel und Herrn v. Manteuffel.

Der Zeuge Landgerichtsrat Herr verwahrte sich schließlich nachdrücklichst gegen die in einzelnen Zeitungen bekundete Ansicht, daß er die Untersuchung bei einseitiger Strenge gegen die Angeklagten geführt habe und gab zu, daß er den Kommissar v. Manteuffel ersucht habe, dafür zu sorgen, daß solche Preßtreiberei, wie sie im „Kleinen Journal“ gegen Dr. Kornblum begonnen wurde, im Interesse der Untersuchung möglichst unterbleibe.

Gastwirt Emil Krüger: Er sei von 1895 ab Oberkellner im Viktoriahotel gewesen und von Herrn v. Zedlitz engagiert worden, um die Herren, die dort regelmäßig zum Spiele sich einfanden, zu bedienen. Er habe dafür ein monatliches Gehalt von 300 M. erhalten, aber auch noch 100 bis 150 M. dadurch verdient, daß er hier und da Herren, denen das Geld ausgegangen war, mit Beträgen von 100 bis 1000 M. aushalf. Er hatte zu diesem Zweck immer 600 bis 1000 M. bei sich. Der Gesellschaft mochten etwa 100 Herren der vornehmen Kreise angehört haben, die natürlich nicht allesamt auf einmal an den Abenden teilnahmen, sondern abwechselnd erschienen. Die Herren zahlten 30 M. Miete und machten eine Zeche an Sekt und guten Weinen im Betrage von 200 bis 250 M.

Justizrat Dr. Sello: Hat einer der Angeklagten unter diesen Herren eine besonders hervorragende Rolle gespielt?

Zeuge: Ja.

Dr. Sello: Wer denn?

Zeuge: Herr v. Zedlitz! (Heiterkeit.)

Justizrat Dr. Sello: Warum spielte denn Herr v. Zedlitz, der ja nicht zu den Angeklagten gehört, eine besondere Rolle?

Zeuge: Wenn er gewonnen hatte, ging er fort, das taten die anderen Herren nicht, die anderen blieben so lange, bis sie alles wieder verloren hatten. (Heiterkeit.)

Restaurateur Hecht: Er habe im Herbst 1897 ein Restaurationslokal in der Jägerstraße gehabt. In einem Zimmer fanden sich unregelmäßig eine Anzahl Kavaliere zusammen.

Der Vorsitzende bemerkte: Da in dem Lokale sooft gespielt wurde, habe es den Beinamen „Karpfenteich“ erhalten. Der Zeuge bekundete alsdann weiter, daß die Herren niemals die Karten mitgebracht haben, diese wurden vielmehr stets vom Oberkellner besorgt.

R.-A. Dr. Schwindt: Hatte der Zeuge vielleicht den Eindruck, als ob Dr. Kornblum die Rolle des Arrangeurs spielte?

Zeuge: Jawohl.

Restaurateur Otto Kotz: Er sei im Jahre 1897/98 bei Hecht Oberkellner gewesen. Die Herren, die zum Spiel zusammenkamen, haben nicht gar soviel verzehrt, wenigstens sei sein Chef in diesem Punkte nicht sehr zufrieden gewesen. Die Karten haben die Herren niemals mitgebracht, die habe vielmehr er stets besorgt.

Vors.: Haben Sie den Herren auch manchmal Geld geliehen?

Zeuge: Das kam vor.

Vors.: Auch Herrn v. Kayser?

Zeuge: Herr Vorsitzender, es gibt in ganz Berlin keinen Kavalier, der einen Kellner nicht mal anpumpt. Warum sollte Herr v. Kayser eine Ausnahme machen? (Große Heiterkeit.)

Vors.: Haben Sie Ihr Geld wiederbekommen oder haperte es damit?

Zeuge: Ich habe nur ein einziges Mal Herrn v. Kayser schriftlich um Zurückgabe des Geldes bitten müssen, weil ich notwendig auf eine Erholungsreise gehen mußte.

Vors.: Haben Sie auch anderen Herren Geld geliehen und Umstände damit gehabt?

Zeuge: Jawohl, Herrn v. Prillwitz, gegen den ich erst die Hilfe des Gerichtsvollziehers in Anspruch nehmen mußte. Der Zeuge erklärte weiter auf Befragen, daß nach seiner Meinung nicht nur die Angeklagten, sondern alle Herren abwechselnd die Bank gehalten ten haben. Daß bei Hecht gespielt wurde, sei ein öffentliches Geheimnis gewesen. Herrn Wolff habe er nicht näher gekannt; er könne auch keine nähere Auskunft geben, wie hoch gespielt wurde.

Da der Vorsitzende sich hierüber wunderte, erklärte der Zeuge unter großer Heiterkeit der Zuhörer, er sei nur im Zimmer erschienen, wenn er durch einen Glockenton gerufen wurde. Wenn er sonst noch hineinging, habe v. Kröcher immer gerufen: „Raus, raus! Wenn Sie kommen, habe ich immer Pech!“ (Die Angeklagten bekundeten ihre Zustimmung zu dieser Aussage.)

Der Zeuge sprach wiederholt den dringenden Wunsch aus, „in Sachen des Dr. Kornblum“ vernommen zu werden. (Heiterkeit.) Als ihm das Wort hierzu verstattet wurde, erklärte der Zeuge: Er habe ja selbst ein Restaurant. In dieses sei eines Tages Dr. Kornblum gekommen und habe ihm erzählt, er habe jetzt die größtintimsten Beziehungen zu v. Manteuffel, er müsse mit diesem jetzt in Moabit immer Bakkarat spielen, um ihm die Sache beizubringen. Er habe darauf dem Dr. Kornblum bedeutet, daß er sein Lokal nicht mehr besuchen solle. (Heiterkeit.)

Restaurateur Albrecht, bei dem die Kavaliere spielten, die gewöhnlich per Telephon anfragten, ob ein Zimmer frei sei, bekundete: Er wußte nicht, was die Herren trieben. Sie seien nur etwa sechsmal bei ihm gewesen. Das erstemal habe Herr v. Kröcher das Zimmer bestellt, später sei es öfter „für die Gesellschaft des Herrn v. Kröcher“ bestellt worden, er wisse aber nicht, ob auch wirklich Herr v. Kröcher als Besteller am Telephon war. Einmal habe Herr v. Kröcher die Karten mitgebracht, weil im Lokale sonst Karten nicht geführt wurden. Wer sonst die Karten geliefert habe, wisse er nicht.

Generaldirektor Otto vom Zentralhotel: Er habe seinerzeit den Vertrag wegen Benutzung der bestimmten Räume im Zentralhotel zu Klubzwecken abgeschlossen, Oberkellner Summer habe die Herren bedient. Er und Oberkellner Montagli haben täglich je 20 M. erhalten, v. Kröcher sei nur wenige Male dort gewesen und bald auf Reisen gegangen. Den Namen „Klub der Harmlosen“ habe er während des Aufenthalts der Herren im Zentralhotel nie gehört, er kannte nur den Namen Sportklub. Er wisse auch nichts davon, daß an den Klubabenden sehr viel Sekt getrunken worden sei; die Herren hätten zumeist Rotwein mit Wasser getrunken. Wieviel von den einzelnen gewonnen oder verloren wurde, wisse er nicht. Das Spielen begann um 12 oder 1 Uhr nachts und dauerte etwa bis 5 Uhr morgens, manchmal aber auch bis zum Mittag des nächsten Tages. Die Rechnung über das, was die Herren verzehrt hatten, sei jedesmal pro Tag von einem Mitgliede des Vorstandes beglichen worden. den.

Oberkellner Montagli bestätigte diese Aussage seines ehemaligen Kollegen, mit dem er abwechselnd den Dienst bei dem „Sportklub“ hatte. Er bekam 20 M. für den Abend, wenn gespielt wurde, und 10 M. für die Abende, an denen nicht gespielt wurde. Es sei vollständig unrichtig, wenn behauptet wurde, man habe ihn so schnell wie möglich über die Grenze gebracht und dazu besonders mit Geld ausgestattet. Er habe schon am 15. Oktober 1898 festes Engagement nach Monte Carlo angenommen gehabt, die Sache habe sich aber schließlich zerschlagen. Am 23. Dezember 1898 sei er nach Italien gegangen, um in Genua eine Stelle anzunehmen. Er habe von den Herren nur das Geld bekommen, das er regelrecht zu fordern hatte und das sich aus seinen baren Auslagen und aus seinen auf seiner 14tägigen Kündigung beruhenden Ansprüchen zusammensetzte. Nachdem der Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen war, habe er Herrn v. Kröcher und v. Schachtmeyer gesagt, daß er am liebsten weggehen möchte, denn er habe noch niemals etwas mit der Polizei zu tun gehabt und habe die Nase von Berlin voll. Er entsinne sich, daß die drei Angeklagten ihm geraten haben, doch nicht abzureisen, sondern noch in Berlin zu bleiben, damit es nicht so aussehe, als ob man ihn abgeschoben habe. v. Kayser habe ihm sogar gesagt, er würde ihm in Berlin eine andere Stelle verschaffen. Er habe dann aber doch aus eigenem Antriebe Berlin den Rücken gekehrt. Herrn Wolff habe er, ebenso wie sein Kollege Summer für einen „regelrechten Gentleman“ gehalten.

R.-A. Dr. Schwindt rechnete ziffernmäßig vor, daß Montagli bei seinem Abgange eigentlich noch mehr zu fordern hatte, als er geltend gemacht habe.

Am siebenten Verhandlungstage wünschte R.-A. Dr. Schachtel einige Fragen an den Grafen Königsmarck über einige Bemerkungen, die Herr v. Manteuffel diesem gegenüber gemacht haben soll, zu richten.

Vors.: Der Gerichtshof ist sich schon darüber schlüssig geworden, daß die ganze Manteuffelsche Angelegenheit hier nicht weiter berührt wird. Für das Kollegium ist die Sache vollständig aufgeklärt. Herr v. Manteuffel ist doch hier nicht Angeklagter!

R.-A. Dr. Schachtel: Es sei sein gutes Recht, Fragen zu stellen, die er zur Aufklärung der Sache für notwendig erachte.

Der hierauf vorgerufene Graf v. Königsmarck bekundete auf Befragen: Herr v. Manteuffel habe ihm gesagt, er habe den Befehl erhalten, in der Spielerangelegenheit möglichst scharf und schroff vorzugehen; es sei auch schon durch verschiedene Personen festgestellt worden, daß Falschspiel getrieben worden sei.

R.-A. Dr. Schachtel: Ich habe noch eine Frage an Herrn v. Manteuffel zu richten. Ist es wahr, daß Sie, als Sie noch aktiver Offizier waren, sich mit Hypnotisieren beschäftigt haben und imstande sind, Personen mit schwacher Willenskraft Ihrem Willen zu unterwerfen.

Zeuge v. Manteuffel: Tatsächlich habe ich mich mit dem Hypnotisieren nicht bloß zum Vergnügen, sondern des Studiums wegen beschäftigt. Ich muß es aber durchaus ablehnen, daß mir, wie die Frage doch andeutet, hier untergeschoben werden soll, ich hätte dem Zeugen etwas suggeriert. Das muß für jeden, der mit Hypnotisieren zu tun hat, komisch wirken, denn die Hypnose hängt von ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen ab. Jeder, der etwas von der Sache versteht, weiß, daß es ein Unding ist, jedermann zu hypnotisieren.

Oberstaatsanwalt (zum Grafen Königsmarck): Sind Sie sonst schon einmal hypnotisiert worden?

Zeuge: Nein.

Oberstaatsanwalt: Sind Sie ein Mann von schwacher Willenskraft?

Zeuge: Nein.

J.-R. Dr. Sello: Ist der Zeuge in den Besitz einer gedruckten Verteidigungsschrift gekommen?

Zeuge Graf Königsmarck: Jawohl, durch Herrn v. Manteuffel.

J.-R. Dr. Sello: Wann war das?

Zeuge: Mitte September.

Vert. J.-R. Dr. Sello: Also etwa 14 Tage vor der Verhandlung. Zu welchem Zweck geschah denn das?

Zeuge: Um mich zu informieren.

J.-R. Dr. Sello: Diese Fragen sind doch von solcher Erheblichkeit, daß die Staatsanwaltschaft sie sogar an die Oberkellner richtete.

Zeuge v. Manteuffel: Ich habe dem Zeugen die Verteidigungsschrift zugestellt, weil ich wußte, daß Graf Königsmarck sich dafür interessiert und um weitere Aufschlüsse zu erlangen.

J.-R. Dr. Sello: Da der Verteidigung Vorwürfe aus einer Weitergabe der Verteidigungsschrift gemacht worden sind, so möchten wir doch, daß mit gleichem Maß gemessen wird. Ich frage deshalb Herrn v. Manteuffel, ob er die Verteidigungsschrift im Einverständnis mit anderen Faktoren der Untersuchung weitergegeben hat?

v. Manteuffel: Es handelte sich um ein Exemplar der Verteidigungsschrift, welches nach Mitteilung des Staatsanwaltschaftsrats Keller nicht zu den Akten gehörte.

R.-A. Dr. Schachtel: Hiernach könnten doch wohl die Erörterungen über die Verteidigungsschrift endgültig geschlossen werden.

Oberstaatsanwalt: Nein, doch nicht!

R.-A. Dr. Schachtel: Wir stehen zur Stelle.

Der nächste Zeuge Schneider war der Nachfolger des Oberkellners Krüger im Viktoriahotel. Er habe vom Hörensagen Kunde von dem mehrfach erwähnten Vorfall erhalten, in welchem ein Bankhalter verdächtigt worden war, unfair gespielt zu haben und es sich nachher herausstellte, daß statt der sechs vollständigen Spiele mit 312 Karten 360 Karten vorhanden waren. Nach seiner Beobachtung haben nicht nur die drei Angeklagten „gemeinschaftlich die Bank gehalten“, dies sei auch von anderen Teilnehmern geschehen. Die Summen, die an einem Abend verloren oder gewonnen wurden, schätze er auf 20000 bis 50000 M. Schließlich sei die Vereinigung im Viktoriahotel auseinander gegangen, wahrscheinlich infolge des Vorfalls mit Herrn v. Schrader und weil schon mehrere Herren infolge des Spiels zugrunde gegangen waren und ihren Abschied nehmen mußten. Auf Befragen nannte der Zeuge den Namen v. Köckeritz. Nach seiner Meinung bestand die Gesellschaft aus mehreren hundert Personen „aus allen Provinzen und alten Regimentern“, von denen etwa 25 Personen an den einzelnen Abenden erschienen. Nach seiner Meinung habe v. Kayser in jener Zeit recht viel Pech gehabt, er habe sich überhaupt manche Wochen gar nicht sehen lassen. An den Spielabenden sei es außerordentlich ruhig und durchaus vornehm und anständig zugegangen, so daß er sich oft dahin geäußert habe: „Das ist ja gar kein Wunder, umsonst sind die Herren nicht Edelleute!“

Die Beweisaufnahme drehte sich alsdann um die Frage, ob Kammerdiener Mayer einmal dem Portier des Hauses, in welchem v. Kröcher wohnte, angedeutet habe, er habe von Herrn v. Kröcher mehr Geld erhalten, als er beanspruchen konnte. Der Portier Kriedemann, der dem Hauswirt Goldberg eine solche Mitteilung gemacht haben soll, bestritt das. Herr Goldberg behauptete es. Der Zeuge Goldberg wurde sodann über den Aufwand des Herrn v. Kröcher vernommen. Goldberg: Er besitze ein „sehr, sehr vornehmes“ Haus in der Friedrich-Wilhelm-Straße. Angekl. v. Kröcher habe bei ihm gemietet. Die Wohnung bestand aus 6 Zimmern. Er ist von dem Angeklagten v. Kröcher seinerzeit verklagt worden, weil er es nicht leiden wollte, daß Fräulein Lona Kussinger, die sich für eine „Baronin“ ausgegeben, in seinem Hause, d.h. in der Wohnung des Angeklagten v. Kröcher, verweilte. Er sei der Meinung gewesen, daß diese Dame nach ihrem ganzen Auftreten nicht in sein Haus paßte, zumal er von dem Kammerdiener Mayer viel Nachteiliges über sie hörte. Er habe sich auch nicht darauf eingelassen, als ihm gesagt wurde, die Dame in hocheleganter Toilette sei die „Wirtschafterin“, er konnte sich nicht denken, daß diese feine Dame die Zimmer lüften und die Möbel ausklopfen sollte. Die Ausstattung tung der Wohnung des v.K. sei sehr elegant gewesen, die Möbel stammten von Ferd. Vogts & Co., in der Wohnung waren 60 elektrische Glühlampen eingerichtet, die Kronen können mehrere 1000 Mark gekostet haben. v. Kröcher habe den Eindruck eines wohlhabenden Mannes gemacht; Kammerdiener Mayer habe einmal erzählt, v.K. habe einen kostbaren Pelz im Werte von 3000 M. in der Droschke liegen lassen.

v. Kröcher: Der Pelz hatte einen Wert von 1200 M. Die Summe liegt in der hervorgehobenen Schneiderrechnung von 3000 M. Es kann doch nicht alles dreimal berechnet werden.

R.-A. Dr. Schwindt: Der Zeuge nannte die Wohnung „Gartenwohnung“, andere würden sie vielleicht „Hinterwohnung“ nennen, denn man mußte von der Friedrich-Wilhelm-Straße erst über den Hof, um nach der an der Privatstraße belegenen Wohnung zu gelangen.

Zeuge: Ich kenne doch mein Haus am besten. Man kann nach der Theorie des Verteidigers ja auch nach dem Alexanderplatz über das Potsdamer Tor gelangen.

Der alsdann vernommene Zeuge Ebstein war Inhaber der Firma Ferd. Vogts & Co. Er bekundete, daß die Möbelausstattung eine gute und solide, aber nicht eine auffallend elegante war.

Zeuge Festner, bei dem der Angeklagte v. Kayser längere Zeit gewohnt hatte, gab diesem das Zeugnis eines sehr sparsamen und ordnungsliebenden Mannes, der gar keine Ansprüche gehabt und sich sogar stets seine Stiefel selbst geputzt habe.

Zeuge Karcher, Pächter des Minervahotels: Die Gesellschaft, die sich als „Sportklub“ bei ihm angemeldet, hatte drei Salons in der ersten Etage zu einem Preise von 600 M. pro Monat gemietet. Er hatte erst 1200 M. verlangt, die Herren haben aber auf 600 M. heruntergehandelt. Von einem Spielklub sei keine Rede gewesen. Die Herren haben meist Rotwein und Selterwasser getrunken. In der Zeit vom 1. bis 19. September 1898 haben die Herren einschließlich der 600 M. Miete eine Rechnung von 1596 M. gemacht. Als er erfahren, daß die Herren lauter Spieler waren, habe er den Mietsvertrag aufgehoben.

Zeuge v. Zakzerczewski: Er habe vielfach in den Spielkreisen verkehrt. Vom Vorsitzenden befragt, ob er die Verteidigungsschrift zu Gesicht bekommen und sich auf diese Weise habe informieren können, erklärte der Zeuge, daß er die Verteidigungsschrift allerdings in der Hand eines Zeugen gesehen und einen Blick hineingetan habe.

R.-A. Dr. Schachtel protestierte gegen die Andeutung, daß die Verteidigungsschrift an Zeugen gesandt worden sei, um Zeugen zu informieren. Es handle sich um nichts weiter, als was die Staatsanwaltschaft gleichfalls getan habe.

Oberstaatsanwalt: Hiergegen muß ich wieder protestieren.

R.-A. Dr. Schachtel: Es ist doch festgestellt, daß Staatsanwaltschaftsrat Keller ein Exemplar der Verteidigungsschrift Herrn v. Manteuffel überlassen hat und sie dann an den Grafen Königsmarck gelangt ist.

v. Manteuffel betonte nochmals, daß ihm das fragliche Exemplar der Verteidigungsschrift ganz außerhalb der Akten rein privatim überlassen worden sei.

Zeuge v. Zakzerczewski bekundete noch, daß er im ganzen 10-12000 M. verloren habe. Er habe fast immer nur bar und nie über seine Mittel gespielt. Es sei ihm nicht aufgefallen, daß die drei Angeklagten immer gewannen, er habe überhaupt kein Mißtrauen gegen sie gehabt, ebensowenig gegen Wolff, der als schwer reicher Mann und Bankier oder Rentier galt.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde auch diesem Zeugen das Protokoll seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter vorgehalten. Es ging daraus hervor, daß damals der Zeuge bekundet hat: v. Kröcher habe ihm eines Tages bei einer Begegnung gesagt: Jetzt ist Montagli schon in München! Ich bin wieder der Dumme gewesen und habe ihm noch über 700 M. herauszahlen müssen. Das Protokoll zeigte, daß der Zeuge damals ausdrücklich bekundet hat, es sei sein Eindruck gewesen, daß Montagli von v. Kröcher cher und v. Kayser möglichst schnell weggeschafft worden sei.

Der Zeuge erklärte hierauf: Nach dem Erscheinen des Artikels im „Tageblatt“ hatte er damals alle möglichen Momente als verdächtig betrachtet, die möglicherweise ganz unverdächtig waren.

R.-A. Dr. Schachtel: Hat etwa Herr v. Manteuffel vor Ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter mit Ihnen gesprochen?

Zeuge: Nein.

Auf Antrag des R.-A. Dr. Schachtel wurde sodann der Bericht verlesen, den v. Manteuffel an den Untersuchungsrichter gerichtet hatte. Es hieß darin: „Herr v. Zakzerczewski bittet durch mich“ nachträglich noch etwas mitzuteilen, was ihm noch eingefallen ist. In dem Bericht wurde dann weiter gemeldet, daß v. Kröcher dem v.Z. gesagt habe, er und v. Kayser hätten dem Montagli 700-800 M. gegeben, um ihn über die Grenze zu schaffen.

