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Das Berliner Verbrechertum
Der Mordprozeß Knitelius vor dem Schwurgericht zu Magdeburg
Das große Publikum geht den in Lumpen gehüllten Gestalten möglichst weit aus dem Wege. Es meidet, soweit es angänglich ist, die Vörstadtstraßen der Millionenstadt, in denen vielfach Armut, Not, Elend, Laster und Verbrechen ihre Heimstätte haben. Das große Publikum weiß wohl, daß es weit draußen in den Vorstädten Berlins ein städtisches Obdach, genannt: „Die Palme“ und die „Wiesenburg“, letzteres ein von edlen Menschenfreunden, wie Gustav Thölde, Paul Singer u.a., im Jahre 1869 errichtetes Asyl für Obdachlose gibt, in die jahraus jahrein allabendlich Männer, Frauen und Kinder in großen Scharen strömen, da sie weder ein Heim besitzen, noch ein Stückchen Brot zu essen haben. Allein, wo diese Stätten der Armut belegen sind, wissen zumeist selbst nicht die geborenen Berliner. Die in Lumpen gehüllten Stammgäste der Vorstadtkaschemmen und Nachtasyle sind aber keineswegs sämtlich Verbrecher oder Arbeitsscheue. Vielfach sind es Leute, die einstmals bessere Tage gesehen haben und gänzlich unverschuldet zu Bettlern herabgesunken sind. Es gibt unter diesen Unglücklichen chen auch viele, die gern arbeiten wollen, aber vergeblich nach Arbeit suchen. Wer die Hauptstraßen der Residenz durchschreitet und die prächtig dekorierten Schaufenster in Augenschein nimmt, der ahnt nicht, welch furchtbare Nachtseiten das prächtige Berlin in den entlegenen Vorstadtstraßen birgt. Allein die Verbrecher, in Lumpen gehüllt, sind wenig gefährlich, man kann ihnen aus dem Wege gehen. Die Polizei hat auch ein scharfes Auge auf diese Leute. Das große Publikum ahnt aber zumeist nicht, daß die gefährlichen Verbrecher in elegantester Kleidung, mit durchaus weltstädtischen Manieren sich in den Hauptstraßen bewegen und Stammgäste der feinsten im Herzen Berlins belegenen Lokale sind. In der Straße Unter den Linden, und zwar an der Südseite, in allernächster Nähe des russischen Botschaftspalais, existierte viele Jahre das Café Westminster, ein hochelegantes Café, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. In diesem Café bestand die große Mehrzahl der ständigen Besucher aus notorischen Verbrechern gefährlichster Art. In Kreisen der Kundigen wurde dies Café das Verbrechercafé genannt. Man konnte dort Ringnepper, Pfandscheinschieber, Juwelenschieber, Einbrecher, Falschspieler, Taschendiebe, elegante Zuhälter ganz besonders nachmittags zur Kaffeezeit, aber auch in den Abend- und Nachtstunden in großer Zahl antreffen. Selbstverständlich fehlte auch die zu diesen Leuten ten gehörende „Damenwelt“ nicht. Diese Menschen, die aller ehrlichen Arbeit grundsätzlich aus dem Wege gehen, aber trotzdem ein zumeist geradezu schwelgerisches Leben führen, kennen sich vielfach untereinander und wissen womöglich auch die „Leistungsfähigkeit“ der einzelnen zu beurteilen. Der Unkundige, der ein solches Café besucht, hat jedoch gewöhnlich keine Ahnung, in welche Gesellschaft er geraten ist. Das Café Westminster ist seit einiger Zeit in ein solides Restaurant umgewandelt worden, es gibt aber in Berlin noch eine unendlich große Zahl anderer eleganter Cafés, in denen die feine Verbrecherwelt verkehrt. Auch zu Lebzeiten des Café Westminster gab es zahlreiche andere Cafés, in denen die feine Verbrecherwelt anzutreffen war. Diese Menschen beschränken ihre Tätigkeit keineswegs auf Berlin; die hauptstädtischen Gefilde sind dieser Art von Verbrechern bei weitem nicht ergiebig genug. Die Stammgäste der Berliner Verbrecherkaste sind oftmals plötzlich auf einige Zeit spurlos verschwunden. Wenn sie wieder in feinster Toilette in ihrem Berliner Stammcafé, womöglich am Arme einer hochelegant gekleideten, feschen jungen „Dame“ erscheinen, sich in schwellenden Polstersesseln wiegen und mit Grandezza ihren Mokka schlürfen, da liest man vielleicht, in irgendeiner Provinzstadt sei ein großer Einbruch oder gar ein Raubmord verübt worden. Der oder die Täter sind unerkannt erkannt entkommen. Der Unkundige ahnt nicht, daß der feine Herr mit dem goldenen Pincenez, der an der Seite einer hübschen jungen Dame ihm gegenüber auf dem Sofa sitzt, der Einbrecher oder gar der Mörder ist, von dessen ruchloser Tat er soeben durch die Zeitung Kenntnis erhalten hat.
Zu den Stammgästen des Café Westminster gehörte vor einigen Jahren ein netter junger Mann, namens Otto Knitelius. Sein einnehmendes Äußere war im höchsten Grade vertrauenerweckend. Oftmals erschien er am Arm einer bildschönen, schneidigen, äußerst schick gekleideten jungen Dame. Zu dem Paar gesellte sich vielfach ein sehr netter junger Mann, ebenfalls in eleganter Kleidung, namens Edwin Nitter. Knitelius und Nitter stammten aus guter Familie, sie waren aber beide geborene Verbrecher, die selbst vor einem Morde nicht zurückschreckten. Ihre Haupttätigkeit übten sie, wie viele andere ihres Schlages, in der Provinz aus. Knitelius, von Hause aus Kaufmann, war im Hauptberuf Juwelenschieber, im Nebenberuf aber Einbrecher. Nitter, ebenfalls ein junger Handlungsbeflissener, war in dem Grützmacherschen Detektivbureau in Berlin angestellt. Bisweilen bat er um einen längeren Urlaub. Dann verschwand er mit Knitelius aus dem Getriebe der Weltstadt. Nach einigen Wochen kehrten beide mit fröhlichen Gesichtern zurück, sie hatten in Breslau, Posen und anderen größeren Provinzstädten bei Tage Juwelenpfandscheine verkauft und des Nachts Einbruchdiebstähle verübt, die sehr einträglich gewesen sein müssen, denn wenn sie von ihrer Kunsttournee zurückkehrten, da hatten sie „Geld wie Heu“. Ende Oktober 1908 beschloß das Kleeblatt, eine Tournee nach Magdeburg zu unternehmen. Am Sonntag, den 25. Oktober 1908, nachmittags gegen 5 Uhr, der Abend war bereits hereingedämmert, da flutete in der Hauptstraße Magdeburgs, am Breiten Weg, ein sehr zahlreiches, festlich gekleidetes Publikum. Unter der Menge befanden sich Knitelius und Nitter. Sie kamen aus einem Café und blieben vor der bereits geschlossenen Hirschapotheke stehen. Diese Apotheke hatten sie sich zum Operationsfeld auserkoren. Ob sie die Absicht hatten, sich Betäubungsmittel anzueignen oder Geld zu rauben, ist nicht festgestellt. Der Umstand, daß die Apotheke geschlossen war, bildete für die Berliner Einbrecher keinen Hinderungsgrund. Im Gegenteil, in eine offenstehende Apotheke wären sie nicht eingedrungen, da das zu gefahrvoll gewesen wäre. Sie hatten den Grundsatz, nur in geschlossene Räume einzubrechen, da diese gewöhnlich menschenleer sind. Mit Hilfe ihrer Einbruchwerkzeuge war es ihnen ein leichtes, vom Hausflur aus in die Apotheke zu gelangen. Der Apothekenbesitzer, namens Rathge, ein unverheirateter Herr in mittleren Jahren, dem seine Schwester die Wirtschaft führte, wohnte im ersten Stock dicht über der Apotheke. Er war gerade vom Nachmittagsschlaf erwacht, da vernahm er ein starkes Geräusch, das zweifellos aus seiner Apotheke kam. Nichts Böses ahnend, eilte er im Schlafrock und Pantoffeln hinunter. Da er zwei elegant gekleidete junge Leute erblickte, glaubte er im ersten Augenblick, die Apotheke sei nicht vollständig geschlossen gewesen, und die jungen Herren seien in harmloser Weise in die Apotheke eingetreten, um etwas zu kaufen. Er rief deshalb den Leuten einen freundlichen „Guten Abend“ zu. Aber sehr bald merkte er, daß er es mit Einbrechern zu tun habe. Er rief deshalb „Hilfe!“. In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Apotheker Rathge brach blutüberströmt zusammen. Obwohl sogleich eine Anzahl Leute herbeigeeilt kamen, gelang es den beiden Einbrechern, unerkannt zu entkommen. Nitter, von einer großen Menschenmenge verfolgt, hatte das Mißgeschick, über einen Rinnstein zu stürzen. Er konnte infolgedessen ergriffen und der Polizei übergeben werden. Dagegen war Knitelius im Menschengetümmel spurlos verschwunden. Der unglückliche Apotheker Rathge hatte einen Schuß in den Bauch erhalten. Er wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht. Dort ist er trotz aufopferndster Pflege nach einigen Tagen gestorben. Nitter wurde im Mai 1909 wegen eines vollendeten Einbruchdiebstahls in Breslau sowie wegen versuchten suchten Einbruchdiebstahls in die Magdeburger Hirschapotheke von der Magdeburger Strafkammer zu 6 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt. Knitelius aber war und blieb trotz aller Bemühungen der Magdeburger und Berliner Kriminalpolizei verschwunden. Er wurde in einer Weise, wie es nur selten von der deutschen Polizei geschieht, durch alle Erdteile verfolgt. Endlich im November 1910 gelang es, Knitelius in Brasilien zu verhaften. Er wurde auf Ersuchen des Auswärtigen Amts ausgeliefert und nach Magdeburg gebracht. Am 6. März 1911 hatte er sich vor dem Magdeburger Schwurgericht wegen Mordes zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Goldschmidt, die Anklage vertrat Staatsanwalt Schütte. Die Verteidigung führte als Offizialverteidiger Rechtsanwalt Dr. Boré (Magdeburg).
Der Angeklagte Knitelius war mittelgroß, schlank, brünett und auffallend blaß. Er hatte einen gut gepflegten dunkeln Schnurrbart und machte einen schneidigen Eindruck. Knitelius gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er sei am 16. November 1884 zu Offenbach a.M. geboren, katholischer Konfession und unbestraft. Er sei vollständig unschuldig. Er sei niemals in Magdeburg gewesen. Seine Eltern hatten in Offenbach einen offenen Verkaufsladen. 1894 starb sein Vater. Seine Mutter führte das Geschäft weiter. Er habe in Offenbach die Realschule besucht; er wollte das Einjährig-Freiwilligenzeugnis erreichen, sei aber kurz vorher von der Schule gegangen, weil er von einem Lehrer geschlagen wurde. Er habe alsdann die Kunstgewerbeschule besucht und sei mit 17 Jahren in ein Handlungshaus als Lehrling eingetreten. Einige Zeit darauf sei er nach Frankfurt a.M. gegangen und habe dort mit Juwelen und Goldwaren gehandelt.
Vors.: Sie haben bereits zugegeben, daß Sie in Frankfurt sehr viel mit Damen der Halbwelt verkehrten?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Sie sollen in Frankfurt auch viel mit Verbrechern verkehrt haben und Mitglied einer internationalen Einbrecherbande gewesen sein?
Angekl.: Das ist unwahr.
Vors.: Es wird von Zeugen bekundet werden. Sie gingen 1906 nach Berlin und haben dort auch viel in Verbrecherkreisen verkehrt?
Angekl.: Das ist auch unwahr.
Vors.: Von was haben Sie in Berlin gelebt?
Angekl.: Ich wurde von meiner Mutter unterstützt.
Vors.: Sie haben Reisen durch ganz Deutschland unternommen?
Angekl.: Ich begleitete eine Dame.
Vors.: Wer war die Dame?
Angekl.: Ich will den Namen nicht nennen.
Vors.: Wer bestritt die Reisekosten?
Angekl.: Die Dame.
Vors.: Die Berliner Polizei hatte Sie längst beobachtet und hielt Sie für den gefährlichsten internationalen Einbrecher. Die Berliner Polizei ist der Ansicht, Sie haben die Reisen nur unternommen, um Einbrüche zu begehen?
Angekl.:
Das ist vollständig falsch.
Vors.: Sie haben sich in Berlin Turban genannt?
Angekl.: Das ist richtig, ich tat dies, weil ich viele Juwelen versetzte.
Vors.: Sie haben sich in Weißensee bei Berlin als wohnhaft angemeldet, wohnten aber in Berlin?
Angekl.: Ich tat dies, da ich auch in Weißensee Juwelen versetzen wollte, und die dortigen Pfandhäuser nur von Bewohnern Weißensees Wertsachen in Versatz nehmen.
Vors.: Wann sind Sie von Berlin fortgegangen?
Angekl.: Am 27. Oktober 1908.
Vors.: Am 25. Oktober 1908 ist der Apothekenbesitzer Rathge in Magdeburg ermordet worden. Bleiben Sie dabei, daß Sie niemals in Magdeburg waren?
Angekl.: Jawohl, ganz entschieden bleibe ich dabei.
Vors.: Wie erklären Sie es sich, daß die Berliner Kriminalpolizei, als sie von dem Verbrechen in Magdeburg deburg hörte, sofort der Überzeugung Ausdruck gab, das kann nur Knitelius gewesen sein, denn dieser arbeitet immer mit Nitter zusammen?
Angekl.: Das ist ein Irrtum.
Der Angeklagte erzählte alsdann weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Abends sei ihm ein Herr in Berlin nachgefahren und habe ihm mehrere Stunden Fensterpromenade gemacht. Das war ein Herr von P. Dieser hatte ihm 10000 Mark geboten, wenn er ihm ein Jahr lang Fräulein Bethge überlasse.
Vors.: Es war wohl umgekehrt. Sie verlangten für die Bethge 10000 M.?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Sie wohnten damals mit der Bethge zusammen?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Sie haben Herrn von P. schließlich geschrieben, daß er sich des Bruches des Ehrenwortes schuldig gemacht habe, weil er Ihnen die 10000 Mark nicht gegeben hatte.
Angekl.: Hauptsächlich, weil er Fräulein Bethge länger behielt, als er versprochen hatte.
Vors.: Sie haben in Berlin stets Waffen bei sich geführt?
Angekl.: Das ist richtig.
Vors.: Weshalb hatten Sie die Waffen?
Angekl.: Einmal fürchtete ich die Rache des Herrn von P., und andererseits fürchtete ich, Einbrecher könnten mir meine Juwelen stehlen.
Vors.: Was hatten Sie für Waffen?
Angekl.: Eine Browningpistole.
Vors.: Eine Zeitlang hatten Sie auch einen Hammer?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Hatten Sie nicht auch Einbruchwerkzeuge?
Angekl.: Nein.
Vors.: Sie sind nun am 27. Oktober 1908 plötzlich aus Berlin spurlos verschwunden und erst nach länger denn zwei Jahren in Rio de Janeiro aufgetaucht. Selbst Ihre Mutter wußte Ihren Aufenthalt nicht. Wie erklären Sie das?
Angekl.: Ich hatte mich in Weißensee bei Versatzgeschäften strafbar gemacht. Deshalb verließ ich eiligst Berlin.
Vors.: Sie werden doch zugeben, daß es ungemein auffallend ist, daß Sie gerade zu der Zeit aus Berlin und aus Deutschland verschwanden, nachdem hier der Apothekenbesitzer Rathge ermordet war?
Angeklagter schwieg.
Auf ferneres Befragen äußerte der Angeklagte: Er habe, als er aus Berlin flüchtete, zunächst verschiedene Hauptstädte Europas besucht. Von Lissabon sei er nach Monte Carlo gereist, um die Dame, mit der er gereist war und die sich dort eines Lungenleidens wegen aufhielt, zu besuchen.
Vors.: Wie lange waren Sie in Monte Carlo?
Angekl.: Acht Wochen.
Vors.: Haben Sie dort deutsche Zeitungen gelesen?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Haben Sie alsdann von dem Mord in Magdeburg gelesen?
Angekl.: Nein, ich habe davon erst gehört, als ich in Rio de Janeiro festgenommen wurde.
Vors.: Lesen Sie denn überhaupt Zeitungen?
Angekl.: Ich lese sehr viele Zeitungen.
Vors.: Und trotzdem haben Sie, solange Sie in Europa waren, niemals gelesen, daß in Magdeburg ein Apothekenbesitzer ermordet wurde, und daß Sie des Mordes dringend verdächtig sind?
Angekl.: Ich habe niemals etwas von dem Morde gehört.
Vors.: Den gegen Sie erlassenen Steckbrief, der in zahlreichen Zeitungen erlassen wurde, haben Sie nicht gelesen?
Angekl.: Nein.
Vors.: Von wem hatten Sie das Geld zur Überfahrt nach Brasilien?
Angekl.: Die Dame in Monte Carlo gab mir 10000 Mark.
Der Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in Rio de Janeiro unter dem Namen Andreas Walter gelebt und deutschen Sprachunterricht erteilt.
Vors.: Weshalb hatten Sie einen falschen Namen angenommen?
Angekl.: Ich fürchtete, wegen der Brillantenschwindeleien in Weißensee verfolgt zu werden.
Der Angeklagte schilderte alsdann in ausführlicher Weise seine Verhaftung in Rio de Janeiro.
Vors.: Treten Sie einmal an den Richtertisch. Sie haben im Jahre 1905 eine behördliche Eingabe geschrieben und haben, als Sie hier vom Untersuchungsrichter vernommen wurden, das Protokoll unterschrieben. Es gewinnt den Anschein, als ob Sie hier Ihre Handschrift absichtlich verstellt hätten?
Angekl.: Ich schreibe jetzt nur etwas dicker als früher.
Vors.: Sie haben auch Ihr Äußeres gegen früher verändert?
Dem Angeklagten wurde eine Photographie vorgelegt und ihm alsdann vom Vorsitzenden befohlen, seinen weißen Strohhut, Reisemütze und schwarzen steifen Filzhut aufzusetzen.
Vors.: Es ist jedenfalls auffallend, daß Sie leugneten, Nitter zu kennen, daß Sie bestritten haben, Knitelius zu heißen, daß Sie Ihre Handschrift verstellten, und daß Sie sofort nach dem Morde spurlos aus Europa verschwanden. Ich bemerke Ihnen außerdem, daß Nitter Sie anfänglich nicht kennen wollte, später aber mit voller Bestimmtheit behauptet hat, daß Sie den Apothekenbesitzer Rathge erschossen haben.
Angekl.: Das kann Nitter unmöglich behaupten. Unter seinem Eide wird er bei seiner Behauptung nicht bleiben.
Vors.: Nitter hat absolut kein Interesse, einen Unschuldigen zu beschuldigen.
Medizinalrat Dr. Keferstein nahm hierauf an dem Angeklagten Messungen vor.
Es wurde alsdann Waffenhändler Schulz als Zeuge vernommen. Dieser war unmittelbar nach dem Morde an den Tatort gekommen. Er schilderte in ausführlicher Weise seine Wahrnehmungen. Der ermordete Rathge schrie: „Haltet ihn, er hat geschossen!“ Rathge hatte auch noch soviel Kraft, um Nitter zu fassen. Rathge fiel sehr bald zu Boden und jammerte: „Ich werde wohl sterben.“ Sehr bald verlor er das Bewußtsein. Rathge erzählte vorher: Als er ins Kontor trat, sei sofort geschossen worden. Nitter bestritt, etwas begangen zu haben; er sei zufällig in die offene Vorhalle eingetreten, da er etwas kaufen wollte. Dem Nitter sei sofort eine noch rauchende Pistole und ein Hammer abgenommen worden. Er (Zeuge) habe einen zweiten Mann fortlaufen sehen, er sah dem Angeklagten ähnlich, er könne aber nicht sagen, daß es der Angeklagte war.
Fräulein Rathge, Schwester des ermordeten Apothekenbesitzers, schilderte in eingehender Weise den Vorgang. Sie habe ihrem Bruder die erste Hilfe geleistet. Ihr Bruder habe ihr gesagt, er habe im Halbdunkel die Männer nicht erkennen können und sie für Bekannte gehalten. In demselben Augenblick, als er ins Kontor trat, sei geschossen worden.
Medizinalrat Dr. Keferstein begutachtete: Rathge sei infolge der in den Bauch erhaltenen Schußverletzung am 28. Oktober 1908 an Bauchfellentzündung gestorben.
Kriminalkommissar Eggert (Magdeburg) schloß sich im allgemeinen den Bekundungen des Fräulein Rathge an. Nitter habe sich zunächst Schröder genannt und angegeben, seinen Komplicen nicht zu kennen. Erst nach einigen Tagen habe er zugegeben, daß es Knitelius war.
Kriminal-Polizeiinspektor Schmidt: Ich hatte sofort die Überzeugung, daß es sich um reisende Verbrecher handelt. Die reisenden Verbrecher sind ungemein gefährlich. Sie kommen gewöhnlich zu zweien oder dreien des Morgens aus einer Großstadt, zumeist aus Berlin, baldowern etwas aus, „drehen alsdann das Ding“ und verduften eiligst wieder. Diese fahrenden Verbrecher teilen sich in verschiedene Gruppen. Eine Gruppe macht nur Geldschrankeinbrüche, eine zweite Gruppe legt sich auf den Diebstahl von Wertsachen, eine dritte Gruppe begeht Taschendiebstähle, eine vierte Gruppe besteht aus Sonntagsdieben, das heißt sie verüben Sonntag nachmittags in Wohnungen und Kontoren Einbrüche, da sie annehmen, daß niemand in der Wohnung oder im Kontor sei. Gewöhnlich vergewissern sie sich zunächst durch Klingeln, ob Menschen in der Wohnung sind. Nitter habe zunächst angegeben, er heiße Franz Schröder aus Hannover. Bei Nitter sei auch „Tandelzeug“, d.h. Einbruchwerkzeuge gefunden worden. Er sagte: Die habe er von seinem entkommenen Komplicen, von dem er nur wisse, daß er Fritz heiße. Er habe ihn erst am Abend vorher kennengelernt. Nitter wurde sofort photographiert und das Bild nach Berlin geschickt. Von dort erhielten wir sogleich die telegraphische Nachricht, daß es Nitter sei, sein Komplice sei wahrscheinlich Otto Knitelius. Als die Photographie von Knitelius aus Berlin eintraf, wurde sie Nitter gezeigt. Dieser sagte sofort: Das ist Knitelius, der hat allerdings geschossen. Da uns die Berliner Kriminalpolizei mitteilte, daß das Verbrecherpaar auch eine Reise durch Schlesien unternommen hatte, wandte ich mich an die Breslauer Kriminalpolizei. Diese bestätigte die Benachrichtigung der Berliner Polizei. Eine Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist es, sich nicht gegenseitig zu verraten; sie geben erst dann ihre Komplicen an, wenn sie bestimmt glauben, daß letztere in Sicherheit sind. Eine weitere Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist, daß sie engste Verbindung mit der Prostitution haben. Eine bekannte Magdeburger Prostituierte ist mit den beiden Verbrechern vorher zusammen gewesen.
Maschinenmeister Hertwig: Er habe den Nitter mit festnehmen helfen. Bei diesem sei ein vollgeladener Revolver gefunden worden.
Kriminalkommissar Weiland (Berlin): Der Angeklagte sei ihm als Juwelenschieber bekannt. Ob er in Berlin etwas Strafbares begangen habe, könne er nicht sagen. Sein (des Zeugen) Spezialfeld sei die Verfolgung von Geldschrankeinbrechern. In Berlin werde bisweilen ein halbes Dutzend Geldschrankeinbrüche in einer Nacht begangen. Er habe gehört, daß der angeklagte ein sehr schwelgerisches Leben in Berlin geführt habe. Die internationalen reisenden Einbrecher treten immer sehr nobel in eleganter Toilette auf. Die reisenden Verbrecher und auch die Juwelenschieber verkehren in Berlin zumeist im Café Opera, Unter den Linden.
Vert.: Ist es nicht eigentümlich, daß zwei internationale reisende Verbrecher gerade nach Magdeburg kommen, um in eine Apotheke einzubrechen?
Zeuge: Es ist möglich, daß ihnen gesagt wurde, es sei in der Apotheke Geld zu holen.
Am zweiten Verhandlungstage wurde als erster Zeuge Kriminalkommissar Klinghammer vernommen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin in Berlin Patrouillenkommissar. Es gehört zu meinen Obliegenheiten, in den Lokalen, die den Sammelpunkt von Verbrechern bilden, zu recherchieren und Kapitalsachen zu bearbeiten. Ich habe Knitelius und Nitter mehrfach beobachtet. Eines Tages erhielt ich eine anonyme Postkarte, in der mir mitgeteilt wurde: Wenn ich Otto Knitelius kennenlernen wolle, dann solle ich nach der am Belle-Alliance-Platz belegenen Konditorei Baumgarten kommen. Dort traf ich einen rothaarigen jungen Mann, der sich mir als Nitter vorstellte. Dieser sagte mir: Er mache mich auf Otto Knitelius aus Frankfurt a.M., als auf einen der gefährlichsten internationalen Verbrecher, aufmerksam, der unter dem Namen Turban auftrete.
Vors.: War dieser Nitter Detektiv?
Zeuge: Er war allerdings vorübergehend Privatdetektiv. Ich bemerke, daß wir Fühlung mit dem Anhang des Verbrechertums suchen. Darauf beruhen in der Hauptsache unsere Erfolge. Wir nennen diese Leute Vigilanten. Selbstverständlich prüfen wir die Angaben der Vigilanten aufs sorgfältigste und haben diese Leute auch genau im Auge. Ich bemerke noch, daß wir diese Vigilanten im allgemeinen nicht preisgeben. Wir haben das Zeugnisverweigerungsrecht und nennen im Interesse des Dienstes die Namen der Vigilanten nur im dringendsten Notfall.
Vors.: Haben Sie für diese Verhandlung die Erlaubnis zur Aussage von Ihrer vorgesetzten Behörde?
Zeuge: Ja. Ich stellte nun fest, daß Knitelius ein Juwelenschieber sei, der im Verdacht steht, in Frankfurt a.M. an verschiedenen Einbrüchen beteiligt gewesen zu sein. Ich stellte ferner den intimen Verkehr des Knitelius mit der Zimmermann und der Bethge fest. Ich stellte fest, daß Knitelius die Bethge Herrn von P. für 10000 Mark angeboten und auch einen Erpressungsversuch gegen letzteren unternommen habe. Ich hielt zunächst den Herrn von P. für fingiert, da ich mir nicht denken konnte, daß ein Mann, der der Armee angehört, derartige Sachen macht. Ich erfuhr aber zu meinem Erstaunen, daß dieser von P., der Sohn eines Majors war, tatsächlich in der angegebenen Weise mit Knitelius in Verbindung stand. Eines Abends begab ich mich in das Unter den Linden belegene Café Westminster. Dort verkehrte, insbesondere in dem hinteren Billardsaal, das internationale Verbrechertum: Juwelenschieber, Einbrecher, Wechselschieber und andere dunkle Existenzen mehr. Ich sah dort Knitelius und erklärte ihm, ich sei genötigt, ihn festzunehmen. Knitelius sagte, er wisse nicht, weshalb ich ihn verhaften wolle, er gehe aber gern mit, da er schon längst einmal zu mir nach dem Polizeipräsidium kommen wollte.
Vors.: Welche Veranlassung hatten Sie, Knitelius zu verhaften?
Zeuge: Ich hatte die Überzeugung, daß Knitelius ein gefährlicher internationaler Verbrecher war. Ich wußte außerdem, daß er gegen von P. einen Erpressungsversuch unternommen und diesen beleidigt hatte. Ich hielt es deshalb im Interesse der Sicherheit für geboten, den Mann für den polizeilichen Erkennungsdienst festzustellen. Ich führte Knitelius, der sich Turban nannte, nach dem nächsten, in der Mittelstraße belegenen Polizeibureau. Von dort ließ ich ihn mittels grünen Wagens nach dem Polizeipräsidium schaffen. Knitelius bat, auf seine Kosten in einer Droschke nach dem Alexanderplatz fahren zu dürfen, ich wollte aber einem solchen Verbrecher diese Vergünstigung nicht gewähren. Am folgenden Morgen ließ ich mir Knitelius vorführen. Ich führte ihn alsdann dem Untersuchungsrichter vor, dieser lehnte aber den von mir beantragten Verhaftungsbefehl ab. Ich mußte deshalb Knitelius wieder entlassen. Ich habe Knitelius weiter scharf beobachtet und ließ bei der Bethge und der Zimmermann Haussuchung halten. Ich fand bei Knitelius, bei dem ich ebenfalls Haussuchung vornahm, eine Browningpistole und einen Hammer. Die Browningpistole ist eine der gefährlichsten Waffen, so daß das Berliner Polizeipräsidium schon in Erwägung gezogen hat, die Browningpistole zwecks Benützung für die Beamten überhaupt abzuschaffen. Mit einer Browningpistole ist es möglich, fünf Menschen mittels eines Schusses zu töten. Ich sagte deshalb zu Knitelius: Wenn Sie sich eine Waffe zur Verteidigung anschaffen wollen, dann genügt es doch, daß Sie sich einen Revolver kaufen. Knitelius antwortete: Ich habe die Browningpistole für 1,50 Mark von einem Manne, namens Rosenstiel, im Café Opera gekauft. Dadurch hatte sich Knitelius der Hehlerei schuldig gemacht. Der Angeklagte verkehrte außerdem im Café Maxim, auch ein Sammelpunkt für alle möglichen Verbrecher.
Auf Befragen des Verteidigers bekundete der Zeuge: Nitter habe augenscheinlich durch seine Angaben die Maßnahmen der Polizei wissen wollen. Nitter habe ihm erzählt: Er sei eines Nachts mit Knitelius in Berlin die Friedrichstraße entlang gegangen, da habe er beobachtet, daß Knitelius jedes Haus mittels Dietrichs ohne weiteres öffnen konnte. Die Bethge hatte in Charlottenburg eine sehr elegant eingerichtete Wohnung. Sie war ungemein schwer zu einer Aussage zu bewegen; sie war anscheinend in Knitelius ungemein verliebt.
Vors.: Herr Kommissar, sind Sie der Ansicht, es könnte möglich sein, daß der Angeklagte aus Anlaß von Juwelenschwindeleien, die er angeblich in Weißensee bei Berlin begangen hat, aus Europa geflüchtet ist?
Zeuge: Ich halte das für absolut unwahr. Es ist noch niemals vorgekommen, daß ein Juwelenschieber die Flucht ergriffen hat, zumal es kaum möglich ist, die Leute strafrechtlich zu fassen. Kriminalkommissar Krüger in Berlin, dessen Spezialfach die Beobachtung der Juwelenschieber ist, könnte näheres bekunden. Auch der Juwelier Fischer in Berlin, Königgrätzer Straße 28, kann hierüber nähere Auskunft geben.
Vert.: Waren Sie berechtigt, den Angeklagten im Hotel Westminster zu verhaften?
Zeuge: Ich hatte genügende Verdachtsgründe, daß der Angeklagte sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht habe. Ich verbitte mir im übrigen eine Kritik meiner Amtshandlungen.
Vors.: Ich muß Ihnen bemerken, Herr Kriminalkommissar, daß der Herr Verteidiger das Recht hat, diese Frage zu stellen.
Kriminalkommissar Klinghammer bekundete ferner: Eines Tages kam Knitelius zu mir ins Bureau und beschwerte sich, daß sein Bild im Verbrecheralbum stehe, er sei doch kein Verbrecher. Ich sagte ihm wahrheitsgemäß, sein Bild sei nicht im Verbrecheralbum; in das Album kommen nur Leute, die rechtskräftig wegen eines Verbrechens verurteilt worden sind. Ich legte auch dem Angeklagten das Album vor, damit er sich selbst überzeugen konnte, daß sein Bild nicht darin enthalten sei.
Angekl.: Weiß sich der Herr Kriminalkommissar zu erinnern, daß er einen Brief, den er bei mir fand, zu meinen Gunsten hat verschwinden lassen, weil er mich als Spitzel benutzen wollte? (Bewegung im Zuhörerraum.)
Klinghammer: Ich erkläre diese Behauptung des Angeklagten für eine grobe Lüge. Ich habe ein öffentliches Amt und werde niemals eine Handlung begehen, durch die ich ins Zuchthaus kommen kann. Ich erkläre diese Behauptung des Angeklagten als frei erfunden.
Angekl.: Es waren damals falsche Dollarnoten in Umlauf; ich sollte dem Herrn Kommissar zur Feststellung der Fälscher bzw. Verbreiter behilflich sein.
Auf ferneres Befragen bemerkte der Zeuge: Als der Mord in Magdeburg in Berlin bekannt wurde, sagte mir Privatdetektiv Krumme: Nitter ist bei mir eine Zeitlang Detektiv gewesen. Hätte ich nur die Sache früher erfahren, Knitelius habe ich am 27. Oktober noch in Berlin gesehen. Der Umstand, daß der Komplice Nitters sich als in Mainz geboren in den Anmeldezettel einschrieb, spricht auch für die Täterschaft des Knitelius. Letzterer spricht unverkennbaren süddeutschen Dialekt, er konnte sich nicht als aus Norddeutschland stammend ausgeben.
Kriminalkommissar Weiland (Berlin) bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ein Mann, namens Lange, in Berlin besorgt in der Hauptsache Juwelenschieberwaren.
Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen, den Kriminalkommissar Krüger (Berlin) telegraphisch zu laden.
Es sollte alsdann der Komplice des Angeklagten, Nitter, als Zeuge vernommen werden. Der Staatsanwalt beantragte, während der Vernehmung des Nitter den Angeklagten aus dem Saale zu führen. Es sei bekannt, daß der Angeklagte durch seinen eigentümlichen Blick den Zeugen beeinflussen könnte.
Vors.: Ich muß bemerken, daß dem Angeklagten die Zeugenaussage jedenfalls mitgeteilt werden und ihm Gelegenheit gegeben werden muß, in Gegenwart des Zeugen sich darauf zu äußern.
Vert.: Ich widerspreche dem Antrage. In einem Prozeß, wo es sich um die schwerste Strafe handelt, die das Strafgesetzbuch kennt, ist es dringend geboten, dem Angeklagten volle Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Wenn ein so wichtiger Zeuge wie Nitter in Abwesenheit des Angeklagten vernommen wird, dann ist die Verteidigung in hohem Maße beschränkt.
Der Gerichtshof beschloß nach kurzer Beratung, zunächst einen Strafanstaltsbeamten über die Glaubwürdigkeit des Nitter zu vernehmen, alsdann werde sich der Gerichtshof über den Antrag des Staatsanwalts schlüssig machen.
Fräulein Johanna Vogt: Sie habe am Abend des 24. Oktober 1908 zwei junge Männer in Magdeburg gesehen. Nach der Photographie habe sie Nitter sofort wiedererkannt. Der Angeklagte sehe der Figur und Haltung nach dem zweiten Mann ähnlich, mit Bestimmtheit könne sie aber nicht sagen, daß es der Angeklagte war.
Schneidermeister Berigke und Tochter bekundeten: Am Abend des 24. Oktober 1908 haben zwei junge Leute, von denen sich einer Hans Schröder, aus Breslau kommend, nannte, bei ihnen in der Anhaltstraße hierselbst ein Zimmer für eine Nacht gemietet. Den einen haben sie nach der Photographie sofort wiedererkannt, allem Anscheine nach sei der Angeklagte der zweite Mann, mit Bestimmtheit könne sie das aber nicht behaupten.
Strafanstaltssekretär Klink (Groß-Strehlitz): Er habe mehrfach mit Nitter über die Tat in Magdeburg gesprochen. Nitter habe stets gesagt: Der Mittäter war Knitelius. Er habe unter dem Einfluß von Knitelius gestanden. Nitter hegte die Befürchtung, daß er infolge der Verhandlung gegen Knitelius strenger bestraft werden könnte.
Vert.: Der Angeklagte ersucht, ihm Gelegenheit zu geben, mit mir dieses Punktes wegen auf einige Augenblicke allein sprechen zu dürfen. Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung und gestattete, daß der Angeklagte klagte im Beisein eines Schutzmanns und eines Gefängniswärters mit dem Verteidiger sich besprach.
Nach Beendigung der Konferenz wiederholte der Staatsanwalt den Antrag, den Zeugen Nitter in Abwesenheit des Angeklagten zu vernehmen. Der Verteidiger widersprach dem Antrage. Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er sich den Ausführungen seines Verteidigers anschließe.
Nach längerer Beratung verkündete der Vorsitzende: Da zu befürchten ist, daß der Zeuge Nitter in Anwesenheit des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen wird, hat der Gerichtshof beschlossen, den Zeugen Nitter in Abwesenheit des Angeklagten zu vernehmen. Der Angeklagte ist hinauszuführen.
Unter allgemeiner Spannung wurde darauf Nitter, ein mittelgroßer, bartloser, rothaariger Mensch von 24 Jahren, als Zeuge in den Saal geführt. Er wurde vom Vorsitzenden in eindringlichster Weise ermahnt, die Wahrheit zu sagen, niemandem zuliebe und niemandem zuleide. Der Zeuge äußerte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, und zwar in ziemlich gewähltem, fließendem Deutsch: Er sei wegen eines Einbruchdiebstahls in Breslau und des hier in der Hirsch-Apotheke begangenen Einbruchs mit 6 Jahren Zuchthaus bestraft; davon habe er bereits 1 1/4 Jahr verbüßt. Er sei in Berlin mit Knitelius bekannt geworden. Eines Tages habe er sich mit Knitelius über das internationale Leben unterhalten. Auf Vorschlag von Knitelius, so etwa fuhr Nitter fort, beschlossen wir, nach Magdeburg zu fahren. Ich fuhr Sonnabend den 24. Oktober, ein Uhr mittags, nach Magdeburg. Knitelius wollte nachkommen. Wir wollten in Magdeburg Juwelen versetzen und uns die „öffentlichen Häuser“ ansehen. Hier traf ich zufällig einen Bekannten aus Berlin, der mir als Einbrecher bekannt war. Er wurde seiner schönen schwarzen Haare wegen der „schwarze Artur“ genannt. Dieser machte sofort den Vorschlag, einen Einbruch zu begehen. Da ich nur noch wenig Geld hatte, erklärte ich mich einverstanden. Gegen acht Uhr abends traf Knitelius in Magdeburg ein. Ich hatte mich in der Anhaltstraße einquartiert und versuchte, Knitelius bei denselben Wirtsleuten unterzubringen. Da aber dort kein Zimmer mehr zu haben war – der „schwarze Artur“ wohnte bereits dicht neben meinem Zimmer –, mietete sich Knitelius im Vorderhaus ein Zimmer. Ich besuchte alsdann mit Knitelius ein Varietétheater und darauf mehrere Cafés. Am folgenden Tage gingen wir zusammen Mittag essen. Ich erzählte dem Knitelius, daß ich den „schwarzen Artur“, der als Einbrecher aus Berlin bekannt sei, getroffen und daß mir dieser den Vorschlag gemacht habe, einen Einbruch zu begehen. Knitelius sagte: Solche Dinge sind mir zu kleinlich, mache deine Einbrüche, mit wem du willst, ich mache nicht mit. Ich traf einige Zeit später den „schwarzen Artur“. Mit diesem ging ich durch mehrere Straßen. Vorher hatten wir uns geladene Revolver eingesteckt. Wir sahen uns um, wo etwas zu stehlen war. Zunächst versuchten wir in eine Drogerie einzudringen; das gelang uns aber nicht. Wir kamen schließlich an der Hirsch-Apotheke am Breiten Weg vorüber. Wir beschlossen, in die Apotheke einzudringen. Nachdem wir verschiedene Kasten aufgezogen hatten, hörten wir plötzlich schließen. Die Tür ging auf und ein Mann stand vor uns. In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Ich wußte gar nicht, was geschehen war, ich sah aber den Mann zusammenbrechen. Der „schwarze Artur“ nahm Reißaus, ich flüchtete ebenfalls, wurde aber von einem Radfahrer verfolgt. Ich wurde schließlich gefaßt.
Vors.: Sie sind mindestens zehnmal vernommen worden und haben stets angegeben, Ihr Mittäter sei Knitelius. Wie kommt es, daß Sie jetzt plötzlich einen anderen als Täter bezeichnen?
Zeuge: Es wurde von allen Seiten auf mich eingedrungen und immer gesagt: Ihr Mittäter war doch Knitelius. Ich habe es deshalb zugegeben, um das viele Fragen endlich loszuwerden. Ich sagte mir auch: Knitelius soll in Brasilien sein, da ist es schließlich gleichgültig, wenn ich ihn als Täter bezeichne.
Vors.: Sie haben doch aber durch Ihre früheren Angaben gaben Knitelius in eine große Gefahr gebracht.
Zeuge: Da kann ich mir auch nicht helfen. Ich bemerke, es ist ein großer Unterschied, ob man als Angeklagter oder als Zeuge vernommen wird.
Vors.: Können Sie den „schwarzen Artur“ näher beschreiben?
Zeuge: Es ist ein großer, hübscher Mensch von jetzt etwa 31 bis 32 Jahren. Er hat schönes schwarzes Haar und einen hübschen schwarzen Schnurrbart.
Vors.: Kennen Sie den Namen des „schwarzen Artur“?
Zeuge: Nein, man kennt von den Verbrechern, die hauptsächlich in den Berliner Kaschemmen verkehren, nur immer den Spitznamen.
Staatsanwalt: Und mit solchem Menschen verkehrten Sie?
Zeuge: Der Herr Staatsanwalt hat mir ja schon bei meiner Verhandlung die Ehre angetan, zu sagen, ich sei ein ganz gemeiner Mensch. (Große allgemeine Heiterkeit.)
Vors.: Wo lernten Sie den „schwarzen Artur“ kennen?
Zeuge: In irgendeinem Berliner Café.
Vors.: Wissen Sie, in welchem Café?
Zeuge: Das weiß ich wirklich nicht mehr, ich glaube, es war im Café Mohr in der Elsasser Straße in Berlin. Es ist aber auch möglich, daß es in einer Kaschemme schemme war.
Vors.: Sie scheinen sich in allen Verbrecherkreisen bewegt zu haben?
Zeuge: Das gebe ich zu, ich muß aber erwähnen, daß ich volle drei Monate Detektiv war. Ich war deshalb beruflich genötigt, mich in Verbrecherkreisen zu bewegen.
Vors.: Trafen Sie mit dem „schwarzen Artur“ oftmals zusammen?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: In welchen Kneipen trafen Sie sich hauptsächlich?
Zeuge: Zumeist in der Friedrichstraße, bisweilen auch im Café Friedrichshof, Ecke Koch- und Friedrichstraße.
Hierauf wurde der Angeklagte wieder auf die Anklagebank geführt. Der Angeklagte und der Zeuge tauschten verständnisvolle Blicke aus.
Vors.: Angeklagter, sehen Sie nicht fortwährend zu Nitter.
Der Vorsitzende teilte dem Angeklagten die Aussage des Zeugen mit und fragte ihn, ob er dabei bleiben wolle, daß er noch niemals in Magdeburg war.
Angekl.: Ich kann nur noch einmal versichern, daß ich noch niemals in Magdeburg war.
Vors.: Nitter, Sie hören, der Angeklagte bestreitet, jemals in Magdeburg gewesen zu sein.
Nitter: Knitelius hat ja, als er in seine Wohnung einzog, den Anmeldezettel ausgefüllt, da brauchte man ja bloß seine Handschrift zu vergleichen.
Vors.: Nitter, wollen Sie wirklich dabei bleiben, daß nicht Knitelius, sondern der große Unbekannte, der Ihnen unter dem Namen „der schwarze Artur“ bekannt war, Ihr Komplice bei dem Einbruch in die Magdeburger Hirsch-Apotheke gewesen ist?
Nitter: Jawohl.
Vors.: Und das behaupten Sie, obwohl Sie bisher stets mit größter Bestimmtheit sagten, Knitelius war Ihr Komplice, der auch geschossen hat?
Zeuge: Herr Vorsitzender, ich soll einen Eid leisten, da muß ich doch die Wahrheit sagen.
Die Berliner Kriminalkommissare Weiland und Klinghammer bekundeten auf Befragen, daß sie einen „schwarzen Artur“ nicht kennen.
Kommissar Klinghammer: Nitter, Sie haben mir doch erzählt. Sie seien einmal mit Knitelius die Berliner Friedrichstraße nachts entlang gegangen. Da habe Knitelius Ihnen gesagt, daß er mit einem Dietrich sämtliche Häuser aufschließen könne?
Nitter: Das ist richtig.
Klinghammer: Sie sagten mir, Sie haben es selbst gesehen?
Nitter: Es ist mir nur erzählt worden.
Klinghammer: Von dem „schwarzen Artur“ haben Sie mir nie etwas gesagt.
Nitter: Das mag sein.
Vors.: Angeklagter, kennen Sie den „schwarzen Artur“?
Angekl.: Nein, ich habe einmal gehört, daß der Mannheimer Karl der Mittäter in Magdeburg war.
Die Berliner Kriminalkommissare erklärten, daß sie einen „Mannheimer Karl“ nicht kennen.
Nitter: Ich kenne den „Mannheimer Karl“.
Vors.: Wo verkehrte dieser?
Zeuge: Teils in der „Neun“, teils im „Dalli“, bisweilen auch im „Café Westminster“ und im „Café Opera“.
Kommissar Klinghammer: Das stimmt nicht. Im „Dalli“ verkehren die proletarisierten Verbrecher mit dem Knüpftuch; die Leute, die in der „Neun“ und in den Cafés Unter den Linden verkehren, haben zu den Gästen vom „Dalli“ keine Beziehungen.
Vors.: Nitter, wer hat Ihre Sachen aus Ihrer Wohnung geholt?
Zeuge: Das war der „schwarze Artur“.
Vors.: Wo haben Sie Ihren Regenschirm?
Zeuge: Der ist in Groß-Strehlitz.
Staatsanwalt: Was sagen Sie dazu, wenn Sie hören, daß den Schirm Knitelius aus Ihrer hiesigen Wohnung geholt hat?
Zeuge: Das kann ich mir nicht gut erklären.
Nitter unterbrach mehrfach seine Aussage mit der Bitte, ihm ein Glas Wasser zu bringen.
Am dritten Verhandlungstage nahm nach dem Zeugenaufruf das Wort Staatsanwalt Schütte: Meine Herren! Die Verhandlung ist heute später eröffnet worden, weil es gelungen, ist, den „schwarzen Artur“; zu ermitteln. (Große allgemeine Bewegung.) Wir werden versuchen, den Mann hierher zu schaffen. Der „schwarze Artur“ ist ein Arbeiter, namens Artur Peters, in Berlin, 1873 geboren, bei der Mutter in der Pappelallee wohnhaft. Der Mann leidet augenblicklich an einem Fußübel, es ist deshalb fraglich, ob es möglich sein wird, ihn hierher zu schaffen. Anderenfalls wird zu erwägen sein, ob Peters kommissarisch zu vernehmen sein wird. Bemerken will ich bereits, daß Peters bestreitet, jemals Berlin verlassen zu haben. Ob der „Mannheimer Karl“ und der „Franzosen-Willi“ nötig sein werden, wollen wir noch erwägen. Allerdings sind diese beiden heute noch nicht ermittelt. Ich beantrage außerdem, den Kriminalwachtmeister Milke aus Frankfurt a.M. als Zeugen zu laden. Dieser wird bekunden: Der Angeklagte Knitelius war, als er in Frankfurt a.M. lebte, eines Einbruchdiebstahls in einen Juwelierladen verdächtig. Als die Polizeibeamten des Morgens bei Knitelius eintraten, um ihn zu verhaften, lag er noch zu Bett. Er sprang aus dem Bett, entnahm aus einem Tischkasten eine Pistole und wollte auf die Beamten schießen. Es gelang jedoch sofort, dem Manne die Waffe aus der Hand zu schlagen. Ich habe außerdem angeordnet, daß der Schirm, den Knitelius aus der hiesigen Wohnung des Nitter geholt haben soll, zur Stelle geschafft wird.
Der Verteidiger R.-A. Boré erklärte sich mit der Vernehmung des „schwarzen Artur“ einverstanden. Auf die Ermittlung des „Mannheimer Karl“ lege er Gewicht, dagegen habe er kein Interesse an der Vernehmung des „Franzosen-Willi“. Der Verteidiger beantragte außerdem, das Protokoll über die gestrige Vernehmung des Zeugen Nitter dem Angeklagten vollständig mitzuteilen.
Der Gerichtshof beschloß nach längerer Beratung, den Anträgen des Staatsanwalts und des Verteidigers stattzugeben. Nach Verlesung des Protokolls bemerkte der Vorsitzende: Es ist mir berichtet worden, daß der Angeklagte mehrfach mit Zeugen und Leuten im Zuhörerraum Blicke austauscht. Ich beauftrage die neben dem Angeklagten sitzenden Beamten, darauf zu achten, daß das unterbleibt.
Es wurde darauf Strafanstaltssekretär Klink (Gr.-Strehlitz) als Zeuge vernommen: Nitter fragte mich wiederholt, ob er hier vereidigt werden würde. Ich sagte ihm: Das ist leicht möglich.
Vors.: Er rechnete also damit, daß er vereidigt werden den wird.
Zeuge: Er befürchtete es.
Es erschien darauf als Zeuge Artist Artur Danziger (Berlin) vom Zirkus Busch: Er habe den Angeklagten durch einen Athleten Arndt in Berlin kennengelernt. Er habe ihm mehrfach Pfandscheine von Juwelen und auch weiße (unechte) Brillantsteine abgekauft. Es war dies im Frühjahr 1908. Er sei mit Knitelius im Berliner „Börsen-Café“ dem Zentralpunkt der Juwelenhändler, Juwelenschieber und Diamantenhändler aus ganz Deutschland und Amsterdam, vielfach auch im „Café Bauer“ zusammengekommen. Im „Café Westminster“ habe er nicht verkehrt. Bisweilen gehe er durch das „Café Westminster“ durch, da dort viele Österreicher, Skatratten usw. verkehren. Knitelius hatte mir noch zwei angebliche Artisten, namens Werner und Schröder, vorgestellt, ich hielt aber beide nicht für Artisten, sondern für Zuhälter.
Vors.: Treten Sie einmal näher. Sehen Sie sich die Photographie an. Ist das der angebliche Schröder?
Zeuge: Jawohl, das ist er.
Vors.: Der Mann heißt Nitter.
Zeuge: Das ist mir bekannt. Knitelius stellte mir noch andere Juwelenhändler bzw. Juwelenschieber vor. Waffen habe ich bei Knitelius niemals gesehen. Knitelius hat mir allerdings einmal gesagt, daß er eine Browningpistole besitze, da Arndt ihm gedroht habe, ihn zu verhauen. Arndt war ein gefürchteter Schläger, der vielfach wegen Körperverletzung bestraft worden ist. Im übrigen ist eine Browningpistole keineswegs so gefährlich, wie sie gestern Kriminalkommissar Klinghammer erklärt hat. Hat man Glück, so schießt man den Gegner mit der Browningpistole tot, hat man Pech, so schießt man daneben und erhält von dem Gegner eins auf den Kopf. (Heiterkeit.) Daß man mit einer Browningpistole fünf Menschen auf einmal erschießen kann, ist ausgeschlossen. Ich habe im Zirkus Busch in Berlin nur einen einzigen Mann, Mitglied einer Indianertruppe, gesehen, der vom Pferde herab in schnellstem Galopp einem Mann ein Blatt aus der Hand geschossen hat. Knitelius trat immer als Kavalier auf. Er ging stets elegant gekleidet. Er hatte auch weltstädtische Manieren. Eine Brutalität hätte ich dem Manne niemals zugetraut.
Vors.: Haben Sie gehört, daß Knitelius einmal die Befürchtung hatte, wegen Juwelenschwindeleien verhaftet und bestraft zu werden?
Zeuge: Nein.
Der Angeklagte fragte den Zeugen, ob ihm erinnerlich sei, daß er einmal eine unechte Perle für echt verkauft und ihm deshalb Verhaftung gedroht habe.
Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich.
Hierauf wurde nochmals der Zuchthaussträfling Nitter als Zeuge in den Saal geführt.
Vors.: Nitter, der „schwarze Artur“ ist ermittelt. Es ist ein Arbeiter, namens Artur Peters. Können Sie den „schwarzen Artur“ genau beschreiben?
Zeuge: Der „schwarze Artur“, den ich kenne, ist nicht Arbeiter, sondern Verbrecher.
Staatsanwalt: Die Berliner Kriminalpolizei kennt nur einen „schwarzen Artur“; dieser ist Verbrecher. Wenn wir Ihnen den „schwarzen Artur“ gegenüberstellen, würden Sie ihn alsdann wiedererkennen?
Zeuge: Es kommt darauf an, ob das der „schwarze Artur“ ist, den ich kenne.
Staatsanwalt: Es soll doch aber nur einen „schwarzen Artur“ geben?
Zeuge: Herr Staatsanwalt! Sie kennen einen „schwarzen Artur“, und ich kenne auch einen. Nun kommt es darauf an, ob das derselbe „schwarze Artur“ ist. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)
Vors.: Beschreiben Sie einmal den „schwarzen Artur“ so genau als möglich.
Nitter: Der „schwarze Artur“ war damals 28 bis 30 Jahre alt, mittelgroß, hatte schönes schwarzes Haar und einen schönen schwarzen Schnurrbart. Er ging elegant gekleidet. Er trug einen Paletot auf Taille, einen sogenannten Ulster.
Vors.: Solch feine Kleidung kostet doch viel Geld?
Zeuge: Für 100 Mark kann man schon einen sehr eleganten Anzug erhalten.
Vors.: 100 Mark ist doch schon viel Geld.
Zeuge: Es kommt darauf an; wenn man bei einem Einbruch Glück hat, dann sind 100 Mark keine große Summe.
Auf Auffordern des Vorsitzenden schilderte der Zeuge noch einmal ausführlich den Vorgang bei dem Einbruch in die Hirsch-Apotheke. Nitter blieb trotz aller Vorhaltungen dabei, daß sein Komplice nicht Knitelius, sondern der „schwarze Artur“ war. Er habe gestern hier mehrere Stunden in einer Detentionszelle sitzen müssen. In dieser habe eine so furchtbar schlechte Luft geherrscht, daß er heftige Kopfschmerzen bekam. Er habe deshalb vergessen, mitzuteilen, daß er seinen Schirm Sonnabend, den 24. Oktober 1908, abends dem Knitelius geliehen habe, da dieser noch weitergehen wollte und es mit Regen gedroht habe.
Vors.: In der hiesigen Wohnung des Knitelius ist auch eine Ihnen gehörige Kleiderbürste gefunden worden. Daraus geht doch hervor, daß Sie mit Knitelius noch in Magdeburg sehr intim verkehrt haben.
Zeuge: Von einer Bürste ist mir nichts bekannt.
Vors.: Die Bürste wird Ihnen noch vorgelegt werden.
Es wurden alsdann nochmals Kriminalkommissar Eggert und Kriminalpolizei-Inspektor Schmidt (Magdeburg) über die Persönlichkeit des Nitter und seine Vernehmung vernommen. Sie wiederholten, Nitter habe sich zunächst Franz Schröder, Architekt aus Hannover, genannt und gesagt, daß er seinen Komplicen am Abend vorher in Magdeburg kennengelernt habe. Er wisse nur, daß er Fritz heiße. Der Polizeiinspektor bekundete noch: Er habe sofort an der Aussprache erkannt, daß Nitter kein Hannoveraner, sondern Berliner sei. Nitter habe auch schließlich zugegeben, daß er Edwin Nitter heiße und aus Berlin sei. Als ihm gesagt wurde, sein Komplice sei sein Freund Knitelius aus Berlin, gab er das schließlich zu. Er habe zu Nitter gesagt: Sie lassen sich Rechtsanwalt Doktor Schwindt aus Berlin als Verteidiger kommen; ein solch tüchtiger Verteidiger kostet doch viel Geld. Darauf versetzte Nitter: Das wird alles bezahlt. Der Polizeiinspektor bemerkte noch: Sonntagsdiebe arbeiten niemals zu dreien, höchstens zu zweien. Die Berliner reisenden Diebe sind ganz besonders gerissen. Sie wissen sehr genau, daß bei dreien die Gefahr der Entdeckung viel größer ist als bei zweien.
Landrichter Dr. Löwenthal war bei der Verhandlung gegen Nitter, der sich im Mai 1909 vor der Magdeburger Strafkammer zu verantworten hatte, Referent. Nitter habe ganz aus freien Stücken in der Hauptverhandlung angegeben, daß Knitelius sein Komplice war. Er habe den Vorgang auch ganz ausführlich geschildert.
Frau Margarete Wernatowski (Berlin): Knitelius habe im Frühjahr 1908 einige Monate bei ihr unangemeldet in der Seydelstraße unter dem Namen Turban gewohnt. Er sagte, er wolle nur kurze Zeit bei ihr wohnen. Seine Angehörigen wollten nicht, daß er ein Verhältnis mit Fräulein Bethge habe, deshalb habe er sich ein eigenes Zimmer gemietet. Der Angeklagte habe angegeben, daß er mit Juwelen handle. Er ging stets elegant gekleidet und ließ auch seine Briefschaften stets offen liegen.
Vors.: Ließ er auch seinen Koffer offen stehen?
Zeugin: Nein, der Koffer, der sehr schwer war, war stets verschlossen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Den Angeklagten habe vier- bis fünfmal ein bartloser, rotblonder junger Mann besucht.
Vors.: Sehen Sie sich einmal diesen Menschen (auf Nitter zeigend) an.
Zeugin: Der Mann trug einen eleganten Paletot mit Pelzkragen.
Der Vorsitzende befahl, daß Nitter der Paletot mit Pelzkragen angezogen werde.
Zeugin: Ich glaube bestimmt, daß es dieser Mensch gewesen ist.
Vors.: Erhielt Knitelius auch noch anderen Besuch?
Zeugin: Nein.
Landgerichtsrat Reschke: Er habe gegen Nitter, später auch gegen Knitelius die Untersuchung geführt. Er habe eines Tages zu Nitter gesagt: Wollen Sie nicht angeben, wer Ihr Komplice war? Da sagte Nitter: Mein Komplice war Knitelius. Bald darauf sagte Nitter: Ich habe mich versprochen, Knitelius war es nicht. Ich sagte: Es ist klar, daß Sie Ihren Komplicen kennen; es glaubt Ihnen niemand, daß Sie den Komplicen erst am Abend vorher kennengelernt haben und Sie nur wissen, daß er Fritz hieß. Schließlich sagte Nitter: Ich werde die Wahrheit in der Hauptverhandlung sagen.
Nitter: Ich wurde an diesem Tage 2 1/2 Stunden lang vernommen, so daß ich halb ohnmächtig wurde. Ich bat, mir einen Stuhl und ein Glas Wasser zu bringen. Dies wurde mir auch sofort gewährt. Infolge dieser meiner Schwäche hatte ich mich versprochen.
Landgerichtsrat Reschke bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Knitelius wurde sogleich als Mittäter mit Hilfe der Berliner, Breslauer, Frankfurter und Kölner Polizei in allen Erdteilen verfolgt. Es wurden ausführliche Steckbriefe mit Photographie an alle Polizeibehörden in Deutschland und alle Hauptstädte des Auslandes, selbst nach Neuyork, Chikago, Rio de Janeiro gesandt. Leider waren alle Bemühungen ohne Erfolg. Es war auch nicht eine Spur zu entdecken. Endlich kam die Nachricht, Knitelius sei in Rio de Janeiro festgenommen. Ich habe sofort nach seiner Einlieferung in Magdeburg ihn eingehend vernommen. Er bestritt mit großer Entschiedenheit, jemals in Magdeburg gewesen zu sein. Ich sagte ihm: Er solle lieber zugeben, denn wenn ihm das Gegenteil bewiesen werde, mache das einen sehr schlechten Eindruck. Ich sagte ihm auch, daß Nitter ihn bereits als Mittäter angegeben und eine Magdeburger Prostituierte, namens Haars, bekundet habe, daß sie in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1908 in Magdeburg mit ihm zusammengewesen sei. Knitelius blieb aber dabei, daß er noch niemals in Magdeburg war. Ich sagte ihm, wenn er Mittäter sei, so liege es vielleicht in seinem Interesse, ein Geständnis zu machen. Es sei ja möglich, daß es kein Mord war. Es seien vielleicht bisher unbekannte Umstände vorhanden, die die Sache in sehr mildem Licht erscheinen lassen. Knitelius blieb jedoch bei seiner Behauptung. Er sagte, er sei mit einer Dame, deren Namen er nicht nennen wolle, um sie nicht zu kompromittieren, von Berlin im Luxuszug nach Monte Carlo gefahren. Von dort sei er, nachdem ihm die Dame 10000 Mark gegeben, nach Lissabon, Madrid und London und schließlich mit einem englischen Dampfer nach Rio de Janeiro gefahren. Der Angeklagte wußte nicht anzugeben, in welchem Hotel er in Monte Carlo gewohnt habe. Er konnte auch keine Schilderung von Monte Carlo machen. Er sagte auf Befragen, er sei nach Rio de Janeiro ro gegangen, um dort Geschäfte mit Juwelen zu machen. Er habe unter falschem Namen gelebt, um seine Familie nicht zu kompromittieren. Daß er seinen Steckbrief, der mit Photographie wiederholt durch fast alle größeren Zeitungen der Welt gegangen war, nicht gelesen habe, halte ich für unwahr. Ich sagte dem Angeklagten, er müsse doch einen triftigen Grund gehabt haben, ganz plötzlich spurlos aus Europa zu verschwinden. Einer bloßen Brillantenschmuggelei wegen entflieht kein Mensch nach Brasilien. Da versetzte der Angeklagte: Vielleicht habe ich eine andere Straftat begangen. Ich erwiderte: Wenn Sie eine andere Straftat begangen haben, dann sagen Sie es doch. Sie werden alsdann wieder entlassen, da Sie bloß wegen Mordes ausgeliefert sind. Soviel mir bekannt, liefert Brasilien einer geringen Missetat wegen nicht aus. Knitelius verweigerte aber trotzdem jede weitere Auskunft.
Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Landgerichtsrat Reschke noch: Er habe der inzwischen verstorbenen Haars drei verschiedene Photographien vorgelegt. Die Haars habe die Photographie von Knitelius sofort herausgefunden und mit vollster Bestimmtheit erklärt: Das ist der Mann, mit dem ich zusammengewesen bin.
Vert.: Konnte Nitter annehmen, daß er, wenn er Knitelius als Mittäter angibt, auf eine mildere Strafe zu rechnen hat?
Zeuge: Das halte ich für ausgeschlossen.
Schuhmacher Vogt: Ich habe mit Nitter in einer Zelle im Magdeburger Untersuchungsgefängnis gesessen. Ich fragte Nitter, wozu er nach Magdeburg gefahren sei, da versetzte Nitter: Wir wollten Geld machen und sagten uns, wenn es keins gibt, dann wird einer abgemurkst. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Ich fragte, wer sein Mittäter sei. Er antwortete: Mein Komplice ist ein Landsmann von dir, ein Süddeutscher. Ich fragte, aus welcher Stadt ist er denn? Er ist Offenbacher, sagte Nitter. Und wie heißt er, fragte ich weiter. Er heißt Knitelius, antwortete er. Ich fragte: Hast du auch geschossen? Das war nicht nötig, sagte Nitter, der hatte schon genug. Mir können sie nichts anhaben, sagte Nitter, aus meinem Revolver fehlt keine Kugel. Ich fragte: Wird dein Kollege nicht gefaßt werden? Nein, antwortete er, den kriegen sie nicht, das ist ein heller Junge. Der hat viel Geld. Das Hauptgeld hat er auf der Bank von England. Er wird dafür sorgen, daß ich einen schneidigen Verteidiger, einen Rechtsanwalt aus Berlin, bekomme. Die Rechtsanwälte in Magdeburg sind nicht schneidig genug. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Mein Verteidiger erhält von Knitelius 2000 Mark.
Vors.: War das lange vor der Hauptverhandlung gegen Nitter?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Nun, Nitter, was sagen Sie dazu?
Nitter: Ich gebe zu, daß ich mich mit dem Manne durch die Zellentür unterhalten habe. Daß ich gesagt habe, Knitelius sei mein Komplice, gebe ich zu, das ist aber nicht wahr. Ich bestreite auch ganz entschieden, daß ich gesagt habe: „Wenn’s kein Geld gibt, dann wird einer abgemurkst.“ Ich bin allerdings zweimal wegen Einbruchdiebstahl bestraft, ich habe aber doch noch so viel moralisches Gefühl im Leibe (große Heiterkeit), daß ich einen Mord aus tiefster Seele verabscheue. Ich habe auch zu dem Zeugen gesagt: Ich billige den Schuß nicht, ich hätte nicht geschossen.
Zeuge Vogt: Das ist allerdings wahr, das hat Nitter gesagt.
Vors.: Weshalb führten Sie einen geladenen Revolver bei sich?
Nitter: Das rührt noch von meiner Detektivzeit her.
Darauf wurde der Zuchthausgefangene Firle (Gr.-Strehlitz) als Zeuge in den Saal geführt. Nitter habe ihm gesagt: Mein Komplice heißt Knitelius, dieser ist jetzt gefaßt. Wenn Knitelius bei der Hauptverhandlung schlecht abschneidet, dann befürchte ich, daß er pfeift und ich noch einmal verurteilt werde, denn ich habe noch mehr auf dem Kerbholz.
Nitter: Ich gebe das zu, ich habe aber dem Zeugen nicht die Wahrheit gesagt. Der Anstaltssekretär sagte mir nämlich: Wenn Sie in Magdeburg als Zeuge vernommen werden, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß Sie noch einmal angeklagt werden. Deshalb tat ich diese Äußerung.
Frau Patze: Knitelius ist der Mann, der am 24. Oktober bei mir ein Zimmer gemietet hat, ich kenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder.
Fräulein Anni Patze, Tochter der Vorzeugin, schloß sich der Bekundung ihrer Mutter an.
Die Schreibsachverständigen Dr. med. Georg Meyer (Berlin) und Rechnungsrat Pietsch (Magdeburg) begutachteten: Die ihnen vorgelegte Anmeldung sei mit der Unterschrift, die Knitelius nach Verlesung des Protokolls beim Untersuchungsrichter gemacht habe, vollständig identisch.
Am vierten Verhandlungstage teilte Staatsanwalt Schütte mit: Ich habe folgendes Telegramm von der Berliner Kriminalpolizei erhalten: „Schwarzer Artur nicht reisefähig.“ Ich bemerke, daß ich auf die Vernehmung des „schwarzen Artur“ gar keinen Wert lege. Der Zeuge Nitter sagte gestern: Es kommt darauf an, ob der ermittelte „schwarze Artur“ derselbe ist, den ich meine. Ich bin danach der Überzeugung: Wir könnten dem Nitter zehn schwarze Arturs vorstellen, dann würde er immer sagen: Das ist nicht der „schwarze Artur“, den ich meine. Das wäre also eine Kette ohne Ende. Ich stelle aber anheim, daß sich die Herren Geschworenen über diese Angelegenheit äußern.
Vors.: Das ist nach der Strafprozeßordnung nicht zulässig. Die Herren Geschworenen können nur persönliche Wünsche äußern.
Ein Geschworener: Ich habe den persönlichen Wunsch, zu wissen, ob der ermittelte „schwarze Artur“ der Beschreibung des Nitter entspricht.
Staatsanwalt: Nitter hat lediglich gesagt: Der „schwarze Artur“, den er meine, sei elegant gekleidet, zirka 30 Jahre alt gewesen, hatte schönes schwarzes Haar und einen schwarzen Schnurrbart.
Geschworener: Dann habe ich den persönlichen Wunsch, eine Beschreibung des in Berlin ermittelten „schwarzen Artur“ zu erhalten.
Vors.: Es würde sich empfehlen, Herrn Kriminalkommissar Weiland zu beauftragen, nach Berlin zu fahren, sich den „schwarzen Artur“ anzusehen und alsdann vor Gericht das Aussehen zu schildern.
Kriminalkommissar Weiland: Die Photographie des „schwarzen Artur“ wird wahrscheinlich im Berliner Verbrecheralbum enthalten sein.
Vors.: Die Photographie im Verbrecheralbum genügt nicht. Es ist alsdann notwendig, daß der Photograph, der die Photographie bewirkt hat, zeugeneidlich erklärt, daß das Bild des „schwarzen Artur“ im Verbrecheralbum naturgetreu ist. Es würde sich vielleicht leicht empfehlen, den Zeugen Nitter nach Berlin zu transportieren und ihm den „schwarzen Artur“ vorzustellen.
Staatsanwalt: Ich halte eine solche Prozedur für zwecklos und auch für bedenklich. Es liegt die Gefahr vor, daß Nitter in Berlin entweicht.
Vert. R.-A. Boré: Die Verteidigung legt auf die Feststellung des „schwarzen Artur“ gar keinen Wert. Ich bin der Ansicht, daß der „schwarze Artur“, den Nitter meint, überhaupt nicht existiert.
Vors.: Der Gerichtshof behält sich die Beschlußfassung bis zum Eintreffen des Kriminalkommissars Krüger aus Berlin vor.
Es wurde alsdann nochmals Fräulein Anni Patze vorgerufen. Der Vorsitzende befahl, daß der Angeklagte der Zeugin gegenübertrat und sich den Hut aufsetzte. Die Zeugin bemerkte: Sie erkenne jetzt, auch an der Aussprache, den Angeklagten, mit vollster Bestimmtheit wieder. „Das ist der Mann, der am 24. Oktober 1908, abends bei uns ein Zimmer gemietet hat.“
Aufwartefrau Niewerth: Sie war zur Zeit Aufwärterin bei Patze. Sie habe aber den damaligen Mieter nur flüchtig gesehen, könne daher nicht sagen, ob es der Angeklagte war.
Büfettier Giesche (Duisburg): Ich war im Oktober 1908 Verkäufer in der hiesigen Zigarrenverkaufsfiliale von Löser & Wolff am Breiten Weg. Ich erinnere mich ganz genau, daß am Sonnabend vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke zwei junge Leute in unsern Laden kamen und Zigarren kauften. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß der eine Mann Nitter war; ob der andere der Angeklagte war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Am folgenden Tage, nachmittags gegen 1 3/4 Uhr, kurz vor Ladenschluß, kamen die zwei jungen Leute wieder zu uns und kauften Zigarren. Der eine war Nitter, der andere Knitelius. Ich erkenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder. Es fiel mir auf, daß Knitelius, ebenso wie heute, mit einem Auge zwinkerte.
Angekl. (der dem Zeugen gegenüberstand): Sie zwinkern ja selbst mit dem einen Auge, das ist doch also kein Erkennungszeichen.
Zeuge: Ich habe mir die beiden jungen Leute schon deshalb genau angesehen, weil ich den Eindruck erhielt, daß es nicht anständige Leute waren.
Angekl.: Hielten Sie uns vielleicht für Zuhälter?
Zeuge: Das will ich nicht sagen. Als ich von der Ermordung des Apothekenbesitzers Rathge hörte, sagte ich sofort zu unserem Geschäftsführer: Das sind wahrscheinlich die jungen Leute gewesen, die gestern bei mir Zigarren kauften. Ich erkenne Knitelius auch an dem kurzgeschnittenen Schnurrbart wieder.
Fräulein Tilgner: Sie war zur Zeit Insassin eines hiesigen „Freudenhauses“. Am Abend vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke kamen zwei junge Leute. Der eine war bartlos und rotblond, der andere war schwarz und hatte einen kurzgeschnittenen Schnurrbart. Der Rotblonde war zweifellos der hier sitzende Nitter, den anderen habe sie nur flüchtig gesehen. Sie glaube, daß es Knitelius war, mit Bestimmtheit könne sie es aber nicht behaupten.
Nitter äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Am Abend des 24. Oktober 1908 sei er mit Knitelius in einem Magdeburger „Freudenhaus“ gewesen.
Zeugin: Die verstorbene Haars, mit der der Angeklagte verkehrt, habe, als sie hörte, daß die beiden jungen Leute den Mord begangen haben, gesagt: Der Mann hat mir vielleicht auch etwas antun wollen.
Droschkenkutscher Rusten: Am Tage nach dem Morde in der Hirsch-Apotheke, Montag, den 26. Oktober 1908, habe er einen jungen Mann von der Anhaltstraße nach dem Bahnhof gefahren. Der junge Mann hatte es sehr eilig. Er hatte einen schwarzen Koffer und ging ohne Überzieher.
Der Vorsitzende befahl, daß der Angeklagte dem Zeugen gegenübergestellt wurde.
Zeuge: Er könne nicht mit Bestimmtheit sagen, daß der junge Mann der Angeklagte war.
Provisor Schreier: Er sei im Oktober 1908 Provisor in der Hirsch-Apotheke gewesen. Eine Anzahl Kasten in der Apotheke waren durchwühlt. Die Diebe haben augenscheinlich nach der Wechselkasse gesucht. Sein ermordeter Chef hatte das Geld auf die Bank gegeben, es waren aber gewöhnlich einige hundert Mark im Hause. Er könne sich nicht erinnern, den Angeklagten oder Nitter jemals gesehen zu haben.
Kriminalkommissar Krüger (Berlin): Auf Anordnung der Berliner Kriminalpolizei wurde ärztlich festgestellt, daß weder Artur Peters, genannt der „schwarze Artur“, noch der Athlet Arndt reisefähig seien. Die Photographie des „schwarzen Artur“ ist nicht im Berliner Verbrecheralbum enthalten. Der „schwarze Artur“ ist 1873 geboren. Er ist Gewohnheitssäufer und war bereits mehrere Male in Irrenhäusern und Trinkerheilanstalten. Gemeingefährlich geisteskrank ist der „schwarze Artur“ nicht. Er ist einmal wegen gemeinsamen schweren Diebstahls mit sechs Monaten Gefängnis bestraft; das war die höchste Strafe, die er erlitten hat. Außerdem wurde er wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs, Beleidigung usw. bestraft. Er behauptet, weder Nitter noch Knitelius zu kennen und will den Nachweis führen, daß er vom 18. bis 31. Oktober 1908 in der chemischen Fabrik von Busse in der Schwäbischen Straße in Berlin gearbeitet habe.
Es ist mir nun von einem Kollegen mitgeteilt worden, daß es noch einen „schwarzen Artur“ in der Berliner Verbrecherwelt gebe. Es ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß es noch mehr „schwarze Arturs“ gibt. Es ist mir auch mitgeteilt worden, daß der „Mannheimer Karl“ im „Café Skandinavia“ in Berlin verkehrt, es ist mir aber nicht gelungen, diesen „Mannheimer Karl“ festzustellen.
Der Vorsitzende forderte nun Nitter auf, seinen Lebenslauf zu erzählen. Nitter erzählte, wie immer in gewähltem, fließendem Deutsch: Ich bin der Sohn eines Zahnkünstlers. Ich bin am 20. Juli 1886 in Berlin, Kochstraße 40, geboren. Ich besuchte die Gemeindeschule in Berlin und habe die Schule nach zurückgelegtem 14. Lebensjahr verlassen. Ich habe die oberste Klasse der Gemeindeschule absolviert, nachdem ich 2 1/2 Jahre in der ersten Klasse gesessen hatte. Ich war kein hervorragender, aber ein sehr guter Schüler. Schon als Schulknabe spielte ich kleine Rollen im Kgl. Schauspielhaus. Ich empfand große Lust, zur Bühne zu gehen. Mein Vater wollte das aber nicht. Ich kam zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Nach einem halben Jahre verließ ich diese Stellung, da ich dort in der Hauptsache Laufburschendienste verrichten mußte. Ich kam alsdann in eine Holzhandlung als Bureaugehilfe. Diese Stellung mußte ich nach einiger Zeit aus Gesundheitsrücksichten verlassen. Ich ging auf ein Jahr zu Verwandten aufs Land zur Erholung und wurde dort mit Handarbeiten beschäftigt. Meine Verwandten hatten ein kleines Landgut. Nach Ablauf eines Jahres mußte ich nach Berlin zurück, da mein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte. Ich wollte alsdann Reisender werden. Ich nahm eine Stellung bei der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ als Abonnentensammler an und hatte als solcher auch große Erfolge. Nach einiger Zeit ging die Zeitung ein, da die Aktionäre kein Geld mehr geben wollten. Ich wurde darauf vom „Hannoverschen Anzeiger“ als Abonnentensammler engagiert. Nach einiger Zeit ging ich nach Berlin zurück und wurde dort Abonnentensammler für das „Deutsche Blatt“ und den „Hannoverschen Anzeiger“. Da das aber zu wenig einbrachte, nahm ich eine Stellung als Bureaugehilfe im Ostmarkenverein an. Ich erhielt ein Gehalt von monatlich 80 Mark. Später wurde ich nochmals, Abonnenten – und Inseratenagent verschiedener Berliner und auswärtiger Tageszeitungen. Schließlich nahm ich eine Stellung in dem Detektivbureau des ehemaligen Kriminalkommissars Grützmacher in Berlin als Detektiv an. Ich hatte schon lange große Lust, Detektiv zu werden, zumal ich viele Kriminalromane gelesen hatte. Kriminalkommissar Grützmacher hat mir mehrfach seine große Befriedigung bezüglich meiner Tätigkeit ausgedrückt und mir gesagt: ich eigne mich ganz vorzüglich| zum Detektiv. Ich wurde von Grützmacher auch zu seiner silbernen Hochzeit eingeladen. Ich wurde sehr bald zwecks Recherchierens in einer großen Diebstahlssache nach auswärts gesandt. Ich hatte auch in dieser Sache großen Erfolg. Nach dieser Sache wurde ich mit einer großen Ehescheidungssache betraut. Es gelang mir, den Ehemann des Ehebruchs mit einer Dame, die ich nicht nennen will, zu überführen. Ich erhielt dafür 1000 Mark Belohnung. Später wurde ich mit der Beaufsichtigung von Kollidieben beauftragt. Infolge dieser Tätigkeit war ich genötigt, in Berliner Kaschemmen und Cafés, in denen die noble Berliner Verbrecherwelt verkehrt, mich zu bewegen. Ich war auch ein leidenschaftlicher Billardspieler und verkehrte deshalb viel im „Café Westminster“. Dort lernte ich verschiedene Pfandscheinschieber, Wechselschieber, Falschspieler, Juwelenschieber und so weiter kennen. Ich machte auch dort die Bekanntschaft des Knitelius. Ich wußte, daß Knitelius nur mit Juwelen und Pfandscheinen handelte. In augenblicklicher Ermangelung einer Beschäftigung unternahm ich es, von Knitelius auch Pfandscheine zum Verkauf zu übernehmen. Es gelang mir, eine Anzahl solcher Pfandscheine zunächst in Berlin und auch in der Provinz unterzubringen. Ich fuhr mit Knitelius nach Breslau und besuchte auch Oberschlesien. Einige Zeit hielt ich mich in Gleiwitz auf. In Breslau gelang es mir einige Male, Pfandscheine, und auch Juwelen zu verkaufen.
Vors.: Sind Sie denn Kenner von Juwelen?
Nitter: Jawohl.
Vors.: Sie begingen in Breslau zwei Einbrüche und wurden deshalb hier bestraft?
Nitter: Jawohl, aber unschuldig.
Vors.: War Knitelius an diesen Einbrüchen beteiligt?
Nitter: Nein, Knitelius war an den Breslauer Einbrüchen in keiner Weise beteiligt.
Vors.: Wo verkehrten Sie in Breslau?
Nitter: Im „Residenz-Café“ nachmittags, abends im „Café Hammonia“, wo die weibliche Breslauer Halbwelt stark vertreten ist. Ich lernte auch Fräulein Bethge und Fräulein Zimmermann kennen. Knitelius verkehrte mit noch einer anderen Dame; er ersuchte mich einmal, diese zu beobachten, da er sie im Verdacht habe, daß sie auch mit anderen Herren verkehre. Ich lehnte das aber mit der Bemerkung ab: Du bist der Dame ja auch nicht treu. Eines Tages traf ich Fräulein Zimmermann in Berlin in der Friedrichstraße. Sie klagte mir, daß Knitelius ihr untreu sei, und sie verlange jetzt von ihm 2000 Mark Abstandsgeld. (Heiterkeit.) Nachdem ich aus Breslau kam, fuhr ich auf einige Tage nach Braunschweig, um eine mir befreundete Dame zu besuchen. Ich verlor infolgedessen meine Stellung bei Grützmacher. Ich spielte alsdann gewissermaßen va banque. Ich wollte die Maßnahmen der Kriminalpolizei kennenlernen. Ich meldete mich, im Einverständnis mit Knitelius, telephonisch bei Herrn Kriminalkommissar Klinghammer und sagte ihm, daß ich ihm wichtige Mitteilungen machen könnte. Der Kriminalkommissar schlug mir vor, uns im „Café Opera“ zu treffen. Ich erwiderte: Im „Café Opera“ bin ich bekannt, ich möchte einen andern Treffpunkt. Darauf schlug der Kriminalkommissar die „Konditorei von Baumgarten“ am Belle-Alliance-Platz vor. Ich sagte zu dem Kriminalkommissar, ich könnte ihm gegen Bezahlung über einen Juwelenschieber Turban Auskunft geben. Ich kannte bis dahin Knitelius nur unter dem Namen Turban. Der Kriminalkommissar sagte mir sofort: Sie meinen Knitelius. Ich bemerkte: Es ist möglich, daß dieser Turban Knitelius heißt. Ich sagte zu dem Kriminalkommissar: Knitelius bewegt sich viel in Einbrecherkreisen.
Vors.: Wie kamen Sie zu dieser Behauptung?
Nitter: Mir war bekannt, daß Knitelius wegen Verdachts eines Einbruchs in einen Juwelierladen in Frankfurt a.M. verhaftet worden war. Ich muß bemerken, daß ich ein Doppelspiel spielte. Ich wollte einmal von Kriminalkommissar Klinghammer erfahren, welche Maßnahmen von der Polizei gegen Knitelius und das Fräulein Bethge getroffen wurden, zumal mir bekannt war, daß die Bethge von der Kriminalpolizei beobachtet wurde. Andererseits wollte ich wissen, was Knitelius unternimmt.
Vors.: Haben Sie das, was Sie von Herrn Kriminalkommissar kommissar Klinghammer über Knitelius gehört, letzterem mitgeteilt?
Zeuge: Jawohl, wenigstens zum Teil.
Vors.: Was haben Sie Knitelius verschwiegen?
Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.
Vors.: Erhielten Sie von Knitelius Bezahlung?
Zeuge: Jawohl, ich erhielt von Knitelius 20 M.
Vors.: Sie spielten also ein Doppelspiel. Sie wollten von der Kriminalpolizei und von Knitelius Bezahlung erhalten?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Wenn Sie von der Kriminalpolizei Bezahlung erhalten hätten, dann wären Sie in den Dienst der Kriminalpolizei getreten?
Zeuge: Es wäre auf die Bezahlung angekommen. Für 10 oder 20 Mark wäre ich nicht in den Dienst der Kriminalpolizei getreten.
Vors.: War Ihnen bekannt, daß Knitelius stets eine geladene Browningpistole bei sich trug?
Zeuge: Jawohl, das war aber nichts Außergewöhnliches. Juwelenpfandscheine, mit denen Knitelius handelte, wurden von anständigen Bürgersleuten nicht gekauft. Knitelius war daher genötigt, wenn er Geschäfte machen wollte, in Lokalen wie „Café Opera“ und „Café Westminster“ zu verkehren. In diesen Cafés hat mindestens jeder dritte Mann eine geladene Schießwaffe.
Vors.: Knitelius hatte auch, als er im „Café Westminster“ verhaftet wurde, die geladene Browningpistole bei sich?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Nun, Nitter, Sie werden schon gemerkt haben, daß Ihre Behauptung, Sie haben den Einbruch in der hiesigen Hirsch-Apotheke nicht mit Knitelius, sondern mit dem „schwarzen Artur“ zusammen begangen, keinen überwältigenden Eindruck gemacht hat.
Zeuge: Ich weiß, daß man mir nicht glaubt, ich muß aber meine Behauptung aufrechthalten.
Vors.: Sie sagen: Knitelius war wohl in Magdeburg, er hat sich aber an dem Einbruch in der Hirsch-Apotheke nicht beteiligt, das war der „schwarze Artur“?
Zeuge: Jawohl.
Auf Auffordern des Vorsitzenden schilderte Nitter in ausführlicher Weise, was er am 25. Oktober 1908 in Magdeburg bis zum Einbruch in die Hirsch-Apotheke getan habe.
Nitter teilte bei dieser Gelegenheit mit, daß er gegen drei Uhr nachmittags mit dem „schwarzen Artur“ in seiner hiesigen Wohnung in der Anhaltstraße zusammen war.
Schneidermeister Berigk und Tochter bekundeten auf das bestimmteste, daß ein Mann an jenem Sonntagnachmittag tagnachmittag Nitter nicht besucht habe.
Vert. R.-A. Dr. Boré: Nitter, Sie haben drei verschiedene Angaben gemacht. Zuerst sagten Sie, Sie haben mit einem Unbekannten den Einbruch in die Hirsch-Apotheke begangen, von dem Sie nur wissen, daß er mit Vornamen Fritz heißt. Alsdann haben Sie Knitelius als Mittäter angegeben, und darauf haben Sie gesagt: Knitelius war nicht Ihr Komplice, sondern der Ihnen aus Berlin bekannte „schwarze Artur“. Ich bin nun von Knitelius ersucht worden, Sie zu bitten, der Wahrheit vollständig die Ehre zu geben und auch zu gestehen, daß Knitelius nicht in Magdeburg war.
Nitter schwieg.
Vert.: Wollen Sie nicht vollständig die Wahrheit sagen? Bleiben Sie bei der Behauptung: Knitelius war wohl am Tatort, aber bei dem Magdeburger Einbruch nicht beteiligt?
Nitter (nach einer kurzen Pause): Wenn ich jetzt sage, Knitelius war nicht in Magdeburg, dann wird man es mir doch nicht glauben.
Vert.: Es handelt sich nicht darum, was man Ihnen glauben wird, sondern was wahr ist. Was aus Ihrer Aussage für Schlüsse gezogen werden könnten, darf Sie nicht kümmern. Ihre Pflicht ist es, vor Gericht die volle Wahrheit zu sagen.
Nitter: Ich will jetzt bekennen: Knitelius war nicht in Magdeburg. (Große allgemeine Bewegung.)
Vors.: Also jetzt behaupten Sie, Knitelius war nicht in Magdeburg?
Nitter: Ja.
Vors.: Sie wissen aus der Verhandlung gegen Sie, daß eine Anzahl Zeugen bekundet haben, Knitelius war in Magdeburg. Deshalb haben Sie gesagt, er war wohl am Tatort, war aber an der Tat nicht beteiligt.
Zeuge: Ich bitte um eine Pause, damit ich mich ein wenig erholen kann. Ich bin erschöpft.
Der Vorsitzende ließ den Zeugen hinausführen.
Es wurde darauf die gerichtliche Aussage der verstorbenen Prostituierten Haars verlesen. Diese hatte bekundet: Nach der ihr vorgelegten Photographie erkenne sie den Mann aufs bestimmteste wieder, mit dem sie in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1908 in Magdeburg zusammengewesen sei.
Fräulein Wieland: Sie habe in früheren Jahren in Frankfurt mit dem Angeklagten intim verkehrt; Zuhälterdienste habe der Angeklagte ihr nicht geleistet.
Geschäftsführer Krumme (Berlin): Ich bin Geschäftsführer des Detektivbureaus von Grützmacher in Berlin. Nitter war von Oktober 1907 bis Ende Januar 1908 bei Grützmacher als Detektiv engagiert. Im allgemeinen war Nitter ganz brauchbar. In der letzten Zeit erschien er aber oftmals in sehr derangierter Kleidung, wurde nachlässig und kam auch ungemein spät ins Bureau, er wurde deshalb entlassen. Er renommierte mierte außerdem ungemein, er sei imstande, jeden Geldschrank zu öffnen, so daß ich ihm drohte, die Kriminalpolizei auf ihn aufmerksam zu machen. Nachdem ich den Angeklagten hier gesehen, kann ich mit vollster Bestimmtheit sagen, daß der Angeklagte den Nitter einmal in unserem Bureau besucht hat. Ich habe auch den Angeklagten einmal, wenn ich nicht irre, nach dem Verbrechen in Magdeburg, mit einer Dame im „Kronen-Café“ in Berlin gesehen. Ich will noch bemerken, daß Nitter mit einem früheren Angestellten von uns, einem brünetten Mann, namens Artur Scheschonka, befreundet war. Ich vermute, Nitter hat sich aus seiner Bekanntschaft mit verschiedenen Arturs den „schwarzen Artur“ zusammengebaut.
Vors.: Wie sieht dieser Artur Scheschonka aus?
Zeuge: Er ist etwa Mitte der dreißiger Jahre, mittelgroß und hat einen schwarzen Schnurrbart und schwarzen Spitzbart.
Vors.: Wissen Sie die nähere Adresse des Scheschonka?
Zeuge: Er wohnt in der Bülowstraße in Berlin, die Hausnummer weiß ich leider nicht.
Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen, den Artur Scheschonka als Zeugen zu laden.
Darauf wurde Nitter nochmals in den Saal geführt.
Vert.: Nitter, kennen Sie einen brünetten Menschen, einen ehemaligen Angestellten bei Grützmacher, cher, mit dem Sie sehr befreundet waren?
Zeuge: Ich weiß im Augenblick nicht.
Vert.: Kennen Sie einen Artur Scheschonka?
Zeuge: Jawohl.
Vert.: War das etwa der „schwarze Artur“, Ihr Komplice bei dem Einbruch in die Magdeburger Hirsch-Apotheke?
Zeuge: Nein.
Vert.: Sie haben zugegeben, daß Knitelius nicht in Magdeburg war. Ich frage Sie jetzt, wo wir am Ende Ihrer Vernehmung stehen, haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen oder etwas abzuändern?
Zeuge: Wenn ich jetzt etwas mitteile, dann wird es mir ja doch nicht geglaubt.
Vors.: Das will ich nicht sagen, das Gericht will nur die Wahrheit ermitteln, wir stehen der Sache vollständig objektiv gegenüber.
Vert.: Sie scheinen noch etwas auf dem Herzen zu haben, erleichtern Sie Ihr Gewissen. Sagen Sie aber jetzt die Wahrheit.
Zeuge: Ich habe bisher nicht die volle Wahrheit gesagt, weil die Reise nach Magdeburg noch mit einer anderen Straftat zusammenhängt.
Vert.: Wenn Sie befürchten, sich einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, dann können Sie, soweit es Ihre Person betrifft, die Aussage verweigern.
Zeuge: Dann will ich es sagen: Die Reise nach Magdeburg hängt mit einer Tat zusammen, die auf Grund des § 175 des Strafgesetzbuchs bestraft wird. (Große allgemeine Bewegung.)
Vert.: Sie können, so weit Sie glauben, daß Sie sich strafbar gemacht haben, die Aussage verweigern. Bezüglich des Angeklagten müssen Sie aber aussagen. Sie können das um so mehr tun, da der Angeklagte auf Grund des § 175 nicht ausgeliefert ist, also deshalb nicht bestraft werden kann.
Zeuge: Ich habe eine längere Erzählung zu machen, ich bin aber zu erschöpft.
Vors.: Dann wollen wir Ihre weitere Vernehmung morgen fortsetzen.
Fräulein Staudinger (Berlin) bekundete alsdann als Zeugin: Die Zimmermann habe ihr erzählt, daß sie Knitelius viel Geld gebe.
Oberkellner Königsegge vom „Café Maxime“ in Berlin bekundete, daß er den Angeklagten im „Café Maxime“ oftmals in Gesellschaft des Nitter und verschiedener zweifelhafter Persönlichkeiten gesehen habe.
Am fünften Verhandlungstage erregte die Aussage des Privatdetektivs Dinger (Berlin) großes Aufsehen. Der Zeuge bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war mit Nitter zusammen in dem Detektivbureau Grützmacher in Berlin. Ich habe Nitter und den Angeklagten, der sich Turban nannte, oftmals zusammen gesehen. Ich wußte, daß der wirkliche Name des Turban Knitelius war. Es war mir bekannt, daß Knitelius und Nitter oftmals Reisen nach außerhalb unternahmen. Sie waren in Frankfurt, Zürich, Braunschweig, Breslau usw. und „drehten dort Dinger“. Wenn sie zurückkamen, hatten beide gewöhnlich viel Geld. Sobald das Geld knapp wurde, verschwanden sie wieder aus Berlin. Nitter hatte stets „Tandelzeug“ in der Tasche. Ich sagte ihm einmal, du scheinst verhältnismäßig wenig bei deinen Fahrten zu verdienen. Nitter versetzte: Du kannst doch nicht verlangen, daß der zweite Mann ebensoviel verdient wie der erste. Sobald Knitelius aus Berlin verschwunden war, war auch Nitter nicht in Berlin. Einige Wochen vor dem Magdeburger Morde sagte mir Nitter: Wir wollen eine Reise nach Magdeburg unternehmen und in eine Apotheke einbrechen, wir müssen Gift haben; in Berlin ist in dieser Beziehung nichts zu machen. Nitter stand vollständig unter dem Einfluß von Knitelius, sie hingen wie „Kletten“ zusammen. Nitter sagte mir einmal auf meine Vorhaltungen: Ich bin gezwungen, mich dem Willen des Knitelius vollständig zu unterwerfen. Er hat mir gedroht, wenn ich mit ihm breche, dann schießt er mich über den Haufen.
Knitelius sprang auf und rief in größter Entrüstung: Das ist frech gelogen.
Vors.: Verhalten Sie sich ruhig, Angeklagter.
Zeuge: Ich stehe hier unter meinem Eide und habe absolut kein Interesse, etwas Unwahres zu bekunden. Nitter sagte mir: Wenn Knitelius mich ansieht, dann muß ich alles machen, was er mir befiehlt.
Vors.: Halten Sie Nitter für geistig normal?
Zeuge: Ich halte Nitter noch heute nicht für geistig normal. Nitter hatte einmal eine schlimme Hand. Wir rieten ihm, er solle zum Arzt gehen, er tat das aber nicht. Augenscheinlich hatte er sich bei einem Einbruch mit dem Bohrer die Hand verletzt.
Vors.: In welchen Lokalen verkehrten Knitelius und Nitter?
Zeuge: Im „Café Westminster“, „Café Opera“, „Café Maxime“, „Café Viktoria“, kurz überall, wo in Berlin die feinere Verbrecherwelt verkehrt. Wenn den beiden das Geld klamm wurde, sagte Knitelius zu Nitter: „Edwin, wir wollen wieder auf die Fahrt gehen.“
Vert.: Woraus entnehmen Sie, daß Knitelius mit Nitter Einbrüche machte?
Zeuge: Wenn Nitter mit Knitelius aus Berlin verschwand, hatten beide wenig Geld. Wenn sie zurückkamen, hatten sie eine Menge „blauer Lappen“ in der Tasche. Wenn man außerdem in Betracht zieht, daß sie beide „Tandelzeug“ in der Tasche trugen, dann liegt es doch klar auf der Hand, daß sie Einbrüche unternommen hatten.
Vors.: Weshalb wurde Nitter von Grützmacher entlassen?
Zeuge: Weil befürchtet wurde, daß Nitter über kurz oder lang bestraft werden würde, es war aber Grundsatz im Grützmacherschen Bureau, nicht bestrafte Leute zu beschäftigen.
Angekl.: Der Chef des Grützmacherschen Bureaus, Herr Grützmacher, ist selbst mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft.
Zeuge: Das ist ganz nebensächlich.
Vert.: Nebensächlich ist das keineswegs, und zwar um so weniger, da Sie soeben bekundet haben: Es war Grundsatz des Grützmacherschen Bureaus, nicht bestrafte Leute zu beschäftigen.
Zeuge: Herr Grützmacher lebt gewissermaßen schon längst im Ruhestand, wir haben mit ihm nichts zu tun. Chefin ist Frau Grützmacher, Geschäftsführer Herr Krumme.
Vert.: Sie standen doch mit der Berliner Kriminalpolizei in Verbindung?
Zeuge: Jawohl.
Vert.: Haben Sie der Kriminalpolizei von den verbrecherischen Plänen des Nitter und Knitelius Mitteilung gemacht?
Zeuge: Ich wußte ja nicht, ob die Pläne ernst waren.
Vert.: Aus Ihren Aussagen geht jedenfalls hervor, daß Sie die Pläne für glaubhaft hielten. Darauf kommt es an. Ganz besonders hätten Sie doch die Pflicht gehabt, von dem Plane, daß Nitter mit Knitelius nach Magdeburg fahren wollte, um in eine Apotheke einzubrechen und Gift zu stehlen, Anzeige zu machen.
Zeuge: Ob das Gift zu verbrecherischen. Zwecken dienen sollte, wußte ich nicht. Soweit ich mich erinnere, habe ich Herrn Kriminalkommissar Klinghammer davon Mitteilung gemacht.
Kriminalkommissar Klinghammer, aufgefordert, sich über die Aussagen Dingers zu äußern, bemerkte: Ich muß zunächst bitten, Herrn Dinger zu fragen, ob ich über meine Beziehungen zu ihm aussagen darf.
Vors.: Dinger, wollen Sie sich hierüber äußern?
Dinger: Soweit es mich persönlich betrifft, möchte ich, mit Rücksicht auf mein Geschäft – ich bin jetzt selbständig – dies nicht preisgegeben wissen.
Der Verteidiger wendete ein, daß ein Zeugnisverweigerungsrecht in diesem Falle nicht vorliegt.
Klinghammer: Ich habe bereits gesagt: wir haben Leute nötig, die uns Nachrichten aus der Verbrecherwelt bringen. Das liegt im Interesse des Staates und der öffentlichen Sicherheit. Aus diesem Grunde können wir diese Leute nicht preisgeben. Ich bin mit Nitter oftmals zusammengekommen. Ich war selbstverständlich Nitter gegenüber sehr vorsichtig. Dinger hat mir mehrere Male Mitteilungen über die Pläne von Knitelius und Nitter gemacht. Ich habe auch deshalb Nachforschungen angestellt, konnte aber etwas Bestimmtes nicht erfahren; die Polizeibehörde in Frankfurt a.M. schrieb mir, ihr sei ein Einbrecher oder Hochstapler Knitelius nicht bekannt.
Vert.: Dinger, wodurch erfuhren Sie, daß Knitelius und Nitter nach Frankfurt a.M. gefahren sind?
Zeuge: Eines Tages kam Knitelius zu uns ins Bureau und sagte: Wir sollten Nitter bestellen, daß er ihn auf dem Anhalter Bahnhof erwarte, er wolle mit Nitter zusammen nach Frankfurt a.M. fahren. Darauf war Knitelius und Nitter auf einige Zeit aus Berlin verschwunden. Als sie zurückkamen, hatten beide viel Geld.
Vert.: Was erhielten Sie für Ihre Mitteilungen von der Kriminalpolizei?
Zeuge: Ich habe niemals Geld von der Kriminalpolizei erhalten. Herr Kriminalkommissar Klinghammer wollte mir immer Geld geben, ich habe es aber zurückgewiesen.
Vert.: Welches Interesse hatten Sie, der Kriminalpolizei Mitteilungen zu machen?
Zeuge: Das geschah aus geschäftlichem Interesse. Ich bin Detektiv, da liegt es in meinem Interesse, von der Polizei etwas zu erfahren und ihre Unterstützung zu haben. Meine Beziehungen zur Kriminalpolizei beruhten auf Gegenseitigkeit.
Kriminalkommissar Klinghammer: Ich kann die Behauptung des Zeugen Dinger bestätigen. Ich kenne Dinger seit 1903 und habe ihn als durchaus anständigen Mann kennengelernt. Er war keineswegs ein gewöhnlicher Vigilant. Er ist überhaupt nicht als Vigilant zu bezeichnen. Auf Befragen des Verteidigers bemerkte Klinghammer: Von der Giftgeschichte habe ihm Dinger nichts mitgeteilt.
Darauf wurde Nitter in den Saal geführt und ihm die Aussage des Dinger vorgehalten. Nitter bemerkte: Ein Laie kann doch gar nicht wissen, wo in einer Apotheke Gift aufbewahrt wird. Der Herr Provisor Schreyer hat doch außerdem gestern bekundet, daß wir augenscheinlich nach Geld gesucht haben.
Angekl.: Wenn ich Gift haben will, dann brauche ich bloß ein Rezept zu fälschen, darauf erhalte ich Gift und Betäubungsmittel in jeder Apotheke.
Nitter sagte im weiteren auf Befragen: Er habe, als er aus Breslau kam, viel Geld gehabt.
Vors.: Weshalb haben Sie, als Sie aus Breslau kamen, sofort eine Reise nach Braunschweig, Weimar usw. unternommen?
Nitter: Weil ich eine mir bekannte Dame in Braunschweig besuchen wollte.
Vors.: Sie haben überhaupt viel mit Mädchen verkehrt?
Nitter: Weshalb sollte ich nicht mit Mädchen verkehren? kehren? (Heiterkeit im Zuhörerraum.)
Vors.: Sie sollen mit Mädchen auch Reisen unternommen haben?
Nitter: Jawohl, das kann mir doch niemand verbieten.
Vors.: Das kostet aber viel Geld?
Nitter: Ich hatte ja Geld.
Vors.: Nitter, Sie sagten gestern, daß Sie, als Sie mit Knitelius eine Reise nach Magdeburg machen wollten, Taten begangen haben, die laut § 175 des Strafgesetzbuchs strafbar sind. Wollen Sie das einmal ausführlich erzählen?
Nitter: Das ist eine längere Mitteilung, dazu bin ich jetzt nicht imstande. Die Sache regt mich derartig auf, daß ich weder Appetit noch Schlaf habe. Ich habe heute nacht nur zwei Stunden geschlafen. Das Essen, das ich hier erhalte, ist auch sehr minderwertig.
Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Kriminalkommissar Klinghammer: Diese Sache kommt mir keineswegs überraschend. Nitter sagte mir: Wenn Knitelius gar zu sehr in der Patsche sitzt, dann fällt er einfach in Ohnmacht. Ich hatte sofort die Überzeugung, daß Nitter dasselbe Manöver machen wird.
Der Vorsitzende befahl, Nitter wieder abzuführen und ersuchte den Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Keferstein, zu veranlassen, daß Nitter kräftigere Kost und eine gute Tasse Kaffee erhalte, damit er nachmittags tags in der Lage sei, weiter vernommen zu werden.
Schriftsetzer Feller (Berlin): Ich kenne Nitter von Jugend auf. Als ich einmal ins „Café Maxime“ kam, sah ich Nitter mit Knitelius, den ich damals zum erstenmal sah, zusammensitzen. Nitter fragte mich später: Was hältst du von dem Mann? Ich sagte: Das scheint ein Zuhälter zu sein. Nein, sagte Nitter, es ist ein Einbrecher. Ich laure bloß darauf, noch mehr von seinen Einbrüchen zu erfahren, dann zeige ich ihn an. Ich habe Nitter dann noch mehrfach mit Knitelius zusammen gesehen. Sie waren sehr befreundet. Nitter erzählte mir: Knitelius habe viel Geld, er habe 60000 Mark auf der Bank. Ich habe mich, da ich Nitter im Verdacht hatte, daß er auch Einbrüche begehe, von ihm zurückgezogen. Als ich hier in der Verhandlung gegen Nitter als Zeuge geladen war, war ich nachmittags im „Café Hohenzollern“ am Breiten Weg. Da machte ich die Bekanntschaft eines Herrn Ledermann. Am Tische saß ein junger Mann, der bemerkte, er sei Angestellter in einem Konfektionsgeschäft. Einige Stunden vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke habe er Nitter und Knitelius im „Café Hohenzollern“ Billard spielen sehen.
Kaufmann Ledermann bestätigte diese Erzählung, er könne sich aber augenblicklich auf den Namen des Konfektionärs nicht erinnern.
Angekl.: Ich kann überhaupt nicht Billard spielen.
Es wurde darauf nochmals Dinger vorgerufen.
Angekl.: Was Dinger hier gesagt hat, ist alles unwahr. Ich möchte beantragen, Dinger auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. (Große allgemeine Heiterkeit.)
Kriminalkommissar Klinghammer: Ich habe niemals die geringste Wahrnehmung gemacht, daß Dinger geistig nicht normal ist.
Tapezier Koßlig (Berlin): Ich habe den Angeklagten für einen Zuhälter gehalten. In Berlin gibt es viele Zuhälter, die aufs eleganteste gekleidet gehen. Selbst viele verheiratete Männer sind Zuhälter bei ihren Frauen.
Detektiv Teupold: Nitter rühmte sich, daß er eine große Fertigkeit im Kartenlegen besitze. Er erzählte, er verdiene damit viel Geld. Die Weiber seien ganz toll auf das Kartenlegen und bestürmen ihn.
Vors.: Nitter hat wohl überhaupt viel Verkehr mit Weibern gehabt?
Zeuge: Jawohl.
Nachmittags wurde der Angeklagte in Sträflingskleidung vorgeführt. Er äußerte: Dinger sei ein ungemein nervöser Mann, so daß man ihn für halb verrückt erklären könne.
Nitter sollte alsdann über seine Reise aus Anlaß von Vorgängen, die mit § 175 des Strafgesetzbuchs in Verbindung stehen, erzählen. Der Staatsanwalt beantragte, tragte, während dieser Bekundung die Öffentlichkeit auszuschließen. Nach kurzer Beratung gab der Gerichtshof dem Antrag des Staatsanwalts statt, da eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu befürchten sei. Dem Magdeburger Polizeipräsidenten, den als Zeugen geladenen Magdeburger und Berliner Kriminalkommissaren, zwei ausgelosten Geschworenen und den Vertretern der Presse wurde der Zutritt gestattet.
Nitter erzählte alsdann mit großen Umschweifen: Ich habe am 20. Oktober 1908 im Restaurant Siechen in der Behrenstraße in Berlin die Bekanntschaft zweier Ulanenoffiziere gemacht, von denen mir der eine einen unzüchtigen Antrag machte. Der Offizier stieß mich mit dem Fuß, über das, was weiter geschah, verweigere ich die Aussage. Diesen Vorgang habe ich am folgenden Tage dem Knitelius im „Café Viktoria“ erzählt. Knitelius versetzte: Ihm sei ebenfalls ein solches Anerbieten gemacht worden. Ich schlug darauf Knitelius vor, nach Magdeburg mit mir zu fahren. Knitelius lehnte aber ab mit dem Bemerken, er habe einem Herrn, einem Großkaufmann aus Wiesbaden, mit dem er homosexuelle Beziehungen habe, versprochen, mit ihm zusammen zu sein. Aus diesem Grunde sei er (Nitter) mit dem „schwarzen Artur“ nach Magdeburg gefahren.
Auf nochmaliges eindringliches Befragen sagte Nitter: Er müsse dabei bleiben, daß er mit dem „schwarzen Artur“ und nicht mit Knitelius nach Magdeburg gefahren sei. Der „schwarze Artur“, dessen Name ihm nicht bekannt sei, sei sein Komplice gewesen.
Angeklagter Knitelius bezeichnete die Erzählung des Nitter, soweit sie ihn betreffe, als unwahr. Er kenne das homosexuelle Treiben in Berlin ganz genau, er habe aber niemals zu diesen Leuten irgendwelche Beziehungen unterhalten.
Vors.: Sind Sie der Ansicht, daß Nitter homosexuelle Beziehungen gehabt hat?
Knitelius: Das halte ich nicht für unmöglich.
Vors.: Nitter, haben Sie homosexuelle Beziehungen gehabt, wodurch Sie sich strafbar gemacht haben? Sie haben das Recht, die Antwort hierauf zu verweigern.
Nitter: Ich verweigere die Antwort.
Darauf wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt und Fräulein Elisabeth Bethge als Zeugin, in den Saal gerufen. Diese war eine sehr hübsche, elegant gekleidete, schlanke Hellblondine von 24 Jahren. Sie gab an, daß sie Sängerin sei. Sie habe im Jahre 1906 den Angeklagten in Frankfurt am Main kennengelernt. Sie habe mit dem Angeklagten auch eine Zeitlang in Wiesbaden gelebt. Er sagte, er werde von seinen Eltern unterstützt und handle mit Juwelen. Knitelius hatte ihr versprochen, sie zu heiraten. Sie habe das nicht wollen, da der Angeklagte oftmals sehr mit ihr zankte. Er war ungemein eifersüchtig; er beschuldigte sie oftmals, daß sie mit anderen Männern verkehre. Herr v.P. habe ihr eines Abends im Theater ein Bukett gesandt und sie zum Abendbrot eingeladen. Sie habe auch die Einladung angenommen. Herr v.P. habe sie vor Knitelius gewarnt. Eines Tages hörte sie, Knitelius sei im „Café Westminster“ in Berlin verhaftet worden. Sie sei auch zum Kriminalkommissar Klinghammer als Zeugin geladen worden. Kriminalkommissar Klinghammer sagte zu ihr Ich warne Sie vor Knitelius, Sie ahnen nicht, in welcher Gefahr Sie sich befinden. Knitelius macht alle möglichen dunkeln Geschäfte. Sie habe dies Knitelius wiedererzählt. Letzterer sagte: Der Umstand, daß ich sofort wieder entlassen wurde, spricht doch deutlich dafür, daß ich unreelle Geschäfte nicht mache. Ich bemerke, so etwa fuhr die Zeugin fort, ich unterhielt mit Knitelius anfänglich nur freundschaftliche Beziehungen. Eines Tages kam Fräulein Zimmermann zu mir in meine Wohnung und schimpfte mich furchtbar aus, weil ich ihr ihren Bräutigam abspenstig gemacht hätte. Ich sagte, ich habe kein Verhältnis mit Herrn Knitelius. Fräulein Zimmermann machte mir aber solch großen Skandal, daß ich ihr die Tür gewiesen habe. Ich habe dem Angeklagten einige Male Juwelen versetzt. Ich hatte keine Bedenken, da ich mehrfach gesehen hatte, wie Knitelius die Juwelen von Saffran und anderen Leuten im „Café Westminster“ kaufte. Der Angeklagte ging stets sehr elegant gekleidet und war auch oftmals verreist. Eines Tages saß ich mit Knitelius im „Café Westminster“. Da kam eine alte Dame ins Café und machte dem Knitelius eine furchtbare Szene. Knitelius bat mich, mich zu entfernen. Das tat ich auch sofort. Einige Male habe ich auch Nitter in Gesellschaft des Knitelius gesehen. Ich sagte, ich kann den Menschen nicht leiden. Knitelius bemerkte: Nitter ist eine rothaarige Bürste. (Heiterkeit.) Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte die Zeugin: Sie habe am 27. Oktober 1908 den Angeklagten zum letztenmal in Berlin gesprochen. Seit dieser Zeit habe sie ihn erst hier wieder auf der Anklagebank gesehen.
Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte seit dem 27. Oktober 1908 jemals geschrieben?
Zeugin: Nein.
Vors.: Hat er Ihnen jemals irgendein Lebenszeichen gegeben?
Zeugin: Nein, niemals.
Vors.: Hatte er Ihnen geschrieben, wenn er früher verreist war?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Oft?
Zeugin: Ja.
Vert.: Sie sollen dem Angeklagten einmal zu Weihnachten einen Tausendmarkschein geschenkt haben?
Zeugin (entrüstet): So etwas wäre mir niemals in den Sinn gekommen, ich habe nicht 1000 Mark zu verschenken.
Vert.: War es vielleicht eine geringere Summe?
Zeugin: Nein. Ich habe nichts zu verschenken.
Vert.: Hat Sie der Angeklagte oftmals schwer mißhandelt?
Zeugin: Er hat mich vielfach geschlagen. Das geschah zumeist aus Eifersucht.
Vert.: Sie sollen bisweilen den Angeklagten auch geschlagen haben?
Zeugin: Ich habe mich allerdings einmal gewehrt, und zwar recht kräftig. (Große allgemeine Heiterkeit.)
Angekl.: Fräulein Bethge kam mit einem Messer auf mich zu, ich flüchtete mich deshalb in ein Zimmer und riegelte mich ein.
Vors. Hatte der Angeklagte eine besondere Veranlassung, Sie zu schlagen?
Zeugin: Einige Male schlug er mich, weil ich mit Herrn v.P. spazierengegangen war. Ich bemerke ausdrücklich: Meine Beziehungen zu Herrn v.P. waren nur freundschaftliche. Herr v.P. hat mich vielfach in eindringlichster Weise vor dem Angeklagten gewarnt.
Vors.: Diese Warnungen waren aber vergebens?
Zeugin: Allerdings.
Vert.: Sie waren in den Angeklagten sehr verliebt?
Zeugin: In der letzten Zeit liebte ich ihn nicht mehr, da er gar zu brutal war.
Hierauf wurde Rittergutsbesitzer v.P. als Zeuge vernommen: Ich habe Fräulein. Bethge auf der Bühne in Berlin gesehen und interessierte mich sehr für sie. Ich habe jedoch niemals schmutzige Beziehungen zu der jungen Dame gehabt. Ich wollte sie in der Hauptsache vor Knitelius schützen. Ich schlug ihr daher vor, ein Jahr aus Berlin fortzugehen, damit sie sich Knitelius aus dem Kopf schlage. Fräulein Bethge war aber nicht zu bewegen, von Knitelius zu lassen. Daß ich mich mit Knitelius geduzt habe, ist eine Lüge. Ebenso ist es unwahr, daß ich dem Knitelius 10000 Mark für Überlassung des Fräulein Bethge angeboten habe. Knitelius hat mir geschrieben, er wolle Fräulein Bethge freigeben, wenn er 10000 Mark erhalte. Da ich ihm das Geld selbstverständlich nicht gab, hat er mir verschiedene Erpressungsbriefe geschrieben, die ich an das Berliner Polizeipräsidium gesandt habe. Knitelius schrieb mir außerdem, daß ich mich des Bruches des Ehrenworts schuldig gemacht habe. Er werde mir die Knochen kaputt schlagen und dafür sorgen, daß ich des Königs Rock werde ausziehen müssen. Ich bemerke, daß ich damals in keinem Militärverhältnis mehr stand.
Vert.: Haben Sie dem Fräulein Bethge einmal 1000 Mark geschenkt?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Fräulein Bethge, haben Sie diese Summe oder einen Teil davon dem Angeklagten geschenkt?
Zeugin: Nein, der Angeklagte hat mir aber einige hundert Mark davon gewaltsam fortgenommen.
Nitter: Als er noch Detektiv war, habe er die Bethge im Auftrag von Knitelius observiert. Er habe die Bethge in Gesellschaft mit v.P. am Anhalter Bahnhof gesehen und das Knitelius gemeldet.
Am sechsten Verhandlungstage wurde zunächst nochmals Fräulein Elisabeth Bethge vernommen.