Zeuge v.Z. bestritt, daß er überhaupt Herrn v. Manteuffel eine solche Bitte ausgesprochen oder von „über die Grenze schaffen“ gesprochen habe.

v. Manteuffel: Graf Königsmarck habe ihm bei einem Gespräch mitgeteilt, daß dem Zeugen v.Z. noch nachträglich die Geschichte von den 700-800 M. eingefallen sei. Er habe dies so aufgefaßt, wie es in seinem Bericht stehe.

R.-A. Dr. Schwindt: Die Vermutung, daß Montagli „über die Grenze geschafft worden“, ist gestern von Montagli unter seinem Eide klar widerlegt worden. Dagegen können doch die Sentiments, die der Zeuge v. Zakzerczewski vor längerer Zeit auf Grund eines Zeitungsartikels angestellt hat, gar nicht ins Gewicht fallen.

Oberstaatsanwalt: Das wird unbedingt zugegeben. Mit Rücksicht auf die aufgeworfenen Zweifel an der Notwendigkeit der Verhaftung ist es aber wesentlich, festzustellen, wie damals die Ansicht der nächsten interessierten und den Angeklagten nahestehenden Kreise war.

Zeuge Graf Königsmarck erklärte auf Befragen, daß er mit dem Zeugen v. Zakzerczewski über die Angelegenheit gesprochen habe. Er habe seines Wissens aber nur gesagt, daß v. Kayser und v. Kröcher dem Montagli 700 bis 800 M. gegeben hätten; daß er von einem „Über-die-Grenze-bringen“ gesprochen habe, entsinne er sich nicht.

Zeuge v. Zakzerczewski: Er erinnere sich einer solchen Äußerung ebenfalls nicht.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt regte an, ob es nicht zweckmäßig sei, Montagli noch einmal über diesen Punkt zu vernehmen.

Der Oberstaatsanwalt bezeichnete das als überflüssig, denn es sei selbstverständlich, daß die Behauptung, tung, Montagli habe Schweige- oder Reisegelder erhalten, nicht aufrechterhalten werden solle. Aber es müsse konstatiert werden, daß v. Manteuffel sich im guten Glauben befunden habe.

Der Vorsitzende richtete die Frage an den Oberstaatsanwalt, ob denn überhaupt noch der Gesichtspunkt des Falschspielens, d.h. des Betruges von der Anklage aufrechterhalten oder fallengelassen werde.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Er habe durch eine ganze Reihe von ihm angeregter Feststellungen schon zu erkennen gegeben, daß er auf diesen Punkt kein Gewicht mehr lege, er könne aber offiziell nichts von der Anklage fallen lassen, müsse sich vielmehr das weitere für das Plädoyer vorbehalten.

v. Kayser ließ sich durch den Zeugen v. Zakzerczewski bestätigen, daß niemand Herrn Wolff für einen gewerbsmäßigen Glücksspieler habe halten können und daß folgender Gesichtspunkt besprochen worden sei: Wenn wirklich Unregelmäßigkeiten vorgekommen wären, dann sei es im Interesse der 200 in die Sache verwickelten Offiziere und Beamten dringend geboten, dafür zu sorgen, daß die Artikel des „Tageblattes“ aufhörten.

Alsdann trat Kommissar v. Manteuffel vor und erklärte mit gehobener Stimme: Es scheine, als ob ihm wieder unterstellt werden solle, er habe wider besseres Wissen einen falschen Bericht an den Untersuchungsrichter richter geschickt. Dem müsse er auf das bestimmteste widersprechen; er habe aus der Unterhaltung mit dem Grafen Königsmarck unbedingt den Eindruck gewonnen, daß v. Kröcher und v. Kayser den Montagli über die Grenze geschafft haben. Er müsse dagegen protestieren, daß fortwährend die schwersten und ehrenkränkendsten Vorwürfe gegen ihn erhoben werden.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel beantragte, nochmals festzustellen, daß weder Graf Königsmarck noch v. Zakzerczewski Herrn v. Manteuffel etwas von „über die Grenze schaffen“ gesagt habe.

Es folgte die Vernehmung der Frau Frieda Voigt. Sie gab an, daß sie früher mit einem Hauptmann verheiratet gewesen sei. Die Ehe sei geschieden. Als sie in Frankfurt a.d.O. als Schauspielerin tätig war, habe sie Herrn v. Kayser kennengelernt und sei zu ihm in nähere Beziehungen getreten. Dann sei sie kurze Zeit beim Residenztheater in Berlin engagiert gewesen. Ein intimes Verhältnis sei sie erst im Sommer 1896 mit v. Kayser eingegangen. Sie habe damals ein Kapital von 15000 Mark besessen. Da die Zinsen nicht ausreichten, habe sie das Kapital angreifen müssen. Herr v. Kayser habe keine großen Aufwendungen für sie gemacht, nur vorübergehend die Miete bezahlt. Sie habe auch in Ems Stellung gehabt, von dort habe v. Kayser sie abgeholt. Ebenso habe er sie von Baden-Baden abgeholt, wo sie sich mit ihrer Schwester ster befand. Hier habe v. Kayser ihre Rechnung beglichen. Dann sei sie etwa ein halbes Jahr in Lübeck als Schauspielerin tätig gewesen.

Vors.: Herr v. Kayser soll Sie dort häufig besucht haben?

Zeugin: Etwa alle drei Wochen.

Vors.: Sie sollen damals sehr reiche Toiletten getragen haben?

Zeugin: Nein, wenigstens nicht auffallend.

Vors.: Es wird behauptet, daß Herr v. Kayser Ihnen damals einen regelmäßigen Zuschuß von monatlich 150 bis 200 Mark gegeben habe.

Zeugin: Der Zuschuß war kein regelmäßiger.

Vors.: Als Sie wieder nach Berlin kamen, haben Sie eine Wohnung in der Lüneburger Straße bezogen.

Zeugin: Ja.

Vors.: Wer hat die Wohnung eingerichtet?

Zeugin: Ich allein von meinem Gelde. Ich hatte damals bei der Deutschen Bank ein Depot und habe dort noch heute ein Konto. Ich habe die Mobilien selbst bei Pfaff für 4000 Mark gekauft. Die Zeugin bekundete weiter, daß sie in der Lüneburger Straße zusammen mit Herrn v. Kayser gewirtschaftet habe. Er habe ihr einige Monate hindurch monatlich 400 Mark Wirtschaftsgeld gegeben. Die Wohnung habe 1500 oder 1600 Mark gekostet, und von den 400 Mark mußte sie Miete und Wirtschaftsunkosten bestreiten. Herr v. Kayser habe ihr keineswegs große Geschenke gemacht, an ihrem Geburtstage habe er ihr allerdings eine Brillantbrosche und zu Weihnachten einen Brillantring geschenkt. Die Brosche schätzte sie auf 400, den Ring auf 350 Mark. Am 1. Oktober habe sie die Gemeinschaft mit Herrn v. Kayser aufgegeben und sei zu ihrer Schwester gezogen. Wenn Herr v. Kayser durch Spielverlust in Verlegenheit geraten sei, habe sie ihm mit Geld ausgeholfen; er habe gesagt, daß er sich auch an seine Mutter hätte wenden können. Zuletzt habe sie Herrn v. Kayser 3000 Mark geliehen, die sie von der Deutschen Bank abgeholt habe. Herr v. Kayser habe keinerlei großen Aufwand getrieben, sondern sehr einfach und bescheiden gelebt. Er habe auch keinen intimen Verkehr mit den beiden Mitangeklagten gehabt; den Namen Wolff habe sie nicht einmal gehört, geschweige denn den Mann gekannt.

Der Angeklagte v. Kayser richtete an die Zeugin die Frage, ob jemals in der Wohnung in der Lüneburger Straße gespielt worden sei.

Zeugin: Nein, niemals!

v. Kayser: Ist der Zeugin bei ihrer Vernehmung gesagt worden, ich hätte bereits gestanden, mit Herrn Wolff sehr intim gewesen zu sein?

Zeugin: Das hat mir Landgerichtsrat Herr gesagt.

Es wurden hierauf mehrere Offiziere vernommen, die bisweilen mitgespielt haben, v. Puttkamer bekundete, dete, daß Herr von Kröcher einmal einen „sehr netten Herrn““ avisiert hatte, den er in das Savoyhotel mitbrachte und als Herrn Wolff vorstellte. Wolff habe den Eindruck eines anständigen Mannes gemacht, zudem sei er ja durch v. Kröcher sanktioniert worden, so daß Verdacht gar nicht erregt werden konnte. Der Zeuge bezifferte seine Spielverluste im ganzen auf 10000 M., die er aber nicht an die Angeklagten allein verloren habe. Besondere Beziehungen zwischen v. Kröcher und Wolff habe er nicht beobachtet, er könne aber bestätigen, daß Wolff bei dem Eröffnungsdiner bei einem ganz erheblichen Gewinn die Hälfte in die Pinke gelegt habe.

Angeklagter v. Kröcher: Ist der Zeuge nicht der Ansicht, daß das Märchen, ich hätte von einem verstorbenen Prinzen eine enorme Summe gewonnen, mich in den fälschlichen Verdacht gebracht hat, ein gewerbsmäßiger Spieler zu sein?

Zeuge: Das Gerücht über den Gewinn ist auch mir zu Ohren gekommen. Ich habe Herrn v. Kröcher gefragt, ob etwas Wahres daran sei, er hat mir die Sache ganz anders dargestellt. Nach seiner Auffassung habe er mit dem Koburger zusammen gegen einen Dritten gespielt, und dabei sei der Koburger bei ihm in die Kreide geraten.

Oberstaatsanwalt: Mir ist von authentischer Stelle mitgeteilt worden, daß jenes Gerücht auf Klatsch beruht, ruht, daß Se. Königliche Hoheit so enorme Summen nie verloren hat und sich der höchste Verlust auf 3000 Mark beziffert. Ich halte diese Richtigstellung im Interesse des Andenkens Sr. Königlichen Hoheit für notwendig.

Zeuge Freiherr Ernst v. Gersheim, der seit 2 1/2 Jahren allem Spiel vollständig fernstand, gab als Grund des Auszuges aus dem Viktoriahotel an, daß der Wirt das Spiel nicht mehr erlauben wollte. Große Gewinne und Verluste seien nicht vorgekommen, bald habe der eine, bald der andere „bluten“ müssen. Aufgefallen sei ihm nichts. Der ihm wohlbekannte v. Kayser habe stets ein einfaches Leben geführt.

Auch diesem Zeugen wurde seine frühere Aussage vorgehalten, worin es hieß: „v. Kayser habe über seine Verhältnisse gelebt.“

Zeuge: Er habe es nur auf die Spielverluste bezogen. Auch in einem Brief an Herrn v. Manteuffel vom März 1899 hatte Zeuge gesagt, v. Kayser habe Ausgaben gemacht, die seine Zulage bedeutend überschritten. Er habe das nur auf das Spiel bezogen; seine Aussage sei auch nicht so aufgenommen worden, wie er sie gemeint habe.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt hielt dem Zeugen einen von ihm geschriebenen Brief an v. Kayser vor, in welchem er sein größtes Erstaunen darüber ausdrückte, daß v. Kröcher verhaftet werden konnte. Der Zeuge erwiderte, daß er niemals auch nur im entferntesten daran gedacht habe, daß so etwas kommen konnte.

Justizrat Dr. Sello: Haben Sie geglaubt, daß v. Kayser seine Lebensbedürfnisse zum größten Teil aus seinen Spielgewinnen bestreiten mußte?

Zeuge: Nein; natürlich wird er, wenn er eine größere Summe gewonnen hatte, auch mal mehr ausgegeben haben. Das tut schließlich jeder.

Graf Botzing: Er war durch einen Herrn von der österreichischen Botschaft vor 9 Jahren in die Spielergesellschaft eingeführt. Er habe Verluste bis zu 5000 Mark gehabt. Etwas Verdächtiges habe er nicht bemerkt. Wolff sei ein freundlicher Herr gewesen, der viel von seinen Reisen in Japan und China erzählt habe.

Vors.: Im Zuchthause ist er auch gewesen, davon hat er wohl nichts erzählt?

Zeuge: Nein. (Heiterkeit.)

Vors.: Sie haben früher einmal gesagt, daß in einem Falle, wo Sie mit v. Kröcher zusammen gegen Wolff gespielt haben und erheblich verloren, v. Kröcher durch seine sehr hohen Sätze Sie nur verleiten wollte, auch hoch zu setzen.

Zeuge: Ich habe dies in verdächtigem Sinne nicht gesagt.

v. Kröcher ließ sich bestätigen, daß der Zeuge dasselbe getan habe, was ihm (v. Kröcher) zum Vorwurf gemacht werde, nämlich daß Zeuge, der Rechtskandidat sei, ihm wiederholt während des Spiels Geld geliehen habe, damit er weiterspielen könne.

Am achten Verhandlungstage erklärte Oberkellner Montagli auf Befragen, daß Wolff immer den Eindruck eines Gentleman gemacht habe, und daß er (Zeuge) erst nach Erscheinen des Artikels im „Berliner Tageblatt“ die Äußerung getan habe: Wolff sei eigentlich „zu nett“ gewesen, um anständig sein zu können.

Es wurden alsdann mehrere junge Offiziere und Beamte vernommen. Ihre Aussagen fielen wenig oder gar nicht belastend gegen die Angeklagten aus, warfen aber manch grelles Licht auf den Leichtsinn der jungen Männer, die, ohne mit der Wimper zu zucken, ganze Vermögen am Spieltische vergeudeten. Die Zeugen stimmten darin überein, daß v. Kröcher nicht die Rolle des „Schleppers“ zu den Spielabenden gespielt habe, sondern daß man von Kamerad zu Kamerad sich erzählte, wo an den einzelnen Abenden gejeut wurde. v. Kröcher hatte viel gewonnen, aber auch manchmal viel verloren, v. Kayser hatte gleichfalls wiederholt verloren und nach der Bekundung mehrerer Zeugen glatt reguliert, v. Schachtmeyer war an den Spielabenden wenig in die Erscheinung getreten. Es ergab sich weiter aus den Zeugenaussagen, daß bis zur Übersiedlung in das Zentralhotel Dr. Kornblum gewissermaßen die Führung der Spielgesellschaft hatte. Ein junger Offizier aus der Provinz erklärte ganz unbefangen, daß er wiederholt mit 600 bis 700 Mark in der Tasche zu den Renntagen herübergekommen sei, sich an den Jeuabenden beteiligt habe und wieder abgezogen sei, wenn er sein Geld verloren hatte.

Angeklagter v. Kröcher ließ sich von diesem Zeugen bestätigen, daß er ihn in Monte Carlo „kolossal hoch“ und „furchtbar wild“ Trente et quarante habe spielen und gewinnen sehen. Der Zeuge bemerkte: Er habe an einem solchen Abend in Monte Carlo 8-10000 Francs als Gewinn im Besitze v. Kröchers gesehen.

Student Graf Stosch: Er habe einmal im Deutschen Hause in Potsdam 25000 Mark an v. Kröcher und einen Herrn v. Schrader verloren; er habe als damaliger Offizier der Potsdamer Garnison auch sonst mehrfach im Deutschen Hause in Potsdam gespielt, u.a. auch mit dem Prinzen Koburg. Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt erklärte dieser Zeuge, daß er bis zu seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter keineswegs der Ansicht war, daß die Angeklagten unfair gespielt hätten. Als er aber nach seiner Vernehmung das Zimmer des Untersuchungsrichters verlassen, habe er durch die Art und Weise der Fragestellungen das Gefühl gehabt, daß er in der Tat beim Spiele Gaunern in die Hände gefallen und gerupft worden sei. Es sei beispielsweise stark betont worden, daß schon Anzeichen des Falschspielens vorliegen, ebenso sei gesagt worden, v. Kröcher habe schon zugegeben, daß er immer gewonnen habe. Er (Zeuge) habe hiergegen sofort protestiert und gesagt, daß er selbst Herrn v. Kröcher einmal 10000 Mark habe verlieren sehen. Durch diese Bemerkung sei anscheinend der Untersuchungsrichter enttäuscht gewesen. Als er aber dann hinzusetzte, daß v. Kröcher auch häufig viel gewonnen, habe der Untersuchungsrichter eine Miene gemacht, als ob ihm diese Bekundung genehmer wäre. Er habe gefürchtet, daß mit Rücksicht auf diese Fragestellungen seine Aussage unwillkürlich eine bestimmte Färbung bekommen haben könnte und habe sich deshalb nach zwei Tagen wieder zu dem Untersuchungsrichter begeben. Er habe sich das Protokoll nochmals vorlesen lassen und sich dadurch überzeugt, daß alles so aufgenommen worden sei, wie er ausgesagt habe.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Wenn Sie sich davon überzeugt haben, so trifft also das Protokoll auch nicht den geringsten Vorwurf!

Rechtsanwalt Dr. Schwindl: Ein solcher soll auch gar nicht erhoben werden. Es wird durchaus zugegeben, daß das Protokoll die Antworten des Zeugen auf die an ihn gerichteten Fragen absolut richtig wiedergegeben gegeben hat, aber es wird angenommen, daß der Herr Untersuchungsrichter bei seiner Fragestellung vielleicht selbst präokkupiert war – durch wen, sei dahingestellt – und schon, überzeugt war, daß die Angeklagten das seien, was ihnen erst bewiesen werden sollte.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel verwahrte den Untersuchungsrichter entschieden gegen den Vorwurf, daß er präokkupiert gewesen sei.

Wolff schilderten die meisten Zeugen als einen Herrn „von vollkommen tadellosen Allüren“, nur ein Zeuge erklärte, daß er keinen „Mumm“ gehabt habe, gegen Wolff irgendeinen Coup zu halten. Wolff habe ein vornehmes, zurückhaltendes Wesen und ein großes Portemonnaie gehabt und im allgemeinen keinen Verdacht erregt.

Zeuge Leutnant a.D.v. Oetzel hatte einmal 30000 Mark an v. Kayser und v. Schachtmeyer verloren. Er war ein häufiger Gast an Spieltischen, nicht nur hier, sondern auch in Frankfurt und Monte Carlo, er habe mit wechselndem Glück gespielt, aber in Berlin „fast ausschließlich Pech gehabt“, denn er sei „fast nie mit irgend etwas aus dem Lokal gegangen“. Er habe vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt, daß „die Bank, die die drei Angeklagten hielten, niemals aufgeflogen sei“. Er erklärte jetzt, daß er sich irrtümlich so ausgedrückt haben müsse, es aber jedenfalls nicht so gemeint meint habe. Auf eine Frage des Rechtsanwalts Dr. Pincus I gab Zeuge v. Oetzel zu, daß ihm der Angeklagte v. Schachtmeyer einmal dringend nahegelegt habe, im Spiel mit ihm nicht so hoch zu setzen. Er habe darauf erwidert: „Kavalier hält alles!“ Er habe die Termine zur Regulierung innegehalten, bis auf den letzten.

v. Kayser: Beim letzten Termine begründete der Zeuge die Nichtzahlung damit, daß der Artikel im „Berliner Tageblatt“ erschienen sei, worauf ich ihm antwortete: Diese Begründung verbitte ich mir, können Sie nicht zahlen, so bin ich gern bereit, einen späteren Termin anzusetzen.

Der Zeuge gab zu, daß er dem Angeklagten v. Kayser noch 4000 Mark schulde.

Ein Zeuge hatte vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt, daß v. Kayser ihn wegen Bezahlung von Spielschulden arg „getreten“ und ihm wiederholt gedroht habe, sich evtl. an seinen Kommandeur zu wenden.

Justizrat Dr. Sello ließ sich durch diesen Zeugen bestätigen, daß dieser „Tretbrief“ in demselben Ton gehalten gewesen sei wie ähnliche Briefe des Zeugen an v. Kayser. Er habe ihm dies sogar direkt gesagt und den alten Satz befolgt: „Wie du mir, so ich dir!“

Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Herr ließ sich hierauf über einzelne Punkte des Protokolls aus, zunächst bezüglich des Zeugen v. Gersheim. Er wiederholte mit Nachdruck, daß mit den Zeugen der Wortlaut sofort ganz genau in eingehender Beratung fixiert wurde, sobald auch nur aus den Gebärden der Zeugen die Annahme auftauchte, daß ein Irrtum obwalten könnte. Dies sei auch beim Zeugen v. Gersheim geschehen.

Zeuge v. Gersheim: Er habe nach allem, was ihm gesagt worden war, die Sache so aufgefaßt, daß es sich um notorische Falschspieler handele.

Landgerichtsrat Herr (zum Zeugen): Habe ich eine Äußerung gemacht, daß Sie so etwas annehmen konnten? Ich bestreite das aufs allerentschiedenste.

Zeuge v. Gersheim gab als richtig zu, zu Protokoll gegeben zu haben: Aus der Bekanntschaft mit Herrn v. Kayser weiß ich, daß er so gut lebte, daß im allgemeinen angenommen wurde, er lebe über seine Verhältnisse. Er habe dies aber nur auf v. Kaysers Aufwendungen beim Spiel bezogen.

Oberstaatsanwalt: Dann muß der Zeuge doch zugeben, daß, wenn überhaupt ein Irrtum vorliegt, das Mißverständnis lediglich auf seiner Seite liegt, nicht aber auf seiten des Untersuchungsrichters.

Der Zeuge blieb dabei, daß er ein besonders luxuriöses Leben des Herrn v. Kayser nicht habe zum Ausdruck bringen wollen.

Landgerichtsrat Herr: Er habe die Aussagen so niedergeschrieben, wie sie gemacht wurden und zweifellos auch gemeint waren.