Vors.: Nitter sagte gestern: Knitelius hätte zu ihm geäußert: Sage Fräulein Bethge, ich sei mit dir in Magdeburg gewesen, damit sie nicht Argwohn hat, daß ich mit einem andern Mädchen verreist war. Hätten Sie Argwohn gehabt, wenn Knitelius an zwei Abenden nicht in Berlin gewesen wäre?
Zeugin: Nein. Knitelius ist oftmals von Berlin fortgefahren, ohne daß ich etwas davon wußte. Knitelius ist auch oftmals mit anderen Mädchen ausgegangen und gereist.
Vors.: Es wäre Ihnen also nicht aufgefallen, wenn Knitelius an zwei Abenden nicht in Berlin gewesen wäre?
Zeugin: Keineswegs.
Vors.: Sie hatten auch ein Verhältnis mit einem Friseur?
Zeugin: Ja.
Vors.: Der hieß?
Zeugin: Walter Andreas.
Vors.: Hatte sich dieser Walter Andreas einen Auslandspaß verschafft?
Zeugin: Ich glaube; es wollte einmal eine ganze Gesellschaft nach Argentinien gehen; ich sollte auch mitkommen.
Vors.: Hat sich da die ganze Gesellschaft Auslandspässe besorgt?
Zeugin: Ich glaube; bestimmt kann ich es nicht sagen.
Der Vorsitzende ersuchte darauf den Kriminalkommissar Klinghammer, bei dem Berliner Paßbureau telephonisch anzufragen, ob und wann auf den Namen Walter Andreas ein Auslandspaß ausgestellt worden und ob dieser Paß ihm etwa gestohlen worden sei.
Knitelius hat sich nämlich unter dem Namen Andreas Walter in Brasilien aufgehalten.
Auf Befragen eines Geschworenen bemerkte Fräulein Bethge: Knitelius habe ihr von den ihr von P. geschenkten 1000 Mark 600 Mark aus ihrem unverschlossenen Koffer genommen. Sie habe deshalb sehr geschimpft. Knitelius ärgerte sich augenscheinlich, daß v.P. ihr die 1000 Mark geschenkt hatte. Knitelius habe ihr die entwendeten 600 Mark nach einiger Zeit in Berlin wiedergegeben.
Der folgende Zeuge war Kriminalwachtmeister Richter (Berlin): Am 28. Oktober 1908 erhielt ich von dem Kriminalkommissar Weiland den Auftrag, nach Knitelius zu recherchieren. Die Photographie von Knitelius war auf dem Präsidium. Ich suchte in den feinen Cafés in Berlin, da mir bekannt ist, daß die raffinierten Verbrecher stets sehr nobel auftreten und in den feinsten Cafés verkehren. Selbstverständlich trifft die Kaffeehausbesitzer hieran keine Schuld. Ich hielt auch in der Wohnung des Nitter, der bis dahin bei seiner Mutter wohnte, Haussuchung. Die Mutter machte auf mich einen ganz vorzüglichen Eindruck. Ich hatte die Überzeugung, daß sie eine hochanständige Frau ist. Es fiel mir auf, daß unter den vorgefundenen Einbruchswerkzeugen schwere Einbruchswerkzeuge, wie sie ganz besonders die Geldschrankknacker haben, nicht vorhanden waren.
Kellner Baum (Breslau): Ich wohne in Breslau in der Großen Feldstraße. Eines Tages mietete der hier sitzende Nitter bei mir ein Zimmer. Er wohnte etwa sechs Wochen bei mir. Er schlief gewöhnlich bis zehn Uhr vormittags und war auch mehrfach ganze Nächte weg. Wovon Nitter gelebt hat, weiß ich nicht. Er erzählte mir, er könne sehr gut Karten legen und habe damit viel Geld verdient. Die Weiber haben ihn geradezu bestürmt. Eines Tages kam Nitter sehr aufgeregt nach Hause. Er erzählte, er sei in Posen gewesen. Dort habe er mit einem Herrn ein Renkontre gehabt. Er habe den Herrn in die Beine geschossen, sei aber entkommen. Ich sagte: Sie wohnen bei mir unangemeldet. Wenn Sie jemanden erschossen haben, dann wird doch zweifellos nach Ihnen geforscht werden. Machen Sie sich keine Sorgen, sagte Nitter, es wird nichts darauf kommen, ich reise im übrigen sehr bald ab. Eines Tages wurde bekannt, daß in Breslau des Nachts ein Einbruchdiebstahl verübt worden ist. Der Ladeninhaber ist schließlich dazugekommen, es ist aber dem Einbrecher gelungen, unerkannt zu entweichen. Da sagte Nitter: Es ist vielleicht ganz gut, daß der Ladeninhaber die Einbrecher nicht gefaßt hat. Solche Leute sind bekanntlich zu allem fähig, die Einbrecher hätten womöglich auf den Ladeninhaber geschossen.
Nitter: Ich war eines Tages in Posen und ging auf einem großen schönen Platz spazieren; ich begab mich in ein großes Café. Am Nebentisch von mir saßen ein Herr und zwei junge Damen. Ich kokettierte mit den Damen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Nachdem ich das Café verlassen hatte, kam der Herr aus dem Café hinter mir her und schlug mich mit einem Stock an die Kinnlade. Ich war ganz perplex und zog meinen geladenen Revolver. Ich sagte: Ich verlange Ihren Namen, was veranlaßt Sie, mich zu schlagen? Sie haben die Damen im Café belästigt, versetzte der Herr. Er machte Miene, mich noch einmal zu schlagen. gen. Ich hielt dem Herrn den Revolver vors Gesicht und sagte: Machen Sie, daß Sie fortkommen, oder ich schieße! Ich habe aber nicht geschossen. Der Lärm lockte eine große Anzahl Leute und einen Schutzmann herbei. Der Schutzmann stellte auf meinen Antrag die Personalien des Herrn und auch meine Personalien fest. Ich gab meine Personalien richtig an. Der Herr nannte sich Kaufmann Thürmer aus Posen. Ich sagte zu dem Schutzmann: Verhaften Sie den Herrn, ich werde die Bestrafung beantragen. Der Schutzmann sagte: Lassen Sie das doch. Der Herr ist Pole. Hier in Posen kommen derartige Sachen fast täglich vor. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)
Vors.: Sie haben Herrn Baum gesagt: Sie haben in Posen einen Herrn in die Beine geschossen.
Nitter: Das war Renommisterei.
Vors.: Herr Baum, hielten Sie die Erzählung des Nitter, daß er in Posen einen Mann in die Beine geschossen habe, für Renommisterei?
Zeuge: Nitter war so aufgeregt, daß ich es nicht für Renommisterei hielt.
Auf weiteres Befragen bekundete Baum Knitelius und ein junger Herr namens Paul Scholz hätten ebenfalls einige Nächte bei ihm gewohnt. Paul Scholz war etwa 28 Jahre alt und hatte mit Knitelius große Ähnlichkeit.
Fräulein Martha Baum und der 17jährige Willi Baum (Kinder des Vorzeugen) bestätigten im allgemeinen die Bekundungen ihres Vaters, sie wußten aber auch nichts Näheres über den Paul Scholz anzugeben.
Der Angeklagte Knitelius bemerkte: Er habe zwei Tage und Nächte in Breslau bei Baum gewohnt, um Pfandscheine zu verkaufen. Nitter habe ihm den Scholz mit dem Bemerken: Herr Paul Scholz, Berlin, Breslau, vorgestellt. (Heiterkeit.) Etwas Näheres könne er über Paul Scholz nicht angeben.
Vors.: Nitter, war dieser Paul Scholz etwa der „schwarze Artur“?
Zeuge: Nein.
Kriminalkommissar Becker (Offenbach): Die Familie Knitelius erfreut sich in Offenbach eines guten Rufes. Der Vater ist seit langem tot. Ich halte es für ausgeschlossen, daß die Mutter jemals imstande war, dem Sohn eine monatliche Unterstützung von 200 bis 250 Mark zu geben. Seit mehreren Jahren lebt die Mutter in geradezu kümmerlichen Verhältnissen, sie ist kaum imstande, die Steuern zu bezahlen. Knitelius verkehrte in den verrufensten Spelunken und hat ganz besonders mit verrufenen Halbweltdamen viel verkehrt. In Frankfurt a.M. stand Knitelius im Rufe eines Zuhälters und Einbrechers. Er stand auch im Verdacht, an einem Einbruchsdiebstahl in einem Frankfurter Juwelierladen beteiligt gewesen zu sein. Die Mutter hatte sich im September 1909 einen Paß nach Brasilien bestellt. Sie sagte: Ihr Geschäft sei infolge des Verdachts, der gegen ihren Sohn schwebe, sehr zurückgegangen. Sie habe auch die vielen Haussuchungen satt; deshalb habe sie beschlossen, das Geschäft zu verkaufen und nach Brasilien auszuwandern. Die Frau hat ihren Plan aber nicht ausgeführt.
Angekl.: Das Geschäft meiner Mutter besteht 35 Jahre und hat früher einen sehr schönen Gewinn abgeworfen. Daß das Geschäft infolge der vielen bei meiner Mutter vorgenommenen Haussuchungen zurückgegangen ist, ist sehr erklärlich.
Ein Kriminalwachtmeister aus Offenbach bestätigte die Bekundung des Vorzeugen. Knitelius verkehrte in Kreisen von Zuhältern, Falschspielern und so weiter.
Kriminalschutzmann Pfeiffer (Frankfurt am Main): Knitelius hatte in Frankfurt keine Beschäftigung. Trotzdem führte er ein nobles Leben und verkehrte in den feinsten Cafés. Er bewegte sich in sehr verrufener Gesellschaft, insbesondere in den Kreisen der verrufenen Halbwelt. Er wohnte mit einem Mädchen namens Zimmermann zusammen, das stark im Verdacht stand, gewerbsmäßige Unzucht zu treiben. Knitelius behauptete, er unterhalte die Zimmermann vollständig, er habe eine Vergolderei in Offenbach und verdiene dabei viel Geld. Es wurde aber festgestellt, daß Knitelius nur bei seiner Mutter im Geschäft war. Die Zimmermann gab zu, von Knitelius nicht unterhalten zu werden, bestritt aber, dem Knitelius Geld gegeben zu haben. Jedenfalls stand Knitelius in dringendem Verdacht, bei der Zimmermann Zuhälterdienste zu leisten, er konnte aber nicht überführt werden.
Kriminalpolizei-Wachtmeister Milke (Frankfurt a. M;): In Frankfurt a.M. wurde einmal des Nachts in einem Juwelierladen ein Einbruchsdiebstahl verübt, Knitelius stand im Verdacht, an dem Einbruch beteiligt gewesen zu sein. Ich wurde beauftragt, Knitelius zu verhaften. Als ich mit noch zwei Beamten des Morgens bei Knitelius erschien, lag er noch zu Bett. Er war sehr erschrocken, sprang aus dem Bette, kleidete sich an und wollte aus einem Tischkasten einen geladenen Revolver herausziehen. Er wurde aber daran gehindert und der Revolver von uns beschlagnahmt.
Vors.: Hat er gedroht, auf Sie zu schießen?
Zeuge: Nein. Er sagte: Wenn ich sofort gewußt hätte, daß Sie Kriminalbeamter sind, dann wäre etwas anderes passiert. Ich fragte, was er gemacht hätte. Knitelius antwortete: „Ich hätte alsdann mich erschossen.“ Wir haben auch in Offenbach Haussuchung gehalten. Wir fanden bei der Mutter im Keller ein Loch, das sich vorzüglich als Versteck gestohlener Waren eignete. Von anderen Verbrechern wurde uns mitgeteilt, Knitelius sei Zuhälter und ein ganz gefährlicher Verbrecher. Ein Nachweis, daß Knitelius an dem Einbruch in den Juwelierladen beteiligt war, ließ sich nicht führen.
Hofbüchsenmacher Loesche (Magdeburg) bekundete als Sachverständiger: Die Browningpistole sei eine sehr gefährliche Waffe. Sie treffe sicher und habe den Vorzug vor dem Revolver, daß der Schuß nur ein Geräusch, aber keinen lauten Knall verursache. Der Sachverständige zeigte den Geschworenen die Zusammensetzung der Browningpistole. Die in der Hirsch-Apotheke gefundene Hülse entstamme zweifellos einer Browningpistole.
Vors.: Wir wollen uns jetzt schlüssig machen, ob Nitter zu vereidigen ist.
Staatsanwalt Schütte: Nitter kommt zweifellos als Mittäter in Betracht; ich beantrage daher, den Zeugen nicht zu vereidigen.
Vert. R.-A. Boré: Ich beantrage, den Zeugen zu vereidigen. Wenn der Herr Staatsanwalt Nitter für den Mittäter gehalten hätte, dann würde er ihn wegen Mordes angeklagt haben. Da dies nicht geschehen ist, muß dieser Verdacht nicht bestanden haben. Es liegt mithin kein gesetzlicher Grund vor, Nitter unvereidigt zu lassen.
Vors.: Nitter, der Gerichtshof wird sich jetzt schlüssig machen, ob Sie zu vereidigen sind. Der Herr Staatsanwalt beantragt, Sie unvereidigt zu lassen, der Herr Verteidiger, Sie zu vereidigen. Ich frage Sie nun, wenn der Gerichtshof beschließt, Ihre Vereidigung vorzunehmen, könnten Sie Ihre Aussage mit gutem Gewissen beschwören?
Nitter: Wenn ich jetzt etwas anderes sage, dann wird man mir das ja auch nicht glauben.
Vors.: Es handelt sich nicht darum, was Ihnen geglaubt wird, sondern ob Sie bereit sind, Ihre Aussage zu beschwören. Sie wissen, daß auf Meineid eine Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren steht.
Nitter: Wenn ich einen Eid leiste, dann werden die Herren Geschworenen den Eid doch für einen Meineid halten.
Vors.: Sie weichen immer aus. Ob die Herren Geschworenen der Ansicht sind, daß Sie einen Meineid geleistet haben, braucht Sie nicht zu kümmern. Beantworten Sie die Frage: Sind Sie bereit, Ihre Aussage zu beschwören?
Nitter: Das kann ich nicht, denn ich bin überzeugt, sobald ich geschworen habe, wird der Herr Staatsanwalt sofort die Anklage wegen Meineids gegen mich erheben, da eine große Anzahl Zeugen das Gegenteil beschworen haben.
Vors.: Sie erklären also, daß Sie nicht bereit sind, Ihre Aussage zu beschwören?
Nitter: Ich in bereit, zu schwören, wenn die Aussagen der anderen Zeugen für falsch erklärt werden. (Heiterkeit.)
Vors.: Sie werden doch selbst einsehen, daß das nicht ausführbar ist. Ich frage Sie also nochmals, wollen Sie Ihre Aussage beschwören?
Nitter: Unter diesen Umständen kann ich nicht schwören. Der Herr Staatsanwalt sagte, ich käme bei dem Morde als Mittäter in Betracht, gleichviel, ob ich geschossen habe oder nicht. Ich bemerke: wenn zwei Einbrecher verabreden, im Falle sie überrascht werden, zu schießen, so wird bei einer Überraschung nicht erst beraten werden. wer schießen soll, sondern es werden beide gleichzeitig schießen.
Vors.: Ihre Ausführungen interessieren uns nicht. Der Gerichtshof wird in der Pause beraten, ob Sie zu vereidigen sind.
Der Vorsitzende, Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Goldschmidt, eröffnet die Nachmittagssitzung mit folgenden Worten: Ich habe dem Zeugen Schriftsetzer Feller aus Berlin gestattet, mit Nitter zu sprechen. Ich ersuche den Zeugen Feller, vorzutreten.
Feller äußerte hierauf: Ich habe mit Nitter gesprochen. Ich habe ihm gesagt: Ich habe von seiner Schwester den Auftrag, ihm mitzuteilen: Wenn er sich bessert, dann würde sie alles tun, damit er wieder ein ordentlicher Mensch wird. Er solle aber die Wahrheit sagen, er habe augenscheinlich nicht die Wahrheit gesagt. Nitter hat erwidert: Ich fürchte einmal die Rache von Knitelius und andererseits würde mir ja doch nicht geglaubt werden, wenn ich jetzt die Wahrheit sage.
Vors.: Nun, Nitter, treten Sie einmal an den Zeugentisch.
Nitter weinte während der Vernehmung des Feller heftig. Er trat laut weinend mit vorgehaltenem Taschentuch an den Richtertisch.
Vors.: Nitter, der Gerichtshof hat den Beschluß, ob Sie zu vereidigen sind, noch einstweilen ausgesetzt. Ich frage Sie nun, wollen Sie jetzt die Wahrheit sagen? Ist Knitelius in Magdeburg gewesen? Sagen Sie die Wahrheit!
Nitter weinte und führte augenscheinlich in seinem Innern einen heftigen Kampf.
Vors.: Ich frage Sie nochmals, Nitter: Ist Knitelius in Magdeburg gewesen?
Nitter, nach einigem Zögern: Ja. (Große allgemeine Bewegung.)
Vors.: Das ist die Wahrheit?
Nitter (weinend): Ja.
Vors.: Dann erzählen Sie noch einmal von Ihrer Begegnung im „Kronen-Café“ in Berlin an, was geschehen ist.
Nitter: Am 23. Oktober 1908 trafen wir uns in Berlin im „Kronen-Café“. Wir beschlossen, am folgenden Tage nach Magdeburg zu fahren, um einen Einbruch bruch zu begehen. Ich fuhr am Sonnabend, den 24. Oktober, mittags ein Uhr, nach Magdeburg und holte Knitelius, der erst acht Uhr abends ankam, vom Bahnhof ab. Wir mieteten uns hier eine Wohnung und besuchten verschiedene Lokale. Am Sonntag waren wir im „Café Hohenzollern“; wir kauften uns bei Loeser & Wolff Zigarren. Nachmittags versuchten wir in eine Drogerie in der Wilhelmstraße einzubrechen; es gelang uns aber nicht. Wir gingen weiter. Als wir am Breiten Weg an der Hirsch-Apotheke vorüberkamen, beschlossen wir, in diese einzubrechen. Dies gelang uns sehr schnell, da Knitelius gute Einbruchswerkzeuge hatte. Wir suchten in mehreren Kästen nach Geld, schließlich hörten wir schließen und sahen uns einem Herrn gegenüber. Dieser sagte guten Abend. Ich erwiderte den Gruß. In demselben Augenblick krachte ein Schuß.
Vors.:Knitelius hatte den Mann geschossen?
Nitter (nach einigem Zögern): Ja.
Vors.: Weshalb haben Sie bis jetzt die Unwahrheit gesagt?
Nitter: Ich befand mich zwischen Baum und Borke. Ich befürchtete einmal die Rache des Knitelius und wurde auch von seinen Blicken hier im Saale fortwährend beeinflußt Andererseits bedrückte mich mein Gewissen. Ich halte es für meine moralische Pflicht, jetzt die Wahrheit zu sagen, da es sich um einen Mord handelt. Ich bin der Meinung, ein Mensch, der einen Mann, dem er sein Eigentum rauben will, mordet, gehört nicht in die Freiheit. Ich habe schon einmal gesagt, ich habe den Schuß nicht gebilligt.
Vors.: Sie hätten nicht geschossen?
Nitter: Niemals.
Vors.: Sie haben also jetzt die volle Wahrheit gesagt?
Nitter (heftig weinend): Ja. jetzt habe ich die volle Wahrheit gesagt.
Vors.: Wollten Sie in der Apotheke Geld stehlen oder ein Betäubungsmittel rauben?
Zeuge: Wir wollten Geld stehlen.
Vors.: Nun, Angeklagter Knitelius, was sagen Sie dazu?
Der Angeklagte saß wie versteinert da; er wurde aschfahl im Gesicht und schwieg.
Vors.: Angeklagter, ich frage Sie nochmals, was sagen Sie zu diesem Geständnis des Nitter?
Angekl.: Ich bitte, mit meinem Verteidiger sprechen zu dürfen.
Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung und gestattete, daß der Verteidiger sich mit dem Angeklagten in ein Zimmer zurückzog.
Nach etwa zehn Minuten trat der Verteidiger mit dem Angeklagten in den Sitzungssaal wieder ein. Die Spannung der zahlreichen Zuhörer war aufs höchste gestiegen.
Vert. R.-A. Dr. Boré: Der Angeklagte hat mich ermächtigt, zu erklären, daß er den Schuß auf den Apothekenbesitzer Rathge abgegeben hat. (Große allgemeine Bewegung.) Der Angeklagte bestreitet aber, einen Mord beabsichtigt zu haben. Der Angeklagte läßt den Herrn Vorsitzenden außerdem ersuchen, die Sitzung auf eine Stunde zu unterbrechen. Der Angeklagte ist derartig erregt Und erschöpft, daß er dringend der Erholung bedarf.
Es trat darauf eine einstündige Pause ein.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung war der Andrang des Publikums geradezu beängstigend, Aber auch der Innenraum war zum Brechen voll, so daß die Berichterstatter im Schreiben ganz außerordentlich behindert wurden.
Der Vorsitzende ließ den Angeklagten vor den Richtertisch treten. Der Angeklagte erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Am Freitag, den 23. Oktober, abends, habe ich im „Kronen-Café“ in Berlin mit Nitter beschlossen, nach Magdeburg zu fahren, um uns dort ordentlich zu amüsieren und auch Pfandscheine zu verkaufen. Von Magdeburg wollten wir nach Halle fahren. Wir wollten hauptsächlich deshalb nach Magdeburg fahren, weil ich in Berlin schon wegen der Bethge behindert war. Am folgenden Tage, Sonnabend den 24. Oktober, mittags ein Uhr, fuhr Nitter nach Magdeburg, ich traf um acht Uhr abends in Magdeburg ein. Nachdem ich im Nebenhaus von Nitter, in der Anhaltstraße hierselbst, ein Zimmer gemietet hatte, besuchten wir verschiedene Lokale.
Vors.: Hatten Sie nicht auch die Absicht, einen Einbruch zu verüben?
Angekl.: Nein, davon war keine Rede. Am folgenden Sonntag machte Nitter beim Mittagessen den Vorschlag, etwas auszuführen. Ich muß bemerken, daß ich kein Gepäck nach Magdeburg mitgebracht hatte. Die Einbruchswerkzeuge hatte Nitter mitgebracht. Nitter sagte: „Ich habe schon ausbaldowert.“ Ich muß ausdrücklich hervorheben, daß ich das Wort „ausbaldowert“ gar nicht kannte. Ich habe manches gekauft, dadurch kam ich mit Verbrechern zusammen, die Verbrechersprache war mir aber vollständig fremd. Ich hatte, offen gestanden, keine Lust, einen Einbruch zu begehen, wenn nicht wenigstens Aussicht vorhanden war, 50 bis 60000 Mark dabei zu holen, so daß man ein Geschäft anfangen konnte. Nitter drang aber in mich. In der Wilhelmstraße wollten wir in eine Drogenhandlung einbrechen, das gelang uns aber nicht. Wir gingen alsdann den Breiten Weg entlang und kamen bei der Hirsch-Apotheke vorüber. Da hing ein Zettel draußen: „Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.“ Nitter schlug vor, in die Apotheke einzubrechen. Ich lehnte ab. Da sagte Nitter: „Willst du es vielleicht noch bequemer haben? Du siehst hier den Zettel, sollen sie dich vielleicht erst zum Kaffee einladen?“ Ich wollte aber nicht und sagte: „Was ist denn in einer Apotheke zu holen?“ Nitter erwiderte: „Du bist doch sonst ein mutiger Mensch, hier, wo die Sache so günstig liegt, verlierst du den Mut!“ Dieser Appell an meinen Mut und die günstige Gelegenheit veranlaßten mich schließlich, in die Apotheke mit hineinzugehen. Wir hatten die Tür schnell auf und kamen zunächst in ein kleines Kontor. Von dort kamen wir in die Apotheke. Wir zogen verschiedene Schubladen auf. In demselben Augenblick hörten wir schließen, und ein großer, starker Mann stand vor uns. Ob er guten Abend sagte, weiß ich nicht. Ich war jedenfalls furchtbar erschrocken. Ich glaubte bestimmt, nun werden wir gefaßt. Ich zog deshalb meine Browningpistole und schoß. Wie ich dazu kam, ist mir unbegreiflich. Ich ergriff die Flucht und fiel sehr bald hin. Mehrere Leute hoben mich auf und sagten, ob mir etwas passiert sei. Ich sagte, ich fühle mich unwohl. Dadurch gelang es mir, zu entkommen. Ich begab mich in meine Wohnung. Ich blieb die folgende Nacht auch in Magdeburg. Da Nitter nicht nach Hause kam, wußte ich, daß er gefaßt worden ist. Geschlafen habe ich vor Aufregung nicht einen Augenblick. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht daneben geschossen oder den Mann nur verletzt letzt hätte. Am folgenden Vormittag holte ich die Sachen von Nitter und nahm diese mit nach Berlin. Ich las in den Berliner Zeitungen, daß der Geschossene nur verletzt sei. Ich machte mich aber auf jeden Fall reisefertig. Ich hatte 800 Mark in Magdeburg bei mir. 400 Mark hatte ich bei der Deutschen Bank und eine Summe in meinem Koffer. Im ganzen hatte ich etwas über 3000 Mark. Ich fuhr am 28. Oktober nach Monte Carlo, von dort nach Lissabon, Madrid, Barcelona und schiffte mich nach Brasilien ein. In einem Café in Barcelona las ich in der „Kölnischen Zeitung“, daß der Apotheker gestorben sei.
Vors.: Lasen Sie nicht auch Ihren Steckbrief?
Angekl.: Den las ich erst drei Wochen vor meiner Verhaftung in Rio de Janeiro.
Vors.:
Sie behaupten also, Sie hatten nicht die Absicht, den Apotheker zu erschießen?
Angekl.: Keineswegs, es tat mir sofort furchtbar leid, daß ich geschossen hatte. (Der Angeklagte brach hierbei in Tränen aus.)
Vors.: Sie mußten sich aber doch sagen, wenn Sie auf den Mann schießen, dann ist die große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Sie ihn erschießen.
Angekl.: Überlegung hatte ich überhaupt nicht. Ich wollte auch nach den Beinen schießen, ich war aber so erregt, daß ich überhaupt kein Bewußtsein mehr hatte.
Vors.: Wenn Sie nach den Beinen geschossen hätten, dann wäre es dem Manne möglich gewesen, um Hilfe zu schreien.
Angekl.: Daran dachte ich nicht.
Vors.: Wäre es nicht möglich gewesen, ohne Schuß zu entweichen?
Angekl.: Herr Rathge war ein großer, starker Mann, der hätte uns doch wohl festgehalten.
Nitter sagte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Im großen und ganzen hat Knitelius den Vorgang richtig geschildert. So drastisch berlinisch habe ich mich aber nicht ausgedrückt. Die Herren werden schon gesehen haben, daß das gar nicht meine Art ist. Ob es möglich gewesen wäre, ohne Schuß zu entkommen, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, daß Knitelius nicht die Absicht hatte, den Apotheker zu erschießen.
Vors.: Ist vielleicht vorher verabredet worden, sobald Sie überrascht werden, zu schießen?
Nitter: Ausgeschlossen. Ich will noch bemerken, wenn es sich um einen Einbruchdiebstahl von Millionen gehandelt hätte, würde ich Knitelius nicht verraten haben. Es handelt sich aber um Menschenleben, da mußte ich schließlich ein offenes Geständnis ablegen.
Fräulein Bethge erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: zenden: Knitelius war sehr jähzornig, aber eine schlechte Tat, insbesondere einen Mord, hätte sie ihm niemals zugetraut.
In derselben Weise äußerten sich noch mehrere Berliner Juwelenhändler, die seit langer Zeit mit dem Angeklagten bekannt waren. Die meisten dieser Leute schilderten den Angeklagten als sehr gutmütigen Menschen.
Der Gerichtshof beschloß darauf, den Zeugen Nitter nicht zu vereidigen.
Am siebenten Tage der Verhandlung nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Schütte: Meine Herren Geschworenen! Nach einer langen, anstrengenden Verhandlung stehen wir heute am Ende eines Prozesses, der in der weiten Welt Interesse erregt hat, da er ein Bild vom internationalen Verbrechertum entrollte. Dieser Prozeß hat schließlich zu einem Erfolge geführt, wie ihn niemand geahnt hat. Wir sehen auf der einen Seite einen jungen Mann aus guter Familie, der vollständig unter dem Einfluß eines schweren Verbrechers stand, auf der anderen Seite den Angeklagten, der mit seltener Ruhe und Kaltblütigkeit sich verteidigt. Er leugnete alles, er kämpfte um seinen Kopf. Er verließ sich darauf, daß sein Freund und Komplice Nitter ihn retten werde. Er hatte sich zunächst nicht getäuscht. Endlich auf eindringliches Zureden eines Jugendfreundes entschloß sich Nitter, zumal er auch die Strafe des Meineids fürchtete, die volle Wahrheit zu sagen. Als dann der Angeklagte sah, daß ihn auch sein treuester Freund preisgegeben hatte, da bequemte er sich endlich am sechsten Tage der Verhandlung zu einem Zugeständnis, nicht zu einem Geständnis. Der Staatsanwalt schilderte alsdann in eingehender Weise den bekannten Vorgang vom 25. Oktober 1908. Der Angeklagte, so fuhr darauf der Staatsanwalt fort, wollte noch den Glauben hervorrufen, daß er ein gutmütiger Mensch sei. Er sagte, Nitter habe zunächst vorgeschlagen, in einen Zigarrenladen einzubrechen. Er habe aber gesagt: „Das will ich nicht, wir können doch nicht den armen Leuten die paar Pfennige wegnehmen.“ Sie wollten hierauf in die Drogenhandlung von Musche einbrechen. Aber Herr Musche war zu Hause, da mußten sie davon Abstand nehmen. Alsdann kamen sie auf dem Breiten Weg an die Hirsch-Apotheke. Dort hing ein Plakat: „Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.“ Der Angeklagte wollte aber, so versichert er, auch in die Apotheke nicht einbrechen. Nitter sagte jedoch: „Siehst du denn nicht, hier ist alles fort. Die Gelegenheit kann doch nicht günstiger sein. Du hast doch sonst Mut.“ Diese Äußerung Nitters hätte ihn bewogen, in die Apotheke einzudringen. Ich komme nun noch einmal auf Nitter. Dieser junge Mann wollte Schauspieler werden, sein Vater wollte das aber nicht. Er kam deshalb zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Darauf wurde er Bureaugehilfe im Ostmarkenverein, alsdann Annoncen- und Abonnenten-Akquisiteur und schließlich Detektiv. Sehr bald wurde er mit dem Angeklagten bekannt. Sie haben gehört, Nitter war ein Prahlhans, dessen Zunge oftmals mit ihm durchging. Er zeigte ganz offen die Einbruchswerkzeuge. Er ist offenbar erst durch den unheimlichen Einfluß, den der Angeklagte auf ihn ausübte, zum Verbrecher geworden. Nitter sagte, ich sei schuld, daß er in Breslau unschuldig verurteilt wurde, weil ich ihn in der Verhandlung gegen ihn vor der Magdeburger Strafkammer einen durch und durch verdorbenen Menschen genannt habe, der schließlich für das Zuchthaus reif geworden sei. Ich bin aber der Ansicht, daß Nitter vielleicht noch einmal ein anständiger Mensch werden kann. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich von Nitter stets diese Ansicht gehabt habe. Nitter gab sich sogar dazu her, den Kriminalkommissar Klinghammer auszuhorchen. Er erklärte sich bereit, dem Kriminalkommissar über das Treiben des Knitelius Auskunft zu geben. Er hatte, wie er sagte, aber nur die Absicht, den Kriminalkommissar, und zwar in ausdrücklichem Auftrag von Knitelius, auszuhorchen, um zu erfahren, was die Kriminalpolizei gegen Knitelius für Maßnahmen im Auge hatte. Daraus ging doch klar hervor, daß der Angeklagte alle Ursache hatte, die Polizei zu fürchten. Nitter sagte ja auch zu einigen Leuten, er fürchte die Rache von Knitelius. Wenn er die Wahrheit sage, dann würde Knitelius pfeifen und er noch einmal angeklagt werden, denn sie haben noch mehr auf dem Kerbholz. Aber auch der Angeklagte ist aus anständiger Familie. Er hat jedoch frühzeitig in Kreisen gefährlicher Verbrecher verkehrt und als sehr junger Mensch viel Umgang mit der besseren weiblichen Halbwelt gehabt. Er hat stets eine geladene Schußwaffe getragen und war dringend verdächtig, sich an schweren Einbrüchen beteiligt zu haben. Er hat auch in Berlin fast ausschließlich in Lokalen verkehrt, wo die gefährlichen Verbrecher zu verkehren pflegen. Er hat niemals gearbeitet, sondern augenscheinlich Reisen bis nach Zürich unternommen, um Einbrüche zu verüben. Äußerst charakteristisch ist es, daß, als der Kriminalkommissar Klinghammer im „Café Westminster“ an Knitelius herantrat und ihm eröffnete, daß er ihn verhaften müsse, Knitelius keineswegs erschrak, sondern mit größter Ruhe sagte: „Herr Kommissar, ich wollte in den nächsten Tagen auf alle Fälle zu Ihnen aufs Präsidium kommen.“ Das tut kein Mensch, dessen Leben fleckenlos ist. Der Angeklagte galt auch in Berliner Verbrecherkreisen als internationaler reisender Einbrecher. Charakteristisch ist auch, daß der Angeklagte mit seinem Komplicen Nitter in der belebtesten Straße Magdeburgs Sonntag nachmittags in eine Apotheke einbrach. Das ist das Charakteristische der Sonntagsdiebe, sie wählen sich die belebtesten Gegenden zur Ausführung ihrer Verbrechen, weil sie wissen, daß sie in solchen Gegenden am leichtesten unter der Menge verschwinden können. Der Angeklagte hatte sich auch in dieser Beziehung nicht verrechnet. Es ist jedenfalls ein Beweis von großer Umsicht, daß Herrn Kriminalkommissar Klinghammer schon vor langer Zeit das Treiben des Knitelius derartig verdächtig erschien, daß er es für nötig erachtete, Knitelius eines Abends im „Café Westminster“ in Berlin zu verhaften, um ihn dem Erkennungsdienst zuzuführen. Der Umsicht Klinghammers ist es zu danken, daß nach Bekanntwerden des Mordes in Berlin sofort festgestellt werden konnte: Knitelius und kein anderer ist der Täter.
Der Staatsanwalt erläuterte alsdann in eingehender Weise die Schuldfrage vom juristischen Standpunkt und gelangte zu dem Antrag, daß ein Mord vorliegt. Der Angeklagte ist zweifellos in die Hirsch-Apotheke eingedrungen, so fuhr der Staatsanwalt fort, in der Absicht, sobald sich ein Mensch ihm entgegenstellen sollte, ihn niederzuschießen. Danach liegt Mord im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuchs vor. Ich will hierbei bemerken: In Magdeburg ist die Ansicht verbreitet, wenn der Angeklagte nicht des Mordes für schuldig erachtet wird, dann kann er nicht bestraft werden, da er nur wegen Verdachts des Mordes ausgeliefert worden ist. Das ist ein Irrtum. Nach den Bestimmungen des Auslieferungsvertrags mit Brasilien kann auch der Angeklagte mit einer geringeren Strafe bestraft werden. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Dank der großen Bemühungen der Untersuchungsbehörde und der technischen Fortschritte auf dem Gebiete der Photographie ist es gelungen, zwei Jahre nach der Tat den „Gymnasialoberlehrer“ in Rio de Janeiro festzunehmen und der gerechten Strafe zuzuführen. Die große Kaltblütigkeit und Ruhe, die der Angeklagte bis zum letzten Augenblick an den Tag gelegt hat, spricht zweifellos dafür, daß er auch die Tat mit Ruhe und Kaltblütigkeit begangen hat. Sorgen Sie durch Ihren Urteilsspruch dafür, meine Herren Geschworenen, daß die furchtbare Tat eine entsprechende Sühne erfährt. Milde hat der Angeklagte jedenfalls nicht verdient. Bejahen Sie die Schuldfrage wegen Mordes.
Vert. R.-A. Dr. Boré: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, es ist ein schweres Verbrechen, das Ihrer Beurteilung unterliegt und eine entsprechende Strafe rechtfertigt. Ich könnte mich nicht einen Anwalt des Rechts nennen, wenn ich das in Abrede stellen wollte. Allein ein Todesurteil läßt sich weder vom juristischen noch vom menschlichen Standpunkt aus rechtfertigen. Daß der Angeklagte mit dem Vorsatz in die Hirsch-Apotheke eingedrungen ist, um einen Menschen zu töten, ist in keiner Weise erwiesen. Solange aber dieser Beweis nicht geführt ist, dürfen Sie die Schuldfrage wegen Mordes nicht bejahen. Es ist auch nicht erwiesen, daß der Angeklagte ein professionierter Einbrecher gewesen ist. Er ist jedenfalls einer solchen Tat wegen niemals auch nur angeklagt gewesen. Mit Vermutungen kann man doch nicht operieren. Der Angeklagte wußte, was ihm unter Umständen bevorsteht, er hat deshalb hartnäckig geleugnet. Das spricht aber noch nicht dafür, daß er die Absicht hatte, einen Menschen niederzuschießen. Die Tat ist ihm zweifellos vom Augenblick eingegeben worden. Der Umstand, daß er stets eine Schußwaffe bei sich trug, ist auch nichts Auffälliges. Der Angeklagte hat in Berlin in Cafés verkehrt, in denen jeder dritte Mann eine geladene Schußwaffe bei sich trägt. Ich habe nach den mehrfachen Unterredungen, die ich mit dem Angeklagten hatte, die Überzeugung erlangt, daß er noch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden kann. Er bereut aufrichtig seine Tat. Ich bitte Sie deshalb, nur die Frage wegen Totschlags zu bejahen.
Der Angeklagte versicherte nochmals, daß er nicht die Absicht hatte, den Apothekenbesitzer zu erschießen, er habe im Augenblick keinen anderen Ausweg gewußt und ohne jede Überlegung gehandelt. Er bereue aufrichtig seine Tat. Er habe auf dem langen Wege von Brasilien nach Magdeburg sich vorgenommen, zu leugnen und möglichste Ruhe und Kaltblütigkeit zu bewahren, da er wußte, daß er zum Tode verurteilt werden könnte. Er sei kein Jurist. Wenn er gewußt hätte, daß er nur wegen Totschlags verurteilt werden könnte, dann hätte er sofort ein offenes Geständnis abgelegt.
Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage wegen Totschlags und auch die Schuldfrage, ob der Angeklagte bei Begehung eines Verbrechens, um ein ihm entgegenstehendes Hindernis zu beseitigen bzw. sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, vorsätzlich einen Menschen getötet hat.
Staatsanwalt Schütte beantragte, mit Rücksicht auf die große Gemeingefährlichkeit des Verbrechens und auf die Frivolität, mit der der Angeklagte gehandelt habe, lebenslängliche Zuchthausstrafe und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Der Verteidiger, R.-A. Dr. Boré, ersuchte, dem Angeklagten, der doch zweifellos in Eingebung des Augenblicks gehandelt habe, die Möglichkeit zu lassen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Er (Vert.) bitte deshalb den Gerichtshof, auf eine zeitige Strafe zu erkennen, und zwar nicht über die Mindeststrafe von zehn Jahren hinauszugehen.
Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?
Angekl. (nach einigem Zögern): Ich will mit meinem Verteidiger sprechen.
Der Angeklagte erklärte schließlich nach nochmaliger Frage des Vorsitzenden, daß er nichts weiter zu sagen habe.
Nach kurzer Beratung des Gerichtshofs verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Goldschmidt: Nach dem Wahrspruch der Geschworenen ist der Angeklagte im Sinne der §§ 212 und 214 des Strafgesetzbuchs schuldig. Der Gerichtshof sieht in der Tat des Angeklagten eine große Gemeingefährlichkeit und Frivolität. Der Gerichtshof hat aber dennoch von einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe Abstand genommen, da vielleicht doch die Möglichkeit vorliegt, daß der Angeklagte in der Eingebung des Augenblicks gehandelt hat. Auch will der Gerichtshof dem Angeklagten nicht die Möglichkeit nehmen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Der Gerichtshof hat deshalb den Angeklagten zu einer Zuchthausstrafe von vierzehn Jahren und zu zehn Jahren Ehrverlust verurteilt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen.
Der Angeklagte nahm das Urteil wohl mit großer Niedergeschlagenheit, aber doch mit äußerer Ruhe entgegen.
70-85
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BearbeitenDie Kaiserinsel
Eine Gerichtsverhandlung in Berlin
Im Sommer 1903 herrschte auf dem Gebiete der auswärtigen Politik vollkommene Ruhe. Nicht ein Wölkchen drohte den Weltfrieden zu trüben. Um so lebhafter war das Getriebe auf dem Gebiete der inneren Politik, zumal bei der Reichstagswahl im Juni 1903 die Sozialdemokratie, wenn auch nicht die meisten Mandate, wohl aber die meisten Stimmen zu verzeichnen hatte. Im August 1903 erregte nun ein Artikel des Zentralorgans der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, des „Vorwärts“, allgemeines Aufsehen. Der Artikel trug die Überschrift: „Die Kaiserinsel“. In dem Artikel wurde ein „höchst sonderbarer Plan“ verraten, der angeblich „in Hofkreisen“, „bei Hofe“ usw. eifrigst ventiliert werde und darin bestehe, daß zum Schutze des Kaisers und der kaiserlichen Familie, nötigenfalls unter Mißachtung der Gesetze, die Havelinsel Pichelswerder in eine Feste umgewandelt werden solle, um welche beim Ausbruch einer Revolution und mit Hilfe der Döberitzer Heeresstraße in kürzester Zeit Truppen konzentriert werden könnten. In der heftigen Zeitungspolemik, die ob dieses Artikels entbrannte, verblieb der „Vorwärts“ allen Zweifeln feln gegenüber bei seiner Behauptung, daß in Hofkreisen ein solches Projekt tatsächlich aufgetaucht sei, und verwies die Zweifler an den Hofmarschall v. Trotha und den Restaurator der Hohkönigsburg, Architekt Bodo Ebhardt. Die Anklage erblickte in dem ersten Artikel eine Majestätsbeleidigung, indem sie davon ausging, daß, wenn auch immer von „Hofkreisen“, von „bei Hofe tätigen Geistern“, von „hohen Projekten“ usw. gesprochen werde, der Artikel doch ganz deutlich auf den Kaiser selbst gemünzt sei. Dem Kaiser selbst werde angedichtet, daß er aus wahrhafter Angst vor dem Aufruhr den Plan der Umwandlung der Insel Pichelswerder billige und dabei vor einer Mißachtung der Gesetze nicht zurückschrecke. In den weiteren unter Anklage gestellten polemischen Artikeln wurde eine Beleidigung des Herrn v. Trotha gefunden, da diesem wissentliche Unwahrheit vorgeworfen werde. Aus diesem Anlaß hatten sich die damaligen verantwortlichen Redakteure des „Vorwärts“, Karl Leid und Julius Kaliski, ersterer wegen Majestätsbeleidigung und groben Unfugs, letzterer wegen Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha am 16. Oktober 1903 vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Leuschner. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel. Verteidiger waren die Rechtsanwälte Dr. Karl Liebknecht knecht und Max Levy (Berlin) und Hugo Haase (Königsberg i. Pr.).
Angekl. Leid bestritt, daß in dem Artikel eine Majestätsbeleidigung enthalten sei. Die Tendenz des Artikels „Die Kaiserinsel“ sei dahin gegangen, zu zeigen, mit welchen sonderbaren Plänen sich die Hofkamarilla trage, um den Kaiser in die falsche Vorstellung hineinzubringen, daß er von allerlei Gefahren für Leib und Leben umlauert werde. Die Interpretation des Oberstaatsanwalts, wonach der Artikel auf den Kaiser selbst gemünzt sei, treffe durchaus nicht zu.
Angekl. Kaliski bestritt ebenfalls, daß in den von ihm gezeichneten Artikeln eine Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha enthalten sei.
Hofmarschall v. Trotha bekundete als Zeuge: Es sei ihm von dem in den Vorwärtsartikeln behaupteten Schloßbauprojekt absolut nichts bekannt. Es sei ferner gänzlich ausgeschlossen, daß auf einem zum Hofmarschallamt des Kronprinzen gehörigen Kanzleipapier ein solches Projekt hinausgegangen sei.
R.-A. Dr. Liebknecht: Ist es möglich, daß Papier des Hofmarschallamts gelegentlich vom Deutschen Kronprinzen zu privaten Mitteilungen benutzt sein könnte?
Zeuge: Ich halte es für ausgeschlossen.
Zeuge Architekt Bodo Ebhardt: Mir ist nicht das geringste von einem Schloßbauprojekt auf Pichelswerder werder bekannt.
R.-A. Liebknecht: Haben Sie in der hier fraglichen Zeit mit dem Hofmarschallamt korrespondiert?
Zeuge: Gewiß habe ich korrespondiert, aber keineswegs in dieser Angelegenheit.
Chef des Militärkabinetts Graf Dietrich v. Hülsen-Haeseler: Mir ist nicht das geringste von einem solchen Schloßprojekt bekannt.
Vors.: Ihnen ist auch nicht bekannt, daß etwa aus dem Hofmarschallamt des Kronprinzen ein solcher Plan hinausgegangen ist?
Zeuge: Nichts ist mir davon bekannt.
R.-A. Liebknecht: Ist dem Herrn Zeugen bekannt, daß es geplant war, die Aushebungsart in bezug auf die Gardetruppen zu ändern?
Zeuge: Auf solche Fragen verweigere ich die Auskunft.
R.-A. Liebknecht: Ich möchte nur wissen, ob dem Zeugen außeramtlich bekannt geworden, daß in Hofkreisen über eine Änderung der Aushebungsart gesprochen worden ist?
Zeuge: Ich habe nur amtliche Sachen zu bearbeiten. Das Ressort, dem ich vorstehe, führt den Titel: „Geheimes Kabinett für Militärangelegenheiten“. Alles, was in Militärangelegenheiten zu meiner Kenntnis kommt, ist geheim. Ich habe also auf solche Anfragen und Anzapfungen nicht zu antworten.
R.-A. Liebknecht machte darauf aufmerksam, daß der Zeuge nur zur Zeugnisverweigerung berechtigt sei, wenn eine Gefahr für den Staat obwaltet.
Zeuge: Bitte, dem muß ich widersprechen. Ich kann doch nicht über alles mögliche hier gefragt werden und muß auf solche Fragen die Antwort verweigern.
Vors.: Es steht nur zur Frage, ob Ew. Exzellenz etwas davon bekannt ist, daß auch nur außeramtlich über eine andere Aushebung der Gardetruppen gesprochen worden ist?
Zeuge: Nein.
Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Diese Frage ist zu beanstanden. Der Herr Zeuge hat bereits verneint, daß ihm irgend etwas von dem Projekt bekannt sei. Die Aushebung der Gardetruppen wird mit dem Bau des Schlosses auf Pichelswerder in Verbindung gebracht, und darauf bezieht sich also auch die Auskunft des Zeugen, daß ihm von der ganzen Sache nichts bekannt sei.
Graf v. Hülsen-Haeseler: Als Chef des Militärkabinetts bin ich nicht in der Lage, auf alle möglichen Fragen, die an mich gerichtet werden, zu antworten. Ich habe bereits gesagt, daß mir von der ganzen Geschichte absolut nichts bekannt ist, die ganze Sache existiert eben nicht. Ich weiß von einer derartigen Absicht, daß für Seine Majestät so etwas ausgebaut werden soll, nicht einen Ton, ich habe nicht ein Atom davon erfahren. Ich kann doch hier nicht nach allem möglichen, was es auf der Welt gibt, befragt werden.
R.-A. Liebknecht beantragte einen Gerichtsbeschluß, daß dem Zeugen die Frage vorgelegt werde, ob ihm etwas von dem Projekt im ganzen oder auch von einzelnen Teilen, beispielsweise von dem Plane und veränderter Aushebung der Gardetruppen bekannt sei.
Der Gerichtshof beschloß, diese Frage, als nicht zur Sache gehörig, abzulehnen.
Es kam hierüber zu einigen Erörterungen zwischen dem Verteidiger und dem Vorsitzenden. Auf wiederholte Anregung des letzteren erklärte Zeuge Graf v. Hülsen-Haeseler: Ich kann nur nochmals sagen, daß mir von dem ganzen Projekt nichts, auch von keinem Teile bekannt ist.
R.-A. Liebknecht: In Anknüpfung an eine frühere Bemerkung des Oberstaatsanwalts möchte ich den Zeugen gefragt wissen, ob Se. Majestät bisweilen Veranlassung nimmt, die Erteilung einer Auskunft selbst zu befehlen?
Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich will dies gleich erläutern. Als der „Vorwärts“ –Artikel erschienen war, erklärte die „Nordd. Allg. Ztg.“: sie sei auf eine Erkundigung an maßgebender Stelle dahin beschieden worden, daß die ganze Nachricht des „Vorwärts“ ins Fabelreich gehöre. Da habe ich gesagt, daß Se. Majestät stät wohl gelegentlich selbst zu solcher Frage Stellung nimmt und sich dahin äußert: „Das muß dementiert werden.“
R.-A. Liebknecht: Der Herr Oberstaatsanwalt hatte aber gemeint, es sei dies allgemein bekannt.
Oberstaatsanwalt: Mir ist es bekannt, ich glaube, daß so etwas vorkommt, und das habe ich nur sagen wollen.
Der nächste Zeuge, Chef des Zivilkabinetts Dr. v. Lucanus, erklärte auf Befragen, daß ihm von solchem Schloßbauprojekt weder im ganzen noch im einzelnen etwas bekannt sei. Er habe erst durch die Reproduktion des „Vorwärts“ –Artikels in anderen Blättern von der ganzen Sache Kenntnis erhalten. Ihm sei nichts davon bekannt, daß in Hofkreisen ein solches Projekt erörtert worden sei.
R.-A. Dr. Liebknecht: Auch nicht von Einzelheiten dieses Projekts?
Der Vorsitzende bemängelte wieder diese Frage.
Zeuge: Mir ist gar nichts bekannt.
Auch Oberhof- und Hausmarschall Graf zu Eulenburg erklärte als Zeuge, nie ein Wort von einem solchen Projekt weder im ganzen noch im einzelnen gehört zu haben.
Dasselbe erklärte der Oberhofmeister der Kaiserin, Freiherr v. Mirbach.
R.-A. Levy: Ist dem Herrn Zeugen vielleicht bekannt, kannt, daß im Mai oder Juni in Hofkreisen davon gesprochen worden ist, daß für den Kaiser die Erbauung eines gewöhnlichen Schlosses auf Pichelswerder beabsichtigt werde?
Zeuge: Ich sehe nicht ein, daß, nachdem ich schon geschworen, die Herren mich nochmals dasselbe fragen. Ich habe erklärt, daß ich von solchem Projekt nichts weiß.
R.-A. Liebknecht: Sind dem Zeugen auch nicht Einzelheiten, wie sie der Artikel des „Vorwärts“ andeutet, losgelöst von dem Kaiserinsel-Projekt, bekannt?
Zeuge: Ich habe meine Aussage bereits beeidet. Man macht sich ja nur lächerlich durch das ewige Fragen über dieselben Dinge.
R.-A. Liebknecht: Ich muß es mir entschieden verbitten, daß Fragen der Verteidigung als „ewige Fragen“ bezeichnet werden.
Oberstaatsanwalt: Der Herr Zeuge hat nur das Vorlegen immer derselben Fragen bemängelt.
R.-A. Liebknecht: Ist dem Zeugen bekannt, ich wiederhole es, daß in Hofkreisen ein solcher Plan erörtert oder ganz oder teilweise zur Erörterung gestellt worden ist?
Zeuge: Ich antworte darauf nicht mehr.
Vert.: Sie sind nach dem Gesetz verpflichtet, auf solche Fragen zu antworten.
Zeuge: In meiner Aussage hat schon die Verneinung nung auch der letzten Frage gelegen.
Die Zeugen Oberst v. Oertzen, Oberst v. Pritzelwitz, Oberleutnant v. Stülpnagel, persönlicher Adjutant des Kronprinzen, Geh. Rat v. Valentini, Geh. Hofbaurat Ihne, Geh. Legationsrat Dr. Hammann, Major v. Zastrow, Assistent Sage, Sekretär Sommer, Hofmarschallamtsdiener Fiege erklärten übereinstimmend, daß ihnen von einem solchen oder ähnlichen Projekt nicht das geringste bekannt sei.
Die Beamten des Hofmarschallamts des Kronprinzen hielten es für ausgeschlossen, daß Kanzleipapier abhanden gekommen sei. Es sei ihnen nicht bekannt, daß der Kronprinz etwa gelegentlich Kanzleipapier zu Privatmitteilungen benutzt habe.
Hofmarschallamtsdiener Fiege erklärte noch auf Befragen, daß er ein Schreiben mit einem dem „Vorwärts“ –Artikel entsprechenden Inhalt niemals, weder von einem Angestellten des Hofmarschallamts noch von dem Kronprinzen zur Besorgung erhalten habe.
Redakteur Kurt Eisner („Vorwärts“) bekundete auf Befragen des R.-A. Liebknecht: Redakteur Leid sei bei der Prüfung aufzunehmender Artikel sehr vorsichtig und ängstlich und habe volle Machtvollkommenheit, Artikel da, wo sie ihm gefährlich erscheinen, im Ausdruck zu mildern. Auf Befragen der Verteidigung gab der Zeuge über die Entstehung des Artikels folgende Auskunft: In die Redaktion sei ein Dokument ment gelangt, das er selbst in Händen gehabt habe. Es sei ein Aktenstück mit durchaus amtlichem Charakter gewesen. Nach Form und Inhalt sei es außerordentlich charakteristisch gewesen. Es sei ein vierseitiger Quartbogen gewesen, von dem die erste Seite bis auf den Rand und den Kopf ausgeschnitten war. Der Kopf lautete: „Militärischer Begleiter Seiner Kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen“, dieses sei ausgestrichen und statt „militärischer Begleiter“ sei „Hofmarschallamt“ darunter geschrieben gewesen. Auf der dritten Seite des Bogens sei ein Teil eines in Kanzleischrift geschriebenen Briefes sichtbar gewesen; der Brief habe mitten im Satze begonnen. Der Inhalt sei etwa folgender gewesen: „Die Potsdamer Sache muß also vorläufig in der Schwebe bleiben. Was nun die Sicherheit für Se. Majestät betrifft, so ist Ihnen wohl vertraulich der Vorschlag zu unterbreiten, im Zuge der Döberitzer Heerstraße auf der Insel Pichelswerder für die ganze kaiserliche Familie ein Schloß zu erbauen.“ Es war dann die Rede davon, daß zu diesem Zwecke Privatbesitz expropriiert werden solle, daß der Besuch der Insel für jeden nicht ganz einwandfreien Besucher gesperrt werden solle. Dann folgte eine Mitteilung, daß ein besonderer Reichstagswahlkreis konstruiert werden und dadurch dafür gesorgt werden solle, daß der Sitz der kaiserlichen Familie nicht von einem Republikaner vertreten werden könne. Es wurden den mehrere Bezirke genannt, die zu einem Wahlkreis zusammengeschlossen werden könnten, und das Dokument schloß mit den Worten: „Was Ihren Vorschlag anbelangt, daß die Garderegimenter künftig nicht durch direkte Aushebung, sondern durch Elitetruppen ergänzt werden sollen.“ Die Unterschrift war gleichfalls ausgeschnitten. Auf dem Dokument habe sich noch eine handschriftliche, offenbar von dem Einsender des Dokuments herrührende Bemerkung vorgefunden, des Inhalts: „Um niemand zu kompromittieren, hat der Schreiber die Unterschrift und die Adresse in dem Dokumente ausgeschnitten.“ Als dann die Zeitungspolemik begann, habe derselbe Mann, der die handschriftliche Bemerkung gemacht hatte und eine sehr charakteristische Handschrift habe, in einer Stadtpostkarte der Redaktion mitgeteilt, daß sie näheres von Herrn v. Trotha und Herrn Ebhardt erfahren könne. Das am Kopf hingeschriebene Wort „Hofmarschallamt“ sei von derselben Kanzleihand geschrieben gewesen, wie der übrige Inhalt des Dokuments.
Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Wer ist nun der Gewährsmann, von dem Sie das Dokument erhalten haben?
Zeuge: Ich kann darüber keine Auskunft geben.
Oberstaatsanwalt: Sie können nicht, oder wollen nicht?
Zeuge: Ich will nicht.
Oberstaatsanwalt: Die Auskunft wird natürlich auch darüber verweigert, wo das Dokument geblieben ist?
Zeuge: Ja, ich verweigere darüber die Auskunft.
Oberstaatsanwalt: Sie hielten die Einsendung für echt?
Zeuge: Gewiß, ich hatte gar keinen Zweifel.
Oberstaatsanwalt: Hatte die Postkarte auch keine. Unterschrift?
Zeuge: Auch hierüber verweigere ich die Auskunft.
Hofmarschall v. Trotha erklärte auf Befragen, daß ihm von einem solchen Schriftstück, wie es der Zeuge skizziert habe, nicht das geringste bekannt sei.
Redakteur Wetzker („Vorwärts“) machte dieselbe Aussage, wie sein Redaktionskollege Eisner.
Oberstaatsanwalt: Ist Ihnen das Dokument per Post zugegangen?
Zeuge: Das weiß ich nicht. Ich hatte den Eindruck, daß derjenige, der die handschriftliche Bemerkung hinzugesetzt hatte, die Veröffentlichung wünschte.
Oberstaatsanwalt: Glaubten Sie, daß dies der Adressat, an welchen das Dokument gerichtet war, gewesen ist?
Zeuge: Darüber habe ich seinerzeit nicht nachgedacht.
Oberstaatsanwalt: Haben Sie nicht darüber nachgedacht, gedacht, ob das Schriftstück auf ehrliche Weise in Ihre Hände gekommen ist?
Zeuge: Ich verweigere darüber die Auskunft.
Oberstaatsanwalt: Trug das Schriftstück ein Datum?
Zeuge: Auch hierüber verweigere ich die Auskunft.
Auf Antrag des R.-A. Liebknecht wurden von den Zeugen Sage und Sommer Schriftproben gemacht und diese den beiden Redakteuren vorgelegt. Diese erklärten, daß ja diese Handschriften eine allen Kanzleihandschriften gemeinschaftliche Ähnlichkeit mit der Handschrift auf dem Dokument zeigen, aber keineswegs gesagt werden könne, daß es dieselbe Handschrift sei.
Auf weiteren Antrag der Verteidigung wurde noch ein Artikel der „Post“ verlesen.
Die Vereidigung der Zeugen Eisner und Wetzker wurde, „da sie der Teilnahme verdächtig seien“, abgelehnt.
Nach beendeter Beweisaufnahme nahm das Wort Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Es sei jetzt ein Sport gewisser Zeitungen, dem Kaiser die sogenannte Wahrheit zu sagen, allerdings in verhüllter und verklausulierter Weise. Wenn man den Kaiser treffen wolle, dann sage man, man wolle nur den Minister treffen oder man sage, man habe nur im allgemeinen vom Monarchen oder von verstorbenen Königen gesprochen. sprochen. Der „Vorwärts“ sei ja viel zu klug und werde viel zu gut redigiert – Herr Eisner habe auf dem Dresdener Parteitage darob ein Lob erhalten – die Redakteure des „Vorwärts“ seien viel zu klug, Seine Majestät direkt zu beleidigen, denn darauf stehe Gefängnis, aber sie wollen das, was sie auf dem Herzen haben, in einer verhüllten Form doch sagen. Daß bei der Auslegung solcher Äußerungen Zweifel aufkommen können, sei selbstverständlich. Der Gerichtshof solle sich aber nicht daran stoßen, daß das Kammergericht in einem Stadium des Verfahrens die Frage der Majestätsbeleidigung nicht für zweifelsfrei erachtet habe. Er glaube, jeden Zweifel so gründlich verscheuchen zu können, daß auch nicht einmal das beliebte Wort „in dubio pro reo“ Platz greifen könne, denn es gebe eben kein „in dubio“. Es handele sich einfach um die Frage, ob die Artikel auf Seine Majestät bezogen werden können. Dies müsse entschieden bejaht werden. Die Artikel sprechen von „Hofkreisen“, „Hofleuten“ usw. Was sei nun aber „Hof“? Etwa nur die nähere Umgebung Seiner Majestät? Die Hofmarschälle und Hofbeamten? Die Verteidigung habe den Begriff ausgedehnt auf das Militär- und Zivilkabinett. Wenn man von Hofkreisen spreche, könne Se. Majestät als das Haupt des Hofes unmöglich ausgeschlossen werden. Wenn man beispielsweise davon spreche, daß man in „Theaterkreisen“ beabsichtige, sichtige, ein Stück – vielleicht Maria von Magdala – aufzuführen, so werde doch kein Mensch an den Plan irgendwelcher Schauspieler, sondern an die maßgebenden Kreise der Theaterleiter und Regisseure denken. Es gebe vier Gesichtspunkte, von denen aus die Artikel betrachtet werden können: Entweder es sei wirklich nur ein Plan mitgeteilt, der in Hofkreisen ohne Kenntnis Seiner Majestät besprochen worden, oder aber ein solcher Plan, zu dem der Kaiser noch keine Stellung genommen habe, oder aber ein Plan, der von Seiner Majestät bereits gebilligt worden sei, oder endlich ein Plan, der schon besteht und sich der vollsten Zustimmung Seiner Majestät versichert halten könne. Die beiden ersteh würden keine, die beiden letzten aber schwere Majestätsbeleidigungen enthalten. Die beiden ersten Möglichkeiten scheiden gänzlich aus. Der „Vorwärts“ in seiner souveränen Stellung dem Hofe gegenüber würde sich um einen bloßen unpolitischen Hofklatsch gewiß nicht kümmern. So etwas würde, in ein hochpolitisches Blatt gar nicht, sondern vielleicht in den „Ulk“ oder die „Fliegenden Blätter“ gehören. Wer den Charakter und die ganze Persönlichkeit unseres Kaisers kenne, der werde und könne unmöglich glauben, daß ein solches Projekt in seiner nächsten Umgebung ventiliert werden könnte, ohne daß der Kaiser eine ganz bestimmte Stellung zu einem solchen Plan nähme. Es komme hinzu, daß es sich um etwas handle, was nicht bloß die Regierung, sondern die ganze kaiserliche Familie angehe. Zur Durchführung eines solchen Planes hätte nicht bloß eine Person, sondern eine ganze Reihe von Personen mitwirken müssen, denn es kommen die verschiedensten Ressorts dabei in Betracht. Von alledem sollte der Kaiser nichts wissen? Nein, der Artikelschreiber habe es so dargestellt, als ob der Kaiser den angeblichen Plan schon genehmigt habe, oder als ob die Genehmigung nicht zweifelhaft sei. Es sei bekannt, daß Se. Majestät ein besonderes Interesse für die große Döberitzer Heerstraße stets bekundet habe. In dem inkriminierten Artikel werde nun u.a. gesagt: die Heerstraße findet erst ihre Erklärung in dem „Schloßbauprojekt“. Dies zeige deutlich, daß der Artikel direkt auf den Kaiser gemünzt sei. Wenn weiter gesagt werde: „Die Hofleute haben nicht einmal an den Reichstag gedacht“, so werde damit implicite gesagt: der Kaiser habe schon zugestimmt. Man habe in dem Artikel die volle Zustimmung des Kaisers zu dem Plan hervorheben wollen, und es sei nicht möglich, sich mit der Behauptung vorbeizudrücken, man habe den Kaiser nicht gemeint, sondern seine Ratgeber. Die Behauptung, die der Artikel enthalte, stelle aber eine schwere Majestätsbeleidigung dar, denn sie suche die Ansicht zu erregen, daß der Monarch in bloßer Furcht vor der Revolution, in ernster Sorge um seine Sicherheit merkwürdigen Plänen zuneige, daß er daran denke, sich vor dem Ansturm der Revolution in Sicherheit zu bringen. Das sei eine grobe Beleidigung für den Monarchen, der mit fester Hand das Steuer des Staatsschiffes lenke, einer Persönlichkeit gegenüber, wie unserem Kaiser, der bis jetzt noch nie die geringste Absicht zu erkennen gegeben habe, sich vor seinem Volke abzuschließen, der sich fast täglich seinem Volke zeige, seine Spaziergänge im Tiergarten mache. Von einem solchen Monarchen werde behauptet, er traue nicht mehr seinem Volke und auch nicht mehr seinem Heere. Wenn solche Pläne wirklich gefaßt würden, dann würde das allerdings an Tiberius erinnern, der sich bekanntlich auf Anraten der Prätorianer auf die Insel Capreae zurückgezogen habe. Ähnliches werde hier dem Kaiser angedichtet. Nach dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme könne kein Zweifel sein, daß eine bloße Erfindung vorliege. Es sei auch nicht das geringste Körnchen Wahrheit vorhanden. Erwäge man auch nur, durch welchen Schmutzkanal die Behauptung in die Öffentlichkeit gedrungen sei. Der Gewährsmann der Angeklagten bestand lediglich aus einem Stück Papier, auf welchem Adresse und Unterschrift abgeschnitten war! Auf dieses Beweismaterial hin sei eine so schwerwiegende und aufsehenerregende Behauptung in die Welt geschleudert worden. Das sei mehr wie leichtfertig, das sei böswillig. Die Angeklagten kennen den wirklichen Gewährsmann, aber sie nennen ihn nicht. War das Schriftstück echt, dann war der Mann, an den es gerichtet gewesen, der Gewährsmann, und dieser würde sich des schmählichsten Vertrauensbruches schuldig gemacht haben. Andernfalls würde das Papier gestohlen worden sein. Man könne wohl annehmen, daß der „Vorwärts“ getäuscht worden, daß er einem Witzbold zum Opfer gefallen sei. Aber es sei traurig, daß sich die Angeklagten so leicht täuschen ließen. Es sei ganz zweifellos, beim lesenden Publikum sollte der Eindruck hervorgerufen werden, daß mit dem Artikel der Kaiser selbst getroffen werden sollte. Das beweisen auch viele Äußerungen in der Presse. Er gebe zu, daß die Presse ziemlich einmütig gegen das Einschreiten der Staatsanwaltschaft in vorliegendem Falle sich ausgesprochen habe. Da sei nicht verwunderlich, denn die Presse werde in solchen Fällen immer unter dem Eindruck stehen: res tua agitur! Nebenbei bemerkt, sei es in früheren Jahren eine gute Preßsitte gewesen, über schwebende Strafsachen sich der Kritik zu enthalten. Die Presse habe aber in vielen Fällen durchaus seine Ansicht geteilt, daß die Artikel direkt auf den Kaiser gemünzt seien. Majestätsbeleidigung liege also vor. Was die Frage des groben Unfugs betreffe, so sei ihm dieses Kapitel etwas peinlich, weil er als Jurist auf möglichste Einschränkung schränkung der Nr. 11 des § 360 StGB. bzw. der Interpretation dieser Gesetzesbestimmung hingearbeitet habe. Er stelle die Entscheidung in diesem Punkte dem Gerichtshofe anheim. Daß der zweite Angeklagte wegen der Behauptung, Herr v. Trotha leide entweder an einer beunruhigenden Gedächtnisschwäche oder habe sich einer Ableugnung wider besseres Wissen schuldig gemacht, strafbar sei, bedürfe keiner weiteren Ausführung. Die Stellung der Strafanträge werde ihm (Oberstaatsanwalt) nicht leicht, denn auch ei sei ein Gegner des § 95. Aber da dieser Paragraph nun einmal bestehe, habe die Staatsanwaltschaft auch die Pflicht, ihn vorkommendenfalls anzuwenden. Er erinnere dabei an den Franzosen, der bei der Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe sagte: Wenn nur die Herren Mörder anfangen würden, ihrerseits mit der Todesstrafe aufzuhören. So würde der Majestätsbeleidigungs-Paragraph zu entbehren sein, wenn die Herren Journalisten mit Majestätsbeleidigungen aufhörten. Er sei überzeugt, daß das Gericht das Urteil mit der Ruhe und Sorgsamkeit, die man bei preußischen Richtern gewohnt sei, fällen werde. Er beantrage gegen Leid, der in schwerer ökonomischer Abhängigkeit von seinen Brotgebern sich befinde und nicht wesentlich vorbestraft sei, neun Monate Gefängnis und, da Leid Stadtverordneter sei, auch den Verlust der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte, gegen Kaliski vier Monate Gefängnis, außerdem die Publikation des Urteils im „Vorwärts“, in der „Breslauer Volkswacht“, der „Frankfurter Volksstimme“, im „Volksblatt für Halle“, im „Volkswille“ zu Hannover, im Hamburger „Echo“, in der „Rheinischen Zeitung“ zu Köln, der Magdeburger „Volksstimme“, der „Kreuzzeitung“, dem „Berliner Tageblatt“ und dem „Berl. Lokal-Anzeiger“.
Der Verteidiger, R.-A. Dr. Karl Liebknecht suchte in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß das Kaiserinselprojekt von der Redaktion des „Vorwärts“ nicht erdichtet worden sei, sondern alle Umstände dafür sprächen, daß der Redaktion ein Schriftstück vorgelegen habe, das sich zum wenigsten äußerlich als ein amtliches charakterisiert habe. Von einer Majestätsbeleidigung könne keine Rede sein. Der Artikel wende sich in erster Linie gegen die sogenannte Scharfmacherclique, die bei dem Kaiser die Ansicht zu verbreiten suche: es könnten ihm aus irgendeiner Volksbewegung Gefahren erwachsen! Daß der Kaiser, der die verschiedensten Dienstgeschäfte zu erledigen habe und kaum Zeit finde, eine Zeitung vollständig zu lesen, auf Informationen angewiesen sei, sei ganz selbstverständlich. Auch im einzelnen sei in den Artikeln keine Majestätsbeleidigung enthalten. Es sei vollständig falsch, anzunehmen, die Sozialdemokratie habe eine Vorliebe für Majestätsbeleidigungen. Dies erinnere ihn an die Christenverfolgungen unter Nero. Die Sozialdemokratie kämpfe nicht gegen Personen, sondern gegen das System. Der „Vorwärts“ habe mehrfach vor der Begehung von Majestätsbeleidigungen gewarnt. Wenn trotzdem so verhältnismäßig viel Majestätsbeleidigungen begangen werden, so verschulde dies der Umstand, daß jeder Mensch, mit Rücksicht auf den § 95 des Strafgesetzbuches, den Staatsanwalt fürchte, wenn er nur vom Kaiser spreche. Deshalb werden vielfach andere Namen genannt, um den Kaiser zu bezeichnen. Von einer öffentlichen Beunruhigung könne gewiß in den Artikeln keine Rede sein. Bezüglich der angeblichen Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha sei dem Angeklagten Kaliski zum mindesten der § 193 des Strafgesetzbuches (Wahrnehmung berechtigter Interessen) zuzubilligen, denn der „Vorwärts“ sei genötigt gewesen, sich zu rechtfertigen. Man werde nicht leugnen können, daß der „Vorwärts“ das Schriftstück erhalten habe von einer intriganten Persönlichkeit, die zweifellos den Hofkreisen näherstehe als der „Vorwärts“. Die Schale des Zornes müsse sich daher gegen diese intrigante Persönlichkeit richten, die vielleicht weniger die Absicht hatte, den „Vorwärts“ hineinzulegen, als ihrem Unmut über gewisse Vorgänge Ausdruck zu geben. Wenn die Entrüstung sich gegen diese Persönlichkeit richte, dann habe dies seine Zustimmung. Der Verteidiger diger schloß mit dem Antrage auf Freisprechung beider Angeklagten, eventuell seien dem Angeklagten Kaliski mildernde Umstände zuzubilligen.
Verteidiger Reichstags-Abg. R.-A. Haase, Königsberg i. Pr.: Der Herr Oberstaatsanwalt habe an das monarchische Gefühl der Richter appelliert. Es sei das um deswillen sehr gefährlich, da der Richter sich bei der Urteilsfindung nicht von persönlichem Gefühl leiten lassen solle, sondern Pflicht der Richter sei es, leidenschaftslos und ohne Ansehen der Person sachlich zu prüfen und darauf das Urteil aufzubauen. Der Herr Oberstaatsanwalt sagte: Es sei Mode geworden, in verhüllter Form den Kaiser zu beleidigen. Der Herr Oberstaatsanwalt erkannte aber gleichzeitig an, daß gegen den „Vorwärts“ schon seit vielen Jahren keine Majestätsbeleidigungs-Anklage geschwebt habe. Soweit er den Herrn Oberstaatsanwalt heute kennengelernt habe, wäre es diesem ein leichtes gewesen, durch die Schleier, in die der „Vorwärts“ seine Majestätsbeleidigungen hüllen könnte, zu blicken. Daß dies nicht geschehen, sei doch der beste Beweis, daß der „Vorwärts“ nicht zu den Zeitungen gehöre, die mit Vorliebe in verhüllter Form Majestätsbeleidigungen begehen. Wenn man sich an den Wortlaut des inkriminierten Artikels halte und der Sprache nicht Gewalt antue, dann könne man in dem Artikel keine Majestätsbeleidigung finden. Selbst ein Blatt wie die „Tägliche Rundschau“ habe ausgeführt: es sei in dem Artikel beim besten Willen keine Majestätsbeleidigung zu erblicken. Sachlich enthalte der Artikel keine Beleidigung. Der Angeklagte Leid habe auch nicht den Dolus der Majestätsbeleidigung gehabt. Die politische Gesinnung des Angeklagten könne nicht in Betracht kommen. Daß in dem zweiten Artikel objektiv eine Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha enthalten sei, könne nicht geleugnet werden. Dem Angeklagten Kaliski stehe aber zweifellos der § 193 des StGB. zur Seite. Da aber aus der Form nicht die Absicht der Beleidigung hervorgehe, so müsse die Freisprechung erfolgen. Der Herr Oberstaatsanwalt habe bei Erörterung der Strafabmessung auf den groben Vertrauensbruch hingewiesen. Dies Argument könne aber hier nicht in Betracht kommen, da man den Gewährsmann des „Vorwärts“ gar nicht kenne. Der Verteidiger kam zu dem Schluß, daß beide Angeklagte freizusprechen seien.
Vert. R.-A. Dr. Max Lewi ersuchte den Gerichtshof, ein freisprechendes Urteil zu sprechen, damit man nicht auf den Gedanken kommen könnte, es handle sich um einen Tendenzprozeß. Es sei wohl möglich, daß eine Hofintrige vorliege, jedenfalls haben die Redakteure des „Vorwärts“ in gutem Glauben gehandelt. Ihre Angriffe haben sich gegen die Hofkamarilla gerichtet, eine Majestätsbeleidigung habe dem Artikelschreiber ferngelegen. Er beantrage ebenfalls die Freisprechung, beider Angeklagten.
Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel erwiderte: Trotz aller Beredsamkeit der Verteidiger sei es diesen nicht gelungen, den Beweis zu führen, daß sich die Angriffe nur gegen die Hofkamarilla und nicht gegen den Kaiser richteten. Dem Vert. R.-A. Dr. Liebknecht müsse er erwidern, daß er (Oberstaatsanwalt) einen politischen oder Tendenzprozeß nicht kenne. Das Dilatorentum, von dem R.-A. Liebknecht sprach, treffe ganz besonders auf den „Vorwärts“ zu. Der „Vorwärts“ sei im vollsten Sinne des Wortes schon zur öffentlichen Beschwerdeinstanz geworden. Man beschwere sich jetzt nicht nur bei den behördlichen Instanzen, sondern bei dem „Vorwärts“, der jede Beschwerde und Verdächtigung von Behörden bereitwilligst aufnehme. Die Staatsanwälte werden oft genug mit Briefen bedacht, in denen ihnen gedroht werde, daß über sie bei dem „Vorwärts“ Beschwerde geführt werden würde. Am erstaunlichsten sei es, daß für den Angeklagten Kaliski der Schutz des § 193 in Anspruch genommen werde. Auf einen solchen Gedanken sei er noch nicht gekommen, sonst würde die Presse die angenehme und bequeme Aufgabe haben, einfach eine Behauptung aufzustellen und dann zu sagen, daß man in der Wahrnehmung berechtigter Interessen Aufklärung verlange.
In längerer Erwiderung kam R.-A. Dr. Liebknecht zu dem Schlusse, daß aus dieser ganzen Affäre die Angeklagten makellos hervorgehen. Wenn sie mystifiziert worden seien, so würde die alleinige Schuld und Verantwortlichkeit denjenigen treffen, der sie getäuscht habe.
R.-A. Haase vertrat nochmals den Standpunkt, daß § 193 auf den Angeklagten Kaliski Anwendung finde. Wenn der Oberstaatsanwalt sage: auf diesen Gedanken sei er nicht gekommen, so zeige das eben, wie verschieden die Ansichten über denselben Gegenstand seien. Der Angeklagte Leid sei auch nicht auf den Gedanken gekommen, daß er eine Majestätsbeleidigung begangen habe.
Angeklagter Leid wandte sich mit großer Entschiedenheit gegen die Ansicht, die der Oberstaatsanwalt über die Stellung eines verantwortlichen Redakteurs beim „Vorwärts“ habe. Es sei grundfalsch, daß ein solcher ein willenloses Werkzeug in der Hand der leitenden Redakteure sei. Er könne versichern, daß er vollkommen die Befugnis hatte, Artikel, die ihm bedenklich schienen, zurückzuweisen.
Nach sehr langer Beratung erkannte der Gerichtshof vollständig dem Antrage des Oberstaatsanwalts entsprechend. Der Vorsitzende führte in der Urteilsbegründung aus, es liege zweifellos eine Majestätsbeleidigung und eine Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha vor. Strafschärfend fiel die Schwere der Beleidigung ins Gewicht. Strafmildernd kam in Betracht, daß die Redaktion des „Vorwärts“ nach Ansicht des Gerichtshofes dupiert worden sei. Der § 193 konnte dem Angeklagten Kaliski nicht zugebilligt werden.
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BearbeitenEin Dompropst vor Gericht
Erfahrenen Kriminalisten ist es hinlänglich bekannt, daß Sittlichkeitsvergehen ausnahmslos von allen Gesellschaftsklassen begangen werden. Es berührt selbstverständlich ungemein peinlich, wenn Geistliche oder Lehrer vor den Schranken der Justitia erscheinen müssen, um sich wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen mit Schülern oder Schülerinnen zu verantworten. Gelegenheit macht aber nicht nur Diebe, es verleitet auch wohl gewissermaßen zu sittlichen Verfehlungen. Ich bin weit entfernt, unsittliche Handlungen irgendwie entschuldigen zu wollen. Im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß eine strenge Ahndung notwendig ist, wenn ein Gebildeter und gar erst ein Geistlicher oder Lehrer sich an Kindern vergeht. Allein vom menschlichen Standpunkt wird man Geistlichen und Lehrern mildernde Umstände nicht ganz versagen können, wenn man die günstige Gelegenheit in Erwägung zieht. Tout comprendre, c’est tout pardonner (alles verstehen, heißt alles verzeihen), dieser Grundsatz sollte insbesondere bei sittlichen Verfehlungen nicht außer acht gelassen werden. Es wäre vollständig falsch, wenn man behaupten wollte: der Stand der Geistlichen und Lehrer neige besonders zu sittlichen Verfehlungen. Ebenso wie es verfehlt wäre, eine politische tische Partei für die Straftat eines oder einiger ihrer Zugehörigen verantwortlich zu machen, so ist es im höchsten Grade verwerflich, einer Glaubensgemeinschaft die Straftaten eines ihrer Zugehörigen irgendwie zur Last zu legen. Ich habe es auch gemißbilligt, daß, als im Jahre 1874 der katholische Böttchergeselle Kullmann in Kissingen auf den deutschen Reichskanzler, Fürsten v. Bismarck, schoß, der Versuch unternommen wurde, diese ruchlose Tat den Katholiken bzw. der deutschen Zentrumspartei an die Rockschöße zu hängen. Aber ebenso zu mißbilligen war es, daß man die Sozialdemokraten für die Verbrechen der Attentäter Hödel und Nobiling, die bekanntlich im Sommer 1878 auf den damals 81jährigen Kaiser Wilhelm I. geschossen haben, verantwortlich machte. Das war um so verwerflicher, da beide Attentäter mit der Sozialdemokratie keinerlei Beziehungen hatten. Nicht minder verwerflich war es, daß gewisse Elemente in Rußland für die Ermordung des russischen Ministerpräsidenten Stolypin im Theater zu Kiew durch den Polizeispitzel Bagarow die Juden verantwortlich machen wollten, weil der Mörder zufällig jüdischer Abstammung war. Ohne das energische Auftreten des russischen Kaisers wäre aus Anlaß dieses Mordes ein Judenmassaker in Kiew und anderen russischen Städten wohl unausbleiblich gewesen. Es ist ein häßliches Zeichen der Zeit, daß selbst Gebildete die Entartungen gen einzelner wohl nicht deren Familien entgelten lassen, aber geneigt sind, politische Parteien und religiöse Gemeinschaften für Verbrechen einzelner verantwortlich zu machen. Selbstverständlich berührte es ungemein peinlich, als sich Anfang April 1905 vor der zweiten Strafkammer des Großherzoglichen Landgerichts zu Mainz der Wormser Dompropst Malzi wegen Sittlichkeitsverbrechens, vorsätzlicher Körperverletzung, in idealer Konkurrenz mit Nötigung, auf Grund der §§ 174 Abs. 1, 176 Abs. 3, 240 und 223 des Strafgesetzbuches verantworten mußte. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Zimmermann. Die Großherzogliche Staatsanwaltschaft vertrat Oberstaatsanwalt Dr. Schmidt. Die Verteidigung hatte der Reichstagsabgeordnete, Justizrat Dr. Schmitt (Mainz) übernommen. Der Angeklagte, Dompropst Malzi, 1865 zu Darmstadt geboren, war eine stattliche, sympathische Erscheinung. Sein Äußeres und seine Haltung ließen auf den ersten Blick den hohen katholischen Würdenträger erkennen. Nach Verlesung des Anklagebeschlusses stellte der Vorsitzende an den Oberstaatsanwalt die Frage, ob er einen Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit zu stellen habe.
Oberstaatsanwalt: Ich habe keinen Anlaß, einen solchen Antrag zu stellen. Es werden in der Verhandlung kaum Dinge zur Sprache kommen, die eine Gefährdung fährdung der öffentlichen Sittlichkeit besorgen lassen.
Vert. J.-R. Dr. Schmitt: Ich bin vollständig der Ansicht des Herrn Oberstaatsanwalts. Ich bin aber auch deshalb gegen den Ausschluß der Öffentlichkeit, da alsdann in der Öffentlichkeit die Ansicht Platz greifen konnte, der Herr Angeklagte habe Dinge begangen, die das Tageslicht zu scheuen haben. Die Verhandlung könnte jedoch ergeben, daß dies durchaus nicht der Fall sei.
Angekl.: Ich bitte ebenfalls den hohen Gerichtshof, die Öffentlichkeit nicht auszuschließen. Anderenfalls wird in der Außenwelt die Meinung entstehen, ich hätte Dinge begangen, die nicht öffentlich verhandelt werden dürfen.
Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, die Öffentlichkeit auszuschließen, da hier doch Dinge erörtert werden müssen, wodurch eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu besorgen ist. Der Zuhörerraum ist zu räumen.
Auf Antrag eines Wormser Zeitungsberichterstatters beschloß der Gerichtshof, den Vertretern, der Presse den Zutritt zu gestatten.
Es wurde hierauf der Angeklagte vernommen. Er erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei vollständig unschuldig. Es sei seine Pflicht als Seelsorger und Religionslehrer, darüber zu wachen, daß seine Schüler und Schülerinnen nicht unsittliche Dinge begehen. Es sei ihm aber von glaubwürdiger Seite mitgeteilt worden, daß zwei seiner Schülerinnen mit einem seiner Religionsschüler, einem vierzehnjährigen Knaben, Unzucht treiben. Er habe deshalb die Mädchen in energischer Weise zur Rede gestellt. Da sie beharrlich leugneten, habe er den Knaben zu sich in die Kirche bestellt. Dieser habe ebenfalls geleugnet. Nachdem er ihm aber ein paar Ohrfeigen gegeben, habe er alles zugestanden. Er habe alsdann den Knaben genötigt, seine Aussage nach Diktat niederzuschreiben, um dadurch die Mädchen zu einem Geständnis zu bewegen. Letztere haben schließlich nach längerem Weigern das Diktat durch Unterschrift bestätigt. Nach geschehener Unterschrift habe Katharina Zimmermann gesagt: Wir haben wohl unterschrieben, es ist aber alles erlogen. Daraufhin habe er dem Mädchen ein paar Ohrfeigen gegeben. Die Grenzen des ihm zustehenden Züchtigungsrechts habe er aber nicht überschritten.
Es wurde darauf der 15jährige Handlungslehrling Franz Werner als Zeuge aufgerufen. Er bestritt, mit den beiden Mädchen Ungehörigkeiten begangen zu haben. Da er, vom Propst zur Rede gestellt, dies bestritten, habe ihn der Propst geohrfeigt und ihn genötigt, ein Schriftstück zu unterschreiben. Er wisse aber nicht, was er unterschrieben habe.
Arbeiter Werner, Vater des Franz Werner, bekundete als Zeuge: Sein Sohn sei ein sehr braver Junge. Er glaube nicht, daß er in unzüchtiger Weise mit Mädchen verkehrt habe. Der Knabe erzählte, er sei infolge der Schläge so eingeschüchtert gewesen, daß er zu allem ja gesagt habe. Er habe etwas unterschreiben müssen, er wisse aber nicht, was er unterschrieben habe. Als der Knabe nach Hause kam, befand er sich infolge der vielen und heftigen Schläge in einem Zustande, daß er nicht wußte, was er tat.
Vors.: Sie haben gegen den Propst Strafantrag gestellt?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Sie haben aber trotzdem Ihren Sohn immer noch angehalten, beim Herrn Propst die Messe zu besuchen?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Ihr Sohn soll von seinem Prinzipal entlassen worden sein, weil sich Unregelmäßigkeiten ergeben hatten?
Zeuge: Das ist unwahr.
Vert: Ist es wahr, daß Sie zu dem Herrn Propst gesagt haben, Sie werden Ihren Sohn auch noch züchtigen?
Zeuge: Das ist richtig, ich glaubte eben, mein Sohn habe sich vergangen.
Vors.: Als Ihr Sohn von dem Herrn Propst gezüchtigt tigt wurde, hatten Sie da schon gehört, daß der Herr Propst mit den Mädchen Unsittlichkeiten begangen habe?
Zeuge: Nein, das habe ich erst später gehört.
Frau Werner, Gattin des Vorzeugen, bekundete: Eines Tages kam ihr Sohn Franz heftig weinend nach Hause und klagte: Der Propst habe ihn furchtbar geschlagen, weil er mit Mädchen unanständige Dinge begangen habe, das sei aber nicht wahr. Der Propst hatte dem Knaben einen Zettel mitgegeben: „Ihr Sohn hat unanständigen Verkehr mit Mädchen unterhalten, ich bitte aber, ihn nicht übermäßig zu bestrafen.“
Vors.: Trauen Sie Ihrem Sohne das Treiben solcher Dinge zu?
Zeugin: Es ist mein Kind, ich kann versichern, ich traue es dem Jungen nicht zu.
Vors.: Ist es ein ordentlicher, wahrheitsliebender Knabe?
Zeugin: Ja, durchaus. Ich habe den Knaben befragt, wessen ihn der Propst eigentlich beschuldige. Der Knabe hat sich geniert, mir dies zu erzählen.
Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bekundete die Zeugin: Ihr Sohn habe einmal ein Gedicht mitgebracht, das er von anderen Kindern erhalten habe. Es war das ein Gedicht über den Propst.
Handlungslehrling Karl Feucht: Franz Werner habe ihm erzählt, der Propst habe ihn heftig geschlagen gen und ihn bezichtigt, mit Mädchen unanständigen Verkehr unterhalten zu haben. Er glaube nicht, daß Franz Werner so etwas getan habe.
Handlungslehrling Alexander Hohmann: Der Propst habe ihn gefragt, ob ihm bekannt sei, daß Franz Werner mit Mädchen unzüchtigen Verkehr unterhalten habe. Es sei ihm aber nicht das geringste bekannt gewesen.
Auf Befragen des Verteidigers äußerte der Zeuge: Als er Werner sagte, er sei zum Propst bestellt worden, versetzte Werner, er sei auch bestellt worden. Werner sagte: Du brauchst beim Propst nicht alles zu sagen.
Vors.: Wußten Sie, daß Werner bekannt war, weshalb Sie zum Propst bestellt waren?
Zeuge: Er sagte, ich weiß, weshalb ich bestellt bin.
Vors.: Hallen Sie die Empfindung, daß Werner auch wußte, weshalb Sie bestellt seien?
Zeuge: Jawohl.
Oberstaatsanwalt: Angeklagter, wie kamen Sie dazu, auf der Grundlage von Hohmann und Zindel, die beide nichts wissen, dem Franz Werner und den Mädchen auf den Kopf zuzusagen, sie hätten sich geküßt und unsittlich verkehrt?
Angekl.: Die Knaben sagten, sie haben etwas gehört.
Oberstaatsanwalt: Weshalb bestellten Sie Zindel zweimal zu sich?
Angekl.: Ich wollte doch etwas herausbekommen.
Handlungslehrling Friedrich Zindel: Der Dompropst habe ihn auch in eingehender Weise über den Verkehr des Werner mit den Mädchen befragt, er habe aber nicht das mindeste davon gewußt.
Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bemerkte der Zeuge: Der Dompropst sagte: Er habe die Mädchen schon vernommen, diese haben ein Geständnis abgelegt, er solle nur auch sagen, was er wisse.
Oberstaatsanwalt: Haben Sie dem Propst nicht gesagt, Sie hätten gehört, Franz Werner laufe den Mädchen nach?
Zeuge (nach längerem Zögern): Ja.
Vors.: Hattest du sonst etwas von Franz Werner gehört?
Zeuge: Nein.
Vors.: Hat dich der Propst aber nach Schweinereien gefragt, die Werner begangen haben sollte?
Zeuge: Jawohl.
Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bekundete Zeuge Hohmann: Der Dompropst habe gesagt: Die Sache ist fertig, die Mädchen haben schon gestanden. Sage also alles, was du weißt. Er habe aber nichts gewußt.
Zindel gab auf Befragen zu: Werner habe einem Mädchen für zwei Mark ein „Christkindche“ gekauft. Werner habe häßliche Redensarten geführt.
Vors.: Was waren das für häßliche Redensarten?
Zeuge: „Grad aus dem Wirtshaus komm ich heraus.“ (Heiterkeit.)
Werner bestritt, einem Mädchen für zwei Mark ein „Christkindche“ gekauft zu haben. Ebenso sei es unwahr, daß er dem Zeugen vorgemacht habe, wie er Äpfel stehle. Er gebe zu, dem Zeugen bisweilen etwas erzählt zu haben, um zu renommieren.
Lehrer Mattheus: Werner sei ein gut veranlagter Schüler und durchaus wahrheitsliebend gewesen.
Fabrikarbeiter Gruhn bestätigte, daß Werner ein sehr ehrlicher Mensch sei.
Werner gab schließlich nach längerem Zögern als möglich zu, daß er zu Hohmann gesagt habe: Er wisse schon, was der Propst wolle.
Kaufmann Ludwig Meyer: Er habe Werner wegen verschiedener Nachlässigkeiten eine Ohrfeige gegeben. Darauf sei Werner ihm entlaufen. Er könne aber über ihn nichts Nachteiliges sagen.
Handlungslehrling Möbius: Er sei Werner einmal in Gesellschaft eines Mädchens begegnet, er wisse aber nicht, ob Werner mit dem Mädchen unanständige Dinge getrieben habe.
Handlungslehrling Andres: Werner habe ihm erzählt, er habe das Schriftstück bei dem Propst unterschrieben, weil er infolge der heftigen Schläge ganz verwirrt gewesen sei. Er wisse nicht, was er unterschrieben habe. Werner habe ihm erzählt: Der Dompropst hätte ein Sittlichkeitsattentat auf die Mädchen unternommen.
Kreis-Assistenzarzt Dr. Fresenius: Eines Tages kam Schuhmachermeister Zimmermann zu mir mit seiner Tochter und sagte: Seine Tochter sei vom Dompropst heftig geschlagen worden, weil das Mädchen ein ihr vorgelegtes Schriftstück nicht habe unterschreiben wollen. Er möchte gern seine Tochter aus dem Schulunterricht von dem Dompropst befreien. Er habe das Mädchen untersucht und dem Mann den Rat gegeben, entweder bei der Staatsanwaltschaft oder der Kreisschulkommission Anzeige zu erstatten.
Dem von dem Kreisarzt ausgestellten Attest war zu entnehmen, daß dieser am 20. Januar 1905 die kleine Zimmermann untersucht hatte. Nach dem Befund muß das Mädchen einen sehr heftigen Schlag auf den Kopf erhalten haben, so daß sie über das Sofa hinüber mit dem Kopf an die Wand geprallt sei. Das Mädchen habe, obwohl die Mißhandlung am 17. Januar stattgefunden, noch am 20. Januar sehr heftige Kopfschmerzen gehabt. Durch die Ohrfeigen seien dem Kinde die Ohrringe herausgefallen. Die Ohrmuscheln seien grün und blau unterlaufen und dick angeschwollen gewesen. Die Verletzungen entsprachen vollständig den Angaben über die Mißhandlungen.
Polizeikommissar Fischer (Worms): Er habe Nachforschungen über die Familien Werner und Zimmermann vorgenommen und nichts Nachteiliges erfahren. Auch über den Handlungslehrling Werner habe er nichts Nachteiliges erfahren.
Oberstaatsanwalt: Ist es richtig, daß in jüngster Zeit mehrfach Gebetsversammlungen für Freisprechung des Dompropstes Malzi stattgefunden haben?
Zeuge: Jawohl.
Oberstaatsanwalt: Danach scheint man in der Wormser katholischen Gemeinde nicht an die Schuld des Dompropstes zu glauben?
Zeuge: So ist es.
Polizeisekretär, Resch (Worms): Es sei ihm einmal berichtet worden, ein geistlicher Herr habe eines Tages auf der Straße in auffallender Weise ein Schulmädchen verfolgt. Die Beschreibung paßte auf den Dompropst Malzi. Er könne nicht genau sagen, ob der Propst zugegeben, die Zimmermann geküßt zu haben.
Vors.: Ich glaube, der Angeklagte hat zugegeben, daß er die Zimmermann geküßt habe.
Oberstaatsanwalt: Das hat der Angeklagte nicht zugegeben, zugegeben hat er nur, daß er die Zimmermann gestreichelt und diese dabei den Kopf in den Nacken geworfen habe.
Polizeisekretär Resch: Ich kann nicht genau sagen, ob der Angeklagte das Küssen der Zimmermann zugegeben hat, jedenfalls hat die Zimmermann ihrer Freundin Metzger erzählt: Der Propst habe sie aufs Sofa geworfen, geküßt und eine Handbewegung gemacht, deren Wiedergabe aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben muß. (Der Verfasser.) Der Zeuge bekundete noch: Er habe zu der Metzger gesagt: Du bist ja auch oftmals bei dem Dompropst gewesen, hat er auch mit dir etwas vorgehabt? Die Metzger sei darauf feuerrot geworden und habe geschwiegen.
Unter allgemeiner Spannung erschien darauf Katharina Zimmermann als Zeugin. Es war ein sehr hübsches, kleines Mädchen. Sie gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Sie sei am 28. Februar 1891 geboren und sei die Tochter des Schuhmachermeisters Zimmermann. Der Dompropst habe sie einmal gefragt, ob sie den Franz Werner kenne und ob sie mit ihm Verkehr habe.
Vors.: Kanntest du Franz Werner?
Zeugin: Ja, ich wußte, daß er Franz Werner heißt.
Vors.: Hat der Propst gesagt, was für einen Verkehr du mit Franz Werner unterhalten haben sollst?
Zeugin: Nein.
Die Zeugin bekundete ferner: Der Propst habe sie alsdann gefragt, ob ihr bekannt sei, daß Werner mit der Hedwig Schmidt verkehrt habe. Sie habe das auch verneint. Darauf habe der Propst gesagt: Gestehe, daß du mit Werner verkehrt hast, Werner hat es bereits gestanden und unterschrieben. Wenn du nicht gestehst, du Heuchlerin, dann kommst du ins Gefängnis oder in eine Besserungsanstalt, in der du bis zu deinem 20. Lebensjahr bleiben mußt. Sie habe geantwortet: Was Werner gesagt hat, ist nicht wahr. Dabei habe sie geweint. Daraufhin habe der Propst sie aufgefordert, das Zimmer zu verlassen und die Hedwig Schmidt vernommen. Nach einiger Zeit habe er sie wieder hereingerufen und sie wiederum aufgefordert, zu gestehen und den Zettel zu unterschreiben, den Werner schon unterschrieben habe. Sie habe nach längerem Weigern schließlich unterschrieben, zumal der Propst sagte, die Schmidt habe eingestanden und auch den Zettel unterschrieben. Als sie unterschrieben hatte, habe sie gesagt: Ich habe unterschrieben, aber es ist gelogen. Daraufhin habe der Propst sie heftig auf den Kopf geschlagen. Alsdann habe der Propst die Schmidt hinausgeschickt, sie an sich gezogen und sie gefragt: Habe ich dir weh getan? Als sie dies verneinte, habe sie der Propst zweimal geküßt. Darauf habe er sie angefaßt, sie auf das Sofa gelegt und gesagt: Jetzt tust du mit mir, was du mit Werner getan hast. (Große Bewegung.) Sie habe geweint, den Propst abgewehrt und gesagt: Das tue ich nicht. Alsdann habe er die Schmidt ins Zimmer gerufen, habe beide auf die Erde gelegt und gesagt: Nun macht mit mir, was ihr mit Werner gemacht habt. Sie wehrten beide ab. Da sagte der Propst: Mit Werner tun sie es, mit mir genieren sie sich. Daraufhin habe der Propst beide Mädchen unzüchtig berührt. Alsdann habe er beide aufgefordert, zu unterschreiben, daß er nichts Unrechtes mit ihnen begangen habe.
Vors.: Ist das auch alles vollständig wahr?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Du weißt doch, daß, wenn das nicht wahr ist, du den Propst unschuldig schwer belastest?
Zeugin: Ja.
Vors.: Das, was du uns gesagt hast, kannst du vor Gott und deinem Gewissen verantworten?
Zeugin: Ja.
Vors.: Empfandest du das, was der Propst mit dir vornehmen wollte, als eine Schweinerei?
Zeugin: Jawohl.
Die Zeugin mußte darauf in eingehender Weise eine gewisse Situation schildern, deren Wiedergabe aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben muß.
Zwei Lehrer bekundeten übereinstimmend: Katharina Zimmermann sei ein sehr gutes, folgsames, wahrheitsliebendes und sittenreines Mädchen, das in jeder Beziehung glaubwürdig sei.
Frau Zimmermann, die Mutter der kleinen Katharina, bekundete: Eines Tages kam Katharina nach Hause und sagte: Ich gehe nicht mehr zum Propst. Ich sagte: Du bist wohl unfolgsam zum Herrn Propst gewesen und hast „Schläg“ bekommen. Nein, sagte Katharina: Der Propst läßt mich nicht in Ruhe. Was soll das heißen, fragte ich: Der Propst küßt mich immer, versetzte das Kind. Ich ging mit dem Kind zum Propst und stellte ihn zur Rede. Der Propst sagte: Ich gebe zu, daß ich das Kind geküßt habe, das Mädchen hat so schöne rote Wangen. Ich habe es geküßt, weil ich es als meine Schwester betrachtete. Ich erwiderte: Unterlassen Sie das, Herr Propst, sonst muß ich Anzeige machen.
Vors.: Hat der Probst ausdrücklich zugegeben, daß er das Kind geküßt hat?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Hat der Propst vielleicht gesagt: Ich habe das Kind bloß gestreichelt?
Zeugin: Nein, er sagte: Ich habe das Kind geküßt.
Auf weiteres Befragen äußerte die Zeugin: Am 17. Januar d.J. sagte Katharina: Der Propst hat mich heute zu sich bestellt. Weshalb hat dich der Herr Propst bestellt? fragte ich. Das weiß ich nicht, versetzte Katharina. Hedwig Schmidt ist auch zum Propst bestellt. Als die Katharina zurückkam, war sie ganz verändert. Sie weinte heftig und erzählte: Sie und auch Hedwig Schmidt seien vom Propst durch Schläge und Drohungen gezwungen worden, ein Schriftstück zu unterschreiben, in dem sie erklärten, sie haben mit Franz Werner unanständigen Verkehr gehabt. Als sie (Katharina) unterschrieben hatte, habe sie gesagt: Ich habe unterschrieben, aber getan habe ich es nicht, es ist alles gelogen. Darauf habe sie der Propst so heftig auf den Kopf geschlagen, daß ihr die Ohrringe herausgefallen seien: Sie sei außerdem vom Propst so gestoßen worden, daß sie mit dem Kopf an die Wand geprallt sei. Das Kind klagte über heftige Kopfschmerzen. Die Ohrmuscheln waren rot und blau unterlaufen und dick angeschwollen. Der Propst habe sie nach erhaltenen Schlägen an sich gezogen, geküßt, sie unzüchtig berührt, aufs Sofa geworfen und entblößt. Er habe alsdann unanständige Dinge mit ihr vornehmen wollen mit dem Bemerken: Jetzt machst du das mit mir, was du mit Werner gemacht hast. Sie habe den Propst abgewehrt und gesagt: Nein, ich habe mit Werner nichts gemacht. Was Sie mit mir machen wollen, ist Sünde. „Wenn du es mit Werner machst, dann ist es Sünde, wenn du es mit mir machst, ist es keine Sünde“, habe der Propst gesagt. (Bewegung.) Ich begab mich sofort zum Propst und stellte ihn zur Rede. Da sagte der Propst: Das Mädchen ist schlecht, sie hat mit einem „Bub“ unsittlichen Verkehr gehabt, deshalb habe ich es gezüchtigt. Ich war sehr aufgebracht und sagte: Das lasse ich mir nicht gefallen, ich lasse mein Kind nicht schlecht machen. Stellen Sie mir den „Bub“, mit dem meine Katharina etwas gemacht macht haben soll, gegenüber.
Na, gehen Sie mit Ihrer Tochter nicht so hoch hinaus, das ist ein schlechtes Mädchen, sagte der Propst. Ich sagte: Das lasse ich mir nicht gefallen, ich lasse mein Kind nicht schlecht machen, stellen Sie mir den „Bub“ gegenüber. Das werde ich tun, sagte der Propst. Ich will den Bub noch heute sprechen, sagte ich. Der Propst bestellte den Bub. Als ich wieder zum Propst kam, waren Herr Rechtsanwalt Roth und der Kirchendiener Wiegand bei ihm. Der Propst war mit Franz Werner im Nebenzimmer und redete auf ihn ein.
Vors.: Konnten Sie hören, was der Propst zu dem Bub gesagt hat?
Zeugin: Nein. Dann kam Franz Werner aus dem Zimmer. Er sagte auf mein Befragen: Ich habe auch vom Herrn Propst „Schläg kriegt“, weil ich das Schriftstück nicht unterschreiben wollte, ich habe aber nichts mit dem Mädchen gemächt.
Vors.: Hat der Propst außerdem den Versuch gemacht, Ihre Tochter schlecht zu machen?
Zeugin: Jawohl, er sagte: sie habe sich im Kreise gedreht und sich in unanständiger Weise gebückt. Sie habe auch schlechte Lieder gesungen.
Vors.: Ist Ihre Tochter ein schlechtes Mädchen, so daß man annehmen kann, es habe sich mit Jungen umhergetrieben?
Zeugin: Nein, mein Kind ist ein sehr folgsames, durchaus sittenreines Mädchen.
Vors.: Haben Sie nach der ersten Kußaffäre zu dem Herrn Propst gesagt: er halte das Kind zum Lügen an?
Zeugin: Jawohl, ich sagte: Sie haben dem Kind gesagt: es solle nichts sagen, daß Sie es geküßt haben.
Der Propst sagte: Na, machen Sie nichts daraus, es wird nicht mehr vorkommen. Ich werde dem Kind ein „Kleidche“ kaufen, oder sonst ein Geschenk machen. Ich habe die Sache bereits dem Herrn Bischof angezeigt und werde wohl bald aus Worms herauskommen. Ich erwiderte: Herr Propst, Sie brauchen meinem Kind nichts zu schenken, behandeln Sie nur mein Kind wie jedes andere.
Oberstaatsanwalt: Wie haben Sie die Mitteilung: er hätte bereits alles dem Herrn Bischof angezeigt, aufgefaßt?
Zeugin: Ich hatte den Eindruck, der Propst habe das alles erzählt, um mich von einer Anzeige abzuhalten.
Oberstaatsanwalt: Sie hatten schließlich mit dem Herrn Propst Frieden geschlossen, und zwar in einer Weise, daß Sie beide vor Rührung geweint haben?
Zeugin: Das ist richtig.
Vors.: Hat nun der Herr Propst ein Geschenk gemacht?
Zeugin: Ja, er hat am Weißen Sonntag ein Gebetbuch und ein Neues Testament und ein Kleidchen geschenkt. Katharina erzählte mir: Der Propst habe sie gefragt: Hast du noch mehr Verehrer?
Oberstaatsanwalt: Sie halten die Auffassung, der Propst habe die Prügelaffäre nur vorgenommen, um zu verhindern, daß Sie wegen der ersten Kußaffäre. Anzeige erstatten?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Ist darauf noch etwas zu erklären?
Vert.: Ich danke.
Angekl. Dompropst Malzi: Ich versichere wiederholt, ich habe zu Frau Zimmermann nur gesagt: Ich habe das Mädchen geliebkost, ich habe nicht zugegeben, daß ich es geküßt habe. Mag Frau Zimmermann ihr Gedächtnis einmal zusammennehmen.
Frau Zimmermann: Ich weiß ganz bestimmt, der Herr Propst hat zugegeben, er habe das Kind geküßt.
Eine weitere Zeugin war die 15jährige Schülerin Elise Zimmermann, Schwester der Katharina Zimmermann. Sie bestätigte im wesentlichen die Bekundungen ihrer Mutter.
Schuhmachermeister Zimmermann: Meine Tochter Katharina erzählte mir: der Propst habe zu ihr gesagt: sie und Hedwig Schmidt haben sich mit Franz Werner einmal derartig gejagt, daß sie einen Wassereimer umgestoßen haben, alsdann haben sie Vaterchens chens und Mutterchens gespielt. Das Kind sagte: Papa hat mich schon hart geschlagen, aber niemals so furchtbar wie der Herr Propst. Als ich den Propst zur Rede stellte, sagte er: Nehmen Sie Ihre Tochter nicht so in Schutz. Die treibt sich mit Jungen herum, dreht sich auf der Straße unanständig im Kreise und bückt sich unanständig. Die Sache kommt vors Gericht. Ihre Tochter kommt in eine Besserungsanstalt. Ich erwiderte: Wenn die Sache vors Gericht kommt, dann soll auch alles herauskommen. Bisher habe ich geschwiegen, obwohl schon alle Schulkinder darüber sprachen, daß Sie meine Tochter liebkosten, küßten und ihr allerlei Aufmerksamkeiten erwiesen. Daß die Kinder in meiner Wohnung etwas Unanständiges begangen haben, ist nach Lage der Dinge vollständig ausgeschlossen. Als ich mit meiner Frau zum Propst kam, um mit Franz Werner zu sprechen, waren Rechtsanwalt Roth und der Kirchendiener Wiegand in der Wohnung. Der Propst war mit Franz Werner im anderen Zimmer, schließlich kam er mit Werner aus dem Zimmer und sagte: Herr Rechtsanwalt Roth wird jetzt den Bub zu Protokoll vernehmen. Werner sagte aber, ich bleibe dabei: Ich bin zweimal bei Schmidt gewesen, ich habe aber niemals mit einem Mädchen etwas Unrechtes gemacht.
Vors.: Ihre Tochter soll unanständige Lieder gesungen haben?
Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt.
Katharina Zimmermann bemerkte auf Befragen: Sie habe ein unanständiges Lied von den Schülerinnen des katholischen Instituts in Worms, der „englischen Fräulein“, gehört.
Schuhmachermeister Zimmermann bekundete noch: Der Propst habe seine Tochter auch beschuldigt, sie habe auf der Straße Lehrern nachgepfiffen, er wisse nicht, ob das wahr sei.
Schülerin Elisabeth Metzger: Katharina Zimmermann habe ihr erzählt: Der Propst habe sie gestreichelt; erst einige Zeit später habe sie erzählt, der Propst habe sie geküßt. Die Katharina habe sich niemals unanständig benommen, sie habe sich auch niemals mit „Buben“ umhergetrieben.
Katharina Zimmermann: Ich habe der Metzger sofort gesagt, daß mich der Propst geküßt hat.
Die Metzger bekundete im weiteren: Katharina Zimmermann habe ihr erzählt, daß sie beim Propst ein Schriftstück habe unterschreiben müssen, daß er sie alsdann geschlagen habe und unanständige Sachen mit ihr machen wollte. Sie (Z.) sei auch dieses Vorkommnisses wegen zum Propst bestellt worden.
Vors.: Bist du zum Herrn Propst gegangen?
Zeugin: Nein.
Vors.: Weshalb gingst du nicht hin?
Zeugin: Ich glaubte, die Sache wird vom Gericht erledigt werden.
Schülerin Elise Schellenschleger: Katharina Zimmermann, Hedwig Schmidt und Franz Werner sollen sich in der Kirche derartig unanständig benommen haben, daß sie aus der Kirche verwiesen wurden. Katharina Zimmermann habe ihr die Vorgänge in dem Pfarrhause erzählt und ihr gesagt: der Propst habe schließlich beide Mädchen aufgefordert, ihn um Verzeihung zu bitten und ihm zur Bekräftigung einen Kuß zu geben. Da habe Katharina geantwortet: Wenn Hedwig Schmidt das tut, dann tue ich es auch. Hedwig Schmidt habe darauf den Propst um Verzeihung gebeten und ihm einen Kuß gegeben. Darauf habe sie das auch getan.
Schülerin Elise Bauer: Katharina habe einige Tage in der Schule gefehlt. Sie habe sie deshalb nach der Ursache gefragt. Darauf habe Katharina den Vorgang bei dem Propst erzählt. Sie sei zu dem Propst vorgeladen worden. Die Katharina habe sie gebeten, sie solle nicht sagen, daß sie einmal auf der Straße einem Lehrer nachgepfiffen habe, und daß sie eine Lügnerin sei.
Katharina Zimmermann: Von Lügnerin habe ich nichts gesagt, ich habe die Bauer nur gebeten, sie solle nicht sagen, daß ich gepfiffen habe.
Vors.: Hast du denn einmal gepfiffen?
Zeugin: Ja.
Vors.: In welcher Weise?
Katharina Zimmermann: Ich habe einmal hinter einem Lehrer gepfiffen.
Oberstaatsanwalt: Elise Bauer, weshalb soll Katharina Zimmermann eine Lügnerin sein?
Die Zeugin schwieg.
Oberstaatsanwalt: Die Lehrer und die Eltern haben unter ihrem Eide erklärt, Katharina Zimmermann sei ein durchaus anständiges Mädchen, wie kommst du also darauf, zu sagen, Katharina sei eine Lügnerin?
Zeugin: Sie hat nicht immer die Wahrheit gesagt.
Oberstaatsanwalt: Bei welcher Gelegenheit hat sie gelogen?
Zeugin: Sie hat einmal in der Schule gesungen. Der Lehrer sagte: Weshalb hast du gesungen? Da sagte Katharina: Ich habe nicht gesungen.
Oberstaatsanwalt: Eine solche Notlüge ist auch schon von anderen Leuten begangen worden, deshalb ist Katharina Zimmermann noch nicht eine Lügnerin zu nennen.
Schülerin Katharina Hofmeister schloß sich im wesentlichen den Bekundungen der Vorzeugin an.
Kaplan Grein: Er wohnte in Worms im Pfarrhause. Am 17. Januar habe er gerade Unterricht erteilt, da habe er aus dem Studierzimmer des Propstes heftiges Schreien und Schläge gehört. Er wußte, daß gegen einen Knaben und zwei Mädchen eine Untersuchung wegen Vornahme unanständiger Handlungen schwebe. Der Propst habe ihm erzählt, es seien das sehr unerquickliche Dinge. Er habe angenommen, daß der von ihm wahrgenommene Vorgang eine Folge dieser Untersuchung sei. Er habe deshalb sofort die Fenster geschlossen, denn es wäre ihm peinlich gewesen, wenn die von ihm unterrichteten Knaben von dem Vorgang etwas wahrgenommen hätten.
Oberstaatsanwalt: Kommen denn derartige Dinge öfters in dem Studierzimmer des Herrn Propstes vor?
Zeuge: Ich weiß es nicht, ich bin erst seit Dezember 1904 in Worms.
Schülerin Elise Schmidt: Katharina Zimmermann habe im Kreise verschiedener Schülerinnen den Vorgang beim Propst erzählt. Sie habe gesagt: Was weiter passiert ist, sage ich aber nicht.
Schülerin Magdalene Gerst: Der Propst habe oftmals Katharina Zimmermann aus der Schule gerufen. Er habe sie stets seinen Liebling genannt und gestreichelt. Katharina und auch andere Mädchen haben bisweilen unanständige Lieder gesungen. Eins habe geheißen: „Mensch, gedenke.“ Eines Tages habe die Schülerin Rupp sie aufgefordert, zum Herrn Propst mitzukommen.
Vors.: Was solltest du beim Herrn Propst?
Zeugin: Ich sollte sagen, daß Katharina Zimmermann mit „Buben“ verkehrt und sich auf der Straße unanständig bückt, wenn Buben in der Nähe sind.
Vors.: Wußtest du etwas davon?
Zeugin (weinend): Nein.
Vors.: Da konntest du doch nichts sagen?
Zeugin: Ich glaubte, wenn’s der Herr Propst sagt, ist es wahr.
Oberstaatsanwalt: Du wolltest also etwas gegen deine Mitschülerin sagen, wovon du gar nichts wußtest?
Zeugin (weinend): Ja.
Vors.: Hast du denn einmal gesehen, daß Katharina Zimmermann sich mit Buben umhergetrieben hat?
Zeugin: Nein, ich habe nur gesehen, daß Buben der Katharina nachgelaufen sind.
Vors.: Hat sich Katharina dabei unanständig benommen?
Zeugin: Nein, sie hat sich aber manchmal umgedreht.
Vors.: Ist sie aber sonst schnell gelaufen?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Es hatte also den Anschein, daß die Katharina bemüht war, so schnell als möglich von den Buben fortzukommen?
Zeugin: Jawohl.