Vors.: Herr Untersuchungsrichter, es handelt sich nun noch darum, daß der Zeuge v. Stosch behauptet, er sei durch Sie zu der Ansicht gebracht worden, daß er Gaunern in die Hände gefallen sei.

Zeuge v. Stosch blieb dabei, daß er aus der ganzen Fragestellung und den Äußerungen des Untersuchungsrichters die Auffassung bekommen habe, das Falschspiel sei schon erwiesen.

Landgerichtsrat Herr: Ich habe die Aussage auch dieses Zeugen auf das gewissenhafteste aufgenommen, ihm selbstredend gesagt, um was es sich handelt und daß gewerbsmäßiges Spiel in Frage stehe. Auch der Sachverständige hatte ihm natürlich gesagt, worauf besonders Gewicht gelegt werde, es ist aber entschieden nicht gesagt worden, daß Falschspiel schon erwiesen sei. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß ich dem Zeugen solche Mitteilungen oder Belehrungen aus den Akten nicht gemacht habe, aus denen er zu seiner Auffassung kommen konnte.

Zeuge v. Stosch blieb dabei, daß er durch die Art der Fragestellung zu der Auffassung gekommen sei.

Landgerichtsrat Herr: Das ist dann ein Mißverständnis, welches ich bedauere, aber für unmöglich halte.

Justizrat Dr. Sello: Gegen die im letzten Satze enthaltene haltene Unterstellung muß ich den Zeugen, der einen Eid geleistet hat, in Schutz nehmen.

Oberstaatsanwalt: Auch Landgerichtsrat Herr hat den Zeugeneid geleistet. Zeuge v. Stosch hat auch gesagt, daß sich Ihre Miene, Herr Landgerichtsrat, verdüstert hätte, wie er von den Verlusten des Herrn v. Kröcher sprach und wieder erhellte, als er von den Gewinnen v. Kröchers sprach.

Zeuge Herr: Davon ist mir durchaus nichts bekannt.

Auf Befragen eines Beisitzers erklärte Landgerichtsrat Herr: In einem gewissen Moment war er allerdings persönlich der Überzeugung, daß in einem Falle gegen v. Kayser der dringende Verdacht des Betruges vorlag. Er habe aber keineswegs gesagt, daß der Betrug schon erwiesen sei.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel wünschte noch weitere Auskunft vom Untersuchungsrichter, ob nicht einzelne zweifellos in die Protokolle gekommene Mißverständnisse über Spielusancen auf irrige Mitteilungen des damaligen Sachverständigen v. Manteuffel zurückzuführen seien.

Rechtsanwalt Dr. Pincus I erklärte, daß sein Klient nicht solche Frage an den Untersuchungsrichter gerichtet wissen wolle. Nach seiner Meinung seien die subjektiven Auffassungen des Untersuchungsrichters in dem Vorverfahren ohne Bedeutung, denn es käme lediglich darauf an, was die Hauptverhandlung ergäbe.

Vors.: Diese Ansicht teilt auch der Gerichtshof.

Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bestritt der Untersuchungsrichter entschieden, „präokkupiert“ gewesen zu sein. Er sei stets bestrebt gewesen, jedes Mißverständnis auszuschließen, aber auch mit allen gesetzlichen Mitteln vollständige und wahrheitsgetreue Aussagen zu erhalten.

Justizrat Dr. Sello: Auch er lege auf die Aufklärung etwaiger Mißverständnisse und Ungenauigkeiten in der Voruntersuchung keinen Wert, desto größeren Wert aber auf die Ergebnisse der Hauptverhandlung.

Vors.: Namens des Kollegiums spreche ich den dringenden Wunsch aus, daß die Protokolle nicht weiter in Erörterung gezogen werden.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Das werden wir sehr gern tun.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Wir haben den Herrn Untersuchungsrichter doch gar nicht hierher zitiert.

Der hierauf vernommene Zeuge v. Reccum sagte nichts Ungünstiges über die Angeklagten aus. Allerdings habe er in der Voruntersuchung gesagt, Herr v. Kayser pflegte zu „senken“. Dies täten aber auch andere Spieler. Herr v. Kayser sei bei der Regulierung nicht auffallend säumig gewesen, v. Kröcher kenne er als einen, wohlerzogenen, anständigen Mann, v. Schachtmeyer sei im Spiel keineswegs irgendwie hervorgetreten, ihn habe es sogar amüsiert, als v.S. eines Abends mit zitternder Hand 10 Mark setzte. Wolff habe er für einen reichen Herrn gehalten und als weltgewandten und kunstverständigen Menschen kennengelernt. Er habe nicht gesehen, daß Wolff sich stets besonders an die Angeklagten herangedrängt habe. Er habe im ganzen gegen 30000 Mark verloren. Nach seiner Ansicht sei v. Kröcher leicht zu führen, und es sei bedauerlich, daß er nicht in andere Hände gefallen, sondern durch den leichtsinnigen Verkehr immer mehr in seiner Spielleidenschaft bestärkt worden sei. Er habe den bekannten Brief des Grafen Königsmarck nicht als „scherzhaft“ aufgefaßt. v. Kröcher habe auch sehr ernst mit ihm darüber konferiert, was er dagegen tun solle und gesagt, er könne die von ihm schon geplante Reise nach der Riviera nicht unternehmen, bevor diese Angelegenheit geordnet sei. v. Kröcher habe nun nicht etwa infolge des Briefes Berlin verlassen. Vorher hätten sie gemeinschaftlich eine geharnischte Erwiderung auf den Brief aufgesetzt, und als darauf keine Antwort erfolgte, habe er Herrn v. Kröcher geraten, nunmehr seine Reise anzutreten.

Auf eine Frage des v. Kröcher bestätigte der Zeuge, daß beispielsweise Herr v. Wrede, der ein sehr vornehmer und hochanständiger Spieler sei und „jeden Coup“ hielt, mit mehr Glück gespielt habe als alle drei Angeklagten.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Ist es vorgekommen, daß Sie mit anderen Herren zur Unterhaltung auch gar nicht um Geld gespielt haben, sondern um alle möglichen anderen Dinge, wie Ofenvorsätze, Sektbecher, Schnapsbecher, Dedikationen usw.?

Zeuge: Jawohl, das haben auch die Angeklagten bisweilen getan.

Graf von und zu Egloffstein (aus der Untersuchungshaft vorgeführt) bekundete als Zeuge: Er könne nicht sagen, daß v. Kröcher besonderen Aufwand getrieben habe; er sei vielmehr ein „sehr genauer Wirt“. Der Zeuge war einer der Gründer des Klubs, zu dessen Gründung v. Kröcher die Initiative ergriffen habe, um größere Garantie gegen das Eindringen unbequemer Elemente zu haben. Der Klub sollte nicht ausschließlich ein Spielklub sein. Ein gegliedertes Direktorium mit speziellen Funktionen für den einzelnen habe es nicht gegeben, es sei auch nicht richtig, daß v. Kayser besondere Direktiven für die Einladungen gegeben habe. Die Einladung des Wolff sei auf den Wunsch des Herrn v. Kröcher zurückzuführen, welcher etwaige Bedenken durch die Bemerkung zerstreute, daß Rittmeister Giesing mit Wolff befreundet sei. Das ganze Verhalten Wolffs konnte durchaus keinen Verdacht erregen. Zeuge Graf Egloffstein bekundete dann noch einen Vorfall, den ihm Baron v. Galy erzählt habe und der ein schlechtes Licht auf v. Kröcher werfen sollte. Danach soll Herr v. Galy eines Abends, um Herrn v. Kröcher die von diesem übernommene Bank abzunehmen, ein großes Paket blauer Scheine auf eine Karte gesetzt haben. Herr v. Galy will dann gefragt haben, ob Herr v. Kröcher die Bank halten wolle. Letzterer habe dies bejaht, nachdem er durch eine geschickte Beugung des Körpers die entscheidende Karte angesehen habe.

v. Kröcher erklärte dies für durchaus erfunden und ein solches Ansehen der Karten für eine technische Unmöglichkeit. Auch der Zeuge v. Reccum, ein Teilnehmer an dem fraglichen Spiel, trat der Behauptung des Barons v. Galy entschieden entgegen. Die ganze Gesellschaft habe damals dagegen protestiert, daß Baron v. Galy den Einsatz zurückziehen wollte.

Angeklagter v. Kröcher: Baron v. Galy gehöre zu denjenigen Personen, die nach dem Erscheinen des Tageblattartikels aus Berlin weggegangen seien.

Zeuge Graf Egloffstein bekundete noch: v. Kröcher habe, als er Pferde und Wagen hielt, Rennpferde laufen ließ und in der Hohenzollernstraße wohnte, einen Luxus getrieben, den er (Zeuge) in der Voruntersuchung „kolossal“ genannt habe. Zur Zeit der Begründung des Klubs habe v. Kröcher seine Lebenshaltung ganz bedeutend eingeschränkt.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt kämpfte nachdrücklich gegen die Berechtigung des Ausdrucks „kolossal“. Auf Befragen erklärte Graf v. Egloffstein, daß v. Galy nach dessen Behauptung im ganzen 100 bis 120000 Mark verloren habe.

Nach einer Behauptung des Herrn v. Galy soll v. Kröcher diesem folgendes zugestanden haben: Er habe nach Erscheinen des Artikels Herrn Wolff den dringenden Rat gegeben, sich einige Zeit fernzuhalten, da der Verdacht des Falschspiels gegen ihn aufgetaucht sei.

v. Kröcher bestritt dies entschieden und bekämpfte wiederholt die Glaubwürdigkeit des Barons v. Galy.

Zeuge Graf Egloffstein erklärte, daß die Gattin des österreichischen Botschafters die Kusine des Herrn v. Galy sei. Der Zeuge betonte zum Schluß auf eine bezügliche Frage, daß sein Abschied vom Militär seinerzeit auf sein Gesuch zum Zwecke der Auswanderung erfolgt sei.

Am neunten Verhandlungstage bemerkte der Vorsitzende: Vom Generalkommando des Gardekorps sei ein Schreiben eingegangen, in welchem General v. Bock anzeige, daß er Anstand nehmen müsse, aus den Personalakten des Gardekorps Mitteilungen zu machen. Es bezieht sich dies auf die Frage, aus welchem Grunde der Angeklagte v. Kröcher aus dem aktiven Dienst geschieden ist.

Angeklagter v. Kröcher gab anheim, daß, wenn den Angaben seines Vaters nach dieser Richtung hin nicht der genügende Glaube beigemessen werden sollte, seinen damaligen Regimentskommandeur zu laden. Übrigens sei es ja Aufgabe des Staatsanwalts, ihm zu beweisen, daß seine Angaben nicht richtig seien.

Die als Zeugin vorgerufene Frau Kriedemann war die Portierfrau, zu welcher der Kammerdiener Mayer einmal gesagt haben sollte, er habe von Herrn v. Kröcher mehr Geld bekommen, als er zu beanspruchen hatte. Die Zeugin bekundete gerade das Gegenteil: Der Kammerdiener Mayer habe ihr gesagt, er habe mehr zu beanspruchen, als er erhalten habe. Zeuge Mayer bestätigte dies. Bei dieser Gelegenheit wurde der Zeuge Mayer über das Zustandekommen eines Protokolls vernommen, welches Kommissar v. Manteuffel mit ihm aufgenommen hatte. Das Protokoll zeigte nachträgliche Einschiebungen mit blauer Tinte. Wie diese veranlaßt und gemacht worden sind, war Gegenstand des Streites zwischen dem Zeugen und v. Manteuffel. Letzterer trat wütend auf den Zeugen Mayer zu, musterte ihn mit zornigem Blick und rief mit energischer Stimme dazwischen: „Das ist die komplette Unwahrheit, was der Zeuge sagt!“ Durch weiteres Befragen wurde festgestellt, daß bei der Protokollierung alles vollständig ordnungsmäßig zugegangen sei. Nach dem Protokolle soll der Zeuge Mayer ausgesagt haben, v. Kröcher habe auf einer Reise eine Roulette und Karten im Koffer bei sich geführt. Zeuge Mayer bestritt, von einer Roulette gesprochen zu haben, er habe nur gesagt, daß Karten im Koffer gewesen seien. v. Manteuffel blieb dabei, daß der Zeuge genau das gesagt habe, was im Protokoll stehe.

Vors.: Zeuge Mayer, besinnen Sie sich doch! Es wäre doch eine Gewissenlosigkeit sondergleichen, wenn Herr v. Manteuffel etwas ins Protokoll schreiben würde, was nicht gesagt worden ist.

Zeuge: Er wisse nicht, wie er dazu hätte kommen sollen, von einer Roulette zu sprechen, da doch eine solche nicht im Koffer gewesen sei.

Vors.: Sind Sie vielleicht bei Ihrer Vernehmung nicht ganz zurechnungsfähig gewesen?

Zeuge: Ganz zurechnungsfähig.

v. Manteuffel blieb dabei, daß der Zeuge genau das gesagt habe, was im Protokoll stehe.

Bei der weiteren Vernehmung des Zeugen Mayer kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen dem Vorsitzenden und dem Verteidiger R.-A. Dr. Schachtel. Als nämlich der Oberstaatsanwalt Zwischenfragen an den Zeugen richtete, verlangte Rechtsanwalt Dr. Schachtel, daß der Zeuge zunächst im Zusammenhange sich aussprechen solle. Nach sehr lebhaften Ausführungen und Gegenausführungen über diese Frage erklärte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor rektor Denso, nachdrücklichst, daß er sich vom Verteidiger Vorschriften über die Leitung der Verhandlung nicht machen lasse und im Wiederholungsfalle eine Ordnungsstrafe veranlassen werde.

J.-R. Dr. Sello schloß die etwas erregte Erörterung über diesen Punkt mit der Erklärung ab, daß es der Verteidigung gänzlich ferngelegen habe, in die Befugnisse des Vorsitzenden, einzugreifen. Das Ersuchen des R.-A. Dr. Schachtel sei durch die Tatsache hervorgerufen worden, daß der Oberstaatsanwalt wiederholt derartige Zwischenfragen der Verteidigung als unzulässig bezeichnet habe.

Ein ehemaliger Offizier, der hierauf als Zeuge vernommen wurde, bekundete: Er habe bei seinen zahlreichen Spielen mit den Angeklagten nicht das geringste bemerkt, was unfair gewesen wäre. Auch er habe vielfach gewonnen, aber noch öfter verloren; er habe seinerzeit 100000 M. geerbt. Er bestätigte eine Frage des Vorsitzenden, daß der größte Teil dieses Geldes auf den Spieltischen geblieben sei. Auch in der Regulierung der Spielschulden sei ihm nichts aufgefallen, die Regulierung sei pünktlich erfolgt.

Aus den weiteren Bekundungen dieses Zeugen war hervorzuheben, daß er an einem Spielabend auch an einen Regierungsassessor 10000 Mark verloren habe. Das Spielen habe oft die ganze Nacht hindurch, nicht nur bis zum nächsten Morgen, sondern auch bisweilen len bis zum nächsten Mittag, manchmal sogar bis zum nächsten Abend gedauert.

Cand. med. v. Janta wurde von dem Angeklagten v. Kayser als ein Herr bezeichnet, der ihm feindselig gesinnt sei. Der Zeuge bestritt dies, gab aber zu, daß ihm v. Kayser nicht sympathisch sei, weil er rigoros bei der Einziehung von Spielschulden gewesen sei.

Zeuge v. Janta berichtete von einem Spielabend, an welchem 30 bis 40000 M. im Zentralhotel verloren worden seien. In wessen Tasche das Geld geflossen, wisse er nicht; es habe jedoch der Glaube geherrscht, daß v. Kayser und v. Schachtmeyer die Hauptgewinner an jenem Abend gewesen seien.

Lebhaftes Eingreifen der Verteidiger und der Angeklagten rief die Darstellung des Zeugen v. Janta über einen Vorfall hervor, bei dem der Angeklagte v. Kayser beim Spiel mit dem Rittergutsbesitzer v. Wrede angeblich nicht ehrlich vorgegangen sein soll, indem er als Bankhalter seine Points falsch angegeben und dann die Karten schnell weggeworfen haben soll. Er (Zeuge) habe dabei den Eindruck gehabt, daß es sich um einen Irrtum nicht handele, er sei fest überzeugt, daß auch er sich in seiner Wahrnehmung nicht geirrt habe. Er habe aber, weil er nicht genaue Beweise hatte – nicht sofort Protest erhoben, sondern erst etwas später Herrn v. Kröcher interpelliert, ob er nicht eine gleiche Wahrnehmung gemacht habe. v. Kröcher habe gesagt, es sei ihm beinahe auch so vorgekommen, er möge aber die Sache auf sich beruhen lassen.

v. Kröcher: Er habe dabei den Gedanken gehabt, daß er bei seinem flüchtigen Blick auf die Karten sich noch eher geirrt haben könne, wie Herr v. Kayser. Letzterer protestierte entschieden gegen den hier erhobenen Vorwurf. Er machte darauf aufmerksam, daß das Spiel morgens gegen 9 Uhr nach durchwachter Nacht stattgefunden, daß es sich schlimmstenfalls um einen Irrtum handeln konnte, den aber Herr v. Wrede sicher auch bemerkt haben würde, und dessen sofortige Feststellung Pflicht des Zeugen gewesen wäre.

Der Sachverständige Graf Reventlow trat dem Angeklagten darin bei, daß nur bei einer sofortigen Intervention eine Klarstellung der Sachlage möglich gewesen wäre. Durch Demonstrationen an dem Zeugentisch, um welchen sich die Angeklagten v. Kayser, v. Kröcher und der Zeuge gruppierten, wurde versucht, die Sachlage nachträglich festzustellen, was jedoch nicht gelang. Die Angeklagten und ihre Verteidiger bemerkten, daß das, was der Zeuge v. Janta behauptet, sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich sei. Der Zeuge blieb bei seiner Schilderung des Vorganges. Es sei ihm auch aufgefallen, daß an einem Abend, an welchem Wolff mitspielte, die Karten gebogen waren und daß auf seine ins allgemeine gerichtete tete Frage Wolff den Erklärungsgrund gab.

Auf Befragen des J.-R. Dr. Sello gab der Zeuge zu, auch in Ostende und Monte Carlo gespielt und an manchen Spielabenden erhebliche Summen gewonnen zu haben. Er habe auch von Wolff sich vorübergehend mit Summen bis zu 5000 M. aushelfen lassen.

Rittergutsbesitzer v. Wrede: Er könne Nachteiliges gegen die Angeklagten nicht aussagen. Er habe auch während des fraglichen Spiels an dem Abend, an welchem der vom Zeugen v. Janta geschilderte Vorfall passiert sein soll, absolut nichts Verdächtiges bemerkt. Er habe sich natürlich darauf verlassen, daß v. Kayser die richtigen Points ausgab; würde er in dieser Beziehung irgendwelchen Verdacht gehabt haben, dann hätte er natürlich überhaupt mit jenen Herren nicht gespielt.

Es wurde alsdann festgestellt, daß der Zeuge v. Janta einmal – lediglich um Bankhalter werden zu können – „banque ouverte“ angesagt hatte, wodurch er erreichte, daß sein Gebot allen anderen Geboten vorging. Einige Fragen der Verteidiger zielten dahin, darzutun, daß dieselben Momente, die gegen die Angeklagten als Indizien für gewerbsmäßiges Glücksspiel geltend gemacht wurden, auch bei den meisten der übrigen jugendlichen Teilnehmer an den Spielabenden zutreffen und daß auch diese größeren Spielgewinne nicht auf die hohe Kante gelegt, sondern zu Luxusausgaben, zur Bezahlung von Spielschulden usw. verwendet wurden. Speziell bezüglich des Zeugen v. Janta wurde hervorgehoben, daß dieser auch keinen sehr hohen Wechsel hatte und doch Banken bis zu 10000 M. hielt.

Der als Vertreter der Deutschen Bank vorgeladene Zeuge Krüger gab an der Hand des Kontoauszuges Auskunft über die für das Konto der Frau Frieda Voigt im Laufe der Jahre stattgehabten Einzahlungen und Auszahlungen und der vom Angeklagten v. Kayser gemachten Einzahlungen. Es ergab sich auf beiden Seiten eine stattliche Reihe von Zahlen, ferner die Tatsache, daß im Laufe dieses Jahres noch, d.h. nach der Verhaftung des Angeklagten v. Kayser Frau Frieda Voigt 11350 M. eingezahlt hatte.

v. Kayser suchte als Ergebnis dieses Kontos die Tatsache festzustellen, daß Frau Frieda Voigt im Laufe der Zeit ca. 14000 M. direkt zur Bezahlung seiner Spielschulden geliehen und er nach und nach zur Abtragung seiner Schuld an Frau Frieda Voigt im ganzen 16000 M. zurückgezahlt habe. Die Differenz von 2000 M. erkläre sich daraus, daß dies eine Summe sei, die ihm nicht durch die Bank zugeschickt, sondern von Frau Frieda Voigt persönlich abgehoben und ihm gegeben worden sei.

Vors.: Sollte es sich nicht doch vielleicht um Spielgewinne handeln, die Sie versteckt auf das Frieda Voigtsche Konto und dadurch in Sicherheit brachten?

Angekl. von Kayser: Ich bestreite das ganz entschieden.

J.-R. Dr. Sello: Die hier soeben laut gewordene Schlußfolgerung ist für das Schicksal des Angeklagten v. Kayser von so großer Wichtigkeit, daß die Verteidigung auf Grund des § 245 der Strafprozeßordnung den Antrag stellen muß, ihr Gelegenheit zu geben, diese heute hier vorgebrachten, zweifellos neuen Tatsachen zu prüfen und zu diesem Zweck die Verhandlung auf einen Tag zu unterbrechen.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel bestritt, daß diese Tatsachen „neu“ seien; sie seien schon vor einigen Tagen diskutiert worden.