Eine fernere Zeugin war die 16jährige Anna Schmidt, Schwester der Hedwig Schmidt: Meine Schwester hat mir den Vorgang beim Propst erzählt. Der Propst hat die Mädchen „Heuchlerinnen“ und „Säue“ genannt. Ich sagte: Ich bedauere den Herrn Propst, denn wenn die Sache an die Öffentlichkeit kommt, dann kann es ihm schlimm ergehen. Da sagte meine Schwester: Wenn du alles wüßtest, dann würdest du den Propst nicht bedauern.
Ein Beisitzer: Hat Ihre Schwester früher den Herrn Dompropst verehrt?
Zeugin: Jawohl, sogar sehr.
Beisitzer: Sie hat stets in ehrerbietiger Weise vom Herrn Propst gesprochen?
Zeugin: Ja.
Vors.: Sie hatte also vor dem Vorgange keinerlei Haß auf den Herrn Propst?
Zeugin: Durchaus nicht.
Vors: Ihre Schwester soll von sehr verschlossenem Charakter sein?
Zeugin: Nein.
Vors.: Ist Ihre Schwester lügenhaft?
Zeugin: Nein.
Polizeisekretär Kranz (Worms): Eines Nachmittags, als er sich auf einem Spaziergange befand, habe er wahrgenommen, daß ein älterer Herr ein Schulmädchen in sehr auffallender Weise verfolge. Er habe den Vorgang genau beobachtet und dabei wahrgenommen, daß der Mann der Dompropst Malzi war. Der Mann sei auch schließlich ins katholische Pfarrhaus eingetreten. treten.
Vors.: Können Sie sich in der Persönlichkeit nicht irren?
Zeuge: Nein, ich bin meiner Sache ganz sicher.
Vors.: Kannten Sie den Herrn Dompropst schon von früher?
Zeuge: Nein, ich habe aber die Persönlichkeit ganz genau ins Auge gefaßt und kenne den Herrn Dompropst mit vollster Bestimmtheit wieder.
Ein weiterer Zeuge war Hauptlehrer Sander.
Oberstaatsanwalt: Ist es richtig, Herr Hauptlehrer, daß die Handarbeitslehrerin Zimmer Kinder, von denen sie wußte, daß sie zu dieser Verhandlung als Zeugen geladen seien, zu beeinflussen gesucht hat?
Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt, ich habe aber wahrgenommen, daß Fräulein Zimmer gegen Katharina Zimmermann und Hedwig Schmidt zum mindesten sehr voreingenommen war. Sie hat u.a. den Kindern gesagt: Ihr tut am besten, wenn ihr Katharina Zimmermann ins Gesicht schlagt (Bewegung). Knaben und Mädchen haben vor den beiden Mädchen ausgespuckt und sie geschlagen. Wenn Hedwig Schmidt sich sehen ließ, da umringten sie die Knaben mit den Worten: „Da ist sie ja!“ Sie spuckten dem Mädchen ins Gesicht und schlugen es. Ich habe die Sache dem Schulinspektor mitgeteilt, dieser hat die Kinder ermahnt, verträglich zu sein. Ich habe Fräulein Zimmer zur Rede gestellt und ihr mit einer Anzeige gedroht. Fräulein Zimmer antwortete darauf: Die Mädchen haben sich in der Kirche ungehörig betragen.
Vors: Was sollen denn die Mädchen in der Kirche begangen haben?
Zeuge: Sie sollen während des Gottesdienstes geplaudert haben. Ich habe zu Fräulein Zimmer gesagt, wenn die Mädchen sich in der Kirche ungehörig benommen haben, dann muß das in der Schule, nicht aber beim Handarbeitsunterricht gerügt werden. Fräulein Zimmer antwortete: „Die Mädchen sind frech und unaufmerksam, ich werde tun, was ich für recht halte.“ Da ich die Voreingenommenheit des Fräuleins Zimmer gegen die beiden Mädchen nicht länger dulden konnte, habe ich bei der Schulbehörde Anzeige erstattet.
Oberstaatsanwalt: Die Voreingenommenheit des Fräuleins Zimmer gegen die beiden Mädchen datiert erst seit dem Vorgang beim Dompropst?
Zeuge: Jawohl.
Oberstaatsanwalt: Die Mißhandlungen der beiden Mädchen seitens der anderen Kinder sind doch wohl auch eine Folge des Vorganges beim Dompropst?
Zeuge: Das scheint wenigstens so, denn vorher wurden die Mädchen in keiner Weise behelligt.
Oberstaatsanwalt: Wenn der Verdacht besteht, ein Schüler oder eine Schülerin habe eine Ungehörigkeit begangen, ist es dann üblich, diese im Studierzimmer des Lehrers zum Austrag zu bringen?
Zeuge: Keineswegs, das gehört in die Schule.
Oberstaatsanwalt: Halten Sie es vom pädagogischen Standpunkte für gerechtfertigt, daß, wenn ein Schüler oder eine Schülerin eine Unsittlichkeit begangen hat, diese den Kindern in allen Einzelheiten vorgehalten wird?
Zeuge: Das kommt ganz darauf an. Ich habe vor einiger Zeit aus einem vorgefundenen Briefe entnommen, daß ein Schüler Unanständigkeiten begangen hat. Da war ich, um die Wahrheit zu ermitteln, auch genötigt, aufs einzelne einzugehen.
Vert.: Sind nicht in Worms häufig Unsittlichkeiten zwischen Schülern und Schülerinnen vorgekommen?
Zeuge: In den letzten zwei Jahren, seitdem ich in Worms bin, ist so etwas nicht vorgekommen.
Am dritten Verhandlungstage wurde unter allgemeiner Spannung die vierzehnjährige Hedwig Schmidt als Zeugin aufgerufen. Es war ein sehr hübsches, elegant gekleidetes, vornehm aussehendes Mädchen. Die Zeugin bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei mit dem jetzigen Handlungslehrling Franz Werner bekannt. Dieser habe sie einige Male begleitet und auch mehrfach in der Wohnung ihrer Eltern verkehrt. Aus Anlaß ihres vielen Zusammentreffens mit Werner sei dieser von Mitschülern und Mitschülerinnen scherzhaft „Hedwig“ genannt worden. Ein unanständiger Verkehr zwischen ihr und Werner habe aber niemals stattgefunden.
Vors.: Es wird behauptet, Werner und Katharina Zimmermann seien einmal in deiner elterlichen Wohnung bei dir zu Besuch gewesen. Da soll Werner die Katharina so gejagt haben, daß letztere einen vollen Wassereimer umgeworfen habe.
Zeugin: Das ist unwahr.
Vors.: Kannst du mit gutem Gewissen sagen, daß das nicht wahr ist?
Zeugin: Jawohl, mit gutem Gewissen.
Vors.: Ist an diesem Tage auch nichts Unanständiges passiert?
Zeugin: Nein, niemals.
Vors.: Auch nicht zwischen Werner und Katharina Zimmermann?
Zeugin: Auch nicht.
Die Zeugin bekundete weiter auf Befragen: Sie sei am 17. Januar zum Propst bestellt worden. Der Propst habe sie aufgefordert, zu gestehen, daß sie mit Franz Werner unanständigen Verkehr gehabt habe, Werner habe bereits alles eingestanden und auch unterschrieben. Dabei habe der Propst ein Schriftstück vorgewiesen, in dem Werner eine solche Erklärung unterschrieben hatte. In dem Schriftstück sei der unanständige Verkehr in allen Einzelheiten mit größter Genauigkeit geschildert worden. (Jede auch nur andeutungsweise Mitteilung hierüber muß aus, Schicklichkeitsgründen unterbleiben. Der Verfasser.) Der Propst habe auch gesagt: Sie habe von Werner ein häßliches Lied gelernt, das mit den Worten beginnt: „Mensch, gedenke.“ Sie habe wahrheitsgemäß geantwortet: Sie habe das Lied wohl einmal von einem Knaben auf der Straße, aber nicht von Werner gehört. Inzwischen sei der Propst in ein anderes Zimmer gegangen und habe Katharina Zimmermann vernommen. Sehr bald habe sie heftiges Schreien und Schläge gehört. Gleich darauf habe der Propst sie in das Zimmer gerufen. Dort sei die Zimmermann gewesen und habe heftig geweint.
Vors.: Hast du auch geweint?
Zeugin: Ja.
Vors.: Weshalb weintest du?
Zeugin: Weil ich etwas unterschreiben sollte, was nicht wahr war.
Vors.: Bist du vom Propst geschlagen worden?
Zeugin: Nein.
Vors.: Was sagte der Propst?
Zeugin: Er sagte, die Zimmermann hat bereits eingestanden und unterschrieben, ich solle auch unterschreiben.
Vors.: Hat der Herr Propst nicht gesagt: Ich habe jetzt keine Zeit mehr, ich habe etwas anderes zu tun, nun unterschreibe, was du willst, unterschreibe nur, wie es gewesen ist, ob es wahr oder nicht wahr ist?
Zeugin: Nein.
Vors.: Du hast aber bei dem Herrn Untersuchungsrichter gesagt: Der Propst habe geäußert: Unterschreibe, ob es wahr oder unwahr ist?
Zeugin: Das ist nicht richtig, der Herr Propst gab mir die Feder in die Hand und sagte: ich solle unterschreiben, daß es wahr ist.
Vors.: Das hast du auch getan?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Kannst du mit gutem Gewissen sagen, daß zwischen dir und Werner nichts Unanständiges vorgekommen ist?
Zeugin: Jawohl, mit gutem Gewissen.
Vors.: Du weißt doch, wenn doch etwas vorgekommen wäre, und du würdest es bestreiten, dann würdest du eine große Sünde begehen?
Zeugin: Das weiß ich, es ist aber nichts vorgekommen.
Vors.: Hast du Herrn Propst gebeten, es nicht deiner Mutter mitzuteilen?
Zeugin: Nein, der Herr Propst sagte: er werde es meiner Mutter sagen.
Vors.: Was hast du dazu gesagt?
Zeugin: Nichts.
Vors.: Hat der Herr Propst euch nicht aufgefordert, ihn um Verzeihung zu bitten?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Hast du das getan?
Zeugin: Ja.
Vors.: Hat er euch nicht auch aufgefordert, ihm einen Kuß zu geben?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Hast du dem Herrn Propst einen Kuß gegeben?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Hat die Zimmermann auch dem Herrn Propst einen Kuß gegeben?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Hat euch auch der Herr Propst einen Kuß gegeben?
Zeugin: Ja, mehrere. Die Zeugin erzählte darauf: Nachdem auch ich das Schriftstück unterschrieben hatte, sagte die Zimmermann: Ich habe unterschrieben, es ist aber doch nicht wahr. Darauf hat der Propst die Zimmermann heftig geschlagen und mich und die Zimmermann Heuchlerinnen und Säue genannt. Alsdann legte der Propst mich und die Zimmermann auf die Erde und sagte: „Nun tut mit mir, was ihr mit Werner getan habt.“ Wir haben abgewehrt und gesagt: Nein, das tun wir nicht, wir haben auch mit Werner nichts getan. Der Herr Propst drängte sich näher an uns heran und sagte: Bei Werner habt ihr euch nicht geniert, mir gegenüber geniert ihr euch.
Vors.: Hat er euch nicht schließlich Bedenkzeit gegeben?
Zeugin: Ja, er sagte, wir sollen es uns überlegen.
Vors.: Was meinte wohl der Herr Propst?
Zeugin: Das, was wir mit Werner getan haben sollen, sollten wir mit ihm tun.
Vors.: Hat nicht der Herr Propst euch schließlich ein Schriftstück vorgelegt, in dem ihr unterschreiben sollet, daß nichts geschehen sei?
Zeugin: Ja.
Vors.: Habt ihr dies unterschrieben?
Zeugin: Ja.
Vors.: Sagte nicht der Herr Propst, ihr glaubt wohl, ich wollte mit euch dasselbe machen, wie Werner?
Zeugin: Ja.
Vors.: Sagte er noch etwas?
Zeugin: Er sagte, nachdem wir unterschrieben hatten, ihr wollt also nicht mit mir das tun, was ihr mit Werner getan habt? Wir wehrten aber beide wiederholt ab.
Vors.: Hast du das, was der Herr Propst von euch verlangte, als Unanständigkeit empfunden?
Zeugin: Ja.
Vors.: Wurdet ihr darauf vom Herrn Propst entlassen?
Zeugin: Jawohl.
Die Zeugin bekundete ferner auf Befragen: Sie seien alsdann nach Hause gegangen und haben es zunächst der Frau Zimmermann erzählt.
Vors.: Hat euch der Propst gebeten, euren Eltern nichts zu erzählen?
Zeugin: Jawohl, das hatten wir ihm auch versprochen.
Vors.: Hast du es deiner Mutter erzählt?
Zeugin: Nein.
Vors.: Aber deiner ältesten Schwester hast du es erzählt?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Was hat deine Schwester dazu gesagt?
Zeugin: Sie sagte, der Herr Propst tut mir leid, denn es kann ihm schlimm gehen.
Vors.: Hast du darauf etwas erwidert?
Zeugin: Ich sagte: „Du weißt noch lange nicht alles. Wenn du alles wüßtest, würdest du den Herrn Propst nicht mehr bedauern.“
Vors.: Hat der Herr Propst zu euch gesagt: Ihr habt mit Werner Vaterchens und Mutterchens gespielt?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Wurdest du nicht nachher auf der Straße und in der Kirche behelligt?
Zeugin: Ein Herr Brand hat mich in der Kirche beschimpft.
Vors.: Du sollst in der Kirche geplaudert haben?
Zeugin: Das ist unwahr.
Vors.: Bist du auch auf der Straße behelligt worden?
Zeugin: Ich wurde auf der Straße von Knaben und Mädchen angespuckt und geschlagen.
Vors.: Hat dir nicht auch die Handarbeitslehrerin Zimmer Vorhaltungen gemacht?
Zeugin: Ja. Fräulein Zimmer hat gesagt: Es ist alles Geschwätz, was gegen den Herrn Propst vorgebracht wird. Katharina Zimmermann verdiente angespuckt und auf den Mund geschlagen zu werden.
Vors.: Als euch der Herr Propst aufforderte, mit ihm dasselbe wie mit Werner zu tun, war da der Herr Propst aufgeregt?
Zeugin: Ja, sehr aufgeregt.
Vors.: Hast du gesehen, daß der Herr Propst die Zimmermann aufs Sofa geworfen hat?
Zeugin: Ja.
Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Sie habe, als der Propst sie auf dem Sofa berührt habe, mit dem Fuß auf den Fußboden gestampft.
Oberstaatsanwalt: Wenn der Herr Propst dir bloß Vorhaltungen über dein Verhalten gemacht hätte, würdest du alsdann auch mit dem Fuß auf den Boden gestampft haben?
Zeugin: Ja.
Vors.: Wenn dich der Lehrer wegen ungenügender Schularbeiten zur Rede stellte, würdest du alsdann auch auf den Fußboden stampfen?
Zeugin: Nein.
Vors.: Das Aufstampfen mit dem Fuße ist von dir ein Ausdruck des Unwillens?
Zeugin: Jawohl. Die Zeugin bekundete ferner auf Befragen: Der Propst habe Katharina Zimmermann vielfach bei sich im Studierzimmer behalten. Die Zimmermann habe ihr erzählt: Der Propst habe sie oftmals geküßt. Er habe die Zimmermann einmal gefragt, ob sie noch mehr Verehrer habe. Der Propst habe auch die Zimmermann einmal auf die Krimhildenbrücke bestellt.
Der Vorsitzende rief alsdann Katharina Zimmermann vor.
Vors.: Hast du gehört, was deine Freundin gesagt hat?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Ist das alles richtig?
Zeugin: Jawohl.
Oberstaatsanwalt: Bist du früher schon einmal vom Herrn Propst geschlagen worden?
Zeugin: Nein.
Oberstaatsanwalt: Das war das erstemal?
Zeugin: Jawohl.
Oberstaatsanwalt: Hast du etwas gegen den Herrn Propst?
Zeugin: Mein.
Vors.: Hat dir vielleicht jemand gesagt: Der Propst muß fort aus Worms, er muß bestraft werden?
Zeugin: Nein.
Oberstaatsanwalt: Bist du gern und oft in die Kirche gegangen?
Zeugin: Ja.
Oberstaatsanwalt: Als dich der Herr Propst aufforderte zu unterschreiben, daß nichts geschehen sei, was dachtest du dir dabei?
Zeugin: Der Herr Propst wollte nicht haben, daß das, was vorgekommen, bekannt werde.
Oberstaatsanwalt: Da hat dich doch der Herr Propst aufgefordert, eine Unwahrheit zu unterschreiben, denn es ist doch in der Tat etwas vorgekommen; der Herr Propst hat dich doch aufs Sofa geworfen?
Zeugin: Ja.
Vors. (zu Hedwig Schmidt): Hast du irgendwelchen Haß gegen den Herrn Propst?
Zeugin: Nein.
Vors.: Deine älteste Schwester scheint sogar eine große Verehrerin vom Herrn Propst zu sein?
Zeugin: Ja.
Vors.: Hat dich etwa jemand aufgefordert, so auszusagen, damit der Herr Propst bestraft wird?
Zeugin: Nein.
Vors.: Du kannst also vor Gott und deinem Gewissen sen versichern, daß alles, was du hier ausgesagt hast, der vollen Wahrheit entspricht?
Zeugin: Jawohl.
Es wurde darauf Witwe Schmidt, Mutter der Hedwig Schmidt, als Zeugin vernommen: Ihre Tochter habe ihr von dem Vorgange beim Propst nichts erzählt. Franz Werner habe oftmals in ihrer Wohnung verkehrt, ein unanständiger Verkehr zwischen Werner und ihrer Tochter sei ausgeschlossen. Es sei auch unwahr, daß Werner in ihrer (der Zeugin) Wohnung Katharina Zimmermann so gejagt habe, daß ein mit Wasser gefüllter Eimer umgefallen sei. Ihre Tochter sei ein sehr folgsames, wahrheitsliebendes und sittenreines Mädchen.
R.-A. Roth (Worms): Er sei auf Ersuchen des Propstes am Abend des 17. Januar bei der Vernehmung des Franz Werner zugegen gewesen. Dem Knaben wurde sein schriftliches Geständnis, daß er mit den beiden Mädchen, Katharina Zimmermann und Hedwig Schmidt, unanständigen Verkehr gehabt habe, daß sie Vaterchens und Mutterchens und „Hochzeit“ gespielt haben, vorgehalten. Der Knabe sagte jedoch: „Ich habe unterschrieben, es ist aber nicht wahr.“ Der Herr Propst war darüber sehr aufgeregt und sagte zu Werner: Hast du das Schriftstück nicht freiwillig unterschrieben? Da versetzte Werner: Ja, nachdem Sie mich geschlagen haben. Ich habe dich doch aber bloß am Anfang geschlagen, versetzte der Herr Propst. Es ist aber nicht wahr, sagte Werner. Werner fiel im Laufe der weiteren Vernehmung in Ohnmacht; er (Zeuge) habe dies jedoch für eine Komödie gehalten, denn der Knabe habe sich sofort wieder erholt.
Oberstaatsanwalt: Wunderten Sie sich nicht, daß der Herr Propst die Sache bezüglich des unanständigen Verkehrs zwischen den Kindern so sehr tragisch nahm, so daß er Sie sogar als Rechtsbeflissenen hinzuzog?
Zeuge: Der Herr Propst sagte: er müsse die Sache sehr ernsthaft behandeln, da er von Frau Zimmermann verdächtigt worden sei.
Der folgende Zeuge, Kirchendiener Wiegand, war auch bei der Vernehmung des Franz Werner zugegen. Er schloß sich vollständig den Bekundungen des Vorzeugen an.
Auf Befragen des Angeklagten bekundeten die beiden Mädchen übereinstimmend: Der Propst habe am 17. Januar eine goldene Uhrkette getragen.
Angekl.: Ich versichere, meine Herren, ich habe niemals eine goldene Uhrkette, sondern stets eine Nickelkette getragen, das wird mir allgemein bestätigt werden. Wie man da behaupten kann: ich habe eine goldene Uhrkette getragen, ist mir unbegreiflich. Begreiflich sind mir aber alsdann die anderen Aussagen. Der Angeklagte stampfte bei diesen Worten mit dem Fuß heftig auf den Erdboden.
Vors.: Ihr hört, was der Herr Propst sagt, er habe überhaupt niemals eine goldene Uhrkette getragen. Wenn ihr also bezüglich der Uhrkette die Unwahrheit gesagt habt, dann seien auch eure anderen Aussagen bezüglich des Vorganges auf dem Fußboden und auf dem Sofa unwahr.
Beide Mädchen äußerten übereinstimmend: Sie glauben, der Herr Propst habe eine goldene Uhrkette getragen. Die Vorkommnisse auf dem Sofa usw. seien wahr.
Der Angeklagte behauptete darauf mit großer Lebhaftigkeit: er könne, angesichts des ganzen Stundenplans, unmöglich die Zimmermann am Montag bestellt haben. Es sei das auch schon deshalb ausgeschlossen, weil er die Zimmermann am Montag vormittag „Lügnerin“ genannt und gesagt habe: „Schere dich fort.“
Die Zimmermann gab dies zu, sie blieb aber dabei, daß sie der Propst Montag bestellt habe.
Die Schülerin Metzger bekundete auf Befragen: Der Propst habe Montag mittag zu der Zimmermann gesagt, sie solle noch einmal die Tür aufmachen. Die Zimmermann sei darauf zu dem Herrn Propst ins Zimmer gegangen.
Nach einer kurzen Pause rief der Vorsitzende nochmals mals Katharina Zimmermann und Hedwig Schmidt vor den Richtertisch und äußerte: Herr Propst, ich will Ihnen nun Gelegenheit geben, an die beiden Mädchen Fragen zu stellen.
Angekl. (mit großer Heftigkeit): Ich habe bereits bei meiner ersten Vernehmung gesagt: Es ist nicht wahr, daß ich die Mädchen unzüchtig berührt oder irgendwelche Unanständigkeiten begangen habe. Die ganze Geschichte muß auf einer Verwechslung oder einem Mißverständnis beruhen, oder die Kinder haben sich so hineingeredet, daß sie es schließlich selbst glauben. Ich war an diesem Tage über das Verhalten der Mädchen so sehr aufgeregt, daß die beschriebene Szene auf dem Sofa vollständig unmöglich ist. Ich kann mir nur erklären, daß die Mädchen entweder lügen, oder daß ihnen etwas eingeredet worden ist, denn was die Mädchen hier ausgesagt haben, ist unwahr.
Vors.: Ihr hört, was der Herr Propst sagt. Es muß ein Mißverständnis vorliegen, er hat mit euch nicht Unsittlichkeiten begangen?
Katharina Zimmermann: Doch ist es wahr.
Vors.: Hedwig Schmidt, was sagst du dazu?
Hedwig Schmidt: Es ist doch wahr.
Vors.: Habt ihr euch vielleicht besprochen, gegen den Herrn Propst etwas Unwahres zu sagen?
Beide Mädchen verneinten das mit vollster Entschiedenheit. schiedenheit.
Oberstaatsanwalt: Es passiert euch nichts, wenn ihr jetzt erklärt, ihr habt gelogen. Es wäre eine furchtbare Sünde, die ihr bis in alle Ewigkeit schwer büßen müßtet, wenn ihr die Unwahrheit sagtet. Wenn also nicht alles wahr ist, dann ist es eure heilige Pflicht, das jetzt zu sagen.
Beide Mädchen erklärten: Sie haben die volle Wahrheit gesagt.
Ein Beisitzer: Seid ihr vielleicht der Meinung, weil ihr am Anfang so ausgesagt, ihr dabei bleiben müßt?
Zeuginnen: Nein.
Beisitzer: Ist vielleicht nur ein Teil eurer Aussagen wahr?
Zeuginnen: Nein, es ist alles wahr.
Oberstaatsanwalt: Ihr hört, was der Herr Propst sagt, es sei unwahr, was ihr gesagt habt, ihr müßt euch irren.
Katharina Zimmermann: Es ist doch wahr.
Hedwig Schmidt: Es ist doch wahr.
Auf Auffordern des Oberstaatsanwalts mußten die Mädchen nochmals genau eine Szene beschreiben, die aus Schicklichkeitsgründen auch nicht andeutungsweise mitgeteilt werden kann.
Oberstaatsanwalt: Habt ihr euch den ganzen Vorgang, nachdem ihr mit euren Mitschülerinnen gesprochen, vielleicht so zurechtgelegt?
Beide Mädchen verneinten das.
Oberstaatsanwalt: Ich ermahne euch nochmals, zu prüfen, ob ihr die Wahrheit gesagt habt. Solltet ihr gelogen haben, dann ist es eure Pflicht, das jetzt zu sagen. Noch ist es Zeit. Ich wiederhole, es wäre geradezu furchtbar, wenn ihr den Herrn Dompropst wahrheitswidrig belasten und ihn unglücklich machen würdet. Es ist jetzt noch Zeit, habt ihr gelogen?
Beide Mädchen erklärten, daß sie die volle Wahrheit gesagt haben.
Angekl.: Haben die Mädchen sich über die Sache mit anderen Mädchen unterhalten?
Die Mädchen verneinten das.
Oberstaatsanwalt: Das ist doch aber sehr natürlich. Habt ihr wirklich mit den anderen Mädchen nicht über die Sache gesprochen?
Die Mädchen gaben schließlich zu, einige Male mit anderen Mädchen über die Vorgänge gesprochen zu haben. Auf nochmaliges eingehendes Befragen blieben beide Mädchen dabei, die volle Wahrheit gesagt zu haben.
Tünchermeister Scheerer: Nach dem Vorfall habe der Vater Werner öfters die Familie Zimmermann besucht.
Einige Schülerinnen bekundeten: Katharina Zimmermann habe ihnen erzählt, daß der Propst sie geküßt habe. Der Propst habe am Montag mittag, den 17. Januar, die Katharina Zimmermann aufgefordert, einen Augenblick zu ihm ins Zimmer zu kommen. Katharina sei aber nur einen Augenblick bei dem Herrn Propst im Zimmer gewesen.
Frau Beyer: Zimmermann habe ihr einmal geklagt, daß seine Tochter Katharina sich so sehr herumtreibe und abends nicht nach Hause komme.
Schuhmachermeister Zimmermann bezeichnete das als unwahr, er habe zu Frau Beyer nur gesagt, die Katharina sei ein großer Wildfang.
Kaufmann Bielefeld: Als die „Wormser Volkszeitung“ zum ersten Male den Fall Malzi in die Öffentlichkeit gezogen hatte, sagte er zu Zimmermann: Sie sollten sich schämen, solch öffentlichen Skandal zu machen. Zimmermann antwortete: Ich habe den Zeitungsartikel nicht veranlaßt. Ich habe zu Zimmermann geäußert: Ich habe sogleich, als ich von der Angelegenheit hörte, gesagt: Die ganze Geschichte ist unwahr, ich glaube nicht daran. Ich kenne den Herrn Dompropst schon, als er noch Kaplan war. Ich habe selbst vier Mädchen, diese waren die Lieblinge des verstorbenen Dompropstes. Der hat sie oftmals gestreichelt. Herr Dompropst Malzi ist dagegen als ein Mann bekannt, der augenscheinlich für das weibliche Geschlecht kein Interesse hat. Das müßten geradezu Schlangen sein, die es vermögen, den Herrn Dompropst zu einer unsittlichen Handlung anzureizen. Der Herr Dompropst ist ein verschlossener Charakter und sieht sich nach dem weiblichen Geschlecht überhaupt nicht um. Ich wundere mich nur, daß er verhaftet worden ist.
Oberstaatsanwalt: Die Verhaftung hat sich der Herr Propst selbst zuzuschreiben; er ist verhaftet worden, weil er in dieser Sache Mädchen vernommen, also eine Verdunkelung des Tatbestandes versucht hat.
Zeuge Bielefeld: In anonymen Briefen wollte man mich allerdings eines anderen belehren.
Oberstaatsanwalt: Ein Anonymus schrieb: „Der katholische Oberstaatsanwalt Schmidt müßte durch den evangelischen Stichel (Untersuchungsrichter) ersetzt werden.“ (Allgemeine große Heiterkeit.)
Frau Saloski: Sie habe, als sie von dem Vorgang hörte, sofort gesagt, das sei eine Lüge, sie kenne den Propst zu genau. Sie habe schließlich ihrer Tochter, den Umgang mit Katharina Zimmermann verboten, weil diese lügenhaft war.
Die folgende Zeugin war die Handarbeitslehrerin Zimmer: Sie habe Katharina Zimmermann zur Rede gestellt, weil sie sich in der Kirche unmanierlich benommen habe. Daß sie Schülerinnen aufgefordert habe, der Zimmermann ins Gesicht zu spucken und sie zu schlagen, sei vollständig aus der Luft gegriffen.
Dienstmädchen Brück: Der Propst habe niemals eine goldene Uhrkette getragen.
Angekl.: Ich stelle mein ganzes Haus zur Verfügung, man wird keine goldene Uhrkette finden.
Oberstaatsanwalt: Das ist bereits geschehen, Herr Propst.
Angekl.: Ich danke Ihnen, Herr Oberstaatsanwalt, von ganzem Herzen.
Fräulein Muth: Sie habe am 17. Januar Fräulein Malzi, die Schwester des Dompropstes besucht. Als sie herunterkam, habe sie heftiges Schreien und Schlagen gehört. Sogleich darauf sei der Dompropst aus seinem Zimmer getreten und habe gesagt: Das ist eine sehr scheußliche Geschichte, eine Unsittlichkeit zwischen Knaben und Mädchen.
Lehrer Gröninger: Die Sittlichkeitsverhältnisse unter der Wormser Schuljugend seien sehr schlimme. In den letzten Jahren seien vielfach zwischen Schülern und Schülerinnen Unsittlichkeiten begangen worden. Mehrfach haben auch Schülerinnen Lehrer bezichtigt, sich an ihnen unsittlich vergangen zu haben. Das habe sich aber stets als unwahr herausgestellt.
Oberstaatsanwalt: Es ist ja bekannt, daß Mädchen in einem gewissen Alter in sexuellen Dingen eine große Phantasie an den Tag legen. Herr Lehrer, sind Sie nicht auch der Meinung, daß Gemeindeschüler und Schülerinnen, wenn sie die Schule verlassen, in sexuellen Dingen vollständig aufgeklärt sind?
Zeuge: In Worms ganz bestimmt.
Lehrer Regis: Es sei ihm aufgefallen, daß Katharina Zimmermann und Hedwig Schmidt, obwohl sie nicht in einer Klasse saßen, stets zusammen gingen und sehr befreundet waren.
Auf die Vernehmung aller anderen Zeugen wurde von allen Prozeßbeteiligten verzichtet.
Der Vorsitzende rief nochmals Katharina Zimmermann und Hedwig Schmidt vor den Richtertisch und ermahnte sie wiederholt eindringlichst, zu bekennen, ob sie die Wahrheit gesagt haben. Die Mädchen erklärten beide, daß sie die volle Wahrheit gesagt haben.
Ein Beisitzer: Habt Ihr vielleicht übertrieben?
Beide Mädchen verneinten und beteuerten, sie seien streng bei der Wahrheit geblieben.
Der Vorsitzende erklärte darauf die Beweisaufnahme für geschlossen.
Am vierten Verhandlungstage nahm das Wort zur Schuldfrage Oberstaatsanwalt Dr. Schmidt: M.H.! Ich bin genötigt, die Anklage in vollem Umfange aufrechtzuhalten. Am 20. Januar suchte Schuhmachermeister Zimmermann Herrn Dr. Fresenius auf. Zimmermann erklärte, er wolle nur sein Kind schützen und es in eine andere Schule versetzt wissen, um es gegen die Benachteiligung durch den Angeklagten zu schützen. Er erfuhr vom Schulkollegium, daß der Angeklagte geklagte sein Kind mißhandelt und geküßt habe. Die Kreisschulkommission zitierte darauf das Kind, welches aussagte: Der Angeklagte habe es geküßt, zur Lüge gegen die Mutter verleitet und schließlich die Unterschrift verlangt und sie unzüchtig berührt. M.H.! Weder Kind noch Vater haben zunächst Strafantrag gestellt, da der Vater von den Vorfällen am 18. Januar noch keine Kenntnis hatte. Er war also kein Denunziant! Wenn Zimmermann die Folgen vorausgesehen, hätte er über die Mißhandlung geschwiegen, wie früher über die Liebkosungen. Lediglich auf Initiative des Kreisamtes wurde die Untersuchung eingeleitet. Das Ergebnis dieser Untersuchung war nur: Nachlaufen auf der Straße usw., also Dinge, die, solange die Welt steht, zwischen jungen Leuten vorgehen. Mehr wußte auch der Angeklagte nicht, und trotzdem legte er den Kindern die unsittlichsten Verdächtigungen nahe. Auch durch diese Vorhalte erfuhr der Angeklagte nichts. Darauf verhörte er den Werner. Durch suggestive Fragen suchte er ihn zur Bezichtigung der Mädchen und seiner selbst zu bringen. Trotz der falschen Vorhaltung, daß die Mädchen gestanden hätten, trotz der folgenden wiederholten Mißhandlungen leugnete Werner; erst zuletzt wurde zunächst mündlich ein Geständnis an Eidesstatt erzielt. Am Montag, also am selben Tage, behielt der Angeklagte die Zimmermann in der Schule zurück. Als diese nun auf die Bestellung mit der Schmidt zusammen zum Angeklagten kam, war letzterer über das Erscheinen der Zimmermann gar nicht erstaunt und begann sofort die Untersuchung, die in einer den modernen Anschauungen direkt widerstrebenden Ermittelungsform geführt wurde. Es war ein Verbrechen, den Kindern derartige Abscheulichkeiten vorzuhalten. Auch bei dieser Untersuchung erzielte der Angeklagte mit seinen Mitteln Erfolg. Als darauf das Kind widerrufen wollte, wandte er wieder ein Mittel an, das jeden Polizeibeamten unbedingt ins Zuchthaus bringen würde. Ferner spricht für die Wahrheit der Kinderaussagen besonders der dauernde Widerspruch gegen ihren Seelsorger. Es mangelt aber auch jede tatsächliche Unterlage für die Beschuldigungen. Nach meinem Eindruck von Frau Schmidt und den Kindern glaube ich nicht, daß dort im Hause solche Dinge vorgehen konnten. Ferner ist es auffallend, daß den Kindern unbedingte Verzeihung versprochen und Schweigen gegen die Eltern sogar auferlegt wurde. Das ist ein merkwürdiges Verfahren, nachdem vorher ganz in der Natur des Menschen begründete Dinge so aufgebauscht worden waren! Darauf wurde der Dank für diese Milde in Küssen usw. gefordert. Was die Mißhandlung des Werner betrifft, so ist Mißhandlung kein kirchliches Disziplinarmittel. Auch hatte der Angeklagte kein Züchtigungsrecht. Überhaupt war die Züchtigung nicht als Strafe für ein begangenes Unrecht, sondern als Zwang zur Erpressung eines Geständnisses bestimmt. Das Mittel der Gewalt ist nie erlaubt, auch wenn der Zweck noch so zulässig ist. Nicht minder rechtswidrig, nach § 223, ist die Mißhandlung der Zimmermann. Der Angeklagte ist als Religionslehrer staatlicher Beamter. In Ausübung dieses Amtes hat der Angeklagte gehandelt. Daher hatte der Angeklagte ein gewisses Züchtigungsrecht der Zimmermann gegenüber. Allein er hat sie mißhandelt, zumal er die durch das Geschlecht der Schülerin gebotenen Rücksichten außer acht ließ. Ferner ist zu bemerken, daß solche schlüpfrigen Dinge nie allein ohne Zeugen zu verhandeln sind. Der Angeklagte ist bisher unbescholten, sein Stand legt ihm Pflichten auf, die er bisher nie verletzt hat. Die Anklage beruht allerdings im wesentlichen auf unbeeidigten Aussagen. Jedoch dürfen wir die beeidigten Aussagen nicht in den Wind schlagen! Gegen Frau Zimmermann liegt nichts vor; sie hat das Regiment in ihrem Hause, und begreiflich ist es, daß sie gegen den Angeklagten ausfällig wurde. Im übrigen aber macht sie durchaus einen glaubwürdigen Eindruck. Ebenso gibt das ganze Auftreten der Frau Werner die Garantie absoluter Wahrheit. Auch Frau Schmidt genießt das beste Ansehen. Ebenso ist Herr Zimmermann glaubwürdig. Daß er sein Kind so schlecht gemacht haben soll, wie eine Zeugin behauptet, ist undenkbar. Ich komme jetzt zu den Hauptzeugen: den Mädchen Schmidt und Zimmermann. Sie haben verschiedene Charaktere: Die eine lebhaft, temperamentvoll, die andere ruhig, bestimmt und überlegend. Die Zeugin Zimmermann hat einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Die Schmidt ist nicht minder zuverlässig. Beide haben gute Schulzeugnisse, und gingen fleißig zur Kirche. Die Beschuldigungen der Unsittlichkeit gegen die Zimmermann sind abgebröckelt; von all den Liedern ist nichts hängengeblieben, als der eine Spruch: „O Mensch, bedenk.“
Wenn die Zimmermann eine Zeugin bittet, sie nicht Lügnerin zu heißen, so ist zu erwägen, wie sie in Worms verfolgt wurde. Darauf erörterte der Oberstaatsanwalt die Belanglosigkeit der unsicheren Angaben über die Kleidung des Angeklagten an dem fraglichen Tage und fuhr fort: Man kann keine Sinnestäuschung annehmen, es wäre nur eine direkte Lüge möglich. Entweder: satanischer Haß oder Sucht nach Romantischem können die Gründe dafür sein. Letzteres ist hier ausgeschlossen, da dann Übertreibungen und Ungeheuerlichkeiten vorgebracht worden wären. Dieses aber ist bei den Darstellungen der Kinder nicht der Fall. Sie fabulieren nichts. Auch die Beweggründe für das Handeln des Angeklagten sind so von den Kindern wiedergegeben, daß sie sie nicht erfunden haben können. Auch der Verlauf der Vorfälle ist glaubwürdig geschildert. Zur Persönlichkeit des Angeklagten ist zu sagen: Er ist aufgeregt, aufbrausend und gewalttätig. Wir wissen auch, daß er sich schon früher der Zimmermann gegenüber vergessen hat. Nur wer sich zu fürchten hat, bestellt seine Schülerin zur Zusammenkunft, anstatt der Nachrede offen entgegenzutreten. Ferner hat der Angeklagte die Untersuchung nicht ehrlich geführt. Kommt dann noch die Grausamkeit zu der Wollust, so ist der Grund für derartige Handlungen gegeben. Da also die Tat psychologisch verständlich ist, so ist auch der Wert der Zeugenaussagen erhöht. Ferner decken sich die Angaben der Zeuginnen mit denen des Angeklagten, und wo zuerst eine Verschiedenheit war, behielten die Kinder recht. Meine Herren! Nach alledem halte ich den Angeklagten in allen Punkten für schuldig. Der Schlüssel für die Tat des Angeklagten liegt darin, daß er durch die eingehende Erörterung der schlüpfrigen Dinge aufgeregt, allmählich zum Äußersten kam. Gegen Versuchungen des Fleisches hilft kein geistlich Gewand. Ich bemitleide den Angeklagten, aber das Gesetz kennt kein Mitleid. Betreffs der Bittgottesdienste ist noch zu sagen, daß sie auf die Zeugnisse und Meinungen der Beteiligten suggestiv einwirkten. Der Oberstaatsanwalt beantragte darauf wegen der Mißhandlung des Werner 20 Mark Geldstrafe, wegen der Mißhandlung der Zimmermann 100 Mark, sodann unter Zubilligung mildernder Umstände wegen Sittlichkeitsvergehen eine durch den Gerichtshof zu beschließende angemessene Gesamtstrafe. Es kommen in Betracht die §§ 223, 240, 174 Abs. 1, 176 Abs. 3 und 43 des Strafgesetzbuchs.
Verteidiger Herr J.-R. Dr. Schmitt: Meine Herren! Herr Propst war und ist allgemein geachtet, selbst ein evangelischer Prediger hat neulich, von der Unschuld des Herrn Propstes überzeugt, behauptet: Wenn er verurteilt wird, so wird er ein Opfer seines Berufes. Ich beziehe mich zunächst auf den zweiten Punkt der Anklage: Mißhandlung der Zimmermann. Ich bestreite, daß dem Angeklagten die Beamtenqualität zukommt. Er bezieht keine Vergütung für Erteilung des Religionsunterrichtes, auch untersteht er nicht der Schuldisziplin. Der Angeklagte hat als Pfarrer gehandelt. Somit bleibt nur die Körperverletzung übrig. Allein der Angeklagte hatte das Züchtigungsrecht im Falle Zimmermann nicht überschritten, da er sie wegen des Lügens bestrafen wollte. Der Angeklagte hat im besten Glauben bei seiner Untersuchung gehandelt. Es muß also Freisprechung in diesem Falle erfolgen. Ich komme zur Mißhandlung des Werner. Betreffs der „Fragen in suggestiver Form“ ist zu sagen, daß bei Vernehmung von Kindern immer die Fragen auf die Zunge gelegt werden müssen. Suggestive stive Fragen setzen aber Kenntnis des Gegenstandes voraus; dies ist bei vielen Fragen des Angeklagten nicht zutreffend. Ferner: wenn Werner auf die Frage: „Wie habt Ihr denn das genannt?“ geantwortet hat: „Vatterches und Mutterches“, so ist damit bewiesen, daß die Untersuchung nicht suggestiv geführt wurde. Nun hat der Angeklagte gewiß bei seinem Verhör nicht wie ein Jurist gehandelt; aber selbst ein Jurist hätte auf obige Antwort angenommen, er habe es mit einem Geständnis zu tun. Betreff der Ohrfeigen ist zu sagen, es ist nicht erwiesen, daß sie den Zweck hatten, einen Zwang auszuüben. Der Angeklagte behauptet, er habe Werner nur wegen der Lügen geohrfeigt, was letzterer nicht bestritten hat. Demnach liegt keine Körperverletzung vor, auch Bedrohung und Anwendung von Gewalt fällt damit fort. Auch behauptet der Angeklagte, er war überzeugt, im Einverständnis mit den Eltern zu handeln. Diese Behauptung ist ebenfalls nicht widerlegt worden. Selbst wenn Propst Malzi darüber sich im Irrtum befunden hätte, so könnte auch wegen dieses tatsächlichen Irrtums keine Bestrafung eintreten. Selbst wenn Werner mehr als zwei Ohrfeigen bekommen hat, ist das Züchtigungsrecht nicht überschritten worden. Ferner ist Werner durchaus unglaubwürdig. Die Art seiner Bekanntschaft mit der Schmidt hat er hier unwahr geschildert. Nicht aus falscher Scham leugnet er die Kenntnis der geschlechtlichen chen Dinge, sondern aus Lügenhaftigkeit. Auch seine Erziehung war nicht gut. Der größte Beweis seiner Unglaubwürdigkeit ist sein Verhalten nach der angeblichen Mißhandlung; er hat geschwiegen. Auch seine Unterschrift ist nicht die eines Gezwungenen. Seine erste Aussage ist also richtig, daß der Propst keinen Zwang ausgeübt hat. Auch zeigte Werner seine Gesinnung in den unehrerbietigen Äußerungen gegen den Propst. Auf das Zeugnis eines solchen Menschen ist ein unbescholtener Mann nicht zu verurteilen. Wenn ich die Vorfälle vom 18. Januar erörtere, so betone ich, daß der Propst guten Glaubens an die Untersuchung herangetreten ist. Dies wird auch durch die Aussage des Fräuleins Muth bestätigt. Ich will die Aussagen der Mädchen als wahr gelten lassen und dann zeigen, daß auf Grund dieser Aussagen keine Verurteilung möglich ist.
Meine Herren! Die absichtliche Erregung des Geschlechtstriebes ist nicht ausreichend, sondern die unzüchtige Handlung muß durch körperliche Berührung zum Ausdruck kommen. Im vorliegenden Falle ist nicht das geringste erwiesen. Keines der Mädchen ist im geringsten körperlich berührt worden, keine Entblößung hat stattgefunden, das Berühren am Kleid entbehrt der Beziehung zum Geschlechtlichen und enthält keine gröbliche Verletzung. Ferner ist die Aufforderung, mit dem Propst dasselbe wie mit dem Werner ner zu machen, objektiv betrachtet, ohne Beziehung des Geschlechtlichen. Also, eine objektiv unzüchtige Handlung liegt nicht vor. Subjektiv wird wollüstige Absicht verlangt. Ich lege kein Gewicht darauf, ob der Propst früher das Mädchen geküßt hat. Ich und auch der Propst erklären, daß dieser Vorfall verwerflich und ungerechtfertigt war. Also: alle äußeren Umstände sprechen gegen eine Absicht des Angeklagten.
Meine Herren! Im Zweifel muß die für den Angeklagten günstige Meinung gewählt werden. Ferner sind viele Aussagen der Mädchen unglaubhaft, besonders die, welche auf eine wollüstige Absicht hinzielen. Die Art, wie die Zimmermann das Legen auf das Sofa erzählt, ist physisch unmöglich, auch ihren Schrei hat niemand gehört. Ebenso ist die Erzählung von der goldenen Uhrkette eine Erfindung, also gerade ein Beispiel der Phantasiegebilde. Die Kette existiert nur in der Einbildung der Zimmermann. Meine Herren! Für mich ist die Annahme ausgeschlossen, daß die Kinder zur Unterzeichnung des Schriftstückes gezwungen wurden. Ferner sind die Schmidt und Zimmermann auch nicht so einwandfreien Charakters. Kinder in solchem Alter sind am gefährlichsten als Zeugen. Ferner bin ich der Meinung, daß der Angeklagte vielleicht gesagt hat: „Nun zeigt mir, was Ihr mit Werner gemacht habt.“ In der Wut, in der der Propst war, ist es begründet, daß er das vergessen hat. Meine Herren! Wenn meine Ausführungen richtig sind, so ist eine Verurteilung unmöglich, zum mindesten fällt das subjektive Moment fort, der Angeklagte kann also höchstens wegen Beleidigung verurteilt werden. Der Verteidiger schloß mit dem Antrage, den Angeklagten freizusprechen.
Oberstaatsanwalt: Das subjektive Moment liegt in den Worten des Propstes: „Bei dem Werner war es keine Sünde?“ Neigung zum romantischen Übertreiben ist im Pubertätsalter vorhanden, aber hier war davon nichts zu merken. Hier sind einfache Tatsachen, deren kriminelle Tragweite den meisten Leuten unbekannt ist. Auch wäre ohne reale Grundlage ein so stetiges Festhalten bei der Aussage ganz unmöglich. Der Angeklagte ist als Beamter anzusehen, da der Religionsunterricht unter Aufsicht der Staatsbehörde geschieht. Meine Herren! Der katholische Geistliche hat ebensowenig Züchtigungsrecht wie der evangelische. Daß der Vater des Werner dem Propst das Züchtigungsrecht erteilt hat, ist nicht richtig, denn der Propst hat den Knaben vor der Zusammenkunft mit dem Vater gezüchtigt. Meine Herren! Sollten Sie nur tätliche Beleidigung annehmen, so unterwerfe ich mich Ihrem Urteile. Der Angeklagte ist ein sympathischer Mann – ich wiederhole: ich bemitleide ihn! Aber: Die roten Lippen der Zimmermann sind die Korallenklippen, an denen er gescheitert ist.
Der Verteidiger bestritt wiederholt, daß das subjektive Moment festgestellt sei. Er wies im weiteren auf die furchtbaren Folgen hin, wenn bei dem Angeklagten wollüstige Absicht angenommen werde.
Darauf nahm der Angeklagte das Wort: Meine Herren Richter! Ich bin unschuldig. Ich bin nicht geflohen. Ich hatte die edelsten Absichten! (Sehr erregt): Meine Herren Richter! Seien Sie vorsichtig mit den Kinderaussagen! Ich könnte einen Eid ablegen, daß ich nie eine goldene Uhrkette gehabt habe. Die Kinder haßten mich, weil ich die eine geschlagen, der anderen ihren „Liebling“ (Werner) angegriffen habe.
Ich bin kein Nero an Grausamkeit (weinend) und ich bin auch kein Nero an Lüsternheit! Ich war bei der Untersuchung gegen Versuchung geschützt durch meine Pflicht. Lassen Sie mein bisheriges Leben für mich sprechen. Die Arbeit war mein ganzes Leben lang meine Freude. In der ganzen Stadt Worms ist außer den beiden Mädchen niemand, der mir Übles nachsagen kann. Ich bin unschuldig! Der Angeklagte versicherte im weiteren, daß er über seine Verhaftung sich nie abfällig geäußert habe und schloß mit der nochmaligen Beteuerung, daß er unschuldig sei.
Nach etwa 1 1/2 stündiger Beratung des Gerichtshofes wurde die Öffentlichkeit hergestellt.
Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Zimmermann, verkündete unter gespanntester Aufmerksamkeit keit der vielen Zuhörer folgendes Urteil: Der Gerichtshof erachtet als erwiesen, daß am 17. Januar der Angeklagte den Franz Werner wiederholt wegen der vermeintlich verlogenen Aussagen betreffs des Verkehrs mit den Mädchen geohrfeigt hat. Werner hat, über diese Körperverletzung beunruhigt, zu allem ja gesagt. Als erwiesen erachtet ist somit, daß der Angeklagte sich der Körperverletzung des Werner schuldig gemacht, um ihn durch Zwang zu einer Aussage zu nötigen. Daher wird nach § 223 und in idealer Konkurrenz mit § 240 des Strafgesetzbuches die Strafe verhängt. Das Gericht ist der Ansicht, daß der Angeklagte kein Züchtigungsrecht über Werner hatte, er war auch nicht von den Eltern dazu ermächtigt. Nicht erwiesen ist, abgesehen von der Gewalt, daß die Niederschrift unter Zwang erfolgt ist. Der Angeklagte ist daher mit 100 Mark Geldstrafe, im Unvermögensfalle mit zehn Tagen Gefängnis zu bestrafen. Die Mißhandlung der Zimmermann ist als erwiesen erachtet, und zwar ist der Angeklagte hier als Pfarrer handelnd angesehen worden. Daher fällt die Frage über Beamtenqualität fort. Da ihm als Seelsorger keine Züchtigung erlaubt war, so ist er nach § 223, mit Rücksicht des Verhaltens der Zimmermann, durch das er erregt war, mit 50 Mark Geldstrafe, eventuell mit fünf Tagen Gefängnis zu bestrafen. Ferner ist als erwiesen erachtet, daß die Zimmermann vom Angeklagten in dessen Wohnung bestellt worden war, in der dann auf die Kinder von dem Angeklagten eingewirkt wurde, das betreffende Schriftstück mit: „Es ist wahr“ zu unterzeichnen. Trotz des Leugnens des Angeklagten ist als erwiesen anzusehen, daß die Kinder die reine Wahrheit gesagt haben. (Bewegung.) Es ist zweifellos erwiesen, daß der Angeklagte die Zimmermann verschiedene Male geküßt und zum Lügen gegen die Mutter angehalten hat, und daß die Kinder die Erklärung, daß ihnen nichts geschehen sei, unterzeichnet haben. Diese Erklärung hatte nur Sinn, wenn etwas vorgefallen war. Das ganze Verhalten des Angeklagten hat das Gericht zu der Überzeugung gebracht, daß die Kinder die Wahrheit gesagt haben, zumal sie trotz aller Vorhalte bei ihren Aussagen geblieben sind. Das Gericht ist der Meinung, daß eine objektiv unzüchtige Handlung vorliegt. Ferner ist auch das subjektive Moment als vorhanden erachtet worden. Der Angeklagte mußte daher auch auf Grund der §§ 174 Abs. 1 und 176 Abs. 3 des Strafgesetzbuches bestraft werden. Der Gerichtshof hat jedoch dem Angeklagten mildernde Umstände nicht versagt. Im Namen des Großherzogs hat daher der Gerichtshof den Angeklagten, Dompropst Malzi der Vornahme unsittlicher Handlungen mit seinen minderjährigen Schülerinnen sowie der vorsätzlichen körperlichen Mißhandlung in idealer Konkurrenz mit Nötigung für schuldig erachtet und deshalb auf eine Gesamtstrafe von einem Jahre Gefängnis und 150 Mark Geldstrafe erkannt. Nach den gesetzlichen Bestimmungen waren auch dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
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BearbeitenGraf Gisbert von Wolff-Metternich.Ein Bild aus der Berliner Lebewelt
Skandalprozeß in Berlin
Es gereicht unserem fortgeschrittenen Zeitalter keineswegs zur Ehre, daß selbst das Publikum, das auf Bildung Anspruch macht und sich zu den sogenannten besseren Gesellschaftskreisen rechnet, Leute, die die Befugnis haben, ihrem Namen das Wörtchen „von“ vorzusetzen oder sich gar Baron bzw. Freiherr oder Graf zu nennen, als etwas Höheres betrachten. Das Wort „Bürgerstolz“ wird wohl vielfach im Munde geführt, es ist aber in Wahrheit nur selten vorhanden. Früher konnte von den Gerichten auch auf Verlust des Adelsprädikats erkannt werden, diese Strafe ist im Interesse des Ansehens der Bürger seit sehr langer Zeit aufgehoben. In den verschiedenen Revolutionen ist der vergebliche Versuch unternommen worden, den erblichen Adel abzuschaffen. Wenn das Wort „noblesse oblige“ (Adel verpflichtet) Wahrheit wäre, dann würde gewiß niemand gegen das Fortbestehen des Adels etwas einzuwenden haben. Allein eine Reihe Gerichtsverhandlungen der letzten Jahre haben bewiesen, daß der Adel vor dem Bürgertum in sittlicher Beziehung nicht das mindeste voraus hat. Ich bin entfernt, den gesamten Adelsstand, der zweifellos im allgemeinen ebenso achtbar ist wie der Bürgerstand, für Ausschreitungen einzelner verantwortlich zu machen. Die dem Adel eingeräumten Vorrechte widersprechen aber jedenfalls den modernen Anschauungen. Ein Zeichen kultureller Rückständigkeit ist es jedenfalls, daß die, wenn auch nur fälschliche Bezeichnung mit dem Wörtchen „von“, Baron, Freiherr oder Graf auf weite Volkskreise wie ein Zauber wirkt und das geeignetste Mittel ist, Eingang in die Kreise der besten Gesellschaftsklassen zu finden sowie die ärgsten Betrügereien zu begehen. Was mit einem wirklichen Grafentitel, ganz besonders wenn er von gutem Klang ist, selbst in der Hauptstadt des Deutschen Reiches fertiggebracht werden kann, ist nicht nur durch den Prozeß wider den Grafen Gisbert v. Wolff-Metternich bewiesen worden. Es gibt eine ganze Anzahl Aktiengesellschaften, die in den Aufsichtsrat vollständig mittellose Grafen und Freiherren wählen, lediglich um durch diese hochtönenden Namen größeres Vertrauen im Publikum zu gewinnen und ihre Aktien besser an den Mann zu bringen. Graf Gisbert v. Wolff-Metternich, ein noch sehr junger Mann, der keineswegs in seinem Äußeren den Grafen verrät, kam vor einigen Jahren vollständig mittellos nach Berlin. Er hatte weder einen Beruf noch irgendwie Neigung zu ehrlicher Arbeit. Sein Vater, der in Holland ein prächtiges tiges Schloß bewohnte und umfangreiche Rittergüter sein eigen nannte, hatte ihn gewissermaßen aus dem Hause gejagt, da er dem Vater nur Verdruß bereitete. Schon als fünfzehnjähriger Gymnasiast hatte Graf Gisbert starken Verkehr mit der weiblichen Halbwelt unterhalten und erhebliche Schulden gemacht. Da er, wohl infolge seines ausschweifenden Lebens, auf dem Gymnasium nicht vorwärtskam, nahm ihn der Vater von der Schule und hielt ihn auf seinen Gütern zur Erlernung der Landwirtschaft an. Aber auch hier machte der junge Graf erhebliche Schulden und führte ein schwelgerisches Leben. Der Vater schickte ihn schließlich nach Argentinien. Dort machte er es nicht besser. Da er, aus Argentinien zurückgekehrt, sein schwelgerisches Leben in den heimatlichen Gefilden fortsetzte, wies ihn der Vater aus dem Hause. Der alte Graf erklärte sich bereit, dem Sohn eine monatliche Unterstützung von 30 Mark zu gewähren, das übrige sollte er sich durch ehrliche Arbeit verdienen. Der junge Graf empfand aber zur Arbeit wenig Lust; um so größer war seine Neigung, sich in den Strudel der weltstädtischen Vergnügungen zu stürzen. Sehr bald war er Stammgast in den Lokalen, wo die feine Berliner Lebewelt verkehrt, wo man bei perlendem Sekt auf schwellendem Polster mit der in Seide rauschenden Halbwelt soupiert, während ein lustiger Walzer durch den Saal wirbelt und junge „Damen“ in seidenem nem Trikot die neuesten Tänze vorführen. Die väterliche Unterstützung von monatlich dreißig Mark reichte selbstverständlich zu einem solchen Leben bei weitem nicht aus. Aber einem Grafen Metternich, dessen Vater ein ungemein begüterter Schloßherr in Holland ist, dessen Oheim Botschafter des Deutschen Reiches in London und ein zweiter Oheim lebenslängliches Mitglied des preußischen Herrenhauses ist, öffnen sich nicht nur die Pforten zu den besten Gesellschaftskreisen, er hat auch überall Kredit. Als jedoch die zahlreichen Gläubiger die Wahrnehmung machten, daß der Vater des lebenslustigen jungen Grafen keineswegs willens war, die Berliner Schulden seines Sohnes zu bezahlen, da versiegte sein Kredit. Er borgte darauf Kokotten an und soll sich schließlich aufs Falschspiel verlegt haben. Er machte die Bekanntschaft mit dem „König der Falschspieler“, dem internationalen Hochstapler Stallmann, einem ehemaligen Handlungsgehilfen, der unter dem hochtönenden Namen „Baron v. Korff-König“ in Offizierskreisen Eingang gefunden hatte. Mit diesem soll Graf Metternich eine ganze Anzahl Offiziere durch Falschspiel um Unsummen betrogen haben. Als diesen Falschspielern in Berlin die Polizei auf den Fersen war, verlegten sie eiligst ihre Tätigkeit nach London und von dort nach Paris. Sie wurden steckbrieflich verfolgt. Graf Metternich tauchte schließlich in der Hauptstadt Österreichs auf, während es Stallmann gelang, nach Kalkutta zu entkommen. Graf Metternich verheiratete sich in Wien mit einer Schauspielerin und soll in der Tat in Wien auch fleißig gearbeitet haben. Er wurde jedoch sehr bald (Mitte Dezember 1910) infolge des Steckbriefes in Wien verhaftet und nach Berlin ausgeliefert. Bezüglich des Falschspiels reichte jedoch zunächst das Belastungsmaterial nicht aus, um eine Anklage zu begründen, zumal Stallmann spurlos verschwunden war. Da man sich aber nicht, wie im Falle des Fürsten Eulenburg, den Vorwurf machen lassen wollte, daß man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt, und es auch wohl Aufsehen gemacht hätte, wenn Graf Metternich wegen Mangels an Belastungsmaterial wieder entlassen worden wäre, so wurden auf Grund der Zivilprozeßakten die zahlreichen Gläubiger des Grafen als Zeugen geladen. Die österreichische Regierung erklärte sich einverstanden, daß der von ihr wegen Verdachts des Falschspiels ausgelieferte Graf Gisbert v. Wolff-Metternich auch wegen anderer Betrugsfälle bestraft werden könne. Es wurde deshalb Anklage wegen Betruges der zahlreichen Gläubiger des Grafen erhoben. Am 13. Juli 1911 hatte sich Graf Metternich vor der zehnten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Er bestritt, die Gläubiger betrogen zu haben. Er war der Überzeugung, daß es ihm möglich sein werde, die Schulden sämtlich zu bezahlen, da er zu der Annahme berechtigt war: er werde sehr bald der Schwiegersohn des großen Warenhausbesitzers Wolff Wertheim werden. Frau Wertheim versicherte jedoch als Zeugin: der Angeklagte habe wohl in ihrer Familie verkehrt und sollte auch als „Reisemarschall“ nach Italien mitkommen. Er konnte aber nicht annehmen, daß ihm ihre Tochter die Hand zum Ehebunde reichen werde. Ihre Tochter hatte zum Oberleutnant v. Fetter bedeutend größere Zuneigung und habe oftmals gesagt: „Fetter ja, Metter nich.“
Diese Aussage veranlaßte den Verteidiger, R.-A. Dr. Walter Jaffé die Ladung mehrerer Zeugen zu beantragen, die bekunden sollten, daß Frau Wertheim vollständig unglaubwürdig sei. Der Gerichtshof gab diesem Antrage statt, sah sich aber infolgedessen genötigt, die Verhandlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Am 3. Oktober 1911 begann die Verhandlung vor derselben Strafkammer von neuem. Es entwickelte sich nunmehr ein Skandalprozeß, wie er glücklicherweise zu den größten Seltenheiten gehört. Der Angeklagte schien durch die lange Untersuchungshaft körperlich schwer gelitten zu haben; er sah sehr blaß und kränklich aus. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte, ebenso wie das erstemal, Landgerichtsdirektor Crüger. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Porzelt. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Walter Jaffé und Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg. Vor Verlesung des Anklagebeschlusses nahm das Wort Verteidiger, R.-A. Dr. Jaffé: Der Angeklagte fürchte, daß der Vorsitzende durch eine Anweisung des Justizministers beeinflußt sei. Es sei eine Anweisung des Justizministers an den Untersuchungsrichter in der mit dieser Strafsache eng zusammenhängenden Anklagesache wegen Falschspiels vorhanden, durch die der Untersuchungsrichter gehindert worden sei, die Voruntersuchung gegen den Angeklagten Grafen W.-M. schon jetzt (was der Untersuchungsrichter wollte) zu schließen. Dieser Eingriff benachteilige den Angeklagten, gegen den bisher nicht der geringste Schuldbeweis wegen Falschspiels erbracht sei, und sei gesetzwidrig, weil der Justizminister dem Untersuchungsrichter nach dem Gerichtsverfassungsgesetz überhaupt keine Anweisungen geben dürfe. Der Untersuchungsrichter dürfe nach § 188 StPO. die Voruntersuchung nicht weiter ausdehnen, als erforderlich sei, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei. Der Angeklagte befürchte ferner eine Benachteiligung, weil die vorliegende Strafsache wegen Kreditbetruges erst eingeleitet worden sei, a) nachdem in der Strafsache wegen Falschspiels, in der allein der Angeklagte ausgeliefert war, sich herausstellte, daß ein Schuldbeweis wahrscheinlich scheinlich nicht zu führen sei und die Staatsanwaltschaft somit möglicherweise einen Fehlschlag getan habe, b) obwohl der Angeklagte von der Staatsanwaltschaft wegen derselben Beschuldigungen bereits früher außer Verfolgung gesetzt war, c) obwohl ferner keinerlei neue Anzeigen vorlagen, sondern vielmehr der Untersuchungsrichter sämtliche Zivilprozeßakten gegen den Angeklagten erst benutzen mußte, um ein Betrugsverfahren zu erzielen. Der Angeklagte fühle sich weiter benachteiligt, weil der Oberstaatsanwalt, wie vermutet werde, mit Rücksicht auf die Auffassung des Justizministers, nicht nur dem von der Verteidigung als Zeugen geladenen Staatsanwaltschaftsrat Dr. Schwickerath verboten habe, über seine Eindrücke und Entschließungen bei der Bearbeitung eines von Frau Wolff Wertheim veranlaßten Strafverfahrens auszusagen, obwohl nach § 53 2 StPO. die Genehmigung hierzu nur versagt werden dürfe, wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nachteile bereiten würde. d) Weil der Herr Oberstaatsanwalt sogar dem Herrn Landgerichtspräsidenten, der bereits dem ebenfalls von der Verteidigung als Zeugen benannten Landrichter Dr. Katz die generelle Genehmigung zur Aussage gegeben hatte, nahegelegt habe, diese Genehmigung wieder zurückzuziehen. Alle diese Umstände hätten in dem Angeklagten, der schon in der vorigen Verhandlung lung eine Voreingenommenheit seiner Richter wahrzunehmen glaubte, die Annahme hervorgerufen, daß man an höherer Stelle eine Freisprechung besonders unangenehm empfinden würde, weil sie zum Ausdruck brächte, daß man einen Neffen des deutschen Botschafters in London auf unzureichenden Verdacht hin vom Auslande habe ausliefern lassen und über neun Monate in Untersuchungshaft gehalten habe.
Der Angeklagte meine, daß ebenso wie dem Untersuchungsrichter und vermutlich auch der Staatsanwaltschaft, auch dem Herrn Vorsitzenden eine Auffassung des Justizministers über die Behandlung der Beweisaufnahme mitgeteilt sei, und daß der Vorsitzende hierdurch beeinflußt sei. Anders könne es sich der Angeklagte nicht erklären, daß der Herr Vorsitzende der Verteidigung vor der Verhandlung mitgeteilt habe, er werde jede Beweisaufnahme ablehnen, welche Angriffe gegen die abwesende Frau Wertheim enthalte, obwohl nach Ansicht des Angeklagten das Verhalten der Frau Wertheim zu der Auffassung zwinge, daß sie böswillig von Gerichtsstelle fernbleibe. Der Antrag der Verteidigung, dies durch Entsendung eines Gerichtsarztes festzustellen, sei mit unzureichenden Gründen abgelehnt worden. Falls sich die Vermutung des Angeklagten bezüglich eines Eingriffs des Herrn Justizministers nicht bestätigen sollte, so lehne er den Vorsitzenden auch deshalb ab, weil dieser ser eine Parteilichkeit zugunsten der Frau Wertheim bekundet habe, indem er erklärte: er werde jeden Angriff gegen Frau Wertheim hindern und, falls Angriffe erfolgten, die Verhandlung vertagen. Hierdurch sei gleichzeitig eine Voreingenommenheit gegen dem Angeklagten zum Ausdruck gebracht worden. Es sei unzulässig, Beweisanträge deshalb abzulehnen, weil sie die Interessen von Zeugen verletzen könnten. Im vorliegenden Falle sei die Ablehnung auch begreiflich, weil die betreffende Zeugin offensichtlich böswillig der Verhandlung fernbleibe, da sie damit rechne, daß auch ohne ihr Erscheinen ihre in der vorigen Verhandlung abgegebene Erklärung, in der sie die Behauptung des Angeklagten auf Aussicht einer Heirat mit Frau Dolly Landsberger bestritten, nachwirke. Der Angeklagte lehne aber auch den Beisitzer Landrichter Kriener ab, weil dieser in der vorigen Verhandlung mehrfach Zwischenbemerkungen gemacht habe, die erkennen ließen, daß er Dinge, die er auf privatem Wege erfahren zu haben glaubte, bei seiner richterlichen Tätigkeit benutzen wollte. Diese Dinge könnten aber hier schon deshalb nicht nachgeprüft werden, weil er sie nicht angegeben, sondern nur verschleiert angedeutet habe. So habe Landrichter Kriener auf einen Einwurf des Angeklagten, daß er zu der fraglichen Zeit im Besitze von Geld gewesen sei, wörtlich folgende Bemerkung gemacht: „Ja, woher hatten Sie denn das Geld? Ich weiß es ja, aber ich darf es nicht sagen.“ Ferner habe Landrichter Kriener zu dem von der Verteidigung gestellten Antrag auf Vernehmung des Justizrats Meschelsohn wörtlich gesagt: „Ist Justizrat Meschelsohn etwa Syndikus der Firma A. Wertheim? So. So. Das wollte ich nur wissen.“ Aus alledem folgere der Angeklagte eine Befangenheit des Landrichters Kriener.
Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg: Der Angeklagte ist zur Ablehnung eines Richters befugt, wenn er die Besorgnis hat, daß der abgelehnte Richter befangen ist. Diese Besorgnis kann der Angeklagte haben, wenn der Richter ihm gegenüber das Gesetz verletzt hat. Ob diese Verletzung eine vorsätzliche oder eine fahrlässige war, ist, wie das Kammergericht erklärt hat, gleichgültig. Der Angeklagte kann diese von ihm behauptete Gesetzesverletzung damit begründen, daß der Herr Vorsitzende der Verteidigung erklärt hat, er werde die Verhandlung vertagen, sobald Angriffe gegen die abwesende und damit an ihrer Verteidigung gehinderte Zeugin Wertheim erfolgten. Die Zeugin bleibt ohne zwingenden Grund von Gerichtsstelle fort.
In keinem Falle ist der Herr Vorsitzende berechtigt, den Angeklagten durch die Drohung, zu vertagen und damit die Untersuchungshaft zu verlängern, an der Führung eines Beweises zu hindern. Der Beweis ist von der Kammer selbst früher als erheblich anerkannt worden, denn sie hat die erste Verhandlung nach zweitägiger Dauer vertagt, ausschließlich, um diesen von dem Angeklagten angebotenen Beweis zu erheben. Jetzt auf einmal soll dieser Beweis nicht mehr erheblich sein, weil Frau Wertheim nicht erscheint. Mit dem § 200 der StPO., der besagt, daß der Richter frei seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Verhandlung schöpfen soll, will man uns beweisen, daß das geltendes Recht sei? Wenn sich dieser Rechtszustand aus dem § 200 StPO. ergäbe, so wäre dieses Gesetz geradezu jämmerlich. Soll der Angeklagte, wenn er hier seine Verteidigung vorträgt, es einfach ignorieren, daß er vor zwei Monaten von einer Zeugin, der der Herr Staatsanwalt das Prädikat „vorzüglich“ gegeben hat, als Lügner gebrandmarkt ist?
Der Verteidiger schloß hieran längere rechtliche Ausführungen über das, was „gerichtskundig“ ist, und fuhr alsdann fort: Der Gegenbeweis des Angeklagten muß zugelassen werden, um Ihnen die richtige Überzeugung von dem Wert oder Unwert der gerichtskundigen Behauptung der Frau Wertheim beizubringen. Ebenso wie sich der Angeklagte dagegen verwahrt, daß der Vorsitzende Dinge nicht als gerichtskundig ansehen will, die es zweifellos sind, verwahrt er sich auf der anderen Seite dagegen, daß Herr Landrichter Kriener Dinge verwertet, die schlechterdings dings nicht gerichtskundig sind.
Der Angeklagte Graf Wolff-Metternich betonte, daß dieses Ablehnungsgesuch direkt von ihm veranlaßt worden sei. Er selbst dehne diese Ablehnung auf die Ablehnung aller Richter der zehnten Strafkammer des Königlichen Landgerichts I aus und erbitte sich die Namen der Beisitzer. Er sehe sich zu dieser Maßnahme leider dadurch genötigt, weil ihm noch unmittelbar vor dem Termin von seiner Frau mitgeteilt worden sei: es habe ihr jemand aus authentischster Quelle hinterbracht, daß die Kammer bereits ein Urteil nach der vorigen nicht zu Ende gekommenen Verhandlung festgelegt habe. Das Urteil soll lauten: ein Jahr Gefängnis unter Anrechnung von sechs Monaten der Untersuchungshaft! Das sei eine beispiellose Ungeheuerlichkeit, beispiellos in der Justiz aller Länder und zeige doch wohl, daß das Gericht befangen sei. Jener Richter begründete folgendermaßen das Urteil: „Man könne doch einen Grafen Metternich, der noch dazu der Neffe des deutschen Botschafters in London sei, nicht so lange in Untersuchungshaft lassen, ohne ihn entsprechend zu bestrafen.“ Er beantrage darüber die eidliche Vernehmung seiner Frau und jenes Richters. Seine Befürchtung der Befangenheit werde auch durch folgendes bestärkt: Erst nachdem sein Onkel, Se. Exzellenz Graf Paul Wolff-Metternich, Botschafter des Deutschen Reiches in London, auf Anfrage der Staatsanwaltschaft, „ob er die Schulden des Neffen bezahlen wolle oder Einspruch gegen dessen Vernehmung erheben würde“, erklärt hatte: „er würde nicht zahlen und man könne ruhig vorgehen, aber dafür sorgen, daß sein Name möglichst dabei nicht genannt würde“, erst dann sei die Verhaftung verfügt worden. Das sei ein neuer, unzulänglicher Eingriff in die Rechtspflege und beweise, daß die Justizbehörde sich von anderen hohen Beamten und anderen Gesichtspunkten als von der Gerechtigkeit allein beeinflussen lasse. Wenn er, wie die Anklage behauptet, die Lieferanten betrogen habe, so hätte ihn weder sein Name noch die Stellung seines Onkels schützen dürfen. Das Anerbieten der Staatsanwaltschaft an den Onkel, daß bei Bezahlung der Schulden weitere Schritte unterbleiben würden, sei unstatthaft gewesen. Dieses Vorgehen des Staatsanwalts beweise aufs neue, daß es bei uns eine Klassenjustiz gebe. Da unmöglich anzunehmen sei, daß die Oberstaatsanwaltschaft in dieser gesetzwidrigen Weise vorgegangen sei, so bleibe nur übrig, daß ein Betrug von seiten der Staatsanwaltschaft überhaupt nicht angenommen werde. Dann aber sei wieder die heutige Verhandlung nicht zu erklären. Durch alle diese Vorkommnisse komme er zu der Befürchtung einer Beeinflussung der Richter auch von seiten der vorgesetzten Behörde. Die Behörde wolle unter keinen Umständen zugeben, daß sie mit seiner Verhaftung einen Fehler begangen habe. Staatsanwaltschaft und Gericht wollen ihn unter allen Umständen verurteilen. Seine Verhaftung habe solchen Staub aufgewirbelt, daß man eine Übereilung nicht zugestehen wolle. Erstens der bekannte Name, dann der Neffe des Botschafters, ferner die Verwandtschaft seiner Familie mit dem österreichischen Kaiserhause. Das alles seien Punkte, weswegen die Behörde durch eine Verurteilung nun auch die Berechtigung einer Verhaftung beweisen wolle. Dahinaus laufe ja auch die Begründung des bereits jetzt schon über ihn gefällten Urteils, das jener Richter dieser Kammer seinem Freunde mitgeteilt habe.
Auf Ersuchen des Angeklagten teilte der Vorsitzende diesem die Namen der Beisitzer mit: Landgerichtsrat Brieskorn, Landgerichtsrat Elsner, Landrichter Kriener und Landrichter Menard. Da Landgerichtsrat Brieskorn neu in das Kollegium getreten war, so lehnte diesen der Angeklagte nicht ab. Unter Vorsitz des Landgerichtsrat Brieskorn trat hierauf, entsprechend den Vorschriften der Strafprozeßordnung, ein Dreirichterkollegium in Tätigkeit, um die Berechtigung der vorgebrachten Ablehnungsanträge zu prüfen.
Der Angeklagte begründete in erregtem Tone nochmals seinen Ablehnungsantrag und fügte hinzu, daß auch seine Behandlung im Gefängnis auf eine Befangenheit der zehnten Strafkammer hindeute. Diese Behandlung handlung sei stellenweise ungeheuerlich gewesen. Er sei durch die Gefängnishaft krank und schwach geworden, habe, da ihm dies erlaubt sei, auf dem Bett gelegen, und als er nicht sofort aufstand, als ein Oberaufseher in die Zelle trat, sei er bestraft worden mit Entziehung des ganzen Essens und habe 48 Stunden bei Wasser und Brot zubringen müssen. Er habe sich darüber bei der zehnten Strafkammer beschwert, die Strafkammer habe aber die Beschwerde ohne richtige Begründung abgelehnt. Auch daraus habe er das Gefühl der mangelnden Unbefangenheit des Kollegiums erhalten. Die zehnte Strafkammer habe ihm geantwortet: er habe sich unvorschriftsmäßig verhalten; es gebe aber keine Vorschrift, in welcher bestimmt werde, daß ein Untersuchungsgefangener beim Erscheinen eines Aufsehers sich zu erheben habe. Er beantrage, den Vorsitzenden auf seinen Diensteid zu befragen, ob er vom Justizminister beeinflußt sei.
Staatsanw.-Rat Porzelt erklärte, daß der Angeklagte doch nicht Sachen vorzubringen habe, die gar nicht hierher gehören und überhaupt niemals geschehen seien.
Angekl.: Sie sind doch geschehen!
Vors.: Ich muß auch dringend ersuchen, sich nur an die Erörterung der Frage zu halten, inwiefern die vier abgelehnten Richter befangen sein sollen.
Angekl.: Ich bin doch kein Rechtsanwalt und kann das, was ich vorzubringen habe, nicht in drei Worten sagen.
Vors.: Sie müssen sich aber an die Sache halten.
Angekl. (erregt): Wenn ich hier wieder vergewaltigt werde, wenn man mich wieder mit Füßen tritt, dann sage ich kein Wort mehr. Es ist mein gutes Recht, mich zu verteidigen. Alles hackt hier auf mir herum, man will mir das Wort entziehen.
Vors.: Wollen Sie sich nun sachlich äußern oder nicht?
Angekl.: Jawohl! Aber wenn Sie mich immer unterbrechen, kann ich es nicht! Es ist durchaus richtig, daß bei meinem Onkel, dem Botschafter Grafen Wolff-Metternich angefragt worden ist, ob er meine Schulden bezahlen wolle. Das ist wahr, das steht in den Akten! Wahr ist auch, daß der Untersuchungsrichter Dr. Sprockhoff, der den die Sache führenden Untersuchungsrichter vertrat, einen Brief des Grafen v.d. Schulenburg unterschlagen hat.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich muß doch derartige Äußerungen und beleidigende Behauptungen, die durchaus nicht zutreffen, entschieden zurückweisen.
Vors.: Es sind derartige Vorwürfe nicht zulässig, wie sich der Angeklagte selber sagen muß, denn er wirft damit einem Richter eine strafbare Handlung vor!
Angekl.: Ich sehe darin auch eine strafbare Handlung! lung!
Der Vorsitzende, Landgerichtsrat Brieskorn, vernahm alsdann in öffentlicher Sitzung die abgelehnten Richter.
Landgerichtsdirektor Crüger: Ich erkläre dienstlich, daß ich mich in keiner Weise für befangen halte, sondern dem ganzen Straffall völlig unbefangen gegenüberstehe, wenn sich auch persönlich eine gewisse Meinung gebildet hat, wie es bei jedem der Fall sein wird, der die Akten sorgfältig und ernst studiert hat. Was die einzelnen Punkte betrifft, so erkläre ich dienstlich, daß mir von keiner Seite irgendein Wort zugetragen worden ist, weder versteckt noch offiziell, welches darauf hindeuten könnte, ich solle beeinflußt werden. Ich habe von einer angeblichen Verfügung des Herrn Justizministers nichts gewußt und kann mir gar nicht vorstellen, daß die Justizbehörde, wie behauptet worden, die Verurteilung des Angeklagten wünsche. Ich habe nichts in den Akten gefunden, daß irgendwie ein derartiger Wunsch des Justizministers zum Ausdruck gekommen ist. Wenn so etwas in den Akten Stallmann stehen sollte, so muß ich bemerken, daß ich diese Akten niemals gesehen habe. Was Frau Wertheim anbetrifft, so möchte ich folgendes hinzufügen: Der Angeklagte hatte zu seiner Verteidigung angeführt, daß, er auf die Heirat mit der Tochter der Frau Wertheim, der Frau Dolly Landsberger, rechnen durfte. Die Ermittelungen ergaben das Gegenteil. Frau Wertheim war nach ihrer Aussage in der ersten Verhandlung, unter Zustimmung des Verteidigers entlassen worden, und als dann ein gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin gerichteter Antrag der Verteidigung kam, habe ich öffentlich erklärt, und die Kammer hat es gebilligt, daß man nicht gegen eine abwesende Zeugin, die sich nicht verteidigen kann, ehrenkränkende Anschuldigungen zulassen, sondern die Sache vertagen werde. Es haben dann zwischen den Verteidigern und mir Besprechungen stattgefunden; ich habe mich dabei aus meiner ursprünglichen Reserve herauslocken lassen. Was ich gesagt habe, habe ich aber nur für meine Person und nicht namens der Kammer gesagt. Dann kam der unerwartete Brief der Frau Wertheim, daß sie nicht kommen könne. Ich habe mich wieder mit den Verteidigern unterhalten, was nun geschehen solle, und wieder in meinem Namen und nicht im Namen der Kammer meine Ansicht über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Angriffen gegen eine abwesende Zeugin ausgedrückt. Ich stehe auch jetzt noch persönlich auf dem Standpunkt, daß das Gericht grobe Anwürfe gegen eine abwesende Zeugin nicht zulassen könne. Ich habe nicht erklärt, daß die Sache vertagt werden würde, sondern nur, daß ein Gericht sich wohl nicht dazu hergeben werde, solche Anwürfe in Abwesenheit der betreffenden Zeugin entgegenzunehmen. Ich habe gefragt, ob die Verteidiger nicht auf eine Reihe vorgeschlagener Zeugen verzichten wollten, da sonst wohl eine Vertagung notwendig werden würde. Ich werde in Zukunft mein Benehmen danach einrichten, daß solche privaten Besprechungen nicht in dieser Weise verwertet werden. Die Entsendung eines Gerichtsarztes nach Meran habe nicht ich, sondern die Kammer abgelehnt. Wir haben uns gesagt, daß eine einmalige Untersuchung durch einen Gerichtsarzt zu nichts führen könne, abgesehen davon, daß ein preußischer Gerichtsarzt in Österreich nicht zuständig ist und die Zeugin nicht gezwungen werden kann, aus dem Auslande hierher zu kommen. Von einer schlechten Behandlung des Angeklagten im Gefängnis ist mir nichts bekannt. Was die Behauptung des Angeklagten betrifft, daß das Urteil bereits nach der ersten Verhandlung festgestellt worden sei, so weiß ich nicht, wer so etwas erzählt haben soll; ich weiß aber, daß wir in der Kammer, keinen irgendwie dahin auszulegenden Beschluß gefaßt, noch irgend etwas über die Höhe der Strafe gesprochen haben. Es ist also in keiner Weise ein Urteil schon festgelegt. Was die behauptete Anfrage des Staatsanwalts bei dem Onkel des Angeklagten, dem Botschafter in London, betrifft, so erkläre ich, daß ich von der Sache absolut nichts weiß.
Landrichter Kriener: Ich erkläre, daß ich mich nach keiner Richtung hin für befangen halte. Von einer Äußerung über den Erwerb des Geldes durch den Angeklagten weiß ich überhaupt nichts mehr. Dagegen erinnere ich mich, die Frage an Justizrat Meschelsohn, ob er Syndikus der Firma A. Wertheim sei, gerichtet zu haben. Ich erkläre, daß dies lediglich zu meiner persönlichen Information dienen sollte.
Landgerichtsrat Elsner: Ich erkläre, daß ich mich nach keiner Richtung hin befangen fühle. Da gegen mich irgendwie bestimmt präzisierte Ablehnungsgründe nicht geltend gemacht worden sind, muß ich annehmen, daß die Verteidigung vielleicht vermutet, jene Äußerung, der Angeklagte werde zu einem Jahr Gefängnis, unter Anrechnung von sechs Monaten der erlittenen Untersuchungshaft verurteilt, rührt von mir her. Ich weise diese Vermutung mit Entschiedenheit als falsch zurück.
Landrichter Menard gab eine ähnliche Erklärung ab.
R.-A. Dr. Alsberg und R.-A. Dr. Jaffé verwahrten sich entschieden gegen den aus der Auslassung des Direktors Crüger herauszulesenden Vorwurf, daß die Verteidiger vertrauliche Mitteilungen hier verwendet hätten. Weshalb nicht gestattet worden, daß Staatsanw.-Rat Schwickerath über seine Eindrücke, die er bei Gelegenheit einer Strafsache über den Charakter der Frau Wolff-Wertheim erhalten, hier aussage, sei unerfindlich, denn durch diese Aussage würde doch nimmermehr das Staatswohl gefährdet. Landgerichtsdirektor Crüger habe ausdrücklich gesagt: „Ich lasse eine Zeugin, die nicht hier ist, nicht an den Pranger stellen, und das kann ich Ihnen sagen: wenn solche Sachen vorgebracht werden, dann werde ich vertagen!“
Staatsanw.-Rat Porzelt: Der Angeklagte hat bestritten, geisteskrank zu sein; es scheint aber, als wollte er durch solche Behauptungen doch wieder Zweifel an seiner Geistesklarheit wachrufen. Für die Einbringung dieser Anträge des Angeklagten habe ich sonst keine rechte Erklärung. Der Angeklagte ist ein ausgestoßener Sprößling einer hochangesehenen Familie, im übrigen aber ist er ein Betrüger, der seit Jahr und Tag viele Personen geschädigt hat. Der Angeklagte schätzt sich doch sehr niedrig ein, denn ein Mann, der so lange betrogen hat, verdient mindestens zwei Jahre Gefängnis. Außerdem sitzt der Angeklagte auch wegen der Sache Stallmann in Untersuchungshaft.
Die Verteidiger traten den Ausführungen des Staatsanwalts in sehr scharfer Weise entgegen.
Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes erklärte Landgerichtsrat Brieskorn: Der Gerichtshof hat den Antrag der Verteidigung und des Angeklagten abgelehnt, da zu einer Ablehnung der vier Richter nicht der geringste Grund vorhanden ist.
Der ordnungsmäßige Gerichtshof unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Crüger trat darauf wieder in Tätigkeit. Es wurde der Anklagebeschluß verlesen und darauf zur Vernehmung des Angeklagten geschritten. Der Angeklagte gab an: Er sei am 15. November 1886 zu Schloß Arcem in Holland als Sohn des Rittergutsbesitzers und Königlichen Kammerherrn Grafen Lewin v. Wolff-Metternich geboren. Er habe die Klosterschulen und Gymnasien zu Betburg, Bonn und Münster besucht. Er habe als sehr junger Gymnasiast einmal einen Selbstmordversuch unternommen. Auf den Rat des Professors Dr. Aschaffenburg sei er von seinem Vater vorübergehend in eine Privat-Irrenanstalt gebracht worden. Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte sich darauf der Angeklagte über seine Beziehungen zu der Familie Wertheim: Frau Dolly Landsberger, geb. Pincus, Stieftochter des Herrn Wolff Wertheim wurde mir auf einem Fest im hiesigen Landwehrkasino von einem Leutnant der Reserve vorgestellt. Einige Tage später lernte ich die Mutter der jungen Dame, Frau Wertheim, bei einem bei Kroll stattgefundenen Wohltätigkeitsfest kennen. Auf Einladung der Frau Wertheim besuchte ich die Familie Wertheim, und zwar fast täglich. Ich habe von Anfang an die Absicht gehabt, mich um die Tochter zu bewerben. Zeuge hierfür ist der Leutnant Rittweger, ein Schwiegersohn des Justizrats Prerauer. Andere Zeugen wissen, daß ich den Silvestertag als den Termin meiner Erklärung angegeben habe. Sie haben mir viele Avancen gemacht, ich bin aber am Silvesterabend nicht mit der Erklärung hervorgetreten, da ich die Einladung der Frau Wertheim zu der Reise nach dem Süden erhalten hatte. Bei dieser Reise hatte ich keineswegs die Rolle eines „Reisemarschalls“ gespielt. Ich habe stundenlang täglich mit Frau Dolly Landsberger verkehrt, wir haben allein ein Auto genommen und sind spazieren gefahren; es ist auch vorgekommen, daß die Eltern abends zu Bett gingen und ich der Tochter, auf Aufforderung der Mutter, noch bis ein Uhr nachts Gesellschaft leistete. Sie legte sich dann auf eine Chaiselongue, und ich saß auf einem Taburett vor ihr. Wir haben uns du genannt und auch geküßt, und der ganze Verkehr ließ mir keinen Zweifel, daß ich als Schwiegersohn angenehm sei. Ich habe mit Frau Dolly Landsberger verkehrt wie Braut und Bräutigam; es ist mir jedenfalls nirgends angedeutet worden, daß ich nicht angenehm sei. Herr Wolff Wertheim hatte auch einmal gesagt, er habe ein Gut bei Cladow, das er seiner Stieftochter als Hochzeitsangebinde geben werde. Ich habe auch manchmal den Vermittler in der Familie spielen müssen, da sehr starke Gegensätze bestanden. Eines Morgens habe ich Mutter und Tochter in Tränen und in einer heftigen Aussprache gefunden. Die Tochter sagte zur Mutter: Du mit deiner Vergangenheit darfst dir doch überhaupt nichts erlauben. Ich beruhigte beide, und da hat Frau Wertheim den Kopf an meine Schulter gelehnt und mir gedankt. Mehr als einmal hat Herr Wertheim zu mir gesagt: „Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir kommen. Sie üben einen so guten Einfluß auf meine Tochter aus.“
Vors.: Wie war es nun am Silvesterabend?
Angekl.: Die Reise war also vorbereitet, und ich dachte, daß ich auf der Reise bessere Gelegenheit haben würde, meine Werbung anzubringen. Silvester war ich schon zum Frühstück von Wertheims eingeladen. Abends war eine Gesellschaft von dreißig Personen geladen, alle Arrangements waren mir übertragen worden. Da kam Frau Wertheim auf die große Reise zurück. Sie forderte mich auf, im Februar mit ihr nach Italien zu reisen und erbot sich, für die Kosten aufzukommen. Sie wiederholte dabei mehrfach, daß die Tochter mich sehr gern habe und ich ihr sehr angenehm sei. Ich habe über diesen Heiratsplan auch mit meiner Schwester korrespondiert.
Vors.: Wie konnten Sie denn annehmen, daß Sie ohne Mittel besondere Chancen hatten?
Angekl.: Es war ja mehrfach angedeutet worden, daß Frau Wertheim ihre Tochter gern wieder verheiraten wollte. Deren erste Ehe war schiefgegangen, und nun sollte die Tochter einen Grafen haben.
Vors.: Aber kurze Zeit darauf war die ganze Sache zu Ende.
Angekl.: Frau Wertheim schrieb mir am 8. Januar: vorläufig möchte ich nicht kommen, die Tochter sei krank. In Wahrheit lag die Sache so, daß der Kommandeur des 2. Garderegiments z.F. seinen sämtlichen Offizieren verboten hatte, im Hause Wertheim zu verkehren. Das war ihnen natürlich unangenehm, und deshalb wurde die Krankheit vorgespiegelt. Wie sehr man mich schätzte und keineswegs als den untergeordneten „Reisemarschall“ betrachtete, geht u.a. daraus hervor: Eines Tages begrüßte ich in einem Restaurant den Prinzen Salm-Salm, der mit einer Tante von mir und auch mit dem österreichischen Kaiserhause verwandt ist. Frau Wertheim war ganz entzückt, als sie hörte, daß ich somit auch mit dem österreichischen Kaiserhause verwandt sei. Am Silvesterabend habe ich die Tischordnung gemacht, und Frau Wertheim sagte zu mir: Es ist selbstverständlich, daß Sie meine Tochter zu Tisch führen.
Vors.: Zu jener Zeit scheinen sich Mutter und Tochter ganz gut verstanden zu haben.
Angekl.: Nein, sie standen sich nie gut, ich habe immer Veranlassung gehabt, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln, denn es kam oft zu argen Szenen zwischen beiden. Ich habe übrigens einen großen Teil meiner Läpperschulden bezahlt. Ich wiederhole, daß ich nicht etwa als Schuhputzer mit auf die Reise gehen sollte, sondern daß man selbst auf mich als Schwiegersohn reflektierte.
Vors.: Nun sind die Wertheims aber doch anderen Sinnes geworden. Wie erklären Sie sich das?
Angekl.: Sie hatten wohl gehört, daß ich auf die Aussicht einer reichen Heirat schon Geld aufzunehmen suchte. Der Angeklagte gab auf weitere Fragen an, daß er auch noch andere Aussichten hatte, zu Geld zu kommen. So habe er Aussicht gehabt, in den Aufsichtsrat einer großen Gesellschaft zu kommen; in dieser Position hätte er über 12000 Mark im Jahre verdient. In Scheveningen habe er dann seine jetzige Frau kennengelernt und sie geheiratet. Er habe seiner Frau sofort gebeichtet, welche Schulden er habe und überlegt, wie er sie am besten abtragen solle. Er sei dann mit ihr zu einem Zivilanwalt in Wien gegangen und habe diesem die Sachlage mitgeteilt. Der Anwalt habe gesagt: Ach, das sind ja Läpperschulden. Lassen Sie die Leute noch ein halbes Jahr warten und bieten Sie ihnen dann 60 Prozent. Seine Frau habe eigenes Vermögen und ein jährliches Einkommen von 50 bis 60000 Kronen. Er könne darauf verweisen, daß er zur kritischen Zeit in der Tat auf eine reiche Heirat hinzielte, er hatte zwei Heiratsvermittlerinnen an der Hand. Diese können bekunden, daß er gesagt habe: „Unter eine Million tue ich es nicht, es muß aber auch eine gute Familie sein.“
R.-A. Dr. Jaffé wiederholte den Antrag, den Medizinalrat Dr. Hoffmann nach Meran zu senden, und beantragte ferner, Frau Margarete Fröhlich, verw. Bornstein, Inhaberin des Ehevermittelungs-Instituts Bornstein, Kurfürstendamm 33, als Zeugin und Sachverständige darüber zu vernehmen, daß einem Heiratskandidaten, der den Namen Graf Wolff-Metternich trägt, mit Leichtigkeit Partien mit Mitgiften von vielen hunderttausend Mark vermittelt werden könnten. Daß ferner Personen mit derartigen Namen auch wiederholt zu „Namensheiraten“ gesucht würden, von vornherein mit der Absicht, die Ehe nach kurzer Zeit zu lösen. Daß für solche „Namensheiraten“ Summen von vielen Tausenden Mark gern gezahlt würden.
R.-A. Dr. Alsberg unterstützte diese Anträge. Frau Bornstein würde auch bekunden, daß es nichts Ungewöhnliches sei, wenn Heiratskandidaten mit nach dem Süden genommen würden.
Die Anträge der Verteidiger wurden nach kurzer Beratung mit der Begründung abgelehnt, daß die Aussagen der Frau Wertheim aus der ersten Verhandlung für den Gerichtshof nicht von Einfluß seien.
Es wurden alsdann zwei Krankenschwestern vernommen, die Frau Dolly Landsberger nach ihrem bekannten Sprung aus dem Fenster gepflegt haben, und die über das schlechte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter Auskunft geben sollten. Die Krankenschwester Alex bestätigte, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter das denkbar schlechteste gewesen sei. Frau Wertheim habe der Tochter gegenüber die gemeinsten Schimpfwörter gebraucht, wie: eklige Jüdin, Biest, Dirne, Frauenzimmer und andere aus dem Sexualleben entnommene Schimpfwörter.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß Frau Wertheim einmal von der schlechten Erziehung ihrer Tochter gesprochen hat, und als die Tochter fragte, warum man sie nicht in eine Pension gegeben habe, Frau Wertheim geantwortet hat: Dann wärst du nach sechs Wochen, von einem Hausdiener schwanger, wieder nach Hause gekommen?
Zeugin: Das ist richtig.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß Frau Wertheim ihre Tochter wiederholt veranlassen wollte, in dem Ehescheidungsprozeß gegen Dr. Landsberger falsche Anschuldigungen zu erheben?
Zeugin: Jawohl.
R.-A. Dr. Alsberg: Ist es richtig, daß Frau Dolly Landsberger vielfach nach ihrem Manne verlangte und Frau Wertheim sie mit Gewalt von ihrem Manne fernzuhalten suchte.
Zeugin: Jawohl. Frau Wertheim hat wiederholt Briefe des Dr. Landsberger abgefangen und nicht abgeliefert. geliefert.
R.-A. Dr. Alsberg: Entsinnen Sie sich, daß davon gesprochen wurde, Frau Dolly Landsberger habe, als sie hörte, ihre Mutter verbreite alles mögliche, was sie über ihren Mann gesagt haben solle, geäußert: „Solche Gemeinheit, meine Mutter hat mir das alles erst eingeredet“?
Zeugin: Jawohl.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß Frau Wertheim einmal geäußert hat: Sie und ihre Tochter lügen beide, wenn sie aber selber lügt, dann versteht sie es besser?
Zeugin: Das ist mir nicht erinnerlich.
Krankenschwester Rose Kolb bestätigte auf Befragen der R.-A. Dr. Jaffé und Dr. Alsberg, daß es öfter zu heftigen Szenen zwischen Mutter und Tochter gekommen sei. Bei der ersten Ausfahrt der Frau Dr. Landsberger nach ihrer Erkrankung durch den Tiergarten habe sich Frau Dr. Landsberger geniert gefühlt, daß sie viele Bekannte trafen. Als sie deshalb gebeten habe, einen anderen Weg einzuschlagen, habe Frau Wertheim laut geschrien: „Wenn sie dich sehen, sehen sie nichts weiter als ein ...“ (es folgte ein nicht wiederzugebendes Schimpfwort). Richtig sei es auch, daß Frau Dr. Landsberger dauernd zu ihrem Manne zurückzukehren verlangte und oft schrie: „Ati, mein Ati, ich hab dich ja so lieb.“ Sie habe dann verzweifelt in die Kissen geschluchzt, wenn die Mutter dazukam kam und sie mit den unflätigsten Schimpfwörtern belegte. Auf weiteren Vorbehalt bestätigte die Zeugin folgendes: Frau Wertheim habe bei einer Gelegenheit zu ihrer Tochter gesagt: ihr Großvater habe nicht umsonst die Millionen zusammengestohlen, damit sie nur Champagner saufen und sich amüsieren konnte.
R.-A. Dr. Alsberg: In ihrer eidesstattlichen Versicherung vor dem R.-A. Dr. Marwitz haben Sie auch bekundet: Eines Tages saß die Tochter am Klavier, spielte ein Lieblingsstück ihres Mannes und weinte. Da machte ihr Frau Wertheim eine heftige Szene und sagte: Ich will dir nur eins sagen, ich habe deinen Vater zugrunde gerichtet und richte auch dich zugrunde.
Zeugin: Was ich eidesstattlich versichert habe, ist richtig, ich besinne mich jetzt aber nicht mehr darauf. Alsdann wurde Oberleutnant v. Fetter vernommen, der längere Zeit im Hause Wolff Wertheim verkehrt hat. Er erklärte, daß er nicht die Absicht gehabt habe, Dolly Pincus zu heiraten, und daß er einige Wochen, nachdem er in das Haus Wolff Wertheim eingeführt war, dies auch in einer Unterredung Frau Wolff Wertheim ausdrücklich erklärt habe. Der Angeklagte Wolff-Metternich sei im Hause Wolff Wertheim ebenso behandelt worden wie alle anderen Gäste.
Der Angeklagte fragte den Zeugen, ob es seiner Meinung nach zwischen Mutter und Tochter so weit gekommen sei, daß die Tochter der Mutter alles gebeichtet habe. Der Zeuge glaubte dies bestimmt verneinen zu können, da auch er den Zwist zwischen Mutter und Tochter bemerkt habe. Er habe auch dem Angeklagten auf dessen Anfrage erklärt, daß er nicht die Absicht habe, sich um Frau Dolly Pincus zu bewerben. Leutnant v. Ziesar war nur zweimal im Hause Wolff Wertheim. Ihm hat Oberleutnant v. Vetter ebenfalls erklärt, daß er sich nicht um die Tochter des Hauses bewerben wolle. Von einer schlechteren Behandlung des Angeklagten im Hause Wolff Wertheim gegenüber anderen Gästen sei auch ihm nichts bekannt.
Zeugin Fräulein von Hanstein, die ehemalige Erzieherin der Dolly Landsberger bekundete gleichfalls, daß oft böse Szenen zwischen Mutter und Tochter stattgefunden hätten. Erstere habe oft sehr unanständige Wörter gebraucht, die in gebildeten Kreisen nicht üblich sind und auch manchmal auf sexuellem Gebiete lagen. Auch habe sie gesagt, sie hasse ihre Tochter und habe sie schon vor der Geburt gehaßt.
R.-A. Dr. Jaffé: Hat Frau Wertheim nicht gesagt, sie habe monatelang vor der Geburt nur Kognak getrunken und Salat gegessen? Das Gericht lehnte diese Frage ab. Weiter bekundete die Zeugin, daß Dolly Landsberger, die sich mit fünfzehn Jahren verheiratet hatte, mehrfach von der Mutter mißhandelt worden sei.
R.-A. Dr. Alsberg: Danach ist der Zwiespalt zwischen beiden so groß gewesen, daß Frau Dolly Landsberger ihre tiefsten Seelenzustände wohl kaum der Mutter offenbart haben wird. (Zur Zeugin): Legte Frau Wertheim noch immer besonderen Wert auf klangvolle Namen?
Zeugin: Jawohl.
Dr. Alsberg: Hat sie nicht einmal gesagt: „Jetzt wäre der Herzog der Abruzzen für dich fällig gewesen.“
Zeugin: Jawohl, das hat sie gesagt. (Heiterkeit.) Hierauf wurde Staatsanw.-Rat Dr. Schwickerath als Zeuge vernommen. Dieser hatte eine Strafsache gegen Dr. Landsberger bearbeitet, die, wie er den Verteidigern berichtigend bemerkte, nicht auf einer Strafanzeige der Frau, sondern des Herrn Wertheim beruhte. Es seien damals zahlreiche Briefe von Dr. Landsberger eingereicht worden, die ihm seine Frau geschrieben hatte.
R.-A. Dr. Jaffé hielt dem Zeugen eine Reihe dieser Briefe vor. Der Zeuge bestätigte in jedem einzelnen Falle, daß er sich daran erinnere. In einem Brief vom 11. Juni hieß es: Frau Wertheim ist wieder einmal im Bett, und ich sitze auf dem Balkon und harre ihrer Befehle. Und wenn sie mir sagt, wie schlecht sie sich fühlt, warum regt sich da kein Mitleid in meinem Herzen? zen? Eins ist sicher, daß seit dem 1. Juni etwas in mir erstorben ist, als diese Frau, die meine Mutter ist, mich bespuckte. Mir war, als ob etwas in mir tot sei und ich weiß, es wird auch nie mehr in mir aufleben.
In einer Reihe anderer Briefe heißt es u.a.: „Ich fühle mit dieser Frau, die mich geboren hat, keinen seelischen und keinen körperlichen Zusammenhang, und sie ist doch meine Mutter.“ „Es ist doch so traurig, täglich und stündlich mit einer Frau zusammen zu leben, die die Mutter ist und der man so fremd, ach so fremd gegenübersteht, die man nicht einmal achten kann.“
„Es tut mir weh, dieses Haus meine Heimat nennen zu müssen.“ Eines Tages erklärte Frau Wertheim, daß sie am Wannsee bei Cladow für die Bewerber Dollys eine Villa gemietet habe. An einem andern Tage erklärte Frau Wertheim: „Mir ist es lieber, du wirst die Mätresse eines Prinzen, als die Frau irgendeines Herrn Mayer.“ In einem Briefe von Ende 1907 heißt es: „Ich bin schon gehaßt worden, ehe ich lebte. Mama erzählte mir hundertmal, wie sie mich hasse. Nur den einen Wunsch hatte sie in dieser Zeit, befreit von der ?Unbequemlichkeit? zu sein. Ich war das Kind des Mannes, den sie haßte, und sie trug mich auch im Haß. Meine erste Erinnerung aus meiner Kindheit ist: Ich lag im Wagen, Mama zeigte mir ein Bild und sagte: ?Das ist deine Tante.?
Es war ein Bild einer Mätresse meines Vaters.“
„Von diesem Sumpf, der in der Seele dieser Frau liegt, die meine Mutter heißt, machst Du Dir keine Ahnung. Du, laß mich nicht zu lange in dieser Hölle.“
„Ich schäme mich, diese Frau als Mutter zu haben.“ ... In einem andern Briefe hieß es: Frau Salbach bat Frau Wertheim, ihr doch einige Billette zur Unterstützung für einige arme jüdische Kinder abzunehmen. Frau Wertheim äußerte bei Empfang des Briefes: „Nein, fällt mir gar nicht im Traum ein; wenn mich nicht eine Exzellenz bittet, denke ich gar nicht daran, zu geben.“
Als nächster Zeuge wurde der frühere Staatsanwalt, jetzige Landrichter Dr. Katz vernommen. Er hatte eine Strafsache gegen die Schwiegermutter der Frau Wertheim, Frau Pincus, geführt. Diese war durch eine Strafanzeige der Frau Wertheim veranlaßt worden und lautete auf Meineid. Frau Pincus wurde außer Verfolgung gesetzt, weil nicht genügende Beweise vorlagen.
Vors.: Aus den Akten stelle ich fest, daß Frau Pincus damals siebzig Jahre alt war und über Dinge vernommen wurde, die neun Jahre zurücklagen.
R.-A. Dr. Alsberg: Hat der Zeuge nicht den Eindruck gehabt, daß Frau Wertheim die Anzeige aus Gehässigkeit oder aus dem Grunde erstattet hat, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen?
Zeuge: Über die Motive kann ich mich nicht äußern.
Aus den Akten wurde darauf festgestellt, daß Frau Pincus als Zeugin vom Kammergericht vernommen wurde, und Frau Wertheim hat Fragen an sie gerichtet auf Grund von Briefen aus alter Zeit. Die Angaben der alten Dame sollen nach der Behauptung der Frau Wertheim unrichtig gewesen sein.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist dem Zeugen bekannt, wie man bei der Kgl. Staatsanwaltschaft sonst über die Glaubwürdigkeit der Frau Wertheim denkt?
Zeuge: Darauf kann ich kaum antworten. Gewiß ist manches gesagt worden, was nicht günstig war, auf der anderen Seite aber auch das Gegenteil.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat in der vorigen Sitzung die Frau Wertheim für eine „vorzügliche Zeugin“ erklärt. Hat man sich nicht darüber gewundert und gesagt, man könne darin dem Staatsanwalt nicht beipflichten?
Zeuge: Darüber kann ich mich auch nicht äußern; ich bin hier Zeuge und nicht Sachverständiger.
Am zweiten Verhandlungstage erklärte der Angeklagte: Ich bin am Weihnachts-Heiligabend als einziger Fremder bei Wertheims eingeladen gewesen und habe von Dolly Landsberger ein kostbares Weihnachtsgeschenk, eine Reitpeitsche mit silbernem Griff, erhalten. Ich war dann auch am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag bei Wertheims. Ich habe täglich an Dolly Landsberger Blumen geschickt, ebenso auch an Frau Wertheim selbst, wie es doch ein „Diener“ oder „Angestellter“ nicht tun würde. Ich war oft eine Stunde lang in dem elektrischen Kupee mit der Dolly ausgefahren und wurde häufig telephonisch nach dem Tattersall bestellt, in dem Dolly Landsberger Reitübungen unternahm. Bei den Abendbesuchen im Boudoir sollte ich ihr einmal ihr schönes schwarz-blaues Haar aufmachen. Ich war ganz überzeugt, mit Kußhand aufgenommen zu werden und auf der Reise im Süden die Sache perfekt machen zu können.
R.-A. Dr. Jaffé verlas darauf folgendes, von Dr. Arthur Landsberger an ihn gerichtetes Telegramm: Da mir der Name des Vorsitzenden unbekannt ist, teile ich Ihnen mit, daß ich infolge Erkrankung am Erscheinen verhindert, wüßte auch sonst in Sachen Wolff-Metternich, der mir, wie seine Affäre, nur aus den Zeitungen bekannt ist, keinerlei Bekundungen zu machen. Sollte sich meine Vernehmung aber auf mein einstmaliges Verhältnis zum Hause Wolff Wertheim beziehen so erkläre ich, daß ich, selbst auf die Gefahr des Zeugniszwangsverfahrens hin, keine Bekundungen gegen Frau Dolly machen würde. Diesen Standpunkt werde ich auch dann nicht ändern, wenn mich die Wertheim, gleichwie in welcher Form, verleumden sollte. Damit jedoch mein Schweigen nicht falsch ausgelegt wird, entbinde ich die Herren Justizrat Sello und Dr. Marwitz von ihrer Amtsverschwiegenheit hinsichtlich aller Punkte, die sich nicht gegen Frau Dolly richten. Stelle, falls Herr Maximilian Harden erscheinen sollte, anheim, ihn über alle das Haus Wertheim und mich betreffenden Punkte zu befragen. gez. Dr. Arthur Landsberger, z.Z. Prag, Hotel „Blauer Stern“.
R.-A. Dr. Jaffé legte ferner einen Artikel aus dem „Herold“ vor.
Staatsanw.-Rat Dr. Porzelt: Ich sehe, es soll immer wieder auf die Glaubwürdigkeit der Frau Wertheim eingegangen werden. Ich habe schon gestern betont, ich habe keinerlei Interesse an den Bekundungen der Frauen Wertheim und Dolly Landsberger. Die ganze Ära Wertheim hat nur ganz kurze Zeit gedauert. Die Straftaten des Angeklagten fallen in eine ganz andere Zeit. Es ist deshalb unerfindlich, weshalb der Angeklagte aus dem „Fall Metternich“ einen „Fall Wertheim“ machen will. Ich erkläre, daß ich bereit bin, die Fälle, die in die Ära Wertheim fallen, auszuschalten. Wir haben kein Interesse daran, ob Frau Wertheim glaubwürdig ist oder nicht. Diese ganze Sache ist anscheinend deshalb nur so stark hervorgehoben worden, um das Interesse von dem Angeklagten selbst abzulenken und Sensation zu machen.
Vors.: Die Zeugen sind geladen und müssen vernommen werden.
R.-A. Dr. Jaffé: Die Ausführungen des Staatsanwalts treffen nicht zu. Der Fall Wertheim ist schon in der Voruntersuchung hineingezogen worden, er zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Affäre hindurch. Es kommt darauf an, daß der Angeklagte sichere Chancen bezüglich der Frau Dolly hatte, und wenn dies sich ergibt, dann ist vielleicht der Schluß zu ziehen, daß er auch in anderen Fällen glauben konnte, gute Chancen auf eine reiche Heirat zu haben.
Angekl. Graf Metternich: Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, mich in Schutz zu nehmen gegen die Ausfälle des Staatsanwalts, der gestern gesagt hat, ich sei für die Staatsanwaltschaft nur ein gemeiner Betrüger. Heute sagte er wieder, ich wolle Sensation machen. Meine Verteidiger haben geglaubt, jene Beweisanträge stellen zu müssen. Ich will keinesfalls Sensation machen.
Vors.: Was Ihren Schutz betrifft, so muß ich darauf hinweisen, daß der Staatsanwalt doch nur seine eigene Ansicht hat, wie Sie auch vielerlei Ansichten kundgegeben haben.
R.-A. Dr. Alsberg beantragte, einen Artikel aus dem „Herold“ zu verlesen, der von Frau Wolff Wertheim herrühren soll. Der Artikel wird ergeben, so führte der Verteidiger aus, daß Frau Wertheim in der Sucht, sich und ihre Klugheit in den Vordergrund zu stellen, so weit geht, daß sie nicht davor zurückschreckt, öffentlich ihren Mann zu beschuldigen, er sei bereit gewesen, einen Meineid zu leisten. Diese Beschuldigung bringe sie nur vor, um von einem geschickten Coup zu berichten, den sie damals inszeniert habe. Auf eine Zeugin, die sich so ihrem eigenen Manne gegenüber verhält, kann nichts gegeben werden, wenn sie Dritte beschuldigt.
Justizrat Dr. Meschelsohn, juristischer Berater der Firma A. Wertheim, bekundete alsdann als Zeuge: In der Zeitschrift „Herold“ erschien eines Tages ein Artikel, der, Bezug nehmend auf einen Rechtsstreit, die Firma Wertheim und auch ihn, Zeugen, aufs heftigste angriff. Der Inhalt dieses Artikels, der aller Vermutung nach von Frau Wertheim herrührte, ging darauf hinaus, daß man versucht habe, Herrn Wolff Wertheim durch eine Art Komplott zur Ableistung eines Meineides zu drängen, um ihn dann mit Hilfe des daraus sich ergebenden Strafprozesses aus der Firma A. Wertheim auszuschließen. An der ganzen Geschichte sei absolut nichts Wahres gewesen, es sei eine völlig hirnverbrannte Geschichte, an welcher weder objektiv noch subjektiv auch nur das geringste wahr sei. Er (Zeuge) sei dann an den Staatsanwalt herangetreten, um gegen den verantwortlichen Redakteur vorzugehen. Diese Angelegenheit wurde schließlich dadurch aus der Welt geschafft, daß Abbitte geleistet und eine Buße gezahlt wurde. Später wandte sich Frau Wolff Wertheim an ihn mit der Bitte, in einer Angelegenheit ihre Interessen wahrzunehmen. Er habe das mit den Worten abgelehnt: Wie ist das möglich, daß Sie, die Sie damals diesen schändlichen Artikel geschrieben haben, glauben, daß ich Ihr Rechtsbeistand werden könnte? Frau Wertheim habe darauf erwidert: Aber Herr Justizrat, mir war gesagt worden, wir kriegen zehn Millionen, wenn der Artikel kommt. Er (Zeuge) hatte das Gefühl, daß mit dem Artikel eine Erpressung beabsichtigt gewesen sei.
Vors.: Ist man denn mit Geldforderungen an Ihre Klienten herangetreten?
Zeuge: Nein, aber man kann doch auch Erpressungen inszenieren, indem man zunächst horcht, welches Gebot gemacht wird.
Aus der weiteren Vernehmung des Zeugen ergab sich, daß eine Broschüre über dieselbe Angelegenheit erschienen sei, und ein Strafverfahren gegen den Verfasser geschwebt habe.
R.-A. Severin Behrend bekundete als Zeuge: Frau Wertheim hat einen Prozeß gegen ihren Schwiegervater, den Kommerzienrat Pincus, geführt. Es handelte sich damals um Zahlung von 60000 Mark. Im Anschluß an diesen Prozeß hat Wolff Wertheim eine Anzeige gegen Kommerzienrat Pincus wegen Fälschung einer Urkunde erstattet.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß in dem Zivilprozeß über 60000 Mark Frau Wertheim die Echtheit ihrer eigenen Unterschrift bestritten hat?
Zeuge: Ja, das ist geschehen. Es war damals ein Eid normiert worden, den Frau Wertheim leisten sollte. Sie ist dann aber zu dem Eidestermin nicht erschienen. Weiter berührte R.-A. Dr. Jaffé durch zahlreiche Fragen an den Zeugen noch einen Wust von Vorkommnissen, in denen Frau Wertheim eine häßliche Rolle gespielt haben soll. So wurde erwähnt, daß Frau Wertheim gegen ihre Schwiegermutter und ihren Schwiegervater einen Prozeß auf Herausgabe von gewissen Briefen geführt habe. Die siebzigjährige Frau sei sogar zu einem Offenbarungseid getrieben worden und habe schwören müssen, daß sie die Briefe nicht habe. Auf Anfrage des R.-A. Jaffé bestätigte R.-A. Behrend, daß zu der Zeit, als das Meineidsverfahren gegen die eigene Schwiegermutter der Frau Wertheim eingeleitet war, in der Zeitschrift „Morgen“ unter der Überschrift „Tiergarten-Skandal“ ein Artikel erschien, in welchem von einem zweifellos Eingeweihten angekündigt wurde, daß eine solche Affäre im Gange sei. Er und seine Klienten hatten keinen Zweifel, daß Frau Wertheim die Urheberin dieses Artikels war.