R.-A. Dr. Schachtel: Für den Herrn Oberstaatsanwalt ist die Tatsache allerdings nicht neu, denn er hat den Kontoauszug schon heute früh vor der Sitzung gesehen, wir erfahren diese neue Tatsache erst in der dritten Nachmittagsstunde.

J.-R. Dr. Sello: Die Tatsache, daß das Konto bei der Deutschen Bank bestand, ist allerdings nicht neu, aber die einzelnen Posten des Kontos sind neu.

Der Gerichtshof beschloß, den Wünschen der Verteidigung nachzukommen und zum Zwecke der Kenntnisnahme von den einzelnen Posten des Kontos demnächst die Verhandlung auf einen Tag zu vertagen.

Leutnant a.D. Graf Schwerin: Er habe im Klub dauernd verloren. Er beziffere seinen Verlust auf 15000 M. Hauptsächlich habe er an Wolff und v. Schachtmeyer verloren. Gegen Wolff habe er kein Mißtrauen gehabt; Wolff habe immer den Eindruck eines gebildeten Lebemannes gemacht. Anfangs November 1898 habe er Herrn v. Kayser einmal gefragt, was Wolff sei und die Antwort erhalten: „Sie sehen ja, er ist Pointeur.“ Er habe in einem Briefe, in welchem er eine Reihe von Fragen des Herrn v. Manteuffel beantwortete, auch gesagt, „mit Ausnahme von Wolff, von Schachtmeyer und v. Kayser habe niemand einen Pfennig gewinnen können“. Er könne diese damals nicht beeidete Aussage nicht aufrechterhalten und gebe zu, daß er diese Verdächtigung etwas leichtfertig ausgesprochen habe. Er könne nur aufrechterhalten, daß er die Angeklagten einmal beim Spiel habe zusammensitzen sehen und es habe ihm geschienen, als wenn sie aus einer Kasse spielten.

Vors.: Es ist allerdings auffallend, daß Sie Ihre früheren Angaben jetzt nicht mehr aufrechterhalten. Herr v. Manteuffel hat Ihnen doch völlig freie Hand gelassen, der Wahrheit gemäß auszusagen?

Zeuge: Ja.

Vors.: Sie haben auch früher gesagt, daß Sie den Verlust, den Herr v. Oetzel erlitten hat, auf etwa 50000 M. schätzen?

Zeuge: Jawohl, ich habe dies auch aus dem Munde v. Oetzels selbst gehört.

Angekl. v. Kayser: Herr v. Oetzel hat gestern unter seinem Eide gesagt, daß er nur etwa 4000 M. an mich verloren hat.

R.-A. Dr. Schachtel erklärte, daß die Verteidigung unter diesen Umständen den Zeugen v. Oetzel noch einmal laden müsse.

Vors.: Herr Graf, Sie sollen auch freundschaftlich mit Herrn Wolff verkehrt und ihn in seiner Wohnung besucht haben?

Zeuge: Ein näherer Verkehr zwischen uns hat nie bestanden, ich bin auch nur einmal in seiner Wohnung gewesen, um eine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen.

J.-R. Dr. Sello: Haben Sie denn gesehen oder von anderen gehört, daß Herr v. Kayser mit Wolff verkehrte?

Zeuge: Nein, nur im Klub habe ich sie zusammen gesehen.

R.-A. Dr. Schwindt: Haben Sie Dr. Kornblum gekannt?

Zeuge: Ja, ich habe ihn in Nizza kennengelernt.

v. Kayser: Hat Dr. Kornblum damals nicht riesig in Monte Carlo gewonnen?

Zeuge: Er gewann dort in drei Tagen 20000 M., dann verlor er sie wieder und das Geld, das er mitgebracht bracht hatte, dazu.

Oberstaatsanwalt: Können Sie nicht etwas Näheres über Dr. Kornblum, über sein Wesen und seinen Charakter mitteilen?

Zeuge: Dazu kannte ich ihn zu wenig.

Oberstaatsanwalt: War er nicht ein sogenannter Schwätzer, mit dem die Phantasie leicht durchging, so daß er nicht sehr zuverlässig war?

Zeuge: Den Eindruck machte er allerdings.

Oberstaatsanwalt: War er nicht auch ein Mann, der gern über andere Personen schlecht sprach?

Zeuge: Ich habe nur bemerkt, daß er einmal über Herrn v. Kayser schlecht sprach, in welcher Art, weiß ich nicht mehr.

R.-A. Dr. Pincus I: Sie haben doch auch an andere Personen als an die Angeklagten verloren?

Zeuge: Gewiß.

Auf Anregung des Justizrats Dr. Sello gelangte ein Brief zur Verlesung, den Herr v. Manteuffel an den Grafen Münster richtete und der nach der Erklärung des v. Manteuffel denselben Wortlaut hatte, wie das an den Zeugen gerichtete Schreiben. v. Manteuffel bat darin „als ehemaliger Offizier“ um die Unterstützung des Adressaten in dieser Prozeßsache und ersuchte sodann um Beantwortung einiger Fragen.

Zeuge v. Manteuffel: Damit nicht wieder der Vorwurf gegen mich erhoben wird, als ob ich unter Bezugnahme zugnahme auf meine militärische Stellung Kameraden ausgeforscht hätte, erkläre ich folgendes: Im Einverständnis mit der Militärbehörde, mit dem Landgerichtsrat Herr und dem Oberstaatsanwalt Drescher ist mir erlaubt worden, Privatbriefe an die Herren zu schreiben und sie zu bitten, hierher zu kommen, da sich sonst die Voruntersuchung ins Unendliche ausdehnen würde. Ich habe also im Interesse dieser Herren und auch im kameradschaftlichen Interesse gehandelt.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Hatten Sie nicht den Auftrag, möglichst diskret und schonend Ihre Ermittelungen anzustellen, um kein Aufsehen zu machen?

v. Manteuffel: Allerdings.

R.-A. Dr. Schachtel: Das Verfahren des Herrn v. Manteuffel scheint dann doch nicht den Wünschen der Auftraggeber entsprochen zu haben, oder aber Herr v. Manteuffel hat keine Sachverständigenkenntnis, denn sonst würde er in seinen brieflichen Fragen nicht das Kaufen auf Sechs auch als verdächtig hervorgehoben!!!! haben. Nach der Bekundung des Sachverständigen, Grafen Reventlow, ist dies gar nicht verdächtig.

v. Manteuffel: Demgegenüber muß ich darauf hinweisen, ich habe nie behauptet, daß das Zukaufen auf Sechs ein Falschspiel erweise, sondern daß das regelmäßige mäßige Zukaufen von Zwei und Drei auf Sechs außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegt.

Vors.: Wann haben Sie Bakkarat kennengelernt?

v. Manteuffel: Schon als Offizier.

Vors.: Da haben Sie es praktisch kennengelernt. (Heiterkeit.)

Ingenieur James Murrey, aus Barbados in Westindien stammend und britischer Untertan, war seit 4 Jahren dauernd in Berlin und in die Spielerkreise hineingeraten. Er bekundete als Zeuge: Er habe vom Bakkarat gar nichts verstanden, sei aber dann in das Spiel nach und nach eingeweiht worden. Das Spielglück habe ihn stets im Stiche gelassen, er habe immer verloren, aber nicht etwa nur an die Angeklagten, sondern auch an andere. Herr v. Kayser sei der einzige, von dem er einmal 750 M. gewonnen habe. v. Kayser habe seine Schuld promptest reguliert. Er beklagte sich über einen in der Lüneburger Straße wohnhaft gewesenen angeblichen Offizier v. Radeck, der sich nicht sehr nett beim Spiel gegen ihn benommen habe. Wolff habe er (Zeuge) in der Eremitage in der Jägerstraße beim Jeu kennengelernt, dieser habe auf ihn den Eindruck eines so vollkommenen Gentleman gemacht, wie er ihn noch nie kennengelernt hatte. (Heiterkeit.) Wolff sei ein hochintelligenter Mann, der nach seiner Angabe in den besten Familien Südamerikas Zutritt hatte, in welche sehr schwer hineinzukommen men war. Er sprach ein äußerst feines Englisch, wie es den gewöhnlichen Kreisen nicht eigen sei.

Schneidermeister Schwarz, der für die Familie v. Kröcher lange Zeit arbeitete, bekundete als Zeuge: Generalmajor v. Kröcher habe ihm einmal nahegelegt, daß er seinem Ältesten, der ihm Sorge mache, weil er spiele, zum Guten raten möge. Im Vertrauen habe der alte Herr dann hinzugesetzt, daß er ja schließlich im Notfalle bezahle, daß der Sohn aber nicht ohne weiteres darauf pochen solle. Einige Zeit darauf sei der Angeklagte v. Kröcher mit seinem Bruder bei ihm gewesen und habe ihn in großer Aufregung bestürmt, ihm 2000 M. zu leihen, da er Spielverluste gehabt habe und seinem Vater jetzt nicht kommen dürfe, weil er diesem erst kurz vorher gebeichtet und quasi das Versprechen gegeben habe, nicht mehr zu spielen. Da ihm (Zeugen) nahegelegt wurde, daß sich evtl. der Angeklagte v. Kröcher eine Kugel durch den Kopf schießen müßte oder der Vater an gebrochenem Herzen sterben würde, habe er die 2000 M. hergegeben und in zwei Raten zurückerhalten.

Oberstaatsanwalt: Von welchem Gelde erfolgte die Rückzahlung?

Angekl. v. Kröcher: Aus Spielgewinn ist die ja auch aus dem Spiel herrührende Schuld beglichen worden.

Leutnant v. Schatz: Er sei, wenn er auf der Durchreise reise durch Berlin kam, wiederholt in dem Spielerkreise gewesen. Eines Abends, als v. Kröcher die Bank hielt, habe er an diesen 7000 M. verloren; er hatte nur 1000 M. bar bei sich. Da habe ihm v. Kröcher nach und nach einige tausend Mark zum Weiterspielen geliehen. Er sei noch Schuldner des Angeklagten v. Kröcher in Höhe von 4000 M., er sei aber von ihm keineswegs bedrängt worden. Er (Zeuge) habe sämtliche Teilnehmer der Spielabende für ehrenwerte Herren gehalten und den Eindruck gehabt, daß in jeder Beziehung regelrecht gespielt wurde. Den Eindruck, als ob v. Kayser ein hervorragender Arrangeur beim Spielen war, habe er nicht gehabt.

J.-R. Dr. Sello: Ist dagegen dem Zeugen vielleicht die uhrenmäßige Pünktlichkeit bekannt, mit der Herr Dr. Kornblum an den Spielabenden erschien, so daß, als er einmal wegblieb, ein Herr scherzweise vorschlug, ihm einen Kranz aus der Pinke zu stiften?

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

v. Kayser: Bei Hecht hat Kornblum allein die Pinke geregelt und merkwürdigerweise ist nie ein Pfennig übriggeblieben. Das hat manchmal Bedenken erregt.

Bezüglich der „Bank“ beim Spiel gab v. Kröcher auf Befragen die Auskunft, daß diese meistbietend vergeben wurde. Die höchste Bank, die er selbst gehalten, habe den Betrag von 6000 M. erreicht, die er bar einzusetzen hatte.

Leutnant v. Frischen: Er habe an einem Abend von Herrn v. Kröcher 5000 M. gewonnen; die Regulierung habe ganz glatt stattgefunden. v. Kayser habe er als einen sehr kulanten Spieler kennengelernt, der im Juni 1897 auch sehr viel Pech gehabt und sehr viel verloren habe. Kornblum habe auf ihn „keinen angenehmen Eindruck“ gemacht.

Oberleutnant v. Heppke: Infolge der Zeitungsartikel und des Ganges der Voruntersuchung sei er fest von der Schuld der Angeklagten überzeugt gewesen. Er habe es für Pflicht gehalten, Leute, die aus guter Familie waren, den besten Gesellschaftskreisen angehörten und sich so vergangen hatten, nicht zu schonen. Unter diesem Eindruck habe er bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter nur an die belastenden Momente und nicht an die entlastenden gedacht. Sobald aber der Verdacht des Falschspiels falle, fallen auch diese Momente weg, denn sie seien nur zutreffend unter der Voraussetzung, daß die Angeklagten betrogen haben.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Es kommt der Anklagebehörde auf die Feststellung dieser Widersprüche und auch darauf an, daß damals zur Zeit der Verhaftung der Angeklagten die diesen bekannten Herren solche Meinung von ihnen hatten.

R.-A. Dr. Schachtel: Es ist ja schon festgestellt, daß zahlreiche Zeugen durch den ganzen Gang der Voruntersuchung in gleicher Weise so präokkupiert waren, daß sie nur auf die belastenden Momente Gewicht legten. Wenn übrigens fortgesetzt auf die Protokolle und derartige Briefe an Herrn v. Manteuffel zurückgegriffen wird, dann müssen wir die ganze Reihe der Zeugen nochmals vorladen lassen, um sie noch einmal genau zu befragen, wie sie zu ihren belastenden Aussagen gekommen sind.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Die Vorhaltungen geschehen wesentlich deshalb, um zu zeigen, wie anders die Zeugen früher ausgesagt haben und um zu rechtfertigen, daß so scharf gegen die Angeklagten vorgegangen werden mußte, denn sonst würde man es nach dem Gange der Hauptverhandlung in der Öffentlichkeit für unbegreiflich halten, warum die Angeklagten in Haft genommen wurden.

Auf Befragen des R.-A. Dr. Schachtel bekundete der Zeuge v. Heppke noch, daß auch in dem Briefe an ihn Herr v. Manteuffel die Unterschrift gebraucht hat „Königl. Kriminalkommissar und Hauptmann der Garde-Landwehr-Feldartillerie“.

R.-A. Dr. Schachtel: Welche Militärbehörde hat Herrn v.M. den Auftrag gegeben, sich mit den als Zeugen zu vernehmenden Offizieren in Verbindung zu setzen?

v. Manteuffel: Wir hatten Zweifel, ob wir befugt seien, die Herren zur Rücksprache aufzufordern, ohne daß alles durch die Militärbehörde gehe. Oberstaatsanwalt Drescher hatte dann aber die Mitteilung gemacht, daß nach einer von ihm an maßgebender Stelle gehaltenen Rücksprache dies geschehen könne.

R.-A. Dr. Schachtel: In den Akten findet sich von alledem nicht das mindeste vor und man kann sich deshalb nicht wundern, daß in der Öffentlichkeit daraus bestimmte Schlüsse gezogen werden.

Es wurde alsdann noch einmal Schneidermeister Schwarz über die Anzüge vernommen, die er für den Angeklagten v. Kröcher geliefert hatte. Es ergab sich, daß die Lieferungen sehr umfangreich waren und sich auf Militär- und Zivilbedürfnisse des Angeklagten erstreckten. In der ersten Jahresrechnung figurierten u.a.: eine Jagdequipierung für 600 M., eine Tennisequipierung, ein Militärpelz. Der Angeklagte v. Kröcher erklärte dazu, daß er den Jagdanzug haben mußte, weil in seinem Regiment das Jagdreiten gewissermaßen als Dienst aufgefaßt wurde und er an den Grunewaldjagden teilnahm. Auch die Tennisequipierung habe er haben müssen. Übrigens gehörte dies zur ersten Offiziersequipierung, die sein Vater bezahlt habe. Es sei doch wohl einleuchtend, daß er als junger Fähnrich nicht die Spielerkreise besucht und soviel Gewinne eingestrichen haben könne, um daraus die Offiziersequipierung zu bezahlen. Er berufe sich auf das Zeugnis des Schneidermeisters, daß er als Fähnrich ein „auffallend solider junger Mann.“ gewesen sei.

Schneidermeister Schwarz: Er könne das bestätigen. Nachher sei es aber anders geworden, nachher habe Generalmajor v. Kröcher manchmal seinen Kummer ausgedrückt, daß der Sohn spiele.

Die Angeklagten betonten im weiteren Verlauf auf Befragen des Oberstaatsanwalts, daß kein Klub und kein Direktorium bestanden habe, und auch keine „Dauerkarten“ auf kürzere oder längere Zeit ausgegeben worden seien. Als man in das Zentralhotel übersiedelte, seien die abendlichen Kosten viel größer geworden als bei Hecht, es mußten von jedem Teilnehmer 30 M. in die „Pinke“ gezahlt werden. Zur Bequemlichkeit und Erleichterung derjenigen, die häufiger kamen, sei dann die Einrichtung getroffen worden, daß diese auf einmal 100 M. einzahlen konnten.

Nach Auskunft des Sachverständigen Grafen Reventlow bestehe auch in Baden-Baden und im Klub zu Heiligendamm die Einrichtung, daß während der Rennen in ähnlicher Weise der Zutritt zu den Spielabenden erleichtert werde.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel stellte ferner durch Befragen fest, daß v. Kröcher im Jahre 1897 Reisen nach Aachen, Ostende, Namur, Paris, Wiesbaden, wieder Paris und Monte Carlo gemacht habe und im Jahre 1898 zu seiner Erholung in Tirol, dann in Hamburg, Ostende, Wiesbaden und Nizza gewesen sei.

Unter den alsdann vernommenen zahlreichen Zeugen befand sich auch Rittmeister d. L. Giesing, der mit Wolff näher bekannt gewesen sein soll und mit diesem in dem Spielerkreise verkehrte. Dieser bekundete: Er habe zwar gehört, daß man Wolff suchte und daß ein Verfahren wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels gegen ihn schwebte, er sei aber schließlich der Meinung gewesen, daß Wolff es verstanden habe, sich um eine Strafe herumzudrücken. Jedenfalls habe er nicht mit Sicherheit gewußt, daß Wolff verurteilt worden war. Von der Verurteilung Wolffs zu Zuchthaus und seinen sonstigen Strafen habe er nichts gewußt. Er sei dann mehrere Jahre im Auslande gewesen und habe Wolff erst im Jahre 1895 oder 1896 in Berlin zufällig wieder getroffen. In den Spielerkreisen habe er vor Wolff nicht gewarnt, weil er ihn hier in anderen Verhältnissen wiedergetroffen habe; er habe sich deshalb nicht bewogen gefühlt, den Mann bloßzustellen und zu ruinieren. Er habe an Wolff noch heute ein Darlehn von 10000 M. zu verzinsen. Er habe vor zwanzig Jahren auch einmal eine finanzielle Verpflichtung dem Spieler Reuter gegenüber gehabt. Weder die Angeklagten noch Wolff haben irgendwie anders gespielt, als alle anderen Spieler.

Vors.: Sie sind doch nur Rittmeister der Landwehr, sollen aber mit einem gewissen Nachdruck als „Herr Rittmeister“ vorgestellt worden sein.

Zeuge: Bekanntlich ist ja hier die Titelsucht besonders groß. Ein Titel wird einem ja immer angehängt, mindestens ist man doch „Herr Doktor“. (Heiterkeit.)

J.-R. Dr. Sello: Steht nicht auf Ihren Visitenkarten auch die Bemerkung „Rittmeister der Landwehr-Kavallerie“?

Zeuge: Ja.

R.-A. Dr. Schachtel: Ich mache darauf aufmerksam, daß auch auf den Visitenkarten des Herrn v. Manteuffel steht: „Kgl. Kriminalkommissar und Hauptmann der Reserve des II. Garde-Artillerie-Regiments“. (Heiterkeit.)

Im weiteren Verlauf bekundeten die Zeugen übereinstimmend, daß ihnen an den Spielabenden nichts Verdächtiges aufgefallen sei. Einige erklärten, daß v. Kröcher mehr gewonnen habe wie die anderen. Ein Zeuge bekundete: Er habe viermal verloren und achtmal gewonnen und zum Schluß mit einem Überschuß abgeschnitten. Wiederholt wurde festgestellt, daß alle drei Angeklagten gewonnen, aber auch – in einzelnen Fällen sogar bedeutend – verloren haben. Speziell wurde dem Angeklagten v. Kayser bestätigt, daß er im Viktoriahotel mehrmals sehr im Pech war. Die Teilnehmer an den Spielabenden waren, wie v. Kayser bei einer Gelegenheit betont hat, „alle ausgetragene Spieler“. Die Annahme der Anklage, daß v. Kröcher ganz besonders zur Teilnahme am Spiel angereizt und die Leute gewissermaßen in den Klub „geschleppt“ habe, wurde durch die Zeugen nicht bestätigt, dagegen ließen sich die Angeklagten durch Befragen der Zeugen immer wieder bestätigen, daß sie bei Regulierung der Spielgewinne und Verluste kulant vorgegangen seien. Bei einem Zeugen, einem jungen Offizier, der auch „sehr viel“ verloren hatte, wies die Verteidigung darauf hin, daß dieser gleichfalls nur einen geringen Zuschuß erhielt und sich dennoch auch Rennpferde, ein kostbares „Verhältnis“ u. dgl. gehalten habe. Ein junger Kaufmann, der eine Zeitlang den Spielerkreisen angehört hatte, bezifferte seinen Gesamtverlust an die verschiedensten Personen auf 50000 M.

Am elften Verhandlungstage teilte der Verteidiger R.-A. Dr. Schachtel mit, daß Justizrat Kleinholz ein Schreiben des Herrn Maximilian v. Zedlitz aus Paris erhalten habe. v. Zedlitz sprach darin seine Verwunderung aus, daß man sich nicht auf sein Zeugnis berufen habe. Er sei bereit, auf eigene Kosten nach Berlin zu kommen und sich vernehmen zu lassen; er könne nur sagen, daß er seit 1894 häufig mit v. Kayser am Spieltisch gesessen und dieser nie unfair gespielt habe.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel hielt eine Vernehmung mung des Herrn v.Z. nicht für notwendig, da ja schon durch verschiedene Zeugen bekundet worden sei, daß v.K. nicht unfair gespielt habe. Interessant sei in dem Briefe nur, daß schon im Jahre 1894 gespielt wurde, während bisher immer erst das Jahr 1895 als Anfangstermin galt.