Im Anschluß hieran wurde auf einen Prozeß zurückgegriffen, rückgegriffen, der einmal gegen die Mutter der Frau Wertheim, Frau Tietzer, geschwebt hatte.
R.-A. Dr. Alsberg ersuchte, aus den Akten festzustellen, daß sich Frau Wertheim von ihrer Mutter eine schriftliche Erklärung des Inhalts hat geben lassen: „Liebe Trude! Hierdurch bestätige ich Dir, daß ich, Deine Mutter, die Unterschrift geleistet habe. Paula Tietzer.“ Es stehe fest, daß unmittelbar danach Frau W. bzw. ihr Mann gegen Frau Tietzer Anzeige wegen Urkundenfälschung bei der Staatsanwaltschaft erstattet habe.
R.-A. Dr. Jaffé erwähnte: Nachdem Herr Hentschel, ein Onkel der Frau Wertheim, verstorben war, behauptete diese, Hentschel habe Selbstmord begangen, weil er in ihrem Prozeß einen Meineid geleistet habe.
Zeuge R.-A. Behrend bestätigte, daß dies erzählt worden sei. Tatsächlich sei Herr Hentschel an schwerer Zuckerkrankheit gestorben.
Zeuge Kühn, früherer Privatsekretär des Herrn Dr. Arthur Landsberger, bekundete: Frau Dolly Landsberger habe sich häufig beklagt, daß sie von ihrer Mutter mit den gemeinsten Schimpfworten belegt werde. Auf Befragen des R.-A. Dr. Jaffé erklärte Zeuge: Es sei richtig, daß die in dem Hause Wertheim angestellt gewesene Miß Giffin folgendes eidesstattlich versichert hatte: Frau Wertheim habe einmal geäußert: Die Dolly und ich, wir müssen beide lügen, die Dolly ist aber zu ungeschickt, bei der merkt man es immer, bei mir merkt man es jedoch nicht.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß Miß Giffin erzählt hat, Frau Wertheim habe eines Tages folgendes zu ihr gesagt: Die Dolly darf nicht vor ihrem 22. Jahre heiraten. Zwischen 18 und 22 Jahren kann sie meinetwegen Verhältnisse haben, aber jede Woche ein anderes?
Vors.: Na, das geht doch aber wohl etwas zu weit. Wir können doch hier nicht Angaben irgendeiner Person, über deren Glaubwürdigkeit nicht das geringste bekannt ist, wiedergeben lassen. Es kann dies ja der ärgste Dienstbotenklatsch sein. Es ist dies jedenfalls ein ganz ungewöhnliches Prozeßverfahren, um etwas zu beweisen.
R.-A. Jaffé: Die Verteidigung will auf die Wiedergabe der Äußerungen der Miß Giffin verzichten und wird den Zeugen nur noch nach Dingen fragen, die ihm die Dolly Landsberger selber erzählt hat.
Vors.: Das geht doch eigentlich auch nicht, wenn wir die Zeugin Dolly Landsberger nicht persönlich hier haben.
R.-A. Jaffé: Dann stehen wir hier bis zum Jüngsten Tag, denn die Dolly Landsberger erscheint doch niemals vor Gericht. Sie hat Herrn Justizrat Dr. Mamroth in Breslau erklärt, daß sie unter keinen Umständen den erscheinen und sich auch weigern werde, sich von einem Gerichtsarzt untersuchen zu lassen.
Vors.: Wir könnten ja Frau Dolly Landsberger kommissarisch vernehmen lassen.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich glaube aber, daß wir durch eine kommissarische Vernehmung nie ein richtiges Bild bekommen werden.
Vors.: So doch aber auch nicht. Hier werden Zeugen vernommen, die erzählen, was ein nicht anwesender Zeuge zu einem andern ebenfalls nicht anwesenden Zeugen gesagt hat. Ob das ein richtiges Bild gibt, halte ich für noch fraglicher.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich bitte, dem Zeugen eine Anzahl Fragen vorlegen zu dürfen, die er aus eigener Kenntnis beantworten kann. Herr Zeuge, ist es richtig, daß Frau Wertheim geäußert hat: „Unter einem Vanderbilt oder einem Rothschild machen wir es nicht.“
Zeuge: Jawohl.
Verteidiger R.-A. Dr. Jaffé wies hierauf mehrere Briefe vor, in denen es hieß: „Mutter baut wieder Fürstenschlösser.“
„Sie (Frau Wertheim), antwortete mir: O nein, da nehme ich das Rakett und schlage dich, bis du Gehirnhautentzündung hast – und das ist meine Mutter!“ – „sie sei von diesem Weib (Frau Wertheim) hypnotisiert worden und müsse alles tun, was sie wolle.“
In einem Gutachten des Geheimen Medizinalrats Prof. Dr. Eulenburg hieß es: Bei Durchsicht dieser Briefe und Aufzeichnungen glaubt man stellenweise etwas von der von schwülem Parfüm durchzogenen Dunstschicht und dem heißen Atem einer modernen Salome, der würdigen Tochter einer modernen Herodias, zu spüren.
Vors.: Das schreibt ein Professor, Donnerwetter ja!
R.-A. Dr. Jaffé: Ja, allerdings, und zwar Geheimrat Eulenburg.
Vors.: Ja, ja, ich kenne ihn schon.
In einem an die damals infolge ihres Sturzes aus dem Fenster des Esplanade-Hotels schwerkranke Dolly Landsberger gerichteten Briefe schrieb Frau Wertheim: Warum habe ich für Deinen Vater Pincus, der meinen Namen fälschen wollte, die Wechsel unterschrieben, die der herrliche Karl Wolff bezahlte. Damit Dir das Zuchthaus nicht anhängen sollte, in das Dein Vater ohne Gnade hineinspaziert wäre.
Auf einige andere Anregungen der Verteidiger, welche noch mehrere Äußerungen der Frau Wertheim über ihre Tochter festgestellt haben wollten, erklärte der Vorsitzende: Es ist ja bekannt, daß Dr. Landsberger ein 15jähriges Mädchen gegen den Willen ihrer Eltern in England geheiratet hat. Daß da die Mutter nicht sehr freundliche Äußerungen gemacht haben wird, ist begreiflich.
Die Verteidiger beantragten die Vorladung zweier neuer Zeugen, eines Bildhauers und eines Architekten, die über den Verkehr des Angeklagten im Hause Wolff Wertheim bekunden sollten.
Die Verteidiger beantragten weiter die Verlesung einer Eingabe der Frau Wertheim zu den Akten.
R.-A. Dr. Alsberg: Es kommt nur darauf an, festzustellen, daß Frau Wertheim aus Gehässigkeit Unwahres sagt. Ich frage deshalb den Zeugen Kühn: Ist es wahr, daß seinerzeit die Flucht der Dolly Pincus, die zu dem Zweck geschah, Dr. Landsberger zu heiraten, unter der Ägide von Maximilian Harden stattfand?
Zeuge Kühn: Kein Wort ist davon wahr.
R.-A. Dr. Alsberg: In der Eingabe der Frau Wertheim, deren Verlesung wir beantragen, spricht Frau Wertheim diese Beschuldigung aus. Vorher frage ich den Zeugen, ob nach seiner Ansicht Frau Wertheim diese Auffassung haben konnte?
Zeuge Kühn: Nein. Frau Wertheim kennt die Geschichte der Flucht und weiß bestimmt, daß Maximilian Harden von der Sache nicht das geringste wußte.
R.-A. Dr. Alsberg: Die Verlesung der Eingabe wird ergeben, daß Frau Wertheim auch Herrn Dr. Goldmann, den Berliner Vertreter der „Neuen Freien Presse“, ebenso wie andere einwandfreie Personen, verleumdet hat. Dr. Goldmann ist im Saale anwesend und wird die Unwahrheit der Behauptung der Frau Wertheim bezeugen.
Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab, da eine solche Verlesung nach der Strafprozeßordnung unzulässig sei.
Hierauf wurde Schriftsteller Edmund Edel über seine Beobachtungen an dem im Wolff Wertheimschen Hause verlebten Silvesterabend 1909 vernommen. Er bekundete: Ich war mit meiner Frau eingeladen; es war eine Gesellschaft von 40 bis 50 Personen. Der große weiße Saal war sehr schön dekoriert. In der Mitte des Saales stand eine große Tafel. Graf Metternich führte die Tochter des Hauses zu Tisch. Wir unterhielten uns in der Gesellschaft über diese Erscheinung und waren uns darüber einig, daß irgend etwas vorgehe. Es war ja bekannt, daß für Dolly Landsberger Heiratspläne im Gange waren, und so dachte man, Graf Metternich sei wahrscheinlich der präsumtive Thronfolger. Im übrigen hatte man auch den Eindruck, daß irgendeine prominente Persönlichkeit als Tafeldekoration herangezogen werden sollte.
Vors.: Und für solche prominente Persönlichkeit hielt man den Angeklagten?
Zeuge: Ja. Es waren sehr viele Künstler, Schriftsteller, Vertreter der Industrie anwesend, das Essen war allerdings nicht gut. (Heiterkeit.)
Vors.: Ich muß doch bitten, solche Bemerkungen zu unterlassen. Das gehört nicht zur Sache und sieht aus wie eine Verhöhnung des Gerichtshofes!
R.-A. Dr. Jaffé: Hat der Zeuge nicht seinen Eindruck dahin zusammengefaßt: „Gestern ist Graf Metternich als Schwiegersohn an der Tafel herumgereicht worden?“
Zeuge: Ich habe dies Herrn Dr. Arthur Landsberger gegenüber geäußert. Interessant war auch noch eine Episode, die Dr. Landsberger erzählte: Es sei eines Tages ein Geldvermittler bei ihm erschienen, der 5000 Mark von ihm für den Grafen Metternich haben wollte. Als Dr. Landsberger ihn ob dieses Ansinnens auslachte, sagte der Geldvermittler: Es wäre doch für Sie von Vorteil, wenn Sie das Geld besorgen könnten, denn der Graf braucht es als Bewegungsgeld. Dem Dr. Landsberger würde es doch sicher sehr angenehm sein, wenn er aus der ganzen Sache herauskäme.
R.-A. Dr. Alsberg: Wurde es nicht als eine besondere Bevorzugung angesehen, daß der Angeklagte Frau Dolly Landsberger zu Tisch führen durfte?
Zeuge: Jawohl; es wurde allgemein so aufgefaßt.
R.-A. Dr. Alsberg: Waren Sie auch anwesend, als die vielbesprochenen Pfannkuchen aus dem Hotel Esplanade geholt wurden?
Zeuge: Ich wußte nichts von der Herkunft der Pfannkuchen, ich weiß bloß, daß sie das einzig Genießbare an jenem Abende waren, (Heiterkeit.)
Hof- und Gerichtsadvokat Mayr-Günther (Wien) bekundete hierauf, Graf Metternich sei, als er sich mit der Schauspielerin Claire Vallentin verheiratete, mit ihm (Zeugen) wegen seiner Schulden in Verbindung getreten. Der Angeklagte habe die Summe seiner Schulden auf 40000 Mark angegeben, wobei jedoch zu berücksichtigen war, daß ihm manche Beträge viel zu hoch berechnet waren. Der Graf habe zweifellos den Willen bekundet, seine Schulden zu bezahlen. Nach den Besprechungen mit dem Angeklagten habe er (Zeuge) die Ansicht gehabt, daß es sich um Schulden gewöhnlicher Art handle, die einen Grafen Metternich unmöglich besonders drücken konnten, denn einem Grafen Metternich könne es nicht schwerfallen, jeden Augenblick eine reiche Frau zu bekommen. Er habe sich auch an die verschiedenen Gläubiger gewandt und ihnen den Aufenthalt des Grafen in Wien angezeigt; es haben sich aber nur wenige gemeldet. Die eingeleitete Regulierung sei durch die Verhaftung des Angeklagten durchquert worden.
Die Verteidiger stellten fest, daß der Angeklagte sich in keiner Weise unsichtbar gemacht, sondern in vollem Ernst darauf hingearbeitet habe, seine Schulden zu bezahlen. Bei dieser Gelegenheit beklagte sich der Angeklagte über seine Verhaftung und behauptete wiederholt, es sei von der Staatsanwaltschaft bei seinem Onkel, dem Botschafter des Deutschen Reiches in London wegen seiner etwaigen Verhaftung angefragt fragt worden.
Hierauf wurde die Ehefrau des Angeklagten, Frau Gräfin Claire v. Wolff-Metternich, geborene Vallentin, eine kleine, aber sehr hübsche und schneidige junge Dame, als Zeugin aufgerufen. Sie war sehr schick gekleidet.
Vors.: Sie sind die jetzige Gräfin Wolff-Metternich. Sie wissen, daß Sie die reine Wahrheit zu sagen haben, wenn Sie nicht von Ihrem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen sollten.
Zeugin: Ich werde die reine Wahrheit sagen. Ich bitte aber um einen Stuhl, da ich mich nicht ganz wohl fühle.
Ein Gerichtsdiener brachte der Zeugin einen Stuhl.
Vors.: Sie haben Ihren Gatten in Scheveningen kennengelernt?
Zeugin: Jawohl.
Vors.: Wann haben Sie geheiratet?
Zeugin: Am 28. September 1910.
Vors.: Hat Ihnen Ihr Gatte vorher Aufklärungen über seine Vermögensverhältnisse gegeben?
Zeugin: Jawohl. Er hat mir lange vor der Hochzeit gesagt, daß er nicht nur nichts besitze, sondern daß er Schulden in beträchtlicher Höhe habe.
Vors.: Wie hoch hat er die Schulden angegeben?
Zeugin: Auf etwa 20000 Mark. Ich habe mich sofort bereit erklärt, sämtliche Schulden meines Mannes zu bezahlen.
Vors.: Sie sind dann nach Wien gegangen, wo Sie noch am Theater tätig waren. Was hat Ihr Gatte dort gemacht?
Zeugin: Sein eifrigstes Bestreben war, sich eine Stellung zu schaffen. Er fand auch bald eine solche, in der er 300 Kronen monatliches Gehalt erhielt. Da er sehr fleißig und tüchtig war, hatte er, wie mir gesagt wurde, die besten Aussichten, bald ein erheblich höheres Gehalt zu beziehen.
Vors.: Die 300 Kronen reichten doch selbstverständlich nicht aus?
Zeugin: Für ihn schon, da er sehr sparsam war und keine großen Ausgaben machte. Für alle übrigen Dinge kam ich selbstverständlich selbst auf.
Vors.: Sind die Schulden von Ihnen bezahlt worden?
Zeugin: Ich habe zuerst nur einen Teil bezahlt, da uns unser Anwalt riet, damit nicht zu voreilig zu sein, sondern die Leute ruhig einige Zeit warten zu lassen, weil es sich ja um wirklich lächerliche Schulden handelte, bei denen mein Mann bis über die Ohren übervorteilt war.
Der Angeklagte Metternich brach hierbei in heftiges Schluchzen aus.
Zeugin (fuhr fort): Der Anwalt sagte uns, daß wir ganz erheblich übervorteilt wären.
R.-A. Dr. Jaffé: Weiß die Frau Zeugin, ob Ihr Gatte besonders leichtgläubig, besonders optimistisch war, ob er, wenn er irgendeine Hoffnung hatte, sich an dieser mehr anklammerte als ein anderer normaler Mensch?
Zeugin: Das habe ich mehrfach wahrnehmen können.
R.-A. Dr. Alsberg: Ist es Ihnen aufgefallen, daß Ihr Gatte auffallend hohe Rechnungen bei Schneidern und Ausstattungsgeschäften hatte?
Zeugin: Ich weiß nur, daß mein Mann sehr gern gut angezogen geht, sich eben so kleidet, wie er es seinem Namen schuldig ist.
R.-A. Dr. Alsberg: Meinen Sie, daß dies besonders hohe Schulden darstellte, die Ihr Gatte eigentlich nicht verantworten konnte?
Zeugin: Nein, derartige Schulden können alle Tage vorkommen.
Dr. Alsberg: Meinen Sie, daß Ihr Mann vielfach übervorteilt worden ist?
Zeugin: Er ist fast immer übers Ohr gehauen worden.
R.-A. Dr. Alsberg: Hat er Ihnen mitgeteilt, weshalb er sich berechtigt glaubte, diese Schulden machen zu können?
Zeugin: Jawohl. Mein Mann hat mir gesagt, er hätte damals Frau Dolly Landsberger heiraten können oder sollen, so daß er die Schulden ohne weiteres hätte bezahlen können. Wenn jemand hier in das Gefängnis gehört, so ist es der Vater und nicht mein Mann.
R.-A. Dr. Alsberg: Was hat er Ihnen über sein Leben in Berlin erzählt, insbesondere darüber, weshalb er gezwungen war, Schulden zu machen?
Zeugin: Er sagte, er hätte damals sehr luxuriös leben und großen Aufwand als zukünftiger Schwiegersohn der Wertheims treiben müssen. Da er von seinem Vater nur 30 Mark monatlich erhielt, habe er selbstverständlich Schulden machen müssen. Mein Mann sagte mir: Er sei unter solch traurigen Verhältnissen gezwungen gewesen, eine sogenannte Namensheirat zu machen, obwohl es stets sein sehnlichster Wunsch war, eine Liebesheirat einzugehen.
Vors.: Glauben Sie, daß Sie von Ihrem Gatten aus Liebe geheiratet worden sind?
Zeugin: Ganz bestimmt. Mein Mann hat damals den ganzen Tag gejammert, daß er nicht schnell genug eine Stellung finden konnte. Er sagte: Er könne es nicht ertragen, von meinem Verdienst zu leben.
R.-A. Dr. Alsberg: Sie würden doch auch nichts dagegen haben, wenn Ihr Gatte nichts tun würde?
Zeugin: Natürlich, nicht das geringste. Es ist gestern hier gesagt worden, mein Mann sei von seiner Familie verstoßen worden.
Vors.: Woher wissen Sie das?
Zeugin: Ich lese doch die Zeitungen. Ich kann nur sagen: es ist unrichtig, wenn behauptet wird, mein Mann sei von seiner Familie verstoßen. Ein Brief seiner Schwester besagt: Es sind die besten Aussichten vorhanden, daß in nächster Zukunft alles beigelegt werden wird. Die Schwester hat meinem Gatten geschrieben: „Schau nur, daß Deine Frau nicht beim Theater bleibt, und alles wird gut werden.“ Der Vater meines Gatten hat ihn im Gefängnis besucht. Der Vater sagte zu mir: Wenn ich dafür sorge, daß mein Mann ins Irrenhaus kommt, dann wolle er alles tun. Ich lehnte dankend ab mit dem Bemerken: ich habe keine Veranlassung mich Ihrem Willen zu fügen.
Sachv. Privatdozent und Oberarzt in der Königl. Charité Dr. Forster: In den Akten befindet sich ein Gutachten eines Dr. Zerner, in welchem es heißt, daß Ihr Gatte an moralischer Idiotie leidet. Es ist mir bekannt, daß sich dieses Gutachten an ein bestimmtes Vorkomnis knüpft.
Zeugin (den Sachverständigen unterbrechend): Über meine Privatangelegenheiten würde ich keinerlei Auskunft geben.
Sachv.: Ich will auch hierauf gar nicht näher eingehen, sondern nur fragen, ob damals Ihr Gatte sehr eifersüchtig war?
Zeugin: Ich wäre sehr beleidigt gewesen, wenn mein Gatte nicht eifersüchtig gewesen wäre. Das Gutachten des Dr. Zerner ist wohl darauf zurückzuführen, daß dieser in seinem guten Willen, meinen Mann zu retten, zuweit gegangen ist.
Kaufmann Eduard Buchwald bestätigte auf Befragen, daß er einige Schritte unternommen habe, um eine Heirat des Grafen Metternich mit einer reichen Amerikanerin ins Werk zu setzen. Er habe vom Angeklagten einen Provisionsschein über 50000 Mark erhalten, die fällig sein sollten, wenn eine reiche Heirat mit einer Millionärin zustande käme oder wenn er von Hause ein größeres Kapital erhielte. Von Wertheimscher Seite wurde an den Angeklagten fortwährend telephoniert; am Heiligen Abend wurde an den Grafen telephoniert, daß er an diesem Abend unter keinen Umständen fehlen dürfe. Allgemein war man der Ansicht, daß der Graf Frau Dolly heiraten würde.
Die Anklage legte dem Grafen Metternich weiter folgendes zur Last: Im Sommer 1909 lernte der Angeklagte die in der Halbwelt unter dem Spitznamen „Brillanten-Mietze“ bekannte Tänzerin Elvira Gustke, genannt „Elvira Commero“, kennen. Metternich trat sehr vornehm auf und warf mit dem Geld ziemlich umher. Schon nach dreitägiger Bekanntschaft erzählte er der Gustke, er müsse nach Baden-Baden reisen, wo seine Heirat mit einer reichen Amerikanerin perfekt werden würde, und bat sie, ihm 1000 Mark zu borgen. gen. Die Gustke ging auch darauf ein und erhielt von Metternich einen Wechsel über 1200 Mark, den er bereits fertig geschrieben aus der Tasche zog. Zwei Tage später erhielt die Gustke von Metternich aus Baden-Baden einen Eilbrief, in welchem er sie nochmals um 300 Mark bat. Die Gustke ließ jedoch nichts mehr von sich hören und gab den Wechsel dem Juwelier Stöß in Zahlung, bei dem sie eine größere Schuld hatte. Bei Fälligkeit wurde der Wechsel von Metternich nicht eingelöst. Später zahlte Metternich an Stöß in Raten 800 Mark zurück. Der Angeklagte hatte schon früher bestritten, von der Gustke überhaupt 1000 Mark erhalten zu haben. Er habe der Gustke den Wechsel lediglich zum Geschenk gemacht.
Der Angeklagte bestritt, sich in diesem Falle schuldig gemacht zu haben. Er habe die Gustke in „Moulin rouge“ kennengelernt und sei morgens gegen 4 Uhr in angeheitertem Zustande mit ihr nach ihrer Wohnung gegangen. Dort habe er ihr auf ihre Bitten, als Beitrag zu einem Brillantkollier, zu dessen Erwerb auch andere Kavaliere beitrugen, einen Wechsel über 1200 Mark geschenkt. Er habe sich nach einigem Zögern breitschlagen lassen. Er habe auch mit ihr gesprochen, daß er nach Baden-Baden fahren wolle, um sich dort mit einer Amerikanerin zu verloben. Er habe auch mit einer anderen Dame eine kleine Wette abgeschlossen, daß er sich bald verloben würde. Auf seine Bemerkung, daß es in Baden-Baden sehr teuer sei, habe sich die Gustke bereit erklärt, ihm im Bedürfnisfalle 300 oder 500 Mark zu schicken. Er habe dann auch aus Baden-Baden geschrieben und um 500 Mark gebeten, hierbei habe er allerdings fälschlich gesagt: „Die Braut ist da!“, doch habe er das nicht zur Täuschung der Zeugin getan, sondern mit Rücksicht auf die kleine Wette, die er abgeschlossen hatte.
In dem Brief, der alsdann zur Verlesung gelangte, hieß es: „Die Braut ist gestern angekommen; sie ist reizend. Es wird bestimmt etwas! Hurra! Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Das wird ein fideler Abend werden!“
Fräulein Elvira Gustke, eine fein gekleidete, sehr hübsche junge Dame, bekundete darauf als Zeugin: Ich habe dem Angeklagten, der s.Z. ein eigenes Automobil hatte und sehr viel Geld in den Nachtlokalen ausgab, ein Darlehen von 1000 Mark gegeben. Ich hatte kein Bedenken, daß ich das Geld wiedererhalten werde, ich hatte nur Bedenken, daß es überhaupt ein Graf Metternich war. Als ich dann aber aus Baden-Baden den Brief erhielt und dem Grafen noch mal 300 Mark pumpen sollte, verhielt ich mich ablehnend, da Metternich allem Anschein nach bei mir eine „Pumpstation“ anlegen zu können glaubte. Metternich lauerte mir dann auf der Straße auf und machte mir beinahe auf der Straße eine Szene. Ich habe Metternich dann noch wiederholt in Nachtlokalen gesehen, wie er einen Tausendmarkschein wechselte. Zu den Freunden des Grafen gehörte auch ein Herr von Rauch, der ein ganzes Paket Blankowechsel des Grafen bei sich trug. Als ich diesen auf den zweifelhaften Wert der Wechsel hinwies, schrie von Rauch: „Mein Freund Gisbert ist mir sicher!“
Vors.: Graf Metternich behauptet jetzt, er hätte nie einen Pfennig von Ihnen erhalten, sondern Ihnen den Wechsel zum Geschenk gemacht?
Zeugin (in großer Entrüstung): Das ist nicht wahr. Graf Metternich hat mir sogar drohen lassen, mich wegen Wuchers anzuzeigen, weil ich 200 Mark Zinsen genommen hatte. Das ist gar nicht meine Profession. (Heiterkeit.)
Angeklagter: Die Zeugin sagt hier die Unwahrheit. Ich habe ihr den Wechsel geschenkt, dies hat sie auch im Moulin rouge mehreren anderen Mädchen erzählt.
Zeugin: Tatsächlich ist mir von dem Rechtsanwalt Alfred Ballien gesagt worden, daß der Graf mich wegen Wuchers anzeigen wolle.
R.-A. Dr. Jaffé: Hat die Zeugin nicht anderen Mädchen gesagt, sie habe das Geld von Metternich geschenkt bekommen?
Zeugin: Nein. Ich habe meines Wissens nur einer einzigen Dame etwas von dem Grafen Metternich gesagt. Ob ich da beiläufig das Wort „geschenkt“ gebraucht braucht habe, weiß ich nicht.
R.-A. Dr. Jaffé: Haben Sie nicht damit geprahlt, welch horrendes Honorar Sie vom Grafen Metternich erhalten haben? Haben Sie nicht von 12 blauen Lappen gesprochen?
Staatsanw.-Rat Porzelt: Haben Sie den Angeklagten manchmal gemahnt?
Zeugin: O gewiß, sehr oft! Es hat bei solchen Mahnungen nicht an entsprechenden Titulaturen von seiner und auch von meiner Seite gefehlt. Ich habe auch in Gegenwart dritter Personen gemahnt.
R.-A. Dr. Jaffé: Was waren das für Leute?
Zeugin: Teils Heiratsvermittler, teils Geschäftsleute u. dgl.
R.-A. Dr. Jaffé: Wieso wußten Sie denn, daß der Graf von Heiratsvermittlern begleitet war?
Zeugin: Ich habe sie so taxiert. (Heiterkeit.) Ich weiß es positiv, daß der Angeklagte mit Heiratsvermittlern gearbeitet hat.
R.-A. Dr. Jaffé: Können Sie welche nennen? Das sind doch lauter Redensarten.
Zeugin: Wenn sie mir einfallen, werde ich sie nennen.
R.-A. Dr. Jaffé: Es wäre gut, daß es Ihnen einfiele, denn Sie stehen unter dem Eide!
Zeugin: Was hat das für einen Zweck, Namen zu nennen. Ich habe doch an anderes und wichtigeres zu denken, als an den Grafen Metternich!
R.-A. Dr. Jaffé: Wir wollen eben Ihre Glaubwürdigkeit prüfen.
Zeugin: Das kann ich allein! (Heiterkeit.)
Auf weitere Fragen und Vorhaltungen des R.-A. Dr. Alsberg antwortete die Zeugin: Sie sei zur Zeit des vorigen Termins aus Rußland, wo sie ein Engagement gehabt, nach Berlin gekommen und habe nur wenige Tage sich in Berlin aufgehalten. Der Angeklagte hatte ihr vor Hingabe der 1000 Mark gesagt, er beziehe 2000 Mark monatlich. Auf eine weitere Frage erklärte die Zeugin: Sie habe auch in einzelnen anderen Fällen an Kavaliere Geld gegen Wechsel gegeben. Sie wisse auch, daß der Angeklagte manchmal Tausendmarkscheine gewechselt habe.
R.-A. Dr. Alsberg: Der Angeklagte hat schon vor dem Untersuchungsrichter bei der Gegenüberstellung der Zeugin mit aller Entschiedenheit erklärt, daß sie das nicht beschwören könne, sonst würde sie einen Meineid leisten. Wenn der Angeklagte 2000 Mark bezöge, dann hätte die Zeugin sich sagen können, daß der Angeklagte nicht auf riesig großem Fuß hätte leben können.
Zeugin: Das geht mich doch gar nichts an. Es gibt ja Leute, die viel weniger haben und doch sehr großartig leben.
Auf ferneres Befragen bekundete die Zeugin, daß sie im Alter von siebzehn Jahren nach Berlin gekommen sei; vorher sei sie drei Jahre Soubrette in Varietés gewesen und allmonatlich an einem anderen Orte aufgetreten.
R.-A. Dr. Jaffé: Wie lange ist es her, daß Sie vom Varieté fort sind?
Zeugin: Einige Jahre. Dann war ich nicht mehr beschäftigt; ich war krank, machte Reisen und hatte anderwärts zu tun.
R.-A. Dr. Jaffé beantragte, über die Vergangenheit der Zeugin Auskünfte einzuziehen.
Juwelier Stöß: Er habe der Gustke ein Brillant-Halsband für 10000 Mark geliefert. Bei Bestellung wurden 1000 Mark gezahlt, bei Lieferung sollten 2000 Mark gezahlt werden, die Zeugin zahlte aber nur 1000 Mark und brachte nach einigen Tagen den Wechsel des Grafen Metternich.
Zeuge Amtsgerichtsrat Graf v.d. Schulenburg bekundete darauf als Zeuge: Er habe den Angeklagten auf dem Tennisplatz kennengelernt. Graf Metternich habe ihm viel von seiner Heirat mit Dolly Landsberger erzählt. Er (Zeuge) hatte die feste Überzeugung gewonnen, daß es mit dieser Sache ernst war. Er habe dem Grafen 6000 Mark geliehen, er fühle sich aber nicht geschädigt.
Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Alsberg bekundete der Zeuge: Er habe mit dem Angeklagten wiederholt darüber gesprochen, daß es ihm angesichts seines klangvollen Namens ein leichtes sein würde, eine reiche Heirat zu machen. Er habe das Verhalten des Angeklagten nicht als betrügerisch angesehen. Es komme ja häufig vor, daß sich Leute mit solchen Namen durch eine reiche Heirat arrangieren und vorher zu Repräsentationszwecken große Ausgaben machen.
Pensionsinhaberin Frau Uhrmann: Der Angeklagte habe ein volles Jahr bei ihr gewohnt. Er zahlte monatlich, einschließlich voller Beköstigung, 120 Mark. Sie habe dem Angeklagten außerdem viel Geld geliehen. 1500 Mark habe sie zurückerhalten. 12-1500 Mark sei ihr der Angeklagte noch schuldig. Sie habe dem Angeklagten den Kredit gewährt im Hinblick auf seinen Namen und weil er ihr sagte: er werde von Hause einmal eine Viertelmillion erhalten, auch hoffe er, reich zu heiraten. Der Angeklagte habe ihr auch einen Brief eines Heiratsvermittlers aus Paris gezeigt, der ihn veranlaßt habe, nach Baden-Baden zu reisen. Zu dieser Reise habe sie dem Angeklagten 800 Mark geliehen. Sie sei nicht betrogen worden. Sie habe dem Angeklagten den Kredit gewährt, weil sie überzeugt war, daß er eine reiche Heirat machen werde. Der Angeklagte habe keineswegs ausschweifend, sondern einfach bürgerlich gelebt.
Angeklagter: Ein Agent Cohn habe ihm einmal nahegelegt, hegelegt, zur Erlangung eines größeren Kredits eine feinere Wohnung zu nehmen und diese mit Leihmöbeln auszustatten. Er habe aber erwidert: Er lasse sich darauf nicht ein, denn das wäre Betrug.
Es folgte die Erörterung einiger Fälle, in denen Personen durch Diskontierung von Wechseln, auf denen der Name Graf Metternich stand, geschädigt sein sollten. In dem einen Falle erklärte ein Zeuge, der diesen Wechsel diskontiert hatte, daß er sich nicht geschädigt fühle, sondern erst von der Staatsanwaltschaft zur Auskunft über die Angelegenheit vorgeladen worden sei. Den fraglichen Wechsel hatte Graf Metternich einer ihm bekannten Dame gegeben, um ihr pekuniär behilflich zu sein.
Staatsanw.-Rat Porzelt hielt eine Schädigung doch für vorliegend.
R.-A. Dr. Alsberg: Wenn der Staatsanwalt in diesem und in andern Fällen einen solchen Standpunkt vertritt, dann würde ich beantragen müssen, einen Sachverständigen für Wechselverkehr zu laden, der die Ansicht des Staatsanwalts sofort als irrig nachweisen würde.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich beantrage, den Antrag als ungehörig abzulehnen.
R.-A. Dr. Alsberg: Das gibt es nach der Strafprozeßordnung nicht!
Am dritten Verhandlungstage nahm das Wort Staatsanw.-Rat Porzelt: In dem Ablehnungsantrag des Angeklagten wird u.a. gesagt, es sei aktenkundig, daß der Untersuchungsrichter durch eine Verfügung des Justizministers gehindert worden sei, seine Absicht, die Voruntersuchung zu schließen, auszuführen. Ich war nicht Dezernent in der Sache Stallmann, ich habe hier die Akten Stallmann und stelle sie zur Verfügung. Es findet sich keine einzige Verfügung des Justizministers in den Akten, die irgendeine Anweisung in bezug auf das Verfahren gegen den Angeklagten enthält. Dem Justizminister war die Lage des Verfahrens nicht bekannt. Verfassungsmäßig hat er sich mit der Sache Stallmann alias Korff-König nur insoweit befaßt, als es sich um die Auslieferung des Stallmann handelte. Sämtliche in den Akten befindliche Schreiben des Justizministers befassen sich nur mit dieser Auslieferung; von irgendeiner anderen Anweisung an den Landgerichtspräsidenten ist keine Rede. Ich bitte zu veranlassen, daß die Verteidiger aus den Akten eine solche Verfügung, die darin enthalten sein soll, zeigen.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Herr Untersuchungsrichter, Landrichter Dr. Dreist, dessen Vorladung ich beantrage, wird bestätigen müssen, daß er selbst dem Angeklagten die Verfügung des Justizministers an den Landgerichtspräsidenten vorgelesen hat. Der Untersuchungsrichter hatte dem Angeklagten erklärt: sobald er authentische Nachricht darüber erhalte, daß tatsächlich Stallmann nicht ausgeliefert werde, werde er sofort die Voruntersuchung schließen. Dies ist nun geschehen, die Voruntersuchung aber infolge der Anweisung des Justizministers nicht geschlossen worden. In der Anweisung steht: „Ich ersuche, den Untersuchungsrichter anzuweisen, eine Reihe näher bezeichneter Telegramme zu erlassen, damit Stallmann festgenommen werden könne, man vermute, daß er in Batavia oder Ceylon weile.“ Nun weiß doch jeder, welche Arbeit derartige Tätigkeit erfordert. Wir bleiben dabei, daß der Justizminister solche Anweisungen nicht geben darf, denn der Untersuchungsrichter muß in seinen Entschließungen und Maßnahmen vollständig frei sein. Da dadurch eine dem Angeklagten höchst empfindliche Verzögerung eingetreten ist, so ist unsere Behauptung richtig. Ich mache nochmals darauf aufmerksam, daß der Untersuchungsrichter selbst die Anweisung vorgelesen und ihm gewissermaßen bedauernd ausgedrückt worden ist: unter diesen Umständen kann die Voruntersuchung noch nicht geschlossen werden. Ferner habe ich noch folgendes vorzutragen: Es wird von dem Staatsanwalt fortwährend behauptet, daß der Angeklagte ein Lügner sei. Nun ist schon gestern die Behauptung des Angeklagten erörtert worden, ob bei dem deutschen Botschafter in London, dem Onkel des Angeklagten, angefragt worden ist, bevor die Verhaftung erfolgte.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich bestreite das entschieden; es befindet sich eine derartige Anweisung nicht in den Akten.
R.-A. Dr. Jaffé: Zum Beweise der Glaubwürdigkeit des Angeklagten beantragen wir, die Stallmann-Akten vorzulegen. Es wird sich daraus ergeben, daß tatsächlich eine derartige Äußerung vorhanden ist: „Der deutsche Botschafter in London sei angefragt worden, ob er eingreifen oder intervenieren wolle.“ Darauf habe er erklärt, daß er dies nicht tun wolle, dem Verfahren solle freier Lauf gelassen werden, er bitte nur, dafür zu sorgen, daß sein Name nicht unnütz in die Öffentlichkeit gezogen werde.
R.-A. Dr. Alsberg: Der Staatsanwalt stellt es als ungeheuerlich dar, daß sich der Angeklagte durch die Anweisung beschwert fühlt. Die Anweisung des Justizministers verstößt gegen § 188 StPO. Dieser Paragraph statuiert einen Schutz des Angeklagten dahingehend, daß die Voruntersuchung nicht weiter ausgedehnt werden dürfe als erforderlich sei, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei. Damit ist es völlig unvereinbar, daß man die Voruntersuchung gegen einen Angeklagten mit der Begründung nicht schließt, man müsse erst noch einen weiteren Angeschuldigten zur Haft bringen, von dem man zugibt, daß man ihn bis jetzt noch nicht hat und vielleicht nie bekommen wird. Der Untersuchungsrichter gibt selber zu, daß das, was an Belastungsmaterial gegen den Angeklagten Grafen Metternich zu beschaffen war, seit langem vollständig zur Stelle war. Deshalb durfte er nicht an der Schließung der Voruntersuchung gehindert werden. Da der Angeklagte sich in diesem Punkte durch einen Eingriff des Justizministers beschwert fühlt, so hat er die Befürchtung ausgesprochen, daß derartige weitere Eingriffe auch in diesem jetzigen Verfahren erfolgt sein könnten.
Vors.: Wird denn behauptet, daß in der Anweisung steht, es sollen noch die und die Schritte in der Stallmann-Sache betreffend dessen Ergreifung getan werden, oder wird behauptet: es ist die Anweisung an den Untersuchungsrichter ergangen, die Untersuchung nicht zu schließen?
Staatsanw.-Rat Porzelt: So war es behauptet worden.
R.-A. Dr. Jaffé: Wenn Anweisungen zur Festnahme des auf dem Meere schwimmenden Stallmann gegeben werden, so muß der Untersuchungsrichter selbstverständlich annehmen, daß er noch alles mögliche veranlassen soll, um Korff-König zur Stelle zu schaffen. Im Effekt ist das also eine Verhinderung des Abschlusses der Voruntersuchung.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Das Auslieferungsverfahren liegt in den Händen des Untersuchungsrichters und nicht des Staatsanwalts. Das Schreiben des Justizministers vom 22. September geht doch nur dahin, in Batavia die Festnahme zu beantragen und alle sonst erforderlichen Schritte zu tun. Wie darin eine gesetzwidrige Einwirkung auf den Untersuchungsrichter liegen soll, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Da Korff-König einer der gefährlichsten Hochstapler ist, hat die hiesige Justiz das dringendste Interesse, daß er ausgeliefert wird. Ich will aber dem Angeklagten in einem Falle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Behauptungen, daß seitens der Staatsanwaltschaft bei dem Botschafter in London angefragt sei, ob er intervenieren wolle, ist ganz absurd. Ich habe bei dem Ersten Staatsanwalt Dr. Cretschmar und beim Oberstaatsanwalt Dr. Preuß angefragt, ob irgendein Schreiben dieser Art an den Botschafter ergangen ist und habe eine vollständig verneinende Antwort erhalten. Der Angeklagte ist aber vielleicht durch folgendes zu einem Irrtum veranlaßt worden: Bei dem Kaiserl. Kgl. Generalkonsulat in London war von Wien angefragt worden, welcher Reichsangehörigkeit der Angeklagte sei. Es sind in London Ermittelungen angestellt worden. Man hat sich an die deutsche Botschaft gewendet, ob der Botschafter die Schulden seines Neffen bezahlen wolle, und in diesem Zusammenhange hange ist dann die Bemerkung gelegentlich gemacht worden, daß der Botschafter nicht für seinen Neffen eintreten, sondern dem Verfahren seinen Lauf lassen wolle. Es ist gar keine Rede davon, daß hier von amtlicher Seite eine Anfrage an den deutschen Botschafter gerichtet worden ist. Frau Risch hatte sich allerdings an den Botschafter gewendet.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich bleibe dabei, daß die Art und Weise, wie hier die Anweisung des Justizministers ergangen, nicht gesetzlich ist, und erkläre: Im Interesse einer richtigen Aufklärung dieser Sache würde ich eventuell auf das Zeugnis des deutschen Botschafters in London, Grafen Metternich Bezug nehmen.
R.-A. Dr. Alsberg: Die ganze angebliche Anfrage nach der Reichsangehörigkeit des Angeklagten wäre völlig widersinnig. Man stellt doch nicht im Auslande fest, ob jemand deutscher Reichsangehöriger ist.
Angeklagter: Ich war damals in Berlin polizeilich gemeldet, befand mich aber in Österreich auf Reisen. Außerdem war es doch eigentlich sehr naheliegend, daß ich deutscher Reichsangehöriger sei. Wenn der Bruder meines Vaters deutscher Botschafter in London ist, so kann ich doch schlechterdings nicht Franzose oder Chinese sein. Ich vermute deshalb mit Recht, daß hinter dieser Anfrage ganz etwas anderes steckt. Ich behaupte, daß man erst bei meinem Onkel anfragte, ob und was gegen mich unternommen werden den solle. Ich stelle deshalb den Antrag, meinen Onkel, den deutschen Botschafter in London, und ferner auch noch den Kriminalkommissar von Manteuffel zu laden, der seinerzeit die polizeilichen Feststellungen getroffen hat.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich bitte, diesen Antrag abzulehnen, da er für die Entscheidung in dieser Sache ohne jede Bedeutung ist und überhaupt nicht zur Sache gehört. Dieser Antrag steht auf derselben Höhe wie die übrigen Anträge des Angeklagten.
R.-A. Dr. Alsberg: Es ist doch eigentümlich, daß der Herr Staatsanwalt jetzt plötzlich sagte: „Gehört nicht zur Sache.“ Gerade der Herr Staatsanwalt hat heute morgen damit angefangen und hat nochmals auf die in dem Ablehnungsantrag enthaltenen Dinge zurückgegriffen.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Herr Staatsanwalt hat soeben gesagt, „der Antrag steht auf derselben Höhe wie die übrigen Anträge des Angeklagten“. Ich muß mir diese Kritik des Staatsanwalts ganz energisch verbitten.
Der Gerichtshof beschloß, die Anträge der Verteidigung abzulehnen. Die Ladung des Botschaften werde abgelehnt, weil aus der Anweisung des Justizministers vom 22. September in keiner Weise hervorgeht, daß der Justizminister auf den Untersuchungsrichter eingewirkt habe. Die Ladung des Kriminalkommissars von Manteuffel werde abgelehnt, weil als wahr unterstellt werde, daß der Angeklagte in gutem Glauben gewesen, die in dem Beweisantrage erwähnte Anfrage sei erfolgt.
Kaufmann Gaibler bekundete darauf als Zeuge: Ich habe sehr viel geschäftlich und auch gesellschaftlich im Hause Wolff Wertheim verkehrt und dabei den Angeklagten Grafen Metternich kennengelernt. Es ist ausgeschlossen, daß der Graf etwa wie ein Reisemarschall oder wie eine Art Bedienter von Frau Wertheim behandelt worden ist; im Gegenteil, der Graf war völlig gleichberechtigt mit den übrigen Gästen. Ich war empört, als ich die Aussage der Frau Wertheim in der vorigen Verhandlung las. Ich halte Frau Wertheim für total krank, hysterisch oder sonst noch was. Sie hat die unglaublichsten Dinge unternommen, mich sogar des Nachts telephonisch angerufen und zu sich bestellt. Bei dieser Gelegenheit äußerte Frau Wertheim einmal: „Ich will, daß mein Mann zugrunde geht; sein Geschäft soll meinetwegen auch zugrunde gehen.“
R.-A. Dr. Alsberg: Es ist bisher noch nicht recht aufgeklärt, warum die Familie Wertheim s.Z. so auffallend plötzlich die Beziehungen zu dem Grafen Metternich abgebrochen hat. Es wird von der Verteidigung folgendes hierzu geltend gemacht: Herr Wolff Wertheim hat die Beziehungen zu dem Grafen Metternich nur deshalb abgebrochen, weil er erkannt hat, daß es in seinen finanziellen Verhältnissen zu Ende ging. Er hat schließlich eingesehen, daß er einen vermögenden Schwiegersohn haben müsse und er sich nicht mehr den Luxus eines gräflichen Schwiegersohns leisten könne. Tatsächlich soll der Nachfolger des Grafen M. auch ein sehr vermögender Herr gewesen sein. (Zum Zeugen:) Ist Ihnen über diesen Punkt etwas Näheres bekannt?
Vors.: Ich lasse diese Frage nicht zu.
R.-A. Dr. Alsberg: Ich halte es für sehr wichtig, zu erfahren, daß nicht der Angeklagte, sondern die finanziellen Verhältnisse Wolff Wertheims die eigentliche Ursache zu dem Abbruch der Beziehungen gebildet hatten. Ich frage deshalb nochmals den Zeugen, ob er hierüber etwas Näheres weiß.
Vors.: Ich lehne diese Frage ab.
R.-A. Dr. Alsberg: Ich beantrage einen Gerichtsbeschluß hierüber.
Vors.: Das Gericht lehnt es ab, die Frage zuzulassen. Eine Reihe anders formulierter Fragen über denselben Punkt werden vom Gericht ebenfalls abgelehnt, ebenso der Antrag, diese Fragen bzw. die Ablehnung zu protokollieren.
Es wurde alsdann wieder auf die Affäre mit der gestern vernommenen Zeugin Gustke zurückgegriffen und nochmals die Streitfrage erörtert, ob der Angeklagte der Gustke den Wechsel über 1200 Mark geschenkt, schenkt, oder ob diese dem Angeklagten gegen diesen Wechsel Geld geborgt hat. Es wurden zwei Besucherinnen des Moulin rouge und des Palais de danse vernommen. Die eine wußte nicht, ob ihr die Gustke gesagt habe, daß sie die 1200 Mark vom Grafen geschenkt bekommen habe. Die andere Zeugin war Fräulein de Lor. Vor ihrer Vernehmung ersuchte R.-A. Dr. Jaffé, zu veranlassen, daß während dieser Aussage die Zeugin Gustke aus dem Saal entfernt werde. Es ist durch einen zuverlässigen Ohrenzeugen festgestellt, so etwa äußerte R.-A. Dr. Jaffé, daß die Zeugin Gustke gestern nach ihrer Vernehmung beim Heraustreten aus dem Saale zu der de Lor gesagt hat: „Ich habe meine Aussagen unter Eid gemacht; du weißt, wie du dich zu verhalten hast.“
Es kam zu einem hitzigen Wortgefecht zwischen der Zeugin Gustke und der Zeugin de Lor, wobei die erstere nicht bestritt, diese Äußerung getan zu haben.
Der Gerichtshof lehnte den Antrag des Verteidigers ab.
Zeugin de Lor bekundete auf vielfache Fragen der Vert. und des Vorsitzenden: Die Gustke habe sie eines Tages herausgerufen und in voller Freude gesagt, der Graf habe ihr zwölf blaue Lappen geschenkt.
Zeugin Gustke erklärte mit großem Aufwand an Worten: die Bemerkung zu der de Lor war vollständig gerechtfertigt, da sie der Meinung war, sie müsse die de Lor zur Bekundung der Wahrheit auffordern. Die Gustke äußerte alsdann: Mehrere der Besucherinnen des Palais de danse und auch die Zeugin de Lor haben ihr erzählt, daß ein Mann dort erschienen sei, der sie ausgefragt und alles aufgeschrieben habe, während sie bei Tische gesessen und Sekt getrunken haben. Darauf habe sie den Damen gesagt: Wenn ihr bei Sektgelagen sitzt und Romane schwatzt, dann könnt ihr die Suppe auslöffeln, die ihr euch aufgetan habt!
Trotz vielfacher energischer Vorhaltungen der Gustke blieb die Zeugin de Lor bei der Behauptung, daß die Gustke ihr gesagt habe, die 1200 Mark seien ihr geschenkt worden. Auf eine weitere Frage des R.-A. Dr. Jaffé antwortete die Zeugin de Lor: Fräulein Gustke nehme es mit der Wahrheit nicht sehr genau und liebe es, zu renommieren.
Bei der weiteren Erörterung verschiedener Fragen kam es zu sehr heftigen Zusammenstößen zwischen der Verteidigung und dem Staatsanw.-Rat Porzelt. Dieser hatte eine Äußerung über nicht ganz korrektes Vorgehen des Verteidigers Dr. Jaffé gemacht.
R.-A. Dr. Jaffé (mit lauter Stimme): Ich muß es mir mit aller Entschiedenheit verbitten, daß mir von irgendeiner Seite der Vorwurf eines inkorrekten Verhaltens in diesem Verfahren gemacht wird.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich erinnere daran, daß die Gustke früher fortwährend vergeblich gesucht wurde. Sie hatte nach der ersten Verhandlung an den Verteidiger geschrieben, daß sie unter allen Umständen zum Termin erscheinen wolle. Der Verteidiger hat der Staatsanwaltschaft keine Kenntnis gegeben, und das Ende vom Liede war, daß aus dem Bureau des Verteidigers der Gustke mitgeteilt wurde, sie brauche nicht zu erscheinen.
R.-A. Dr. Jaffé (sehr erregt): Das stimmt, Herr Staatsanwalt. Ich habe den wahren Sachverhalt schon gestern dargelegt. Ich wiederhole: Ich muß es mir ganz energisch verbitten, daß hier irgend jemand es wagt, zu behaupten, ich sei nicht korrekt verfahren.
Der Vorsitzende ersuchte den Verteidiger, nicht in einem so lauten Ton zu reden.
R.-A. Dr. Jaffé (noch energischer und im Ton höchster Empörung): Ich habe, wie gesagt, gestern deutlich klargelegt, wie die Sache sich abgespielt hat, und daß während meines Urlaubs der mich vertretende Referendar der Gustke gar nichts anderes antworten konnte als: sie solle tun, was sie für richtig halte. Der Herr Staatsanwalt hat bei diesen meinen Ausführungen sehr aufgepaßt, denn es wäre ein gefundenes Fressen für ihn gewesen, wenn er über uns herfallen könnte.
Vors.: Ich muß doch dringend bitten, nicht zu vergessen, daß wir uns hier im Gerichtssaale befinden. Gefundenes Fressen und ähnliche Ausdrücke sind doch nicht angemessen!
R.-A. Dr. Jaffé: Dann muß aber der Staatsanwalt nicht in solcher Weise gegen uns vorgehen, das ist auch nicht angemessen. Gestern hat er die Zeugin Gustke gefragt, ob auf sie eingewirkt worden sei, und heute kommt er mit versteckten Andeutungen über inkorrektes Verhalten. (Sehr erregt:) Ich erkläre zu den Vorgängen im Palais de danse folgendes: Die Staatsanwaltschaft hat es leicht; mit Hilfe der Kriminalpolizei Ermittlungen über Zeugen anzustellen. Der Verteidigung stehen diese Mittel nicht zur Verfügung. Frau Gräfin Metternich, die Gattin des Angeklagten, hat, was Kosten betrifft, in diesem Prozeß schon stark bluten müssen; sie hat sogar den Hof- und Gerichtsadvokaten Mayr-Günther, dessen Ladung das Gericht wiederholt abgelehnt hatte, auf ihre Kosten laden lassen und wollte nicht weiterhin noch für Detektivdienste an andere Personen zahlen. Nun hat mir der Angeklagte gesagt: im Palais de danse verkehren „Damen“, denen die Gustke sofort erzählt hat, daß der Angeklagte ihr den Wechsel von 1200 Mark geschenkt habe. Deshalb habe ich mich mit einigen Herren in das Palais de danse begeben. Jene Herren sprachen mit den Mädchen, um zu ermitteln, wer diejenigen seien, die in Frage kamen. Ich habe mich dann nachher auch an den Tisch begeben und mir persönlich auch die Adressen notiert. Das bekenne ich ganz offen, und ich möchte denjenigen sehen, der darin irgend etwas Inkorrektes findet! Ich müßte mich ganz energisch verwahren, wenn der Staatsanwalt es wagen würde, daraus den Vorwurf der Inkorrektheit zu erheben.
Staatsanw.-Rat Dr. Porzelt stellte fest, daß seine Bemerkung anders gelautet habe, als der Verteidiger behaupte. Hierauf erhob sich der Angeklagte und erklärte mit lauter Stimme: Es ist vollständig richtig, was der Verteidiger gesagt hat, und es ist eine Unwahrheit was der Staatsanwalt sagt.
Vors.: Benehmen Sie sich so, wie es sich vor Gericht gebührt. Es ist bedauerlich, daß ich das einem Manne von Ihrem Stande erst noch sagen muß. Sie haben nicht das Recht, einer Behörde vorzuwerfen, daß sie die Unwahrheit spreche!
Angeklagter (erregt): Ich werde hier bei jeder Gelegenheit zurückgestoßen. Man macht hier mit mir, was man will!
R.-A. Dr. Jaffé: Was der Staatsanwalt hier behauptet hat, beweist nur, daß er die Akten nicht kennt. Es ist doch nicht Pflicht der Verteidigung, dafür zu sorgen, daß der Staatsanwalt eine Kokotte als Belastungszeugin vorführen kann!
R.-A. Dr. Alsberg: Der Staatsanwalt hat hier wiederholt Worte gegen die Verteidigung gebraucht, die leider nicht vom Vorsitzenden gerügt wurden. Wenn wir so etwas sagen, riskieren wir, sofort zur Ordnung gerufen zu werden. Was den Fall Gustke betrifft, so bin ich an den Vorgängen nicht beteiligt, ich muß aber sagen, daß der Vertreter des Dr. Jaffé nach Lage der Sache durchaus korrekt vorgegangen ist. Wenn der Staatsanwalt Anträge der Verteidigung „absurd“ nennt, so ist das ebenso unzulässig wie andere Worte, die er gebraucht hat.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich habe nicht die Anträge der Verteidigung absurd genannt, sondern die Behauptung des Angeklagten, daß eine Anfrage an den Botschafter in London gerichtet worden sei.
R.-A. Dr. Alfred Ballien bekundete: Graf Metternich sei, nachdem der Prozeß wegen der Wechsel anhängig gemacht war, eines Tages zu ihm gekommen und habe gesagt, er sei von der Gustke bewuchert worden, er habe gar nicht 1200 Mark erhalten. Graf Metternich habe in keiner Weise bestritten, daß ein Darlehen gegeben worden sei.
Der Angeklagte bestritt, in dieser Form den Ausdruck „Wucher“ gebraucht zu haben.
Vors.: Der Ausdruck „Wucher“ hätte doch nicht fallen können, wenn nicht von einem Geldgeschäft gesprochen worden wäre.
R.-A. Dr. Ballien bekundete schließlich noch, daß Graf Metternich eines Tages zu ihm gekommen sei und unter dem Hinweis, daß er in Monte Carlo gewonnen wonnen habe, die Kostenrechnung bezahlt habe.
Als der Angeklagte darum bat, daß eine Mittagspause gemacht werde, damit er nicht wie gestern kaltes Essen bekomme, kam der Vorsitzende auf eine Szene zurück, die sich gestern in der Mittagspause abgespielt hatte. Als etwas plötzlich die Verhandlung abgebrochen und die Mittagspause gemacht wurde, war das für den Angeklagten bestimmte Essen nicht gleich zur Stelle. Der Angeklagte wurde sofort furchtbar erregt und gebrauchte gegen den Gerichtsdiener Schimpfworte wie „Verfluchte Bande“, „Hunde“, „Kerls“.
Der Vorsitzende rügte dieses Benehmen noch nachträglich und teilte mit, daß der Gerichtsdiener Strafantrag wegen Beleidigung gestellt habe.
Hierauf wurde vom Vorsitzenden ein Telegramm der Frau Wolff Wertheim mit bezahlter Antwort verlesen, in welchem sie sich beklagt, daß Briefe, die sie früher geschrieben habe, in der Verhandlung verwertet würden. Sie lasse dringend um Vertagung des Prozesses oder um ihre kommissarische Vernehmung in dem Sanatorium Stephani zu Meran bitten.
Zeugin de Lor bejahte auf wiederholten energischen Vorhalt der Zeugin Gustke, daß Graf Metternich auch sie angepumpt habe! Sie habe dem Grafen 300 Mark auf Wechsel geborgt.
Angeklagter: Im Moulin rouge haben viele Mädchen chen gewußt, daß ich der Gustke das Geld geschenkt habe. Einige haben mir gesagt: „Kleiner Metternich, das hätten wir von dir nicht geglaubt, daß du blaue Lappen verschenkst!“
Landwirt und Leutnant a.D. von Rittweger: Er habe auf einem Wohltätigkeitsfest den Eindruck gewonnen, daß Graf Metternich den Wertheims als Schwiegersohn außerordentlich erwünscht war. Es sei möglich, daß er selbst ihm gesagt habe: „Wenn Sie wollen sind Sie in sechs Wochen Schwiegersohn.“ Der Angeklagte sei nach seinen Beobachtungen ein bißchen leichtsinnig, aber nicht unehrlich. Graf Metternich habe auf alle Leute, mit denen er verkehrte, einen sympathischen, vertrauenerweckenden Eindruck gemacht. Er habe auch bescheiden und sparsam gelebt, er sei ein großer Optimist und sehr vertrauensselig.