Leutnant v. Neimert: Er habe vor zwei Jahren einmal mit v. Kayser eine Nacht hindurch bei Albrecht gespielt. Als die Spieler endlich am hellen Morgen das Albrechtsche Lokal verlassen mußten, war v. Kayser der „Angeschossene“. Sie gingen dann in seine (des Zeugen) Wohnung im Hotel Bristol. Dort wurde das Jeu fortgesetzt mit dem Schlußeffekt, daß v. Kayser 12400 M. verloren hatte. Mit der Regulierung dieser Schuld habe es dann gehapert. v. Kayser habe ihn, wie sich aus verlesenen Briefen ergibt, in recht dringlicher Weise um Nachsicht ersucht. In dem einen Briefe schrieb v. Kayser, daß er in jener Nacht sinnlos betrunken gewesen und zu sehr „angeschossen“ worden sei. Er befinde sich in dringender Verlegenheit, habe in zehn Tagen seine erste schriftliche Arbeit zum Assessorexamen abzuliefern, werde selbst von seinen Schuldnern im Stich gelassen und bitte, seine Verzweiflung nicht zu vermehren. Nach seiner (des Zeugen) Erinnerung habe v. Kayser gesagt, er sei elternlos und habe kein Vermögen. Von der Schuld seien erst 2400 M. reguliert, der Rest von 10000 Mark stehe noch offen.

v. Kayser erklärte dies damit, daß infolge der Artikel im „Tageblatt“ damals auch seine Spielschuldner nicht an ihn bezahlt haben und er deshalb nicht habe einsehen können, warum er allein bezahlen solle. Er bleibe dabei, daß er in jener Nacht „stark animiert“ gewesen sein müsse, da er sich sonst auf ein Spiel nicht eingelassen haben würde, bei dem die Chancen für ihn von vornherein sehr schlecht standen.

Leutnant von Reimert: Er habe von sinnloser Trunkenheit des Angeklagten nichts gemerkt, anderenfalls würde er mit dem Angeklagten selbstverständlich nicht gespielt haben.

Justizrat Dr. Sello stellte fest, daß v. Kayser zu der Zeit, als er dem Zeugen das Geld schuldig wurde, er von anderen Herren über 15000 Mark zu fordern hatte.

Nach einigen vom Oberstaatsanwalt an den Zeugen gerichteten Fragen stellte Rechtsanwalt Dr. Schachtel den prozessualen Antrag, daß in Gemäßheit des § 256 der Strafprozeßordnung die Zeugen erst im Zusammenhange sich äußern sollen, daß dann den Angeklagten Gelegenheit gegeben werde, sich zu äußern und hierauf erst dem Staatsanwalt zu gestatten, Fragen zu stellen, damit nicht durch das jetzige System der vorherigen Befragung durch den Oberstaatsanwalt der Zeuge einseitig beeinflußt werde.

Vors.: Ist es Ihnen nicht bekannt, daß nach den Grundsätzen des Reichsgerichts § 256 nur instruktiver Natur ist und ein Revisionsgrund daraus nicht hergeleitet werden kann?

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Es handelt sich gar nicht um einen Revisionsgrund, sondern um eine prozessuale Handhabung nach den Grundsätzen, die der Gesetzgeber festgestellt hat.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel legte aufs entschiedenste Verwahrung gegen den Vorwurf der „einseitigen Beeinflussung“ ein. Eine solche habe ihm in seinem ganzen amtlichen Leben stets ferngelegen; er müsse die Protokollierung der Äußerung des Verteidigers beantragen.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Ich habe natürlich nur eine sachliche Beeinflussung im Auge gehabt, die der Gesetzgeber vermeiden wollte.

Justizrat Dr. Sello trat der prozessualen Auffassung des Rechtsanwalts Dr. Schachtel entgegen.

Vors.: Ich bin der Ansicht, den Angeklagten wird in ausreichendstem Maße Gelegenheit zur Verteidigung gewährt. Kaum in irgendeinem anderen Prozesse dürften die Angeklagten Gelegenheit haben, soviel zu reden, wie hier.

v. Kayser: Ich habe mich ja auch noch gar nicht über die Beschränkung des Fragerechts beklagt.

Die Rechtsanwälte Dr. Schwindt und Pincus I gaben namens ihrer Klienten dieselbe Erklärung ab.

Die vom Staatsanwalt beantragte Protokollierung wurde vorgenommen.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen v. Reimert vor dem Untersuchungsrichter verlesen. Die damaligen Aussagen des Zeugen klangen recht ungünstig für die Angeklagten. Danach sollte v. Kayser, als er an Begleichung der Spielschuld erinnert wurde, u.a. gesagt haben: „Sie sind aktiver Offizier und ich Zivilist, Sie bekommen überhaupt nichts von mir, ich würde mich evtl. an Ihren Regimentskommandeur wenden.“

v. Kayser bestritt, eine Drohung in dieser Form ausgesprochen zu haben. Er habe nur gesagt, daß, wenn ihm der Zeuge Unannehmlichkeiten bereiten sollte, er das tun würde.

v. Reimert erklärte auf Befragen des Justizrats Dr. Sello, er könne nicht sagen, daß der Angeklagte v. Kayser mit dem Regimentskommandeur gedroht habe; er habe auch nur eine ähnliche Äußerung, wie sie jetzt v. Kayser gemacht, in Erinnerung. Der Zeuge bestätigte auch dem Angeklagten v. Kayser, daß dieser ihn wegen seiner Äußerung um Entschuldigung gebeten und gesagt habe, diese sei nur in der Bezechtheit erfolgt.

Justizrat Dr. Sello: Da hier nun wieder ein Protokoll verlesen worden ist, mit der Motivierung, daß festgestellt werden soll, was der Zeuge früher ausgesagt hat, so muß – selbst wenn die Verhandlung sich ins Unermeßliche ausdehnen sollte – die Verteidigung beantragen, sämtliche Protokolle über die Vorvernehmungen aller Zeugen in Gegenwart der wieder herbeizitierten Zeugen zu verlesen, gleichfalls um festzustellen, was diese ausgesagt haben und unter welchen Umständen dies geschehen ist.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich kann der Verlesung nicht widersprechen, selbst wenn die Verhandlung 6 Wochen dauern sollte.

Justizrat Dr. Sello: Die Verhandlung würde wohl ein Vierteljahr dauern, denn sämtliche Zeugen müßten wieder hierher kommen.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Namens meines Klienten soll ich erklären, daß dieser eine Verlesung der sämtlichen Protokolle nicht für nötig hält, da nach seiner Meinung trotz aller Protokolle für die Entscheidung doch nur maßgebend sein kann, was die Hauptverhandlung erbringt und was die Zeugen hier aussagen.

Vors.: Ich habe schon wiederholt betont, daß für den Gerichtshof nichts anderes maßgebend sein kann, als was hier ausgesagt wird. Ich frage den Angeklagten v. Kayser, ob er selbst dem Antrage seines Verteidigers beitritt und die Verlesung der sämtlichen Protokolle wünscht.

v. Kayser: Er wolle sich mit seinen Verteidigern beraten.

Hierauf wurde Rechtsanwalt Wronker als Zeuge aufgerufen, der die Verteidigung des Wolff in dieser Anklagesache übernommen hatte. Auch er bestätigte, daß Wolff auf jeden Unbefangenen einen vorzüglichen Eindruck, den Eindruck eines vollkommenen Gentleman machen müsse. Er habe ihn für einen wohlhabenden Mann gehalten. Nach Wolffs glaubwürdig erscheinenden Angaben sei er nur 6- bis 8mal im Zentralhotel gewesen und mit den Angeklagten nicht in intimen Verkehr getreten. Wolff wolle auch per Saldo wenig oder gar nichts gewonnen haben. Er hatte, wie sich aus seinen Angaben ersehen ließ, nur zu seinem Vergnügen gespielt, denn er hatte mit seiner Vergangenheit vollständig gebrochen und nun wohl den Ehrgeiz, in bessere Kreise zu kommen.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Weiß der Herr Zeuge vielleicht, warum Wolff, wenn er das Bewußtsein hatte, nichts Böses begangen zu haben, entflohen ist?

Rechtsanwalt Wronker: Aus einem an seine Ehefrau gerichteten Briefe ist folgendes zu ersehen: Er hatte wohl die Befürchtung, daß nach dem „Tageblatt“-Artikel „ganz kolossale Sachen“ sich entwickeln und er selbst wegen seiner Vergangenheit verhaftet werden würde. Eine längere Haft glaubte er bei seiner zerrütteten Gesundheit nicht aushalten zu können. nen.

Oberstaatsanwalt: Woher kam dieser Brief?

Zeuge: Das kann ich Ihnen nicht sagen, das weiß ich nicht. Ich erhielt ihn aus den Händen seiner in Charlottenburg wohnenden Frau, der Brief ist vorsichtigerweise nur datiert „30.12.98“. (Heiterkeit.) Der Zeuge verlas, unter Hinweis auf seine Pflicht der Amtsverschwiegenheit, aus dem Briefe nur einzelne Stellen, in welchen es u.a. hieß: Man habe aus der Mücke einen Elefanten gemacht; er sei so gemein verleumdet worden, daß er nicht mehr wagen dürfe, auf die Straße zu gehen. Er würde sich unter allen Umständen stellen, aber er wolle nicht monatelang in Untersuchungshaft sitzen, das vertrage seine Gesundheit absolut nicht. Rechtsanwalt Wronker bekundete ferner, daß er noch kurz vor Beginn dieser Verhandlung im Auftrage des Wolff Versuche angestellt habe, ob es sich ermöglichen lasse, die Voruntersuchung gegen Wolff etwa innerhalb einer Woche zu erledigen. Dies sei aber unmöglich gewesen. Während dieser Hauptverhandlung habe sich Wolff ferner an seine Frau gewandt, ob es denn gar nicht möglich sei, daß er als Zeuge vernommen werden könnte. Er (Rechtsanwalt Wronker) habe den Eindruck, daß Wolff nicht aus Furcht vor Strafe entflohen sei, sondern zur Vermeidung einer langen Untersuchungshaft, daß er jetzt unter keinen Umständen es ablehnen würde, eine kurze Untersuchungshaft auf sich zu nehmen, und daß er nach Beendigung dieser Verhandlung bestimmt kommen werde.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: In der Reuterschen Sache hatte sich Herr Wolff auch auf längere Zeit unsichtbar gemacht.

Im weiteren Verlauf wurde von den Verteidigern darauf hingewiesen, daß große Verluste auch in anderen Kreisen vorkommen. Graf Zech soll im „Turfklub“ über 100000 Mark verloren haben.

Bei der weiteren Zeugenvernehmung kam es wieder zu einer lebhaften Szene. Rechtsanwalt Dr. Schachtel trat lebhaft einer Auffassung des Vorsitzenden entgegen. Der Vorsitzende erklärte energisch, daß er sich diese Art und Weise ernstlich verbitten müsse und im Wiederholungsfalle den Gerichtshof wegen Verhängung einer Ordnungsstrafe befragen werde. Er wisse, wie die Mitglieder des Kollegiums über das Verhalten des Verteidigers denken.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Er habe sich keineswegs persönlich gegen den Vorsitzenden richten, sondern nur sachlich die Interessen seines Klienten wahrnehmen wollen.

Im ferneren Verlauf erbat sich Rechtsanwalt Dr. Schachtel noch einmal das Wort: Der Herr Vorsitzende hat vorhin der Androhung einer Ordnungsstrafe die Bemerkung hinzugefügt, daß er wisse, wie die übrigen gen Mitglieder des Richterkollegiums über mich denken. Ich möchte fragen, ob sich dies auf meine Person beziehen soll und im Falle einer nicht zufriedenstellenden Erklärung die Bitte aussprechen, den Vorgang zu Protokoll zu nehmen.

Vors.: Weder ich noch ein Mitglied des Kollegiums haben gegen die Person des Verteidigers das geringste einzuwenden; die Anträge des Verteidigers fallen aber nach Ansicht des Gerichts mitunter lästig.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Es handelt sich also nur um einen sachlichen Zwiespalt?

Vors.: Ganz gewiß.

Dr. Schachtel: Dann bin ich zufrieden.

Am zwölften Verhandlungstage bekundete Rechtskandidat v. Schreiber: Er sei zugegen gewesen, als im Viktoriahotel der Vorfall mit Herrn v. Schrader sich ereignete, bei welchem nach dem Weggange des letzteren mehr Karten im Spiel vorgefunden wurden, als vorhanden sein durften. Er sei auch in Leipzig gewesen und habe dort mit Levin und Marks gespielt. Er habe bestimmt beobachtet, daß Marks die Aufmerksamkeit der Mitspieler durch Gespräche abzulenken wußte und dann die Karten mit großer Fingerfertigkeit so mischte, daß immer große Schläge hintereinander für ihn erfolgen mußten.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Schwindt erklärte der Zeuge, daß v. Kröcher an dem Abend, als der Vorfall mit v. Schrader passierte, nicht im Viktoriahotel war und daß v. Kröcher im Zentralhotel eine sehr unglückliche Bank hatte. Dr. Kornblum sei ihm sehr unsympathisch gewesen, obgleich er leider ein Verwandter von ihm sei. Er habe einmal Herrn Kornblum wegen einer groben Beleidigung eine Pistolenforderung geschickt. Kornblum habe aber darauf nicht reagiert. Dieser Vorfall habe mit dazu beigetragen, daß man den Wunsch hatte, einen Zirkel ohne Teilnahme des D Kornblum zu bilden.

Der Bruder dieses Zeugen, Fabrikbesitzer v. Schreiber, trat seinem Bruder in dieser Charakteristik Kornblums bei. „Kornblum ist ein Mensch, den man lieber nicht kennt.“ Fabrikbesitzer v. Schreiber bestätigte weiter, daß ihm sein Bruder in Leipzig seine Beobachtungen über das Spiel des Marks mitgeteilt habe. Auch bei dem Vorfall mit Herrn v. Schrader sei er zugegen gewesen. Er habe gesehen, daß v. Schrader, der damals noch aktiver Offizier war, die Karten einmal unter den Tisch hielt, er habe dagegen protestiert und später mit festgestellt, daß mehr Karten vorhanden waren, als sein durften.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Herr v. Manteuffel hat neulich gesagt, er habe schon vorher privatim Recherchen über Dr. Kornblum angestellt und ihn als hochachtbaren Mann geschildert. Bei Herrn v. Schreiber hat er wohl keine Recherchen angestellt?

Zeuge v. Manteuffel: Nein.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Wußte Herr v. Manteuffel nicht, was in jenen Kreisen allgemein bekannt war, daß nämlich Herr Kornblum mit den Herren v. Schreiber verwandt war und mit dieser Verwandtschaft zu renommieren liebte?

v. Manteuffel: Nein.

Gutsbesitzer Brüttner: Er sei mit dem Angeklagten v. Schachtmeyer seit langer Zeit bekannt und könne diesem das beste Zeugnis geben. v. Schachtmeyer habe einmal eine Depesche aus Wiesbaden von Herrn v. Kröcher erhalten. Er wurde darin aufgefordert, nach Wiesbaden zu kommen, er könne aber nicht sagen, daß in dem Telegramm der von der Anklage behauptete Satz gestanden habe: „Anschuß in Sicht.“

Von der Anklage wurde auch hervorgehoben, daß, als er (Zeuge) einmal vorübergehend in Verlegenheit war und eine größere Geldsumme brauchte, v. Kröcher ihm angeboten habe, ihm das Geld durch einen ihm bekannten Herrn zu beschaffen. Die Vermutung, daß Wolff dieser Herr war, sei falsch.

v. Kröcher: Er könne den Namen des Herrn nicht nennen, da er nicht zum Angeber werden wolle. Es handle sich um einen Herrn, der „in der Gesellschaft“ verkehre, sehr elegant auftrete, sich wie ein Kavalier bewege, aber „hinten rum“ Geldgeschäfte machen solle.

Oberstaatsanwalt: Mir genügt es, daß nach der Bekundung des Zeugen dieser Mann nicht Wolff gewesen ist. Der Oberstaatsanwalt kam bei dieser Gelegenheit nochmals auf die Wohnungsverhältnisse des Angeklagten v. Kröcher zurück und hob hervor, daß dieser, obgleich er eine Wohnung in der Friedrich-Wilhelm-Straße und vorübergehend gleichzeitig eine teure Wohnung in der Hohenzollernstraße hatte, mitsamt seinem Kammerdiener noch längere Zeit im Zentralhotel logiert und dort über 700 Mark bezahlt habe.

v. Kröcher: Er habe seinerzeit in die Wohnung der Friedrich-Wilhelm-Straße nicht mehr zurückkehren wollen, diese sei außerdem auch schon vom folgenden Quartal anderweitig vermietet gewesen. Außerdem habe seine Abreise nach dem Süden unmittelbar bevorgestanden. Beim Beziehen der großen Wohnung in der Hohenzollernstraße hätte er größere Ausgaben gehabt wie im Zentralhotel.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt wünschte, um einigermaßen einen Faden zu haben und das Ziel derartiger Feststellungen zu erkennen, eine Aufklärung, in welcher Verbindung die großen Ausgaben des Herrn v. Kröcher und die von ihm innegehabten Wohnungen mit der Anklage gesetzt werden sollen.

Vors.: Der § 284 macht es erforderlich, festzustellen, welche Ausgaben der Angeklagte v. Kröcher gehabt hat und welche Einnahmen ihnen gegenübergestanden standen haben.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Wenn der Zweck dahin gehen sollte, festzustellen, daß Herr v. Kröcher sehr leichtsinnig war, so wird dies ohne weiteres in vollstem Maße zugegeben.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Prozessualisch habe ich zurzeit keine Veranlassung, anderes festzustellen als nackte Tatsachen.

Längere Zeit beanspruchte die Vernehmung des Kaufmanns und Reserveleutnants Linkermann. Es handelte sich bei diesem im wesentlichen darum, festzustellen, ob er durch v. Kayser, dem er aus dem Spiel 5000 Mark schuldete, besonders bedrängt und mit einer Anzeige bei dem Bezirkskommando bedroht worden sei. Die fünftausend Mark stehen heute noch unbeglichen offen, weil inzwischen das Strafverfahren eingeleitet und v. Kayser verhaftet worden wäre. Er (Zeuge) bestreite, je gesagt zu haben, daß v. Kröcher der „Schlepper für Wolff“ gewesen sei. Er habe im Jahre 1897 einmal in der Eremitage mit Herrn v. Kröcher gespielt, und dieser soll (mit Bezug auf Wolff) gesagt haben, es komme „noch ein Herr“, den er kennengelernt habe.

Aus einer zur Verlesung gebrachten Korrespondenz, die zwischen dem Angeklagten v. Kayser und dem Zeugen über die Begleichung der Spielschuld gewechselt worden ist, ging hervor, daß v. Kayser sich auch an den Vater des Zeugen gewandt und dadurch dessen starken Unmut hervorgerufen habe.

v. Kayser: Dies ist nur geschehen, um die Adresse des Zeugen von dem Vater zu erfahren. Ich habe mich an den Adjutanten des Regiments, dem der Zeuge als Offizier angehört, in kameradschaftlicher Form gewandt; von diesem wurde mir anheimgestellt, mich an den Kommandeur zu wenden, wobei ich nicht vergessen sollte, daß ich dann selbst wegen Spielens Unannehmlichkeiten haben würde. Ich habe den Schritt zum Bezirkskommandeur nicht getan.

Auf Wunsch des Angeklagten v. Kayser äußerte sich Zeuge v. Reccum noch über den Baron v. Galy, der so ungeheuere Summen im Klub verloren haben soll.

v. Reccum: Er habe Herrn v. Galy in Ostende kennengelernt und ihn hier in den Klub eingeführt. Er habe in Ostende selbst eine große Summe an Herrn v. Galy verloren, ebenso ein anderer Herr. v. Galy habe hier jedenfalls nicht mehr verloren, als er dort gewonnen hatte. Herr v. Galy sei von einem Marquis de Challancourd begleitet gewesen, doch ging das Gerücht, daß dies gar kein Marquis, sondern ein Markör gewesen sei, mit dem er herumreiste. (Heiterkeit.) Gerüchtweise sei später auch erzählt worden, daß Herr v. Galy gar kein Baron, sondern nur ein Herr Galy sei, er soll einmal einem Oberkellner das Anerbieten gemacht macht haben, mit ihm mit einer Roulette Deutschland und Österreich-Ungarn zu bereisen; der Oberkellner habe aber verlangt, daß auf der österreichischen Botschaft erst der Nachweis erbracht würde, daß er wirklich der Baron v. Galy sei, dann sei v. Galy weitergereist. Jedenfalls sei v. Galy ein außerordentlich enragierter Spieler gewesen, der von Spielort zu Spielort reiste und sich mit Stolz den „roi des joueurs“ (König der Spieler) nennen ließ. Er hatte immer viel Geld bei sich und spielte nur bar.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Herr v. Manteuffel hat ja das Dezernat über die Spieler. Ist ihm von Herrn v. Galy etwas bekannt gewesen?

v. Manteuffel: Nein.

Rechtsanwalt Dr. Schachtel: Also im Vorverfahren hat Herr v. Manteuffel von Herrn Galys Leben und Existenz nichts gewußt?

v. Manteuffel: Nein.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt ließ sich noch einmal von dem Zeugen v. Reccum bestätigen, daß v. Galy aufgefordert wurde, sich durch die österreichisch-ungarische Botschaft auszuweisen; er habe dies aber nicht getan, sondern vorgezogen, sofort abzureisen.

Es folgte die Vernehmung des Zeugen Simson, der Geschäftsführer in dem Hotel in Aachen war, in dem v. Schrader und der Angeklagte v. Kröcher wohnten. Der Zeuge erzählte, daß die beiden Herren zwei Zimmer mer bewohnten, welche durch eine Tür verbunden waren. Es seien dort mehrfach Spielabende arrangiert worden, welcher von den beiden Herren aber die Herren herangeholt hatte, vermag er nicht anzugeben. Es habe sich in dem Zimmer eine Roulette und eine grüne Wachstuchdecke mit großen schwarzen Zahlen befunden, ebenso eine Anzahl Spiele Karten, wer diese Gegenstände mitgebracht hatte, wisse er nicht. In dem Hotel haben die Herren v. Schrader, v. Kröcher und v.d. Goltz gewohnt. Wolff, der auch zu den Spielabenden erschienen sei, habe in einem anderen Hotel gewohnt. Ein besonders intimer Verkehr zwischen v. Kröcher und Wolff sei ihm (Zeugen) nicht aufgefallen.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie etwas von Herrn v. Schrader gehört?

Zeuge: Ja, er ist nach Ostende gereist und hat sich dort vergiftet.

Oberstaatsanwalt: Wissen Sie weshalb?

Zeuge: Ich glaube wegen Spielschulden.

Rechtsanwalt Dr. Schwindt: Wer von den beiden Herren ist zuerst abgereist?

Zeuge: Herr v. Schrader.

Vert.: Als nun Herr v. Kröcher abreiste, haben Sie ihn nicht ersucht, die Roulette, welche noch im Zimmer stand, mitzunehmen?

Zeuge: Ja.

Vert.: Und was antwortete Herr v. Kröcher?

Zeuge: Er sagte: Was geht das mich an? Ich will mich mit dem Ding, das mir nicht gehört, nicht herumschleppen.

Vert.: Sie können also auch nicht sagen, ob v. Kröcher die Roulette aus seinem Koffer ausgepackt hat?

Zeuge: Nein.

Der Angeklagte v. Kröcher ließ sich von dem Zeugen bestätigen, daß in dem Hotel keine Orgien gefeiert wurden und daß er durch regelmäßigen Gebrauch des Brunnens und der Bäder eine regelrechte Kur durchgemacht habe. Er bleibe dabei, daß v. Schrader die Roulette in seinem Beisein in Aachen gekauft habe. v. Schrader wollte ihn mit diesem Spiel bekannt machen, da sie beabsichtigten, nach Namur zu reisen, wo Roulette gespielt wurde. Er habe von Aachen aus kleine Abstecher nach Namur und Ostende gemacht und dort mit Erfolg gespielt.

Vizekonsul a.D. Moos: Er sei dem Angeklagten v. Kayser eine Summe im Spiel schuldig geblieben. v. Kayser habe ohne Rücksicht die Bezahlung der Schuld verlangt, ja sogar beabsichtigt, ihn zum Offenbarungseid zu zwingen. Er habe darauf einen fulminanten Brief an v. Kayser gerichtet und darin sehr deutliche Drohungen ausgesprochen, daß er an die öffentliche Meinung appellieren und Anzeige erstatten werde. Er behauptete in dem Briefe u.a. auch, daß v. Kayser gar kein Recht zu solchem energischen Vorgehen habe, da er selbst sich wiederholt in Bedrängnis befunden habe. Der Zeuge v. Schreiber habe ihm (Moos) sogar einmal, als er dem Angeklagten Geld leihen sollte, warnend gesagt: „Ne lui donnez rien, il ne paie pas“ (Geben Sie ihm nichts, er bezahlt nicht).

Zeuge v. Schreiber erklärte dies für falsch, schon deshalb, weil ihm v. Kayser nie etwas schuldig geblieben sei.

Zeuge Moos blieb bei seiner Behauptung.

Justizrat Dr. Sello stellte fest, daß auch der Brief des Zeugen Moos vom Angeklagten v. Kayser gewiß nicht als kompromittierend erachtet worden sei, denn sonst hätte er ihn nicht ebenso sorgsam wie die anderen Briefe aufbewahrt, und er hätte nicht mit Beschlag belegt werden können.

v. Kayser bestritt, daß er jemals vom Zeugen Moos Geld geliehen habe. Im übrigen habe er es für angemessen erachtet, gegen Moos ohne Rücksicht vorzugehen, weil dieser in einem Falle sich tatsächlich sofort an das Regiment eines Offiziers telegraphisch gewandt habe, der ihm Geld schuldig geblieben war.

Auf Befragen des Justizrats Dr. Sello bemerkte Moos: Er sei Titular-Vizekonsul a.D. und arbeite für französische und englische Finanz-Zeitschriften.

Zeuge Moos gab hierauf eine umfangreiche Darstellung des Falles, in welchem er gegen einen Leutnant nant v.B., der seine Versprechungen zur Rückzahlung einer ihm geliehenen kleinen Summe trotz wiederholter Mahnungen nicht erfüllte, eine telegraphische Meldung an den Regimentskommandeur erstattet habe. Ihm tat dies nachträglich zwar sehr leid, er habe aber die telegraphische Meldung nur „aus Prinzip“ getan. Herr v.B. habe die Sache dadurch erledigt, daß er ihm eines Tages mitteilte, er habe das Geld einem bestimmten Oberkellner überwiesen. Die Sache sei auch richtig gewesen; nach der Bekundung des Oberkellners habe v.B. das Geld allerdings deponiert, in derselben Nacht aber Unglück gehabt und es wieder abgehoben. Die Sache sei schließlich so erledigt worden, daß Herr v.B. ihm nicht gram geblieben sei. In jener Gesellschaft sei es gar nichts Seltenes gewesen, daß man sagte, wenn Sie nicht pünktlich bezahlen, werde ich mich an das Regiment wenden. Speziell habe Herr Kornblum, den gerade Herr v. Kayser wieder in die Gesellschaft hineingebracht habe, nachdem er „herausgeschmissen“ worden war, mehrere Herren sofort angezeigt.

Angekl. v. Kayser: Er habe allerdings einen Wechsel über 1200 M. gegen den Zeugen Moos eingeklagt. Das sei erstens geschehen, um Herrn Moos eine gute Lehre für das von ihm selbst gegen Herrn v.B. eingeschlagene Vorgehen zu geben. Zweitens aber habe es sich nicht um eine Spielschuld gehandelt. Er habe die Forderung an Moos dem Gerichtsassessor Dr. v. Mörs überwiesen, dieser habe aber verschiedene vergebliche Anstrengungen gemacht, von Herrn Moos Geld zu bekommen und ihm schließlich geschrieben: Herr Moos sei weder durch gute noch durch schlechte Behandlung dazu zu bringen, zu zahlen. (Heiterkeit.) Daraufhin habe er (v. Kayser) Herrn Dr. v. Mörs seine Schuld bezahlt und nun dem Rechtsanwalt Jansen den Auftrag gegeben, gegen Herrn Moos vorzugehen, obwohl er von vornherein wußte, daß er keinen Groschen erhalten würde.

Bezüglich der persönlichen Verhältnisse des Moos, seiner Einkünfte, seines Verhaltens Mitspielern gegenüber und verschiedener anderer Dinge, die seine Glaubwürdigkeit erschüttern sollten, richtete J.-R. Dr. Sello eine Reihe von Fragen an den Zeugen, die dieser energisch in einem Sinne beantwortete, daß ein Vorwurf gegen ihn nicht zu erheben war. Es kam dabei zur Sprache, daß der Zeuge einmal gesagt habe, wenn v. Kayser ihm eine Ehrenerklärung abgebe, würde er als Zeuge Dinge bekunden, die v. Kayser entlasten würden. Der Zeuge bestritt das. Er habe nur gesagt, daß, wenn v. Kayser ihm keine Ehrenerklärung abgebe, er ihm nach seiner Freisprechung seinen Kartellträger schicken werde.

Zeuge Moos bekundete noch allerlei Äußerungen des Dr. Kornblum, der sehr viel Gutes und auch sehr viel Böses über die Angeklagten gesagt habe. So habe er kurz vor seiner Abreise gesagt, er habe von dem Spiel ein Plus, wie er es selten erzielt habe. Ein anderes Mal habe Dr. Kornblum geäußert: Was geht es mich an, daß Herr v. Manteuffel gern Polizeirat werden möchte; wenn er mir 10000 M. gibt, dann erzähle ich ihm allerlei, bis jetzt habe ich ihm noch nichts gesagt.

Der folgende Zeuge, Rennstallbesitzer Gustav Öhlschläger, Sohn des bekannten verstorbenen Rennstallbesitzers, bekundete: Er kenne nur die beiden ersten Angeklagten, mit v. Kayser sei er auf der Schule gewesen. Er habe mehrmals die Spielgesellschaft besucht und an v. Kayser 1160 M. verloren, wo von er 60 M. abbezahlt habe. Wegen der noch restierenden 1100 M. habe v. Kayser ihn zweimal in anständiger Weise gemahnt, aber von weiteren Schritten Abstand genommen, nachdem er ihm erwidert hatte, daß es ihm vorläufig unmöglich sei, die Schuld zu tilgen. Durch v. Kayser habe er dann auch v. Kröcher kennengelernt.

J.-R. Dr. Sello: Sie waren mit v. Kayser zusammen auf der Ritterakademie in Brandenburg. Können Sie irgendwelche Angaben machen, wie der Angeklagte v. Kayser dazu gekommen ist, ein so leidenschaftlicher Spieler zu werden?

Zeuge: Nein, ich kann nur sagen, daß schon dort unter den jungen Leuten ein großes Interesse für Sport herrschte.

Es wurde sodann Redakteur Dr. Moritz Friedländer vom „Berl. Tageblatt“ vernommen: Die Mitteilungen, die dem Artikel des „Tageblattes“ zurgunde lagen, waren von Dr. Kornblum. Er habe diesen seit Jahren oberflächlich gekannt. Dr. Kornblum habe im Dezember v.J. ihn schriftlich um ein Rendezvous gebeten und bei diesem die Geheimnisse aus dem Spielerkreise erzählt. Das Äußere des Dr. Kornblum sei so gewesen, daß man ihn bei oberflächlichem Blick wohl für einen Offizier in Zivil hätte halten können. Nach seinen Erzählungen sei es auch oft vorgekommen, daß ihn Offiziere mit „Herr Kamerad“ angeredet haben, so daß er mehrfach habe erwidern müssen, „ich bin nicht aktiv“. Er war allerdings etwas klein und habe öfter gesagt: Für jeden Zentimeter, den er seiner Größe zulegen könnte, würde er 3000 Mark geben. (Heiterkeit.) Dr. Kornblum habe wiederholt betont, daß es ihm darauf ankomme, eine Persönlichkeit, die sich in die Spielerkreise eingeschlichen habe, unschädlich zu machen. Er durchschaue diese Persönlichkeit ganz genau und habe auch vor ihr gewarnt, dies sei aber fruchtlos geblieben, weil zwei Herren mit jener Persönlichkeit in Verbindung getreten seien und ihn schützen. Dr. Kornblum habe weiter gesagt, daß es ihm nicht darauf ankomme, angesehenen Leuten ten Unannehmlichkeiten zu machen, sondern daß er nur Herrn Wolff hinaus haben wolle. Der Artikel des „Tageblattes“ sei dann auf Grund jener Mitteilungen von ihm (Zeugen) selbst verfaßt worden. Am Tage nach der Veröffentlichung sei Dr. Kornblum bei ihm erschienen und habe ihm gesagt, die Sache sei ihm sehr unangenehm, da v. Kayser und Vizekonsul Moos ihm die Verfasserschaft direkt auf den Kopf zugesagt und auch sonst andere Personen die gleiche Ansicht über den Ursprung des Artikels geäußert haben. Dr. Kornblum habe gebeten, alle weiteren Artikel doch lieber zu unterlassen; dies wurde auch zugesagt, da ja das Ziel, vor einem Falschspieler zu warnen, erreicht war. Es wurde aber versprochen, die Sache ruhen zu lassen, wenn nicht von anderer Seite Widerlegungen gegen den Artikel des „Tageblatt“ erscheinen würden. Gegen v. Kayser habe Dr. Kornblum keinerlei Anschuldigungen erhoben, im Gegenteil, er habe gesagt, v. Kayser sei sein bester Freund, er werde nächstens mit ihm Hand in Hand in den Turfklub eintreten. Dr. Kornblum habe von dem Angeklagten v. Kayser mit großem Respekt gesprochen und ihn für einen der wenigen Leute gehalten, die klüger seien als er. (Heiterkeit.) Da die Erwiderung auf den Artikel des „Tageblattes“ nicht ausblieb, seien noch zwei bis drei Artikel erschienen, dann habe Herr v. Manteuffel das Ersuchen ausgedrückt, daß der Verfasser des Artikels mit ihm Rücksprache nehmen möchte. Er habe darauf Herrn v. Manteuffel nach etwa 2-3 Tagen besucht und mit ihm über die ganze Spieleraffäre gesprochen. Schließlich habe sich eins aus dem andern ergeben, das Material zur Affäre sei von allen Seiten eingegangen; die verschiedensten Herren haben sich bei ihm gemeldet und allerlei mitgeteilt. So habe sich auch ein Herr aus London gemeldet, der gegen Honorar sehr interessante Enthüllungen anbot und als Probe seiner Wissenschaft gleich 30-40 Namen angab. Dieses schriftliche Anerbieten sei aber abgelehnt und der Brief an das Postamt in London zurückgeschickt worden, da es nicht darauf angekommen sei, Personen bloßzustellen. Dr. Friedländer erklärte noch, daß auch zu den übrigen Artikeln die Mitteilungen zum großen Teile von Dr. Kornblum herrührten und daß in allen Artikeln des „Tageblattes“ von Herrn v. Kayser keine Rede gewesen sei. Dr. Kornblum habe bei den Unterhaltungen nur einmal gesagt, Herr v. Kayser scheine eine Art Mentor des Herrn v. Kröcher zu sein. Auch die Mitteilung von der „Anschuß-in-Sicht“-Depesche rühre von Dr. Kornblum her, der sich auf Leute berief, die die Depesche gesehen haben wollten, die Namen aber nicht nannte. Nach seiner (des Zeugen) Ansicht sei Dr. Kornblum absolut kein leerer Schwätzer, sondern im Gegenteil sehr zurückhaltend gewesen.

Angeklagter v. Kröcher: Sie bedauern doch wohl selber, Herr Zeuge, daß Sie Herrn Dr. Kornblum Ihre Spalten geöffnet haben?

Zeuge: Das ist eine Frage, auf die ich unter vier Augen Herrn v. Kröcher sehr gern Antwort zu geben bereit bin. Hier lehne ich eine Antwort auf solche Frage entschieden ab.

v. Kröcher: Sie müssen doch zugeben, daß der Artikel Unrichtigkeiten enthält.

Zeuge: Die Möglichkeit gebe ich zu.

v. Kröcher: In einem der Artikel ist die falsche Nachricht verbreitet worden, daß sich bei mir die Sache kompliziere, da ich bei meinen ersten Vernehmungen eidlich festgelegt worden sei und meine Bekundungen mehrfach mit den Tatsachen in Widerspruch ständen. Davon ist doch gar keine Rede.

Dr. Friedländer: Auch diese Nachricht war von Herrn Dr. Kornblum. Ich gebe zu, daß jetzt durch den Gang dieser Verhandlung in einzelnen Punkten die Unrichtigkeit von Behauptungen der Artikel erwiesen ist.

Vors.: Hielten Sie Dr. Kornblum für eine glaubhafte Person?

Zeuge: Damals hielt ich ihn dafür.

R.-A. Dr. Schachtel: Hat Dr. Kornblum Ihnen nicht die ungeheuerliche Summe von 500000 M. genannt?

Zeuge: Ja.

Vert.: Wie viele Zusammenkünfte haben Sie mit Herrn v. Manteuffel gehabt?

Zeuge: Genau weiß ich es nicht, sagen wir fünf- bis zehnmal.

Vert.: Bei Ihrer ersten Vernehmung hat der Untersuchungsrichter ein Protokoll anfertigen lassen?

Zeuge: Gewiß, ein außerordentlich sorgfältiges und gewissenhaftes Protokoll.

Vert.: Wie kam es denn, daß Sie nach zwei Tagen eine große Berichtigung des Protokolls verlangten?

Zeuge: Die Frage ist nach zwei Richtungen unrichtig. Ich habe nicht nach zwei Tagen eine „große“ Berichtigung verlangt, sondern am folgenden Morgen nur einige kleine Zusätze zu meiner Aussage gemacht, die der Untersuchungsrichter lächelnden Mundes als völlig unwesentlich bezeichnete.

Vert.: Haben Sie nicht Herrn v. Manteuffel gegenüber einmal die Befürchtung ausgesprochen, daß die ganze Geschichte im Sande verlaufen könnte?

Zeuge: Daß ich den Ausdruck „Befürchtung“ gebraucht habe, glaube ich nicht.

Vert.: Was hat Ihnen Herr v. Manteuffel darauf erwidert?

Zeuge: Das ist wohl nicht zu befürchten.

Vert.: Weiter nichts?

Zeuge: Ich glaube, er hat hinzugesetzt: „Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie nichts mehr über die Angelegenheit veröffentlichten.“

Vert.: Wer hat Ihnen die Mitteilung von der Verhaftung v. Schachtmeyers gegeben?

Zeuge: Die ist auf dem normalen Wege der Berichterstattung an mich gelangt. Ich habe mir die Nachricht von Herrn v. Manteuffel bestätigen lassen.

Angekl. v. Kröcher: Von wem haben Sie die Anklageschrift?

Zeuge: Das möchte ich nicht gern sagen.

v. Kröcher: Ich möchte es aber gern wissen.

Zeuge: Ich verweigere die Antwort, da ich niemandem Unannehmlichkeiten bereiten will. Ich erkläre aber ausdrücklich, daß ich sie nicht von Herrn v. Manteuffel habe.

Am dreizehnten Verhandlungstage wurde die Aussage des verstorbenen Bankiers Reinhold Selig verlesen, die er als Zeuge in dem im Jahre 1883 verhandelten Spielerprozeß Reuter gemacht hatte. Es ging daraus hervor, daß damals der Zeuge Herrn Prins-Reichenheim, der in einer Nacht mehrere hunderttausend Mark im Spiele verloren, zu verstehen gegeben hatte, daß er Gaunern in die Hände gefallen sei.

Auf Antrag des J.-R. Dr. Sello wurde ferner das gegen Reuter ergangene Urteil verlesen, anscheinend um zu zeigen, wieweit das Bild, welches jenes Urteil von dem Treiben eines gewerbsmäßigen Glücksspielers entwarf, von den Ergebnissen dieser Verhandlung abwich. Aus dem Urteil ging u.a. hervor, daß damals in Spielerkreisen die Vorbestrafungen des Wolff unbekannt waren.

J.-R. Dr. Sello stellte den Antrag, das in dem Hannoverschen Spielerprozeß ergangene Urteil vollständig zur Verlesung zu bringen. Er verwies dabei auf § 244 der Strafprozeßordnung und betonte, daß dieses Urteil bei den Akten als Beweismittel sich befinde und ihm aus diesem Grunde die Kenntnisnahme wichtig erscheine. Prozessuale Einwendungen gegen diesen Antrag kann der Oberstaatsanwalt nicht erheben, ebensowenig der Gerichtshof. Da die Verlesung des Urteils etwa drei Stunden dauern sollte, so beschloß der Gerichtshof, die Verlesung am Schlusse der Beweisaufnahme vorzunehmen.

Alsdann wurde Frau Frieda Voigt noch einmal über Einzelheiten ihres Kontos bei der Deutschen Bank vernommen. Sie erklärte u.a., daß unter den Einzahlungen und Rückzahlungen von und an v. Kayser sich keinerlei bare Geschenke befinden, und daß die von ihr nach der Verhaftung v. Kaysers gemachten Einzahlungen weder von v. Kayser herstammen, noch für diesen bestimmt waren.

Hieran schlossen sich Fragen an einzelne der anwesenden Zeugen. Regierungsreferendar v. Kardorff bestätigte auf Befragen, daß v. Kayser einmal den Wunsch ausgedrückt habe, endlich aus den Spielerkreisen kreisen herauszukommen. Das „Treten“ der Spielschuldner sei allerdings nicht schön, aber doch ebensowenig ungewöhnlich, wie das Übertragen von Spielforderungen von einem auf den andern. Die Tatsache, daß die „Saxonia“ in Göttingen dem Angeklagten v. Kayser trotz der eingeleiteten Untersuchung das Band belassen habe, sei ein Zeichen ganz ungewöhnlichen, außerordentlichen Vertrauens, denn man müsse doch immer voraussetzen, daß, wenn ein Regierungsreferendar und Reserveleutnant, der in den „besten Gesellschaftskreisen“ verkehrt, verhaftet werde, dies doch nur auf Grund des schwerwiegendsten belastenden Materials geschehen sein könne. Was das Drohen mit dem Regimentskommandeur anlange, so sei das gewiß auch nicht schön, es stelle aber doch gewöhnlich nur eine Redensart dar.

R.-A. Dr. Schachtel: Hat v. Manteuffel dem Zeugen mitgeteilt, daß er Herrn von Kröcher vor dem Spieler Wolff gewarnt habe?

Zeuge: Ich will zunächst bemerken, daß ich nicht zu denjenigen Zeugen gehöre, die das Zutreffende der Protokolle bemängelt haben. Ich habe nichts von meinen ersten Bekundungen zurückgenommen. Auf das bestimmteste muß ich erklären, daß Herr v. Manteuffel mir vor meiner Vernehmung gesagt hat: er habe Herrn v. Kröcher vor Wolff gewarnt.

R.-A. Dr. Schachtel: Und infolgedessen haben Sie auch bei der Vernehmung unter dem Eindruck gestanden, daß die Angeklagten außerordentlich schwer belastet sind, mit Wolff unter einer Decke gesteckt zu haben?

Zeuge: Ja.

v. Manteuffel bestritt, gesagt zu haben, daß er Herrn v. Kröcher vor Wolff gewarnt habe und gab auf Anregung des Oberstaatsanwalts nur zu, möglicherweise gesagt zu haben: „Die Herren sind ja gewarnt.“

Zeuge v. Kardorff blieb dabei, daß v. Manteuffel gesagt habe, er habe als Regimentskamerad vor Wolff gewarnt.

R.-A. Dr. Schachtel: Ein weiterer Widerspruch ist noch aufzuklären, der auf die Verhaftung der Angeklagten bezug hat. v. Manteuffel hat die Behauptung aufgestellt: Graf Königsmarck habe ihm gesagt, nach einer Mitteilung des Leutnants v. Zakzerczewski sei der Oberkellner Montagli mit 7-800 M. über die Grenze geschafft worden.

Graf Königsmarck erklärte auf das bestimmteste, daß er Herrn v. Manteuffel niemals eine derartige Mitteilung gemacht habe.

Auf Antrag des R.-A. Dr. Schachtel wurde der seinerzeit gegen v. Kayser und v. Kröcher erlassene Haftbefehl verlesen. Dieser wurde unter anderem damit begründet, daß nach glaubhaften Meldungen v. Kayser mit v. Kröcher zusammen einem Zeugen Mittel tel gegeben haben, um ihn der Zeugenpflicht zu entziehen, so daß Kollusionsgefahr, aber auch Fluchtverdacht vorliege.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel hob demgegenüber hervor, daß nach v. Kröchers eigener Aussage Montagli gesagt hatte: er sei einer der wichtigsten Zeugen, es sei wohl besser, daß er „verdufte“.

v. Manteuffel: Ein Irrtum meinerseits bezüglich des Grafen Königsmarck ist gänzlich ausgeschlossen. Ich habe nachträglich noch meine Notizen durchgesehen und finde eine sofort nach der Unterhaltung mit dem Grafen Königsmarck niedergeschriebene Bleistiftnotiz, aus welcher hervorgeht, daß Graf Königsmarck tatsächlich jene Mitteilung gemacht hat. Das Gedächtnis des Grafen Königsmarck scheint nicht zu stark zu sein, denn er hat gesagt, er sei etwa fünfmal in der Spieleraffäre mit mir zusammengekommen, tatsächlich war es nur zweimal.

Graf Königsmarck: Auch hier irrt sich Herr v. Manteuffel wieder einmal. Ich wiederhole auf das bestimmteste, daß es mindestens fünfmal war, ebenso wiederhole ich auf das bestimmteste, daß Herr v. Manteuffel sich über meine angebliche Mitteilung über Montagli gänzlich im Irrtum befindet.

R.-A. Dr. Schwindt: Herr v. Manteuffel hat mit einer gewissen Emphase mehrfach betont, daß er sich nie irre. Abgesehen von den Irrtümern, die v. Kardorff und Graf Königsmarck von ihm behaupten, bitte ich, dem Zeugen Freiherrn v. Reccum noch einmal Gelegenheit zu geben, sich darüber zu äußern, daß Herr v. Manteuffel auch ihn irrtümlich verstanden hat.

Freiherr v. Reccum bestätigte dies, erregte aber damit lebhaften Widerspruch des v. Manteuffel. von Reccum blieb bei seinen Behauptungen. Herr v. Manteuffel habe die drei Angeklagten sofort stark verdächtigt und auf seinen (des Zeugen) Einspruch, daß er Herrn v. Kröcher sehr genau kenne, erwidert: „Aber mit Falschspielern haben Sie unbedingt verkehrt, darüber ist nicht zu streiten.“ Er habe darauf Herrn v. Manteuffel gesagt, er werde unter diesen Umständen Herrn v. Kröcher nicht mehr empfangen, bis er sich von dem Verdacht gereinigt habe. v. Manteuffel habe davon abgeraten und gesagt, er werde eines Tages die drei Herren vorladen, „dann fällt die Klappe zu und dann haben wir die Vögel gefangen.“ Obwohl ich Herrn von Manteuffel zu verstehen gegeben hatte, daß ich Herrn von Kröcher hochachte und mit ihm sehr gut bekannt bin, hat er noch lächelnd hinzugesetzt: Herr v. Kröcher sei als jüngerer Kamerad zu ihm gekommen und habe mit seinen Lackstiefelchen kokettiert.

v. Manteuffel trat der Darstellung des Zeugen in verschiedenen Punkten entgegen, der Zeuge blieb aber bei seiner Bekundung.

R.-A. Dr. Schwindt ließ sich durch den Zeugen bestätigen, daß v. Manteuffel zu ihm auch vom Grafen v. Egloffstein, und zwar in dem Sinne gesprochen habe, daß v. Egloffstein ein anständiger Mensch und nur „verführt“ worden sei, wobei in ungünstiger Parallele mit den Angeklagten gesagt worden sei, „v. Egloffstein sei nicht so schlimm“.

R.-A. Dr. Schachtel beantragte die Verlesung von etwa 70 an den Angeklagten von Kayser ergangener Einladungskarten, um zu beweisen, daß v. Kayser seine freie Zeit nicht etwa bloß dem Spiele widmete, sondern in den vornehmsten Kreisen gesellschaftliche Pflichten erfüllte. Außer verschiedenen Hofansagen, Einladungen zur Defiliercour befanden sich unter den Einladungen solche vom Grafen Posadowsky, Staatssekretär v. Stephan, Präsident Persius, Justizminister v. Schelling, Mecklenb. Gesandten v. Örtzen, Kabinettsrat Dr. v. Lucanus, Staatsmin. Dr. Bosse, Kriegsminister v. Bronsart, kommand. Admiral Frhr. v.d. Goltz, Staatsminister v. Bötticher und v. Bonin, Frhr. v. Lucius, Frhr. v. Stumm, Anton v. Werner, Bankpräsident Koch, v. Hansemann, v. Berlepsch, Prinz Fr. v. Hohenzollern, Landgerichtsdirektor Rieck u.a. R.-A. Dr. Schachtel richtete an den Sachverständigen Grafen Reventlow die Frage, ob er nach allem, was er aus eigenen Wahrnehmungen und aus den Verhandlungen erfahren, die Überzeugung gewonnen habe, daß die Angeklagten als gewerbsmäßige Spieler anzusehen seien.

Der Oberstaatsanwalt widersprach dieser Fragestellung, da es sich um eine Rechtsfrage handele, die der Gerichtshof zu entscheiden habe. Der Gerichtshof lehnte die Frage ab.

R.-A. Dr. Schachtel: Dann frage ich den Herrn Sachverständigen: Haben Sie in dem Milieu, in welchem die Angeklagten mit 200 anderen Herren verkehrten, bei dem Spiel der Angeklagten irgendwelche Abweichungen von der Spielart der anderen Herren wahrgenommen?

Sachverständiger Graf Reventlow: Durchaus nicht!

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Wie oft war der Sachverständige beim Spiel im Zentralhotel?

Sachverständiger: Im Zentralhotel nur einmal, ich war aber auch mehrere Male im Viktoriahotel. Ich muß auch sagen, daß alle die Momente, die in der Anklage bezüglich des Falschspiels als besonders auffällig hervorgehoben worden, nicht auffällig sind, sondern überall vorkommen.

J.-R. Dr. Sello: Hat sich in spieltechnischer Beziehung ein Unterschied zwischen dem Spiel im Zentralhotel und dem Spiel an anderen Orten gezeigt?

Sachverständiger: Durchaus nicht!

R.-A. Dr. Pincus I: Ich lege zwar kein Gewicht auf das, was Kornblum gesagt hat, aber ich möchte doch von Herrn v. Manteuffel wissen, ob ihm Dr. Kornblum mitgeteilt hat, auch Herr v. Schachtmeyer habe den Wolff eingeführt.

v. Manteuffel: Nein, davon ist nie die Rede gewesen.

R.-A. Dr. Pincus I: Hat dagegen auch Herr Kornblum bestätigt, daß v. Schachtmeyer nur mit niedrigen Einsätzen gespielt hat?

v. Manteuffel: Jawohl.

R.-A. Dr. Schwindt fragte den Zeugen Moos, ob er ihn richtig verstanden, daß Kornblum ihm die Denunziantenschrift vorgezeigt habe?

Zeuge Moos: Dr. Kornblum habe ihm nur einige Schriftstücke gezeigt, und im allgemeinen gesagt, daß dies Mitteilungen seien, die der Polizei übermittelt wurden.

Hierauf wurden sämtliche Zeugen und der Sachverständige entlassen, und es erfolgte die Verlesung des Urteils im Hannoverschen Spielerprozeß.

Die Beweisaufnahme war damit erschöpft.

Am vierzehnten Verhandlungstage nahm das Wort Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Meine Herren! So machen es alle Spieler: sie halten die Bank oder sie pointieren, sie setzen hoch und sie setzen niedrig, sie bezahlen ihre Schulden oder sie betteln um Aufschub, sie borgen die Kellner an und machen Geschenke an ihre Mätressen – immer dasselbe Bild, und weil es so ist, dürfen Sie die Angeklagten nicht verurteilen, sondern Sie müssen sie freisprechen! Das wird ohne Zweifel der Kern der Ausführungen sein, welche die vielgewandten und berühmten Verteidiger hier machen werden. Ich kann diese Ausführungen nicht teilen, denn sie sind tatsächlich unrichtig, weil völlig verfehlt und logisch unhaltbar. Es ist nicht wahr, daß es alle so machen. Zweifellos hat den Anlaß zu diesem Prozeß der Artikel des „Berliner Tageblattes“ vom 16. Dezbr. 1898 geben. Es ist viel hin und her gestritten worden, ob sich das „Tageblatt“ mit diesem Artikel ein Verdienst erworben, oder ob es unnötig Staub aufgewirbelt hat. Ich bin der Meinung, daß sich das „Berliner Tageblatt“ ein Verdienst erworben hat, denn es ist eine vornehme Pflicht der Presse, auf wirkliche Schäden aufmerksam zu machen. Der Zeitungsartikel hatte nur den Zweck, darauf aufmerksam zu machen, daß sich ein berüchtigter Gewerbsspieler in die vornehmen Spielerkreise eingeschlichen habe. Das war richtig. Der hier und in weiten Kreisen des Auslandes wohlbekannte und berüchtigte Spieler Hermann Wolff hatte Eingang in die vornehmsten Spielerkreise gefunden. Er stammt aus den ärmlichsten Verhältnissen, ist unter neun Geschwistern aufgewachsen und hat wohl nie danach getrachtet, durch ehrliche Arbeit sein Brot zu verdienen, sondern nur danach gestrebt, anderen ihr Eigentum durch Diebstahl wegzunehmen. Er ist dafür zuletzt mit 2 Jahren Zuchthaus bestraft worden und hat diese Strafe in den Jahren 1863 bis 1865 verbüßt. Es ist anzuerkennen, daß diese Strafe nur unter dem Regime des früheren härteren Strafrechts möglich war, denn heute würde ein 17jähriger Mensch nur zu Gefängnis verurteilt werden können. Wolff hat im Zuchthause Zeit genug zum Nachdenken gehabt und ist zu der Überzeugung gekommen, daß es viel zweckmäßiger ist, anstatt den Leuten wider ihren Willen das Geld abzunehmen, sie dazu zu zwingen, es freiwillig herzugeben. So ist er Spieler geworden und durchs Spiel ein reicher Mann; manche Leute wollen sogar behaupten, ein Millionär. Als Spieler ist er durch die Welt gezogen, hat auch Amerika und Ostindien heimgesucht und hat es vielfach verstanden, während der Überfahrt auf den großen Passagierdampfern Leuten das Geld abzunehmen. Im Inland ist Wolff allerdings nur einmal wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ob er in den vornehmen Spielerkreisen falsch gespielt hat, steht dahin, während die dringende Vermutung besteht, daß dieser berühmte „Kartenkünstler“ das „corriger la fortune“ geübt hat. Ich muß hier vor der Öffentlichkeit feststellen, daß die über die drei Angeklagten verhängte Untersuchungshaft durchaus notwendig und nach den damaligen Verdachtsgründen vollständig gerechtfertigt war. Man braucht sich dabei nicht einmal auf die formelle Seite zurückzuziehen und darauf zu verweisen, daß die Verhaftung durch alle Instanzen als begründet anerkannt worden ist. Ich möchte aber alle Zuhörer davon überzeugen, daß nach den damaligen Verdachtsgründen so viel Belastungsmaterial vorlag, daß man die Angeklagten in Haft nehmen mußte. Die stereotype Frage: Wie konnte man auf solche Verdachtsgründe hin die Haftnahme verfügen, wird hiernach hoffentlich verstummen. Man denke doch daran, daß der gewerbsmäßige Spieler Wolff sofort nach dem ersten Kanonenschuß seine im Zuchthause gestärkten Knochen in Sicherheit gebracht hatte. Wer hatte Wolff eingeführt? Herr Hans v. Kröcher. Er trägt die volle Verantwortung dafür. Er hätte als Edelmann sich erst nach den Antezedentien des Mannes erkundigen müssen, das ist auch die Ansicht des „Deutschen Adelsblattes“ gewesen. Die Verantwortung für die Einführung Wolffs tragen aber auch die Angeklagten v. Kayser und v. Schachtmeyer. Dies war jedoch nicht der einzige Grund zur Verhaftung, vielmehr kamen dazu die schweren Belastungen seitens der Bekannten der Angeklagten, namentlich des Grafen Königsmarck. Ich glaube nie und nimmer, daß der Brief, den Graf Königsmarck an v. Kröcher richtete, nur im Scherz geschrieben war, denn sonst hätte v. Kayser keine Veranlassung gehabt, sich darüber zu entrüsten. Und auch das Verschwinden des Kellners Montagli erregte den Verdacht. Die Angeklagten mußten sagen: „Du stehst in unserem Lohne und bist ein wichtiger Zeuge, du hast hierzubleiben!“ Anstatt dessen erhielt er das Reisegeld, um nach Italien abzudampfen. Man nahm dabei auch das Kursbuch zur Hand. Man folgte dem Abreisenden in Gedanken, wie man einem lieben Bekannten mit den Gedanken auf der Reise folgt, denn v. Kröcher tat die Äußerung: „So, nun ist er bereits in München.“ Es ist mir schon vorgekommen, daß Gesinnungsgenossen eines Verbrechers, der die Reise übers Meer antrat, aufatmend gesagt haben: „Nun ist er schon hinter der roten Tonne bei Cuxhaven“, aber daß ein preußischer Gardeleutnant einem abreisenden Kellner den erwähnten Nachruf widmet, das ist mir noch nicht vorgekommen. Ich komme nun zu der Frage, ob die Verhaftung der Angeklagten erforderlich war. Da stehe ich nun nicht an, zu erklären, daß die Behörde ihre Pflicht verletzt haben würde, wenn sie nicht die Hand auf die Angeklagten gelegt hätte. Ich bemerke vorweg, daß die Verhaftung nicht wegen Verdachts des Falschspiels, sondern nur wegen gewerbsmäßigen Spiels erfolgt ist. Und dazu lagen wahrlich Momente genug vor. Schon allein, daß ein Mann wie Wolff, der Nachfolger des Seemann und anderer, sich in den Kreis der Angeklagten hineingedrängt drängt hatte und mit ihnen viel verkehrte, mußte den Verdacht aufzwingen, daß gewerbsmäßiges Spiel betrieben wurde. Herr v. Kröcher hatte sich bei seinem Kommando bereits nach Ostende abgemeldet, v. Schachtmeyer war im Besitze eines kleinen Vermögens und konnte leicht das Ausland erreichen, alle drei Angeklagten waren fluchtverdächtig. Also die Verhaftung war geboten und auch die aufgeworfene Behauptung, daß die Untersuchungshaft über Gebühr lange gedauert hat, muß ich als unberechtigt zurückweisen. Die Untersuchung ist mit größter Schnelligkeit geführt worden. Bei dem kolossalen Material, welches zu bewältigen war, und in Anbetracht des Umstandes, daß die Zeugen zumeist in weiter Ferne weilten, kann man dem Herrn Untersuchungsrichter nur Anerkennung zollen. Die Staatsanwaltschaft hat dann nur drei Wochen nötig gehabt, um das gewaltige Material zu sichten und die Anklage zu konstruieren. Selbstverständlich mußte den Angeklagten eine ausnahmsweise lange Frist zur Erklärung auf die Anklage bewilligt werden. Dann kamen die Gerichtsferien, es war aussichtslos, die Verhandlung in dieser Zeit anzusetzen, denn die Zeugen befanden sich in aller Herren Länder. Es ist richtig, daß zahlreiche Zeugen ihre Aussagen in der Hauptverhandlung eingeschränkt haben. Sie haben das Günstigste für die Angeklagten herausgesucht, und das mag wohl in dem Umstand begründet sein, daß jeder dieser Zeugen unter dem Eindrucke stand: „res mea agitur“, d.h.: „es ist eigentlich meine eigene Sache“. Ich komme jetzt zu Herrn v. Manteuffel. Ich erkläre, daß man kein Recht hatte, diesen pflichttreuen Beamten so mit Vorwürfen zu überhäufen, wie es geschehen ist. Er soll sich dadurch in das Vertrauen der Angeklagten eingeschlichen haben, daß er sich als früherer Hauptmann der Artillerie einführte. Die jungen Herren von der Reserve können sich dadurch, daß Herr v. Manteuffel in seiner Eigenschaft als Hauptmann der Landwehr mit ihnen in Verbindung getreten ist, unmöglich verletzt fühlen. Was denken denn eigentlich diese jungen Herren von der Heiligkeit und Gewissenhaftigkeit ihres Eides? Sie mußten als Zeugen alles sagen, was sie wußten, und wenn Herr v. Manteuffel durch seine Liebenswürdigkeit und sein kameradschaftliches Entgegenkommen ihnen dies erleichtert hat, so sind sie ihm zu Dank verpflichtet. Noch andere Vorwürfe sind gegen Herrn v. Manteuffel erhoben worden, die zum Teil nicht unberechtigt sind. Ich billige nicht alles, was Herr v. Manteuffel getan hat, namentlich nicht seinen Brief an Herrn Dr. Leipziger. Aber wenn hier im Brustton der Überzeugung vom „Gegenteil der Wahrheit“ gesprochen wurde, so möge man doch nicht vergessen, daß v. Manteuffel im besten Glauben gehandelt hat. Noch gestern habe ich von meinem Amtsvorgänger einen Brief erhalten, nach welchem seinerzeit nach Ansicht aller in Frage kommenden Instanzen nicht genug Material gegen Dr. Kornblum vorlag. Ich bedauere, daß Herr Dr. Leipziger durch den Brief getäuscht worden ist, aber ich kann nicht anerkennen, daß daraus schwere Vorwürfe gegen Herrn v. Manteuffel hergeleitet werden können. Ich billige ferner durchaus nicht, daß Herr v. Manteuffel die Verteidigungsschrift dem Grafen Königsmarck zugänglich gemacht hat. Das ist ein schwerer, bedauerlicher Mißgriff, dem aber die Staatsanwaltschaft durchaus fernsteht. Wie man aber dies so schwer urgiert, ist unbegreiflich. Ich kann und darf verlangen, daß das Ansehen eines pflichttreuen Beamten geschont und ihm nicht Vorwürfe gemacht werden wegen einer Maßregel, die auf der anderen Seite in viel verstärkterem Maße vorgenommen worden ist. War es notwendig, zur Entlastung der Angeklagten solch schwere Angriffe auf einen Kriminalbeamten zu häufen? Man hat dann gesagt, die Zeugen seien „präokkupiert“ gewesen. Ein erwachsener Mann, der Zeugnis vor Gericht ablegen soll, kann doch nicht in dem Sinne präokkupiert werden, daß er Falsches aussagt. Zunächst Herr Dr. Kornblum. Er hat den Stein ins Rollen gebracht, der jetzt als Lawine zu Tal ging. Ich verzichte auf sein Zeugnis. Ein Mann, der, nachdem er die Sache eingerührt hat, sich zurückzieht und spurlos verschwindet, indem er es kalten Blutes zuläßt, daß die Angeklagten monatelang in Untersuchungshaft sitzen mußten, ist für mich gerichtet, ich lege auf sein Zeugnis keinen Wert. Auch von dem Zeugnis des Generalmajors v. Kröchen mache ich keinen Gebrauch, wenn ich ihm auch jedes Wort glaube. Vor der Vaterliebe tritt der Staatsanwalt zurück und legt keinen Wert auf ein Wort, welches dem gequälten Vaterherzen entschlüpft sein soll. Der Oberstaatsanwalt ging sodann auf die Erörterung der rechtlichen Gesichtspunkte ein. Das Falschspiel ist nicht erwiesen, es ist als erwiesen anzuerkennen, daß die Angeklagten nicht falsch gespielt haben. Über Wolff sind sie und viele andere getäuscht worden, wenn es auch verwunderlich ist, daß sie als Edelleute nicht mindestens ein ebenso feines Gefühl bezüglich Wolffs gehabt haben als der Kellner Montagli, dem die aalglatte Höflichkeit Wolffs verdächtig vorkam. Rechtlich und tatsächlich ist an der vollen Überzeugung festzuhalten, daß alle drei Angeklagten des gewerbsmäßigen Glücksspiels schuldig sind. Gewerbsmäßig handelt derjenige, der wiederholt eine auf Erzielung des Vermögensvorteils gerichtete Handlung vornimmt und fortsetzt. Neben der Gewinnsucht bildet auch die Absicht, frühere Verluste zu decken, ein Tatbestandsmerkmal des gewerbsmäßigen Glücksspiels. Die Angeklagten haben „aus Berechnung“ gespielt, und das deutet auch auf gewerbsmäßiges Glücksspiel hin. Sie haben fortgesetzt in der Absicht gespielt, zu gewinnen und aus den Gewinnen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Keiner der Angeklagten hat im bürgerlichen Leben auch nur einen Groschen redlich verdienen können. Herr v. Kayser ist ein hochbegabter, strebsamer, wirtschaftlich außerordentlich genauer und ordnungsliebender Mann. Er hat keineswegs ausschweifend, eher solide gelebt. Er hat seine Kleider und seine Stiefel gereinigt. Daß er aber das Spiel gewerbsmäßig betrieb, geht aus dem Umstande hervor, daß er mit einer Schuldenlast von 5300 Mark abschloß, dagegen aber etwa 50000 Mark außenstehende Forderungen halte. Der Angeklagte v. Kröcher hat nach ganz kurzer Dienstzeit seinen Abschied genommen aus Gesundheitsrücksichten. Es wäre vernünftigerweise viel besser gewesen, wenn er seinen Körper gekräftigt hätte, anstatt die Nächte am Spieltisch zuzubringen. Von seinem Vater erhielt er den bescheidenen. Zuschuß von 110 Mark, von einem Onkel 40 Mark, und seine liebevolle Mutter mag ihm wohl ab und zu ein kleines Opfer gebracht haben. Das war aber auch alles. Und seine Ausgaben? Diese betrugen im Jahre 1898 30000 Mark; er hielt sich ein Rennpferd, schaffte sich Equipage an, verausgabte für Kleider innerhalb zweier Jahre 4200 Mark. Ich glaube, mir wäre die Schamröte ins Gesicht gestiegen, wenn ich beim Eintreffen der kleinen Zulage von 110 Mark an den Lebenswandel dächte. Bei Herrn v. Kröcher liegen noch viel mehr und viel handgreiflichere Beweise dafür vor, daß er das Glücksspiel gewerbsmäßig betrieben hat, als bei Herrn v. Kayser. Aber auch der Angeklagte v. Schachtmeyer ist, wenn auch nicht so stark wie seine beiden Mitangeschuldigten, so doch in dem Grade belastet, daß das Schuldig gegen ihn zu beantragen ist. Der Oberstaatsanwalt kam zu dem Schlusse, daß alle drei Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels zu verurteilen seien. Bei der Strafabmessung sei zu berücksichtigen, daß die Angeklagten sich seit etwa acht Monaten in Untersuchungshaft befinden. Er beantrage gegen v. Kayser 4 Monate Gefängnis, unter voller Anrechnung der Untersuchungshaft, gegen v. Kröcher 6 Monate Gefängnis, wovon 4 Monate durch die Untersuchungshaft für verbüßt zu erachten seien, und außerdem 6000 Mark Geldstrafe oder einen Tag Gefängnis für je 15 Mark, und gegen v. Schachtmeyer 3 Monate Gefängnis, die als verbüßt anzusehen seien. Und nun, meine Herren Verteidiger, so schloß der Oberstaatsanwalt, stehe ich Ihren Angriffen zur Verfügung. Ich weiß wohl, daß vor manche Dinge in manchen Kreisen ein mildes Licht geworfen wird, ich weiß wohl, daß der Mantel der Liebe ausgebreitet wird über manches, was nicht der Liebe würdig ist, sondern des Hasses bedarf. Die preußische Justiz läßt diese Milde häufig walten, die preußische Justiz hat aber noch immer verstanden, in ernsten Sachen das ernste Wort zu sprechen.

Verteidiger Justizrat Dr. Sello für v. Kayser: Der Prozeß ist einzig in seiner Art. Ich will kein Gewicht auf die sonderbaren Vorgänge legen, die sich in den Vorstadien des Prozesses und in der Hauptverhandlung selbst abgespielt haben. Aber einzig bezeichne ich den Prozeß, weil er einzig dasteht in der Rechtspflege. Es stehen zum ersten Male Leute von der Kategorie der Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels auf der Anklagebank. Die Entscheidungen des Obertribunals und des Reichsgerichts stellen als gewerbsmäßiges Glücksspiel immer nur eine Tätigkeit hin, wie Seemann, Reuter, Lichtner usw. sie ausgeübt haben. Gegen Leute aus dem Milieu der Angeklagten ist § 284 nur ein einziges Mal zur Anwendung gekommen, und diese Sache endete mit Freisprechung. Die neue Auffassung des Oberstaatsanwalts läßt vermuten, daß dieser Prozeß eine ganze Reihe neuer Prozesse wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels zur Folge haben wird. Seit 50 Jahren hat man der Anschauung gehuldigt, daß man gegen Leute von dem Schlage der Angeklagten nicht aus § 284 vorgehen müsse, nicht gegen Leute, die sich in gleicher Stellung wie die Angeklagten befinden, gegen junge, lebenslustige Offiziere, welche in überschäumender mender Lebenskraft einmal ihrer Leidenschaft die Zügel schießen lassen. Der hannoversche Spielerprozeß hat zuerst den Vorhang hochgezogen, aber nur Leute wie ein Seemann waren damals zur Verantwortung gezogen, und nur ein einziger Adeliger war dabei, der Schlepperdienste geleistet und dadurch seinen Namen mit Schande bedeckt hatte. Selbst Staatsanwälte haben sich über die Erhebung der Anklage gewundert. Sind wir denn nicht alle einmal jung gewesen? Wenn wir alle, die wir ins reifere Leben eingetreten sind, uns unserer Jugend erinnern, sollten wir nicht auch auf Stunden zurückblicken, die in den Rahmen dieser Verhandlung hineingebracht werden könnten? Nach diesen Vorausbetrachtungen will ich mich mit der Frage beschäftigen, ob die Anklage mit Grund erhoben und mit Grund aufrechterhalten wurde und ob sie mit Grund zu einer Verurteilung führen kann. Die Verteidigung wird sich der Aufgabe nicht entziehen können, die Frage der Gewerbsmäßigkeit einer sorgfältigen Prüfung nach den verschiedenen Gesichtspunkten zu unterwerfen. Entschieden ist der Ansicht entgegenzutreten, daß es zur Entscheidung der hier gestellten Frage auf die Gewinnsucht ankommt. Die Gewinnsucht ist ein integrierender Bestandteil eines jeden Glücksspiels; so weit der Himmel blau ist und man um Kokosnüsse oder um Muscheln spielt, oder ob der biedere Bürger des Abends bei seinem Skat sitzt: Jeder, der spielt, will nicht verlieren, sondern gewinnen. Die Absicht, zu gewinnen, macht noch nicht den Gewerbsspieler, sondern überhaupt den Spieler als solchen. Die Angeklagten sind genau wie alle übrigen natürlich durch den Spielgewinn und die Hoffnung auf solchen zum Spiel gelockt worden. Die Charakteristik, die der Oberstaatsanwalt von dem Gewerbsspieler entworfen hat, stimmt für alle Gewohnheitsspieler. Es ist ja äußerst schwer, festzustellen, in welchem Moment der Gewohnheitsspieler ein Gewerbsspieler wird. Dieser Prozeß hat eine Fülle der verschiedensten Spielertypen vorgeführt, vom Prinzen von Thurn bis hinab zum Vizekonsul Moos, von dem Offizier, der zum ersten Male nach einem Liebesmahl sich zum Spieltisch begibt, bis zum Freiherrn v. Galy, der nichts ist als Spieler, der sich mit Stolz den König der Spieler nennen ließ, den alle Welt kennt – mit Ausnahme des Herrn v. Manteuffel. Der Nerv der Entscheidung liegt im innersten sittlichen Kern der einzelnen Individualitäten, und die Verteidigung verlangt mindestens ein Non liquet für die Angeklagten. Das Urteil im hannoverschen Spielerprozeß hat deutlich gezeigt, wer als gewerbsmäßiger Glücksspieler zu betrachten ist. Die dort vorgeführten Glücksspieler waren der Typus derjenigen Gewerbsspieler, den der Gesetzgeber im Auge hatte und der auch in den Anschauungen unseres Volkes Geltung hat. Einen diametraleren metraleren Gegensatz zwischen der Spieltätigkeit des Herrn v. Kayser und derjenigen Tätigkeit die bei den Spielern in Hannover zutage getreten ist, kann sich die kühnste Phantasie nicht ersinnen. Der junge Referendar, der außerordentlich ernst gearbeitet hat, der sein Doktorexamen machte, der im orientalischen Seminar tätig war und dem seine Dienstvorgesetzten das glänzendste Zeugnis geben, hat doch den Spielerkreis nicht geschaffen, sondern ist hineingeraten, wie so viele andere. Der Verteidiger ging sodann auf eine eingehende Würdigung der Beweisaufnahme über und suchte die Beweisführung des Oberstaatsanwalts, daß v. Kayser als gewerbsmäßiger Glücksspieler zu gelten habe, zu zerstören. Die Tatsache, daß eine Anzahl von Leuten viel Geld verloren haben, so fuhr der Verteidiger fort, ließ sich für die Gewerbsmäßigkeit nicht verwerten, denn Herr v. Kayser hat am meisten mit verloren! Er hat nie den Anlaß zu hohem Spiel gegeben. Auch die Art und Weise seines Spiels gibt keinen Anhalt für den schweren Vorwurf, ein Gewerbsspieler zu sein. Der Verteidiger führte zur Begründung seiner Ausführungen eine Menge Belegstellen aus der Judikatur der höchsten Gerichte und aus der Literatur an. Der Angeklagte v. Kayser ist, so fuhr der Verteidiger fort, kein oberflächlicher Mensch, sondern eine tiefe und schwer angelegte Natur, bei welcher die Leidenschaften ganz besonders stark arbeiten. Diese Natur bedurfte des dämonischen Reizes, des kühnen Wagnisses im wechselvollen Spiel, weil er in seinem ganzen Tun und Treiben aufs Große, aufs Energische gerichtet war. Auch Männer wie Blücher, Lessing und die Könige der Literatur, die großen Staatsmänner der englischen Geschichte haben in dem Spiel ein Gegengewicht gegen ihr Übermaß von Arbeit erblickt. Der Angeklagte v. Kayser hat ebenfalls ernst und angestrengt gearbeitet und in dem Spiel eine Art Kompensation für angestrengte Tagesarbeit gesucht. Und die kritische Zeit, um die es sich hier handelt, war gewissermaßen das letzte Aufflackern dieser Leidenschaft; er stand vor dem Assessorexamen und konnte sicher sein, daß dies für ihn die Pforte zu einer glänzenden Lebenslaufbahn öffnete. Hätte die unglückselige Kornblum-Affäre noch vier Wochen sich verzögert, so wäre der Angeklagte als freier und glücklicher Mann aus den Jugendwirrnissen seines Lebens hervorgegangen. Er ist jetzt durch ein Fegefeuer von einer Gründlichkeit und Grausamkeit hindurchgegangen, vor dem einen jeden der Himmel behüten möge. In tiefer Reue hat er erkannt, daß er viel getan und gelitten, was seiner unwürdig war. Aber keiner seiner zahlreichen Freunde hat jemals den Gedanken gehabt, daß er ein gewerbsmäßiger Glücksspieler sei, ja, seine Freunde haben trotz alledem und alledem zu ihm gehalten. Welches Vertrauen hat selbst Herr v. Manteuffel fel dem Angeklagten entgegengebracht, daß er ihm die Mitteilung von seiner Verhaftung machen durfte und ihn doch bis zum folgenden Morgen auf freiem Fuße ließ. Das war gewiß ein Beweis von großem Vertrauen in die Person des Angeklagten. Und v. Kayser hat bewiesen, daß er sich im Besitze eines guten Gewissens befand. Die Lehre, die den Angeklagten erteilt worden ist, ist eine schwere und grausame gewesen, sie wird unauslöschlich in ihrer Erinnerung haften bleiben. Wir rufen den jungen Leuten zu: „Seid ernst und arbeitsam in der Jugend, damit ihr es auch im Alter sein könnt!“ Und nun dürfen wir wohl eine Freisprechung erbitten und erhoffen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schachtel (zweiter Verteidiger für v. Kayser): Er erklärte, daß er auf das Wort verzichten wolle, weil eine Nachlese nur die Wirkung der glänzenden Ausführungen des Vorredners abschwächen könnte. Wenn der Oberstaatsanwalt dem Angeklagten von Kayser vorgeworfen, daß er den Wert des Geldes nicht zu würdigen verstanden habe, so müsse entgegnet werden, daß daran nicht er, sondern die Verhältnisse Schuld haben. Ein preußischer Referendar, der nicht in der Lage sei, auch nur einen Groschen zu verdienen, könne unmöglich eine Vorstellung von sauer verdientem Gelde haben. Die einzigen Personen, bei denen der Verdacht des Gewerbsspielens obwalten könne, Herrn v. Galy und Dr. Kornblum, habe man einfach laufen lassen, obwohl die Voruntersuchung eröffnet war. Dr. Kornblum hatte ein Vermögen von 60000 Mark, bezog davon monatlich etwa 200 Mark Zinsen, hatte sonst keine Beschäftigung und lebte doch jahraus, jahrein in vollem Überfluß. Der Verteidiger schloß mit der Hoffnung, daß der Gerichtshof sich nicht mit einem non liquet begnügen, sondern die Nichtschuld der Angeklagten anerkennen werde, die zwar leidenschaftliche Spieler, aber nicht Gewerbsspieler waren.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schwindt (für v. Kröcher): Die Verteidigung könne der Ehrenrettung, die der Oberstaatsanwalt dem Kriminalkommissar v. Manteuffel habe angedeihen lassen, nicht beitreten. Seine Pflichttreue soll nicht angezweifelt werden, aber man könne ihm den Vorwurf nicht ersparen, daß er sich von Dr. Kornblum habe irreführen lassen und daß er es nicht verstanden habe, sich aus den Wirren und Irrgängen, in denen Dr. Kornblum ihn zurückgelassen habe, wieder herauszufinden. Ein himmelweiter Unterschied, so fuhr der Verteidiger fort, besteht zwischen den Angeklagten in Hannover und den jetzigen Angeklagten. Ein gewerbsmäßiger Spieler verfährt ganz anders wie der Angeklagte v. Kröcher. Die ganze Art des Spieles des Angeklagten v. Kröcher, die Art, wie er sich den Spielgläubigern und den Schuldnern gegenüber verhielt, wie er in jeder Beziehung hung kulant war, zeigt, daß er die größte Gleichgültigkeit gegen das Geld hatte, nicht aber, daß er mit Spielen einen Gewerbebetrieb etablieren wollte. Auch Herr v. Kröcher ist in die Spielerkreise geraten und hat nicht mehr und nicht weniger als die anderen am Spiel teilgenommen. Sein Fluch war es, daß er nach anfänglichen Mißerfolgen mit Glück spielte. Und als ihm ein glücklicher Zufall einen besonders großen Gewinn in den Schoß warf, kam plötzlich die Vorliebe für Luxusausgaben. Tatsache ist es doch, daß der Angeklagte ernstlich bemüht war, sich einen bürgerlichen Beruf zu schaffen. Nach längerer juristischer Widerlegung der rechtlichen Ausführungen des Oberstaatsanwalts betonte der Verteidiger, daß die Standesgenossen des Angeklagten v. Kröcher ein ganz anderes Urteil über diesen haben, wie der Vertreter der Anklage: sie halten ihn für enorm leichtsinnig, nicht aber für einen Mann, der mit Berechnung, mit dem Plan und dem Ziele des Erwerbes gespielt habe. Der Gerichtshof möge sich diesem Urteil der Standesgenossen anschließen!

Rechtsanwalt Dr. Pincus I (für v. Schachtmeyer) suchte streng juristisch den Begriff des gewerbsmäßigen Glücksspiels zu interpretieren. v. Schachtmeyer hat, so schloß der Verteidiger, das Schicksal, angeklagt zu werden, vielleicht seiner Harmlosigkeit zu danken, in welcher er nach dem Ausscheiden des Grafen fen v. Egloffstein dem Klub mancherlei Dienste geleistet hat. Er hat für seinen Leichtsinn zur Genüge gebüßt und erwartet nunmehr mit Sicherheit seine Freisprechung.

Angeklagter v. Kayser: Ich kann nur sagen, daß ich durch meine Spielleidenschaft und durch mein häufiges Spielen in moralischer Beziehung nicht immer ganz lobenswert mich verhalten habe. Das tut mir herzlich leid, und ich werde mich vor meinen Eltern und meinen Vorgesetzten deswegen zu verantworten haben. Gegen die bestehenden Strafgesetze in ihrer bisherigen Auslegung habe ich aber nicht verstoßen.

Der Angeklagte v. Kröcher bat den Gerichtshof, in Betracht ziehen zu wollen, daß er bereits mit 19 Jahren dem Spiele verfallen sei. Er sehe ein, daß er ein wahnsinnig leichtsinniger Mensch gewesen sei, was er jetzt natürlich aufrichtig bedauere. Aber gegen den Vorwurf, daß er das Spiel gewerbsmäßig betrieben habe, müsse er sich verwahren, er bitte deshalb um seine Freisprechung.

Der Angeklagte v. Schachtmeyer beschränkte sich darauf, um seine Freisprechung zu bitten, da er sich nicht schuldig fühle.

Nach längerer Beratung verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Denso, folgendes Urteil:

Der Gerichtshof hat, obwohl der Staatsanwalt diesen Teil der Anklage hat fallen lassen, sich pflichtgemäß mäß auch mit der Frage des Betruges beschäftigen müssen und ist auch zu dem Urteil gekommen, daß Betrug nicht vorliegt. Alle die Momente, die zur Begründung des Betruges angeführt worden sind, haben nach der Ansicht des Gerichtshofes keinen Beweis für Falschspiel erbringen können. Der Verdacht des Betruges ruhte im wesentlichen auch auf dem Verkehr mit Wolff, der als Falschspieler bezeichnet wurde. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß Wolff ein Falschspieler war, es hat sich aber nicht nachweisen lassen, daß die Angeklagten Wolff für einen Falschspieler halten konnten. Im Gegenteil haben sie, wie die meisten der übrigen, Wolff für einen anständigen und umgänglichen Menschen gehalten. Auch der Verdacht, der darauf beruhte, daß die Angeklagten den Zeugen Montagli schleunigst über die Grenze geschafft haben, hat sich in keiner Weise bestätigt. Die Anklage hatte sich aber auf alle diese verschiedenen Verdachtsmomente stützen können, denn es ist von ihnen allen vorher die Rede gewesen. Jedenfalls lag, als die Vorhaftung ausgesprochen wurde, genügendes Material vor, um die Angeklagten im Sinne der Anklage als dringend verdächtig erscheinen zu lassen. Wenn die Zeugen ihre ursprüngliche Aussage abgeändert haben, so kann ihnen ein besonderer Vorwurf daraus nicht gemacht werden, sie haben das Tatsächliche bestätigt, aber die ersten Folgerungen, die sie in der Aufregung gezogen, jetzt nicht mehr aufrechterhalten können. Der vom Reichsgericht festgestellte Begriff des gewerbsmäßigen Glücksspiels kann auf die Angeklagten nicht angewendet werden. Sie befanden sich zwar nicht in besonders günstigen Verhältnissen, aber sie hatten doch Mittel, um das Spiel einmal beginnen zu können, sie waren nicht ganz mittellos. Würde Mittellosigkeit vorgelegen haben, so würde § 284 sich leichter anwenden lassen. Die Angeklagten sagen selbst, sie seien keine Gewerbsspieler, sondern nur einem hohen Grade von Leichtsinn verfallen. Man kann ihnen nicht ins Herz sehen, und deshalb muß, wenn Zweifel obwalten, die den Angeklagten günstigere Ansicht Platz greifen. Deshalb liegt nachweisbar gewerbsmäßiges Glücksspiel bei ihnen nicht vor. Allerdings haben die Angeklagten einen erheblichen Aufwand getrieben. Daß ihr Wille aber von vornherein darauf gerichtet war, sich die Mittel zu diesem Aufwand durch Spiel zu erwerben, hat sich nicht nachweisen lassen. Selbstverständlich haben sie größere Ausgaben gemacht, wenn sie gewonnen hatten. Auch die Gründung des Klubs kann nicht gegen die Angeklagten sprechen, denn sie konnten dies zu dem Zwecke getan haben, um ungestörter sich dem Spiel hingeben zu können. Es liegt somit kein sicherer Schluß für die Gewerbsmäßigkeit des Spiels vor. Am wenigsten bei v. Schachtmeyer. Der Gerichtshof hat deshalb auf ein non liquet erkannt. Über die moralische Seite ein Urteil zu fällen, ist nicht Sache des Gerichtshofes. Die Angeklagten sind hiernach freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen.

Kurze Zeit nach Beendigung des Prozesses meldete sich Hermann Wolff. Er wurde in Haft genommen, nach kurzer Zeit auf Antrag seines Verteidigers, des Justizrats Wronker, wieder entlassen.

Der Oberstaatsanwalt hatte gegen das Urteil v. Kayser und Genossen Revision eingelegt.

Der zweite Strafsenat des Reichsgerichts gab der Revision statt.

v. Kayser, v. Schachtmeyer und Hermann Wolff hatten sich infolgedessen im November 1900 wieder vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin I, unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Oppermann I, jetzigen Reichsgerichtsrats, zu verantworten. Hermann Wolff wurde wegen gewerbsmäßigen Glücksspiels zu 4 Monaten, v. Kayser und v. Schachtmeyer zu geringen Strafen verurteilt.

v. Kröcher war inzwischen ins Ausland gegangen und hatte der Vorladung keine Folge gegeben.