Staatsanw.-Rat Porzelt richtete an die Zeugin Frau Gräfin Metternich folgende Frage: Sie haben Ihrem Manne mitgeteilt, Sie hätten erfahren: das Gericht sei schon mit dem Urteil fertig. Dieses laute: ein Jahr Gefängnis, unter Anrechnung von sechs Monaten Untersuchungshaft. Ich frage Sie, wer hat Ihnen diese Unwahrheit mitgeteilt?
Zeugin Gräfin Metternich: Wenn es unbedingt nötig ist, will ich es sagen, obwohl ich nicht noch andere Personen in diese Sache hineinbringen möchte.
Staatsanwalt: Wir haben ein dringendes Interesse, zu erfahren, wer solch’ unwahre Mitteilungen in die Welt setzt.
R.-A. Dr. Alsberg: Ich beantrage, diese Frage abzulehnen, da sie zu dieser Strafsache und zur Beurteilung der etwaigen Schuld des Angeklagten nicht gehört. Wenn die Zeugin etwas erfahren hat, worüber sie Schweigen bewahren zu müssen glaubt, so kann sie die Antwort auf diese Frage ablehnen. Ich wundere mich, daß der Staatsanwalt fortwährend Fragen stellt, die nicht zur Sache gehören und nur darauf hinzielen, den Angeklagten zu schädigen.
Zeugin Gräfin Metternich (mit erregter, lauter Stimme): Ich sehe immer mehr ein, daß der erste Jurist Wiens recht hatte, als er sagte, mein Mann steht in Berlin nicht vor Richtern, sondern vor Scharfrichtern. (Große anhaltende Bewegung.)
Staatsanw.-Rat Porzelt: Die Zeugin hat eine grobe Ungebühr begangen. Ich beantrage gegen sie eine Ordnungsstrafe von drei Tagen Haft.
Zeugin Gräfin Metternich: Sie können die Ungeheuerlichkeiten noch weiter treiben und mich einsperren! Ich habe eine Bemerkung wiedergegeben, die eine kompetente Persönlichkeit gemacht hat, damit die Welt endlich erfährt, wie hier gegen meinen Mann vorgegangen wird!
Der Gerichtshof zog sich zu einer längeren Beratung tung zurück. Bei seiner Rückkehr erklärte R.-A. Dr. Jaffé im Auftrage der Zeugin: Die Äußerung hat die Zeugin nicht aus sich heraus, auch nicht zu ihrer eigenen gemacht, sie hat vielmehr nur in der Erregung sich hinreißen lassen, diese Äußerung, die ein hervorragender Wiener Jurist getan haben soll, wiederzugeben.
Nach nochmaliger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Die Zeugin Gräfin Metternich wird wegen Ungebühr vor Gericht in eine Ordnungsstrafe von 100 Mark genommen. Das Gericht hat lange geschwankt, ob für die höchste Ungebühr, die soeben begangen worden, die höchste Geldstrafe oder die höchste Haftstrafe am Platze ist. Das Gericht hat aber erwogen, daß die Zeugin die Frau des Angeklagten ist, der schon lange in Untersuchungshaft sitzt, und daß sich die Zeugin durch ihre hohe Erregung hat hinreißen lassen. Aus diesem Grunde ist von einer Haftstrafe Abstand genommen worden.
Alsdann ging der Vorsitzende zur weiteren Erörterung der einzelnen Anklagepunkte über.
In der Filiale der Automobilfirma Horch & Co. in Zwickau erschien der Angeklagte, um ein Automobil zum Preise von 16000 Mark zu kaufen. Er wollte 1000 Mark anzahlen und den Rest in Wechseln zu 3000 Mark begleichen. Er soll dabei angegeben haben, er stehe kurz vor der Hochzeit mit einer reichen chen Amerikanerin und brauche den Wagen zu Repräsentationszwecken. Der Wagen wurde ihm verkauft; er versetzte ihn aber später bei der Firma Hälsen für 5000 Mark. Es herrschte nun Streit darüber, ob der Wagen dem Angeklagten mit oder ohne Eigentumsvorbehalt überlassen worden sei.
Der Angeklagte bestritt, daß er sich strafbar gemacht habe. Er behauptete, dem Vertreter der Firma ausdrücklich gesagt zu haben, daß er das Automobil unter Eigentumsvorbehalt gekauft habe. Was das Darlehen betrifft, so habe er nicht ein bares Darlehen erhalten, sondern es sei vereinbart worden, daß er bei der Einlösung des Wagens statt 5600 Mark nur 5000 Mark zahlen, daß er die übrigen 600 Mark als Darlehen behalten solle und daß 260 Mark als Zinsen hinzugeschrieben werden würden.
Der Zeuge Hälsen bekundete: Der Angeklagte habe gesagt, er bedürfe des Geldes, um zu seinem Onkel nach London zu fahren; er habe auch von einer Braut gesprochen. Auf verschiedene Fragen und Vorhaltungen der Verteidiger erklärte der Zeuge noch: er habe das Darlehen im wesentlichen auf den bekannten Namen des Angeklagten gegeben. Er habe auch später nicht den Eindruck gehabt, als ob dieser sich vor ihm verstecken wollte. Der Bruder des Zeugen habe den Angeklagten zufällig in Wien gesehen, daraufhin sei er zur Tilgung der Schuld aufgefordert worden, habe Ratenzahlungen vereinbart; die Raten seien auch pünktlich eingegangen.
Im nächsten Anklagefall hatte der Angeklagte bei dem Hofschuhmachermeister Breitsprecher vom Juni 1909 bis 30. April 1910 elegante und sehr teure Stiefel anfertigen lassen. Der Preis der einzelnen Stiefel schwankte zwischen 40 und 48 Mark. Der Angeklagte war der Firma 593 Mark schuldig geworden und hatte darauf 180 Mark angezahlt. Es wurde ihm nun eine betrügerische Absicht zur Last gelegt, indem behauptet wurde, er habe bei der Bestellung als Wohnort Schloß Gracht bei Wien angegeben.
Angeklagter: Ich habe in keiner Weise einen Betrug begangen. Man braucht bloß im Gothaischen Kalender nachzuschlagen, um zu sehen, daß meine Familie das Recht hat, sich Gracht zu nennen. Was die Stiefel betrifft, so ist die kontrahierte Schuld nur für Stiefel ja anscheinend etwas viel, aber man muß bedenken, daß ich aus Amerika gekommen war. Ich hatte wohl Stiefel für das Land, aber keine für die Stadt, und ich hatte in Frankfurt a.M. meine Sachen verkaufen und zu Gelde machen müssen, um die mir in Aussicht stehende Stellung annehmen zu können. Für die Stiefel sind doch auch sehr hohe Preise berechnet, das zeigt schon, daß es Preise für Gewährung von Kredit sind. Die Preise läßt Herr Breitsprecher sich zahlen, weil er einen Namen hat und für das schöne goldene Wappen an seinem Firmenschild. Das müssen wir Kunden bezahlen, weil er Hofschuhmacher ist.
Zeuge Jaenicke, Mitinhaber der Firma Breitsprecher, bekundete: Er habe dem Angeklagten hauptsächlich mit Rücksicht auf seinen klangvollen Namen die Stiefel geliefert. Was die Erwähnung des Schlosses Gracht betrifft, so sei es möglich, daß er zuerst bei der Nennung des Namens Metternich ergänzend gefragt habe, „Schloß Gracht“, um damit festzustellen, ob der Angeklagte zu jener Familie Metternich gehöre. Im ganzen habe der Angeklagte 593 Mark für Stiefel zu bezahlen gehabt und ein Darlehen von 50 Mark erhalten.
Vors.: Der Angeklagte meint, daß die Preise in Ihrem Geschäft von vornherein auf Kreditgeben bemessen seien.
Zeuge: Nein, die Preise sind völlig angemessen. Es werden sogar noch Zinsen berechnet, wenn die Ware nicht bar bezahlt wird.
R.-A. Dr. Jaffé: Würden Sie dem Angeklagten auch Kredit gewährt haben, wenn er nichts vom Schloß Gracht erwähnt hätte?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Haben Sie gegen den Angeklagten den Klageweg beschritten?
Zeuge: Ich habe erst kürzlich geklagt, damit die Sache nicht verjährt.
Als der Angeklagte hierzu längere Ausführungen machte, bemerkte der Beisitzer Landrichter Kriener: Das ist doch aber Plädoyer!
Der Angeklagte geriet darüber in Erregung und erklärte: „Sie kommen mir schon wieder mit Zwischenbemerkungen!“
Vors.: Ich muß Ihnen derartig unnötige Bemerkungen gegenüber einem Mitgliede des Gerichtshofes entschieden untersagen!
Angeklagter: Ich werde irritiert, wenn ich im Anfange meiner Erklärungen immer durch solche Zwischenbemerkungen des Herrn Landrichters Kriener unterbrochen werde. Es muß mir doch gestattet sein, mich zu verteidigen. Solche Zwischenbemerkungen deuten eben für mich auf eine Befangenheit des Gerichts hin.
Vors. (verweisend): Wir hören mit unerschütterlicher Geduld zu und lassen Ihnen den weitesten Spielraum, und Sie wagen hier, so etwas zu behaupten!
Angeklagter: Die Öffentlichkeit ist anderer Ansicht! Wenn ich auch Angeklagter bin, so muß ich mich dagegen wehren, daß immer nur Landrichter Kriener solche Bemerkungen macht!
Beisitzer Landrichter Kriener: Ich habe nur gesagt, das ist doch Plädoyer, und man kommt doch nicht weiter, wenn fortwährend Wiederholungen gemacht macht werden.
Angeklagter: Ich habe doch auch Augen zu sehen. Ich sehe die Mienen des Herrn Landrichters und weiß, welche Gedanken er damit bekunden will. Ich weiß nicht, wie der Herr das auf seinen Amtseid nehmen will. Der Herr Staatsanwalt macht sich sofort Notizen und denkt: „Aha! Schloß Gracht hat er dem Zeugen vorgeredet“! Über das Verhalten des Landrichters Kriener lassen sich Bände schreiben, und das werde ich tun, wenn ich in Freiheit bin!
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ich beantrage, den Angeklagten in eine Ungebührstrafe von drei Tagen Haft zu nehmen, die er allerdings zurzeit nicht wird verbüßen können.
Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg: Der Angeklagte geht ganz gewiß viel zuweit, aber er hat doch nach der Strafprozeßordnung das Recht, Erklärungen zur Sache abzugeben und sich in jedem einzelnen Falle zu verteidigen. Er kann doch nicht am Schlusse der Verhandlung eine mehrstündige Rede halten und dann erst alle Belastungsmomente widerlegen.
Angeklagter: Ich will mein Recht haben!
Der Gerichtshof behielt sich eine Beschlußfassung vor.
Es sollte alsdann der Anklagefall behandelt werden, in welchem der Angeklagte von Frau Risch ein Reitpferd gekauft und dabei angeblich falsche Vorspiegelungen spiegelungen gemacht hat.
Vors.: Wollen Sie sich über den Sachverhalt äußern, Angeklagter?
Angeklagter (sehr erregt): Ich möchte zuerst Frau Risch hören. Ich halte es für viel richtiger, ganz zu schweigen, denn mir wird ja doch nichts geglaubt. Wenn ich mich äußere, wird vielleicht die Stimmung des Gerichts noch mehr beeinflußt. (Mit erhobener Stimme:) Gestern schon hat man meiner armen Frau, die empört ist über die Behandlung, die ich hier zu erdulden habe, eine Ordnungsstrafe auferlegt.
Die Verteidiger baten, eine kleine Pause zu machen, da der Angeklagte offenbar außerordentlich erregt sei.
Vors.: Ich zweifle sogar an seiner Verhandlungsfähigkeit. Man muß fast daran zweifeln, wenn sich der Angeklagte so benimmt.
Es wurde eine Pause gemacht; während dieser wurde der Angeklagte unter Zuspruch der Verteidiger und des Dr. Forster wieder ruhiger.
Nach Wiederaufnahme der Verhandlung wurde der Fall Risch erörtert.
Der Angeklagte hat am 22. Februar 1910 durch Vermittlung des Stallmeisters Meschede das im Tattersall am Kurfürstendamm stehende Reitpferd der verwitweten Frau Risch gekauft. Der Kaufpreis war auf 2500 Mark vereinbart. Der Angeklagte hat dafür einen Wechsel gegeben, soll aber das Pferd, welches er, wie er behauptet, nicht reiten konnte, weil es einen Koller hatte, sehr bald weiterverkauft haben. Der Angeklagte stellte die Sache so dar, daß er bei diesem ganzen Pferdekauf gründlich hereingefallen sei, denn das Pferd sei viel zu teuer bezahlt worden. Er bestritt auch die Behauptung der Frau Risch, daß er das Pferd zu eigener Benutzung gekauft habe. Über den Wert des Pferdes und die Umstände, unter welchen der Pferdekauf zustande gekommen war, ergaben sich die üblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Zeugin und dem Angeklagten. Auf Befragen des Staatsanw.-Rats Porzelt gab die Zeugin zu, daß sie bei dem Botschafter Grafen M. in London angefragt habe, ob er die Schuld des Angeklagten begleichen wolle. Dieselbe Anfrage habe sie an den Vater des Angeklagten gerichtet, aber auch von diesem eine ablehnende Antwort erhalten.
R.-A. Dr. Jaffé suchte in längeren Ausführungen darzulegen, daß in diesem Falle nimmermehr von einem Betruge die Rede sein könne. Der Verteidiger ließ sich von dem Stallmeister bestätigen, daß dieser selbst einmal geäußert habe: der Graf sei mit dem Pferde etwas hineingefallen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Wenn hier plädiert werden soll, dann will ich bemerken, daß der Angeklagte zu dieser Zeit mit dem Falschspieler Stallmann verkehrte. te.
R.-A. Dr. Jaffé: Wenn diese Sache angeschnitten werden soll, dann müssen wir den Fall Stallmann verhandeln. Vorläufig wissen wir doch noch gar nicht, ob Stallmann wirklich ein Falschspieler ist.
Angeklagter: Ich bemerke hierzu, daß ich etwa sechs Wochen mit Stallmann verkehrte und daß mir Stallmann von einem Gardeoffizier, den ich im Königlichen Schloß in Berlin kennengelernt hatte, vorgestellt wurde.
Die Verhandlung dieses Falles wurde unterbrochen, um den von der Verteidigung geladenen Generalmajor a.D. Pauli zu vernehmen, der gebeten hatte, mit Rücksicht auf seinen leidenden Zustand sofort vernommen zu werden.
Der 68jährige, mit dem Eisernen Kreuz und zahlreichen Orden und Ehrenzeichen geschmückte Zeuge wurde von einer Pflegerin in den Saal geleitet.
Vors.: Herr Zeuge, ist Ihnen etwas von den Heiratsprojekten des Angeklagten bekannt?
Zeuge: Jawohl. Ich habe immer angenommen, daß Graf Metternich das reichste Mädchen von Berlin hätte heiraten können.
Vors.: Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?
Zeuge: Der Graf hat ein gewinnendes Wesen, hat ein gutes Äußere und ist außerdem Graf Metternich.
Vors.: Kennen Sie irgendein bestimmtes Heiratsprojekt projekt des Grafen Metternich?
Zeuge: Jawohl! Ich habe eine Verwandte, die sehr viel Geld hat, der Graf war aber leider zu jung. Der Graf konnte jedoch irgendeine andere Millionärin heiraten. Ich halte den Grafen für einen sehr vornehmen Charakter, den ich einer unrechten Handlung überhaupt nicht für fähig erachte.
Vors. (unterbrechend): Das meinen Sie. Wir müssen uns aber auf Grund der Verhandlung selbst ein Bild von dem Charakter des Angeklagten bilden.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich bitte doch aber, den Zeugen ausreden zu lassen. Es ist ohne weiteres zulässig, einen Leumundszeugen zu vernehmen.
Zeuge (fortfahrend): Ich habe nur den Eindruck gewonnen, daß Graf Metternich Geld brauchte. Ich glaube auch, daß er bei einem Geldgeber vollständig hereingefallen wäre. Nach meiner Meinung ist es Schuld des Vaters des Angeklagten, daß Graf Metternich überhaupt in diese Situation kommen konnte. Es ist unverantwortlich von dem Vater, einen so jungen Menschen allein und ohne Subsistenzmittel in Berlin zu lassen.
Vors.: Aber das ist doch keine Zeugenaussage.
Zeuge: Der Graf steht mir sehr nahe, ich habe ihn sehr gern.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Wie oft sind Sie denn eigentlich mit dem Grafen zusammengekommen?
Zeuge: Vielleicht zwei- bis dreimal.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Und das hat genügt, sich ein so umfangreiches Wissen über den Charakter des Grafen Metternich zu bilden?
Zeuge (mit erhobener Stimme): Herr Staatsanwalt, es kommt nicht darauf an, wie oft man mit einem Menschen zusammenkommt, um ihn richtig kennenzulernen. Es ist möglich, Herr Staatsanwalt, daß Sie nicht in der Lage sind, so wie ich als alter Mann, einen Charakter zu erkennen.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es richtig, daß Sie den Grafen in eine Familie eingeführt haben?
Zeuge: Jawohl, der Graf, der damals erst 21 Jahre alt war, war aber zu jung. Er konnte doch aber von anderen reichen jungen Damen geheiratet werden.
R.-A. Dr. Alsberg: Nehmen Sie an, Herr Generalmajor, daß der Angeklagte bei seinem ganzen Auftreten sehr wohl der Ansicht sein konnte, seine Verhältnisse jeden Augenblick durch eine reiche Heirat zu sanieren?
Zeuge: Natürlich konnte er dies glauben. Außerdem hätte ich dem Grafen jeden Augenblick Geld zur Verfügung gestellt, wenn er mich darum gebeten hätte.
Vors.: Glauben Sie denn, daß irgendeine Millionärin den Angeklagten so ohne weiteres geheiratet hätte?
Zeuge: Ich kenne in Berlin adlige Offiziere, die früher keinen Pfennig Geld hatten, dann eine Millionärin geheiratet und jetzt massenhaft Geld haben. Das hat ihnen keiner übelgenommen. (Heiterkeit.)
Staatsanw.-Rat Porzelt: Der Angeklagte hat sich doch ein ganzes Jahr bemüht, eine reiche Heirat zu machen. So dicht scheinen wohl demnach die Millionärinnen nicht auf den Straßen von Berlin herumzulaufen.
R.-A. Dr. Alsberg: Es ist doch zu bedenken, daß der Angeklagte allein drei Monate mit dem Gruberschen Heiratsprojekt und dann drei Monate mit dem Wertheimschen Projekt, also zusammen sechs Monate im Jahre verbraucht hat. Tatsächlich hat er doch dann auch bald geheiratet.
Angeklagter: Meine Frau hat eigentlich mehr als eine Million. Sie hat ein derartiges Einkommen und verdient außerdem durch ihr Spiel so viel, daß das Gesamteinkommen die Zinsen eines Kapitals von mindestens zwei Millionen darstellt.
Zeuge Pauli: Der Graf ist nach meiner Meinung durch Heiratsvermittler hingehalten worden.
Die Zeugin Frau Schmidt, bei der die Elvira Gustke seit mehreren Jahren wohnte, bekundete: Die Gustke habe ihr erzählt, sie habe dem Grafen Metternich gegen einen Wechsel Geld geliehen. Bei der weiteren Befragung dieser Zeugin kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Staatsanwalt und Verteidiger.
Der Staatsanwalt kam darauf zurück, daß R.-A. Dr. Jaffé, obgleich er die Adresse der Zeugin Gustke kannte, sie der Staatsanwaltschaft nicht bekanntgegeben, sondern in einem Schriftstück erklärt habe, daß die Zeugin sich der Vernehmung entziehe.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich muß nun, da der Staatsanwalt wieder auf diese Sache zurückkommt, obgleich ich sie schon völlig aufgeklärt habe, denn doch den Antrag stellen, mich als Zeugen zu vernehmen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Über das, was aktenmäßig feststeht, brauchen wir keine Zeugenvernehmung.
Zeugin Gustke: Ich habe in verschiedenen Schreiben an Rechtsanwalt Dr. Jaffé meine Adresse: „Aquarium St. Petersburg“ angegeben und ihm geschrieben, daß ich vernommen werden möchte, da man gegen mich allerlei vorgebracht habe.
R.-A. Dr. Jaffé: Es ist doch unglaublich, daß der Herr Staatsanwalt dieser Dame mehr glaubt, als der Verteidigung. Das ist so ungeheuerlich, daß ich es unter meiner Würde halte, dem Staatsanwalt auch nur noch ein Wort zu erwidern. Kann denn ein Staatsanwalt verlangen, daß wir ihm die Belastungszeugen heranschaffen? Schafft denn der Staatsanwalt jemals der Verteidigung ihre Entlastungszeugen herbei? Hat denn in dem vorliegenden Fall die Staatsanwaltschaft in dieser Beziehung das geringste getan, sie, die die objektivste Behörde sein will? Ich hatte gar keine Pflicht, dem Staatsanwalt die Adresse dieser Belastungszeugin anzuzeigen.
R.-A. Dr. Alsberg: Der Angriff des Herrn Staatsanwalts gegen den Kollegen Jaffé ist ungeheuerlich. Selbst wenn in tatsächlicher Beziehung die Vorwürfe richtig wären, so ist es nicht zu verstehen, wie der Staatsanwalt eine Inkorrektheit der Verteidigung darin sieht, daß sie nicht eine Belastungszeugin zur Stelle schafft, der der Angeklagte bereits in der Voruntersuchung einen glatten Meineid vorgeworfen hat. Ich habe es noch nicht erlebt, daß der Staatsanwalt dem Verteidiger einen Entlastungszeugen zur Stelle schafft, von dem der Staatsanwalt behauptet, daß der Zeuge bereit sei, einen Meineid zu leisten. In diesem Verfahren hat sich der Staatsanwalt sogar geweigert, den sehr wichtigen Zeugen, Hof- und Gerichtsadvokaten Mayr-Günther (Wien) zu laden. Im übrigen ist auch festzustellen, daß der Staatsanwalt eine durchaus unrichtige Darstellung des Sachverhalts gibt. Die Zeugin Gustke war während des vorigen Termins in Berlin. Nachdem der Termin vertagt war, wendete sie sich nicht an den Staatsanwalt, sondern an den Verteidiger, der sie in der Verhandlung heftig angegriffen hatte, und fragte bei ihm an, ob er ihr Reisegeld zum nächsten Termin schicken wolle. Versteht der Herr Staatsanwalt nicht, was in dieser Frage liegt? Und was hat der Kollege Jaffé daraufhin getan? Er hat zum nächsten Termin die Ladung von Zeugen beantragt, die bezeugen sollten, daß die Zeugin während des vorigen Termins in Berlin war, also böswillig nicht an der Gerichtsstelle erschienen sei.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Es kommt nur auf folgendes an: Die Zeugin kommt aus Petersburg zurück; sie meldet sich bei dem Verteidiger, weil der Verdacht des Meineides gegen sie ausgesprochen war; sie gibt ihre Adresse an und gibt zu erkennen, daß sie vernommen werden möchte. Das war am 14. Juli. Am 12. August kommt eine Eingabe des Verteidigers, in welcher steht, daß die Zeugin sich der Vernehmung zu entziehen bestrebt sei. Das ist es, was ich dem Verteidiger vorwerfe und was ja noch weitere Folgen haben wird.
Der Gerichtshof lehnte den Antrag auf Vernehmung des R.-A. Dr. Jaffé als Zeugen ab, weil dem Gericht der Sachverhalt aufgeklärt erschien.
R.-A. Dr. Jaffé: Gegenüber den Anwürfen des Staatsanwalts, die den ganzen Anwaltsstand angehen, möchte ich doch um die Erlaubnis bitten, den Sachverhalt klarzulegen. Der Staatsanwalt hat wiederum eine Art Drohung gegen mich ausgesprochen. Ich kann ihm nur sagen, daß solche Drohung auf mich keinen Eindruck macht. Wenn der Staatsanwalt den schon mehrmals dargestellten Sachverhalt nicht verstehen will, so ist dies seine Sache. Ich aber kann doch wohl wenigstens verlangen, daß ich mehr Glauben verdiene, als diese Dame hier. Ich bitte, mich als Zeugen zu vernehmen.
Vors.: Nach Ansicht des Gerichts ist der Fall von beiden Seiten genügend aufgeklärt.
R.-A. Dr. Jaffé bat, dann wenigstens den Inhalt seines vom Staatsanwalt so bekrittelten Beweisantrages vortragen zu dürfen. Dies geschah. Dr. Jaffé trug den Sachverhalt kurz so vor, wie ihn bereits Dr. Alsberg angegeben hatte.
Hierauf wurde noch über das von Frau Risch an den Angeklagten verkaufte Pferd sehr viel hin und her geredet und darüber gestritten, ob das Pferd ein sogenannter „Verbrecher“ war, ob es sehr nervös war, einer Arsenikkur unterworfen wurde, ob es kollerig war. Der Angeklagte behauptete, daß ihm die Arsenikkur verschwiegen und das Pferd ihm als ganz gesund verkauft worden sei.
Der zu dieser Affäre vernommene Stallmeister Meschede kannte den Angeklagten noch aus der Zeit, wo er als Tertianer in Bonn weilte.
R.-A. Dr. Alsberg: Wie ist die Ansicht des Zeugen über das dem Angeklagten damals zufließende Taschengeld in Höhe von fünf Mark monatlich? Ist für einen jungen Mann, der in solchen Kreisen verkehrte, wie der Angeklagte, dieses Taschengeld ein ungewöhnlich niedriges?
Zeuge: Die jungen Leute in jenen Kreisen erhalten bis zu 300 Mark Taschengeld.
Vors.: Fünfzehnjährige junge Leute? Tertianer?
Zeuge: Jawohl.
R.-A. Dr. Jaffé: Was haben die jungen Leute bloß für das Reiten monatlich ausgegeben?
Zeuge: Wohl 40 bis 50 Mark.
R.-A. Dr. Alsberg: Ist es dem Zeugen auch nicht bekannt, daß in den Kreisen von Kavalieren, die die Reitbahn besuchen, manchmal solche sich finden, die auf Pump leben und sich dann durch eine reiche Heirat völlig rangieren.
Zeuge: Jedes Jahr kommt es ein- oder zweimal vor, daß ein armer Leutnant eine reiche Heirat macht. Der Angeklagte hätte nach allgemeiner Ansicht sehr leicht eine reiche Partie machen können.
Im nächsten Anklagefall handelte es sich um folgendes: Im Januar 1910 trat der Roßschlächter und Geldvermittler Kilholz mit dem Angeklagten durch den Kommissionär Tilo in Verbindung, an den sich Metternich zur Erlangung von Geld gewendet hatte. Tilo fragte bei Kilholz an, ob er einen Wechsel über 2500 Mark unterbringen könne, der die Unterschriften des Grafen Metternich und eines Herrn von Hagenow trage. Metternich sei „prima-prima“. Durch Vermittlung lung des Kilholz machte Kaufmann Gustav Noack das Geschäft: er gab dem Tilo auf den Wechsel 1650 Mark in bar, zog sich 250 Mark als Diskont ab und verrechnete 600 Mark auf eine ältere Schuld des Kilholz. Von den baren 1650 Mark hat Tilo nur einen Teil an den Grafen Metternich abgeführt. Letzterer behauptete, nur 500 Mark erhalten zu haben. Nach diesem Wechselgeschäft hatte der Angeklagte mehrfach Darlehen bei Kilholz aufgenommen. Kilholz wollte insgesamt 1050 Mark gegeben haben. Die an Kilholz dafür gegebenen Wechsel sind mangels Zahlung protestiert worden. Angeblich sollte der Angeklagte bei diesen Geschäften falsche Angaben über seine Vermögensverhältnisse gemacht haben. Er bestritt dies ganz entschieden und versicherte, daß er von Kilholz nicht 1050 Mark, sondern nur ganz kleine Darlehen erhalten habe. Die Wechsel habe ihm Kilholz förmlich herausgeholt.
Tilo war, wie er angab, wegen Geisteskrankheit entmündigt, Kilholz saß in Untersuchungshaft und wurde zur Zeit auch auf seinen Geisteszustand beobachtet.
Angeklagter: Wenn irgendwelcher Wert auf die Aussagen dieser Zeugen gelegt werden sollte, dann würde ich die Heranziehung eines Gerichtsarztes verlangen müssen. Diese Leute sind meine großen Belastungszeugen in diesem ganzen Prozeß.
Das Gericht trat hierauf in die Verhandlung des Falles Roeder ein. Die Anklage warf dem Angeklagten hierbei folgendes vor: Durch Vermittlung eines Agenten Mandus wurde der Angeklagte, der seinerzeit ein Darlehen suchte, mit dem Kaufmann Wiegking in Wandsbek bekannt. Der Sozius des Wiegking gab ihm auch ein Darlehen von 2000 Mark. Metternich mußte dafür Anteile der Teppichfabrik Roeder & Co. in Höhe von 50000 Mark übernehmen und dafür ein per 1. April fälliges Akzept geben. Metternich soll, wie die Anklage behauptete, bei der Abwicklung dieses Geschäfts verschwiegen haben, daß er überhaupt nicht in der Lage war, 52000 Mark zu zahlen. Auch in diesem Falle soll er auf die bevorstehende Heirat mit Frau Dolly Landsberger hingewiesen haben.
Der Angeklagte bestritt auf das entschiedenste, sich eines Betruges schuldig gemacht zu haben. Der Zeuge Roeder, der z.Z. wegen Betruges und Wuchers verfolgt werde und sich in Paris aufhalte, habe ihm seinerzeit gesagt, es liege ihm daran, klangvolle Namen in den Aufsichtsrat der Teppichfabrik zu bekommen. Er sei heute sehr erfreut darüber, daß er die Anteile nicht mit 50000 Mark bezahlt habe, denn drei Tage später sei die Firma Roeder in Konkurs geraten, und er hätte das Geld verloren. Bei den Besprechungen über dieses Geschäft, welches ihm als Aufsichtsratsmitglied 12000 Mark jährlich bringen sollte, habe er geäußert, es wäre ihm sehr angenehm, wenn er bald etwas Geld in die Finger bekommen würde. Roeder habe ihm hierauf die 2000 Mark mit verschiedenen Abzügen gegeben. Er habe jene Verpflichtung ruhig eingehen können, da man ihn als Aufsichtsratsmitglied doch nicht gut verklagen konnte. „Die ganze Sache lief darauf hinaus: Roeder wollte meinen Namen und ich von ihm Geld.“ Auf die Vernehmung des Agenten Albert Mandus wurde verzichtet, da er in einer anderen Sache für geisteskrank erklärt sein soll.
Es wurden alsdann die weiteren zur Anklage stehenden Fälle, in welchen Kreditschwindeleien vorliegen sollen, erörtert. Es handelte sich zunächst um die Entnahme einer goldenen Uhr in dem Geschäft des Hofuhrmachers Felsing.
Angeklagter: Er habe eine goldene Remontoiruhr zum Preise von 435 Mark entnommen und gleich dabei gesagt, daß er augenblicklich kein Geld zur Bezahlung habe, aber in kurzer Zeit eine größere Summe erwarte. Das sei auch richtig gewesen, denn er habe dabei an das Geld gedacht, welches ihm Kilholz unterschlagen habe; er konnte bestimmt erwarten, daß ihm aus seiner geschäftlichen Verbindung mit Roeder bald Geld zufließen werde. Er habe dem Geschäftsinhaber seinen Namen und seine Wohnung genannt, der Geschäftsinhaber habe sich nach ihm erkundigt und ihm die Uhr überlassen. Als später die Rechnung kam, habe er 100 Mark angezahlt, der Rest sei noch nicht bezahlt. Die Uhr sei ihm später in Wien gepfändet worden.
Zeuge Willibald Felsing bestätigte dies im allgemeinen. Der Angeklagte habe ihm gesagt, daß er augenblicklich nicht in der Lage sei, zu bezahlen. Er (Zeuge) habe geantwortet: es tue ihm leid, er habe nicht den Vorzug, den Grafen zu kennen, und es sei in seinem Geschäft nicht Gepflogenheit, eine solche Uhr, die der Graf gleich mitnehmen wollte, ohne weiteres mitzugeben. Als er dann durch telephonische Anfrage die Identität des Grafen festgestellt, habe er keine Bedenken getragen, einem Träger dieses Namens die Uhr mitzugeben.
Zeuge Danziger bekundete: Ich bin jetzt Brillantenhändler und war vorher längere Zeit beim Varieté. Ich kenne die Elvira Gustke nur unter dem Namen Elvira de Lor. Vor fünf oder sechs Jahren wollte sie von mir Brillanten kaufen. Sie wollte große Steine, und nur auf Abzahlung, ich sagte ihr aber: das gibt es bei mir nicht, bei mir gibt es nur Ware gegen Kasse. Ich habe mich nur als Zeuge gemeldet, weil sich die Zeugin als Artistin ausgibt. Sie mag ja vielleicht hin und wieder in irgendeinem kleinen Engagement gewesen sein, ich weiß aber nichts davon, daß sie Tänzerin ist; sie ist ja auch fortgesetzt in Berlin gewesen und im Metropoltheater gesehen worden. Ich kenne die Dame nur als Lebedame und nicht als Artistin.
Vors.: Zeugin Gustke, ich habe aus den Akten ersehen, daß Sie wegen eines Vergehens noch nicht bestraft sind. Aus den Polizeiakten geht hervor, daß sie wegen sittenpolizeilicher Übertretung mit drei Tagen Haft bestraft worden sind. Warum haben Sie das nicht gesagt?
Zeugin: Ich habe daran gar nicht gedacht und glaubte, ich wurde nur gefragt, ob ich wegen Diebstahls und dergleichen bestraft sei.
Vors.: Heißen Sie denn Elvira de Lor?
Zeugin: Nein, so nannte sich die Hertha Meschinski, die hier auch vernommen worden ist.
Vors.: Diese heißt also auch nicht Elvira de Lor?
Zeugin: Nein.
Vors.: Dann hätte die Zeugin sich unter diesem Namen auch nicht vernehmen lassen dürfen. Na, sie hat sich wohl nichts dabei gedacht.
Auf eine Frage des R.-A. Dr. Jaffé erklärte die Zeugin Gustke noch: Sie trete als Tänzerin in Varietés auf, sei vom 13. Mai bis 13. Juni in Riga, dann in Moskau und dann im „Aquarium“ in St. Petersburg engagiert gewesen, habe dort noch Kontrakt bis 1. Januar und sei direkt von Petersburg zum Termin hierher gekommen.
Die Beweisaufnahme kam darauf noch einmal auf den Anklagefall zurück, in welchem der Angeklagte von der Firma Horch in Zwickau ein Automobil für 16000 Mark entnommen hatte. Der Verkauf war in der hiesigen Filiale erfolgt, dessen Vorsteher als Zeuge angegeben hatte, daß er den Verkauf nach Anfrage in Zwickau auf Anweisung der Direktion unter Eigentumsvorbehalt abgeschlossen habe.
Direktor Jakob Holler von der Aktiengesellschaft Horch bestätigte als Zeuge die Angaben des Berliner Vertreters. Er habe, als die Anfrage wegen des Automobilverkaufs kam, bei dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats angefragt, wie man sich verhalten solle, und da man erwog, daß Graf Metternich einer durchaus noblen Familie angehöre, kam man zu dem Ergebnis, daß dem Verkaufe nichts im Wege stehe. Man konnte sich doch nicht denken, daß ein Mann dieses Standes jemand beschwindeln werde. Der Zeuge legte den Bestellschein vor, in welchem der Eigentumsvorbehalt enthalten war.
Der Angeklagte blieb dabei, daß ihm gesagt worden sei, es handle sich nur um eine Formsache. Der hiesige Vertreter der Firma habe ihm direkt gesagt: am 1. November Geld oder Wagen, das andere sei ihm egal!
Die Rechtsanwälte Dr. Alsberg und Dr. Jaffé suchten durch zahlreiche Fragen an den Zeugen darzulegen, daß der Abschluß des Geschäfts wohl auch dadurch erleichtert worden sei, daß erwogen wurde: es sei eine große Reklame für die Firma, wenn ein Graf Metternich einen Wagen der Firma fahre. Wenn ein Graf Metternich den Wagen fahre, so sei dies eine weit größere Reklame für die Firma, als wenn ein beliebiger Schulze oder Müller dies tue. Das sei ein Valeur für die Firma, wodurch sie gewiß veranlaßt worden sei, leichter das eventuelle Risiko zu übernehmen. Der Zeuge erwiderte: Die Tatsache, daß Graf Metternich den Wagen fahren würde, sei schon bei der Normierung des Preises von Einfluß gewesen. Im übrigen sei ein solcher Wagen zu kostbar, als daß er zu Reklamezwecken hingegeben würde. Im wesentlichen sei maßgebend gewesen, daß der Angeklagte aus vornehmer Familie stamme und Neffe des deutschen Botschafters sei. In weiterer lebhafter Auseinandersetzung mit dem Zeugen behauptete der Angeklagte, daß er durchaus in gutem Glauben gehandelt habe und sich in der ganzen Affäre benachteiligt fühle. Die Verteidiger behaupteten, daß der Zeuge Amtsgerichtsrat Graf v.d. Schulenburg bei seiner neulichen Aussage bekundet habe: auf eine Anfrage bei der Firma Horch habe er den Bescheid erhalten, daß sich diese gar nicht geschädigt fühle, er selbst fühle sich auch nicht betrogen.
Zeuge Holler bestritt dies und überreichte einen Brief, welcher seinerzeit vom Amtsgerichtsrat Graf v.d. Schulenburg an ihn geschrieben worden sei. Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen Amtsgerichtsrat Grafen v.d. Schulenburg nochmals vorzuladen.
Angeklagter: Nachdem nun 11 Fälle der angeblichen Wechselbetrügereien erledigt sind, möchte ich einmal klarlegen, in welcher Weise ich in einzelnen Fällen begaunert worden bin, was ich in den einzelnen Fällen geschrieben und tatsächlich bekommen habe. Man kann daraus den Schluß ziehen, ob ich wirklich, wie behauptet wird, in Saus und Braus gelebt habe oder vielmehr ganz bescheiden aufgetreten bin.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Es kommt dabei doch auch in Betracht, daß der Angeklagte Prolongationswechsel ausstellen mußte. Wenn er sich mit Geisteskranken in solche Geschäfte einläßt, kann er sich nicht über Gaunerei beklagen.
Angeklagter: Die Leute sind damals nicht geisteskrank gewesen und wunderbarerweise erst jetzt geisteskrank geworden.
Der Vorsitzende gab dem Angeklagten anheim, diese Ausführungen am Schluß der Beweisaufnahme zu machen.
Bei den weiteren Fällen handelte es sich um Einkäufe, die der Angeklagte bei verschiedenen großen Firmen gemacht hat. Es ergab sich fast überall derselbe Vorgang: Der Angeklagte machte zunächst einige Einkäufe gegen Barzahlung, erhielt dann Kredit und blieb mit einer größeren oder kleineren Summe in Rest. So entnahm er bei der Firma Demuth, Unter den Linden, mehrere elegante Waren und blieb 134 Mark schuldig. Bei der Firma J.H. Werner und Louis Werner hat er Goldsachen gekauft, bei der Firma Gerold Zigaretten. Der Angeklagte bemerkte, daß er ein starker Zigarettenraucher sei und monatlich 2000 bis 2500 Zigaretten rauche. Zu einem ferneren Anklagefall, in welchem der Angeklagte bei der Firma Braun, Unter den Linden, und in demselben Geschäft in Wien für sich und seine Frau Sachen entnommen hatte, erklärte der Angeklagte, daß der Inhaber des Geschäfts in keiner Weise durch falsche Vorspiegelungen getäuscht worden sei. Er habe in dem Geschäft überhaupt mehr Ware gewissermaßen aufgedrängt erhalten, als er ursprünglich kaufen wollte. „Wenn man zu Braun kommt, dann ist das immer ein Kampf, wieder herauszukommen, so halten einen die Leute dort fest!“ Er habe schließlich einen Vergleich mit 80 Prozent mit der Firma abgeschlossen. Da der Angeklagte sich auch auf seine Gattin berief, so erklärte diese, nochmals vorgerufen: Es stimmt ganz genau, was mein Mann bezüglich der Wiener Filiale von Singer gesagt hat. Der schuldig gebliebene Betrag kann doch gar nicht in Betracht kommen, weil ich hoffentlich gut genug für solche Summen bin. Ich bin doch die Frau meines Mannes, und die Leute wissen, daß, wenn er nicht zahlt, ich es zahle. Es ist auch richtig, daß man in dem Wiener Geschäft nicht so leicht wieder herauskommt. Da heißt es dann: Nein, Frau Gräfin, Sie müssen noch dies und jenes kaufen! Das dürfen Sie uns nicht antun, woanders zu kaufen als bei uns!
Bei einer anderen Gelegenheit erklärte der Angeklagte: Dolly Landsberger habe eine große Sammlung von etwa 500 kleinen Nippes-Elefanten, da habe er zu Weihnachten auch einen kleinen Beitrag zu der Sammlung geliefert und ihr einen kleinen Elefanten in Amethyst geschenkt.
Der Angeklagte bestritt, in allen diesen Fällen sich eines Betruges schuldig gemacht zu haben. Die hierzu vernommenen Zeugen konnten den Angeklagten nicht belasten.
Der Vorsitzende verlas darauf folgenden, von dem Amtsgerichtsrat Grafen v.d. Schulenburg an den Zeugen Holler gerichteten Brief: „Vor Jahresfrist war der damals in Berlin lebende Graf Gisbert Wolff-Metternich im Besitz eines wertvollen Horch-Wagens. Da besagter Herr hier zahllose Personen, unter anderen leider auch mich, in der gröblichsten Weise betrogen hat, so nehme ich an, daß auch Sie einen Reinfall erlebt haben. Ich bin nun willens, das gesamte Material der Staatsanwaltschaft zu unterbreiten und bitte daher um gütige Mitteilung, ob und in welcher Weise Sie durch Graf Metternich betrogen worden sind.“
Inzwischen war Graf v.d. Schulenburg als Zeuge erschienen. Er erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich möchte dazu sagen, daß der Inhalt des Briefes meiner damaligen Ansicht entsprach; nachher bin ich aber anderer Meinung geworden. Damals hatte der Graf, der mir und anderen Leuten Beträge schuldete, monatelang nichts auf meine Briefe geantwortet. Ich wußte gar nicht, wo er geblieben war. Da ich von mehreren Leuten hörte, daß sie sich auch beklagten, habe ich den Brief an die Firma Horch geschrieben. Nachher haben Graf Metternich und die Gräfin sich an mich gewendet und mir genügende Garantien gegeben.
Vors.: Sie haben aber hier gesagt, der Angeklagte habe Ihnen keine falschen Vorspiegelungen gemacht. Es ist doch immerhin merkwürdig, daß Sie einen solchen Brief schreiben, der ganz anders lautet.
Zeuge: Ja, ich hatte damals wohl ein halbes Jahr lang nichts von ihm gehört.
Beisitzer Landrichter Menart hielt dem Zeugen einen Passus aus seiner früheren Aussage vor, der doch nicht recht in Einklang mit dem Briefe zu bringen sei. Nach seiner Meinung sollte sich die Firma ja auch nicht geschädigt gefühlt haben.
Zeuge Graf v.d. Schulenburg: Die Firma hat, wie ich glaube, mir geantwortet, daß sie sich nicht geschädigt fühle, da sie das Automobil zurückerhalten habe.
Vors.: Der Brief der Firma liegt in Kopie bei den Akten. Er lautet doch wohl nicht so. Es steht tatsächlich kein Wort davon darin, daß sich die Firma nicht geschädigt fühle.
Zeuge: Ich war der Meinung, ich hatte den Brief so in der Erinnerung.
R.-A. Dr. Jaffé: Sie haben wohl den Brief in der Aufregung, im Affekt geschrieben?
Zeuge: Ja, natürlich, weil ich eben auf meine Briefe keine Antwort erhielt.
R.-A. Dr. Jaffé: Tatsächlich haben Sie aber doch wohl die Ansicht, daß der Angeklagte nicht auf Betrügereien ausgegangen ist?
Zeuge: Jawohl.
Vors.: Als Jurist werden Sie, Herr Zeuge, doch wissen, daß es bei der Konsumierung des Betruges nicht auf den jeweiligen Erfolg oder die spätere Abwendung eines Schadens ankommt. Das muß Ihnen als Jurist klar sein.
R.-A. Dr. Alsberg: Hat der Zeuge seine Äußerungen in dem Briefe überhaupt so aufgefaßt, daß es sich um Betrug im juristischen Sinne handle?
Zeuge: Nein.
Vors.: In dem Briefe steht aber, daß das gesamte Material der Staatsanwaltschaft unterbreitet werden solle.
Zeuge: Ja, ich fühlte mich doch damals absolut nicht sicher und wollte bei der Firma anfragen, welche Erfahrungen sie mit dem Grafen gemacht hat.
R.-A. Dr. Alsberg: War vielleicht damals in der Öffentlichkeit auch von der Affäre Stallmann die Rede und hat dies vielleicht auch auf Sie eingewirkt?
Zeuge: Das kann wohl sein. Jedenfalls habe ich damals den Brief an die Firma im Ärger und Affekt geschrieben, um eine Aufklärung zu haben, wie die Sachen liegen.
Vors.: Sie sagen aber doch, Ihnen seien von anderen Leuten Klagen zugegangen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: In dem Briefe reden Sie sogar von „zahllosen Personen“, die der Angeklagte betrogen habe, und zwar „in der gröblichsten Weise“. In dem Briefe haben Sie doch nicht bloß von Ihrem Fall, sondern auch von anderen Fällen gesprochen. Wie war überhaupt Ihr eigener Fall? Der Angeklagte hat in Ihrem Hause verkehrt und Sie haben ihm ein Darlehen von 6500 M. zum Kauf des Automobils gegeben. Letzteres kostete aber nur 5000 Mark. Um es auszulösen, waren nur 4500 Mark nötig, Graf Metternich hat Ihnen doch also falsche Angaben gemacht?
Zeuge: Ich hätte ihm den Betrag auch gegeben, wenn er ein paar hundert Mark für andere Zwecke verwenden wollte. Ich war überzeugt, daß er über kurz oder lang eine reiche Heirat machen würde.
Vors.: Ist die Sache jetzt geregelt?
Zeuge: Ja, die Gräfin hat sich dafür verbürgt.
Angekl.: Ich habe die Briefe des Zeugen nicht erhalten.
Zeuge: Ich wollte mich auf den juristischen Begriff des Betruges nicht festlegen, die Sache hat sich eben anders entwickelt, als ich anfangs annahm. Nachträglich hat sich herausgestellt ...
Vors. (unterbrechend): Nun, es hat sich herausgestellt, daß die Frau des Angeklagten die Bürgschaft übernahm. Wie Sie da zu einer Änderung Ihrer Ansicht kamen, ist nicht recht zu verstehen.
Zeuge: Ich habe meine Ansicht geändert, weil ich jetzt bestätigt sehe, daß der Graf nach seiner Verheiratung bezahlen wird.
R.-A. Dr. Jaffé: Herr Zeuge Graf Schulenburg, Sie nehmen also das, was Sie im Affekt geschrieben haben, zurück und erklären, es nicht aufrechterhalten zu können?
Zeuge: Ja.
Kaufmann Wolffheim bekundete hierauf als Zeuge: Ein Freund habe ihm erzählt, er habe von der Gustke ein goldenes Zigarettenetui geschenkt erhalten. Nachdem sich sein Freund erschossen hatte, sei die Gustke plötzlich mit der Behauptung hervorgetreten, das Etui sei ihr abgekauft worden. Die Zeugin Gustke bestätigte die Angaben. Jener Freund sei ein 18jähriger Jüngling gewesen, der sich ihr als Kommerzienratssohn vorgestellt und große Beträge auf der Rennbahn verwettet habe. Jenes Etui, das den Namen „Elvira“ in Brillanten trug und bei dem Juwelier Stöß 2000 Mark kostete, habe sie für 1000 Mark verkauft. Der Freund des Zeugen habe dann damit renommiert, daß sie ihm das Etui geschenkt habe.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist Ihnen bekannt, daß Fräulein Gustke sehr mit ihren Kavalieren zu renommieren pflegte?
Zeuge Wolffheim: Es ist doch allgemein bekannt, daß derartige Damen stets zu renommieren pflegen.
Vors.: Ist Ihnen von der Gustke ein besonderer Fall bekannt?
Zeuge: Nein, ich weiß aber, daß sie in ihrer Wohnung Photographien von Fürstlichkeiten mit eigenhändigen Unterschriften hat. Einmal ist sie mit einem Fürsten zusammen im Auto photographiert worden.
Vors.: Sind Ihnen die Namen dieser Fürstlichkeiten bekannt?
Zeuge: Sie sind mir damals genannt worden, heute weiß ich sie aber nicht mehr.
Vors.: Na, es gibt ja soviel
Fürstlichkeiten!
Im Anschluß an die Vernehmung des Zeugen kam es wieder zu einer erregten Szene, in der der Angeklagte schließlich rief: „Sie schwätzen ja alles durcheinander!“
Zeuge: Wenn Sie so widersinniges Zeug geredet haben und noch reden, so kann ich natürlich nur ebenso widersinnig antworten.
Es folgte die Erörterung des Betrugs gegen die Firma Herpich.
Vors.: Sie haben sich bei Herpich einen teuren Pelz bestellt?
Angeklagter: Na ja, ich konnte doch nicht frieren.
Vors.: Ich besitze keinen Pelz und viele andere Leute auch nicht.
Angeklagter: Ich kam aber damals aus Südamerika, hatte wiederholt Lungenentzündungen durchgemacht und mußte mich ganz besonders vor Erkältungen schützen.
R.-A. Dr. Jaffé ließ feststellen, daß zu der kritischen Zeit vier Damen für die Heiratspläne des Angeklagten in Frage kamen.
Zeuge Buchhändler Mandus erklärte, er müsse sich entschieden dagegen verwahren, daß behauptet werde, er sei wegen Geisteskrankheit entmündigt. Er müsse sich dies ein für allemal verbitten. Er sei nicht geisteskrank.
Der Vorsitzende erklärte, daß dann ein Irrtum des Gerichts vorliege. In den Akten sei eine solche Bemerkung vorhanden.
Der Zeuge Mandus wurde vereidigt.
Hierauf folgte das Gutachten des Oberarztes Dr. Edmund Forster, der den Angeklagten sechs Wochen in der Charité beobachtet hatte. Er erklärte: Zeichen einer Geisteskrankheit im engeren Sinne seien nicht hervorgetreten, ein Intelligenzdefekt sei nicht gefunden. Das Benehmen des Angeklagten sei im großen und ganzen korrekt gewesen, sein Auftreten sicher, er habe sich stets auf den Standpunkt gestellt, daß er geistig gesund und unschuldig sei. Er sei leicht erregbar; bei dem geringsten Anlaß geriet er sofort in heftige Erregung und erging sich in lauten, geschmacklosen Schimpfereien. Solche Erregungszustände kamen allerdings nicht ganz ohne Veranlassung vor; auch beruhigte er sich immer nach kurzer Zeit. Der Angeklagte sei ein abnorm veranlagter Mann, von impulsiver, psychopathischer Konstitution. Er will alle seine Wünsche befriedigt haben, ohne an die Folgen zu denken. Ein relativ unbedeutender Anlaß sei für ihn die Ursache gewesen, einen schweren Selbstmordversuch zu begehen. Er sei nicht imstande, eine geordnete Tätigkeit dauernd zu leisten und sehe niemals ein, daß die Schuld an ihm liege. In seinem ganzen Leben prägt sich die Haltlosigkeit und die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, aus. Seine Straftaten tragen alle den Stempel seiner abnormen Persönlichkeit. Bei seiner ganzen Veranlagung erscheint es glaubhaft, er ist fest davon überzeugt, daß das Zustandekommen seiner Heirat nur von ihm abhängig sei. Als aus der Heirat nichts wurde, kehrte er wieder zu der früher angewandten Methode des Gelderwerbes zurück. Der Angeklagte ist leichtgläubig und hat die Tendenz, alles für sich in günstigem Lichte zu sehen. Alles in allem hat man es mit einer wohl erblichen psychopathischen Konstitution zu tun, zu der sich vielleicht ein leichter Schwachsinn gesellt hat. Zu der leichten Erregbarkeit des Angeklagten kommt eine sogenannte ethische Verkümmerung, die auf falsche Erziehung zurückzuführen ist. Das Gutachten des Sachverständigen ging zum Schluß dahin, daß § 51 auf den Angeklagten nicht anzuwenden sei, daß aber doch wegen seiner ganzen Veranlagung die unter Anklage stehenden Handlungen anders zu bewerten seien, als bei ganz gesunden Menschen.
Als der Sachverständige auf die in den Akten befindlichen Mitteilungen des Vaters zurückkommen wollte, protestierte der Angeklagte energisch und rief: „Was mein Vater gesagt hat, ist alles erlogen, erlogen, erlogen!“
Vors.: Schön ist es nicht, daß Sie so von Ihrem Vater sprechen.
Angeklagter: Ich kann leider nicht anders. Wenn ich ihm eine Millionärin gebracht hätte, wäre es ihm gewiß recht gewesen. Weil meine Frau keine Millionen hat, ist sie ihm nicht genehm. Aber eine große künstlerische Kraft hat doch ebensoviel Wert wie die Millionen!
R.-A. Dr. Alsberg: Wenn Sie die Differenzen, die der Angeklagte mit seinem Vater gehabt hat, vom psychologischen Standpunkt aus betrachten, meinen Sie nicht, daß diese Vorgänge auf ihn psychisch schädigend einwirken mußten?
Sachverst.: Hierauf kann ich nicht antworten, da ich die Dinge nur einseitig kenne und mir auch über die Persönlichkeit des Vaters nichts Näheres bekannt ist.
Es kam hierauf zur Sprache, ob der Selbstmordversuch, den der Angeklagte im Alter von sechzehn Jahren unternommen hatte, darauf zurückzuführen war, daß er das Einjährigen-Examen nicht bestehen konnte.
Angeklagter: Das ist doch noch kein Grund zum Selbstmord. Mein Vater hatte mir Himmel und Hölle, Tod und Teufel angedroht, wenn ich nicht durch das Examen käme.
R.-A. Dr. Alsberg: Der Zeuge Meschede hat gestern bekundet, daß der Angeklagte in Bonn unter anderen Verhältnissen gelebt hat, wie seine Altersgenossen. Er hat nur fünf Mark Taschengeld bekommen, die anderen jungen Leute dagegen bis zu 300 Mark. Glaubt der Sachverständige, daß dies auch ein Moment ist, um in dem Angeklagten eine große Erregung auszulösen und die Differenzen mit seinem Vater ihm in einem übertriebenen Licht erscheinen zu lassen?
Dr. Forster: Allerdings würde ich es für einen Fehler erachten, wenn der Angeklagte in einem solchen Milieu mit einem so kleinen Taschengelde leben sollte.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist der Sachverständige der Ansicht, daß der Mangel an Verständnis und Liebe zu seiner Familie von Einfluß auf die Psyche des Angeklagten war, daß beispielsweise der Vater, nachdem ihm der Angeklagte aus dem Untersuchungsgefängnis in einem etwas schroffen Briefe Vorwürfe über seine Zeugnisverweigerung gemacht hat, dem Verteidiger schreibt, er würde keine Briefe mehr in Empfang nehmen und auch nicht die Selbstbeköstigung im Gefängnis ferner bezahlen. Würde es der Sachverständige für richtig halten, daß der Vater den Sohn in so jungen Jahren, nachdem er ihn in ein Irrenhaus gesteckt hatte, allein nach Amerika spedierte?
Dr. Forster: Das ist ganz gewiß nicht richtig und würde schädlich auf die Psyche des Angeklagten wirken.
R.-A. Dr. Alsberg: Sie betonen jedenfalls besonders, daß die mangelnde Liebe, die man ihm zu Hause entgegengebracht hat, auf seine Entwicklung von ungünstigem Einfluß war.
Dr. Forster: Die Erziehung war eine falsche.
R.-A. Dr. Alsberg: Hat Ihnen der Angeklagte erzählt, zählt, daß das Gutachten des Prof. Dr. Aschaffenburg unzutreffend sei, daß er ihn zu kurze Zeit beobachtet habe und daß er nicht für geisteskrank erklärt sein wolle.
Dr. Forster: Jawohl, das hat er mir gesagt.
Der Staatsanwalt kündigte hierauf an, daß er zu Dienstag den Generalmajor a.D. Pauli und den Kriminalkommissar Krüger laden werde, um näheres über die Persönlichkeit des ersteren festzustellen, der mit so großer Sicherheit soviel Günstiges über den Angeklagten ausgesagt habe. „Es wird behauptet, daß Pauli gewerbsmäßiger Heirats- und Ordensvermittler und überhaupt nicht Generalmajor sei, während man geglaubt habe, es sei ein alter Offizier, auf den man die schuldige Rücksicht nehmen müsse.“
R.-A. Dr. Jaffé: Der alte Herr hatte doch die ganze Brust voll Orden und auch das Eiserne Kreuz. Es ist nicht einzusehen, warum gerade nach ihm weitere Nachforschungen gehalten werden sollen. Das Hauptkontingent der vom Staatsanwalt vorgeführten Zeugen besteht aus geisteskranken Verbrechern, Kupplerinnen, Kokotten und dergleichen, um deren Personalien wir uns doch auch nicht bemüht haben.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Dafür können wir nicht. Das ist doch das Milieu, in dem der Angeklagte lebte.
Am sechsten Verhandlungstage beantragte der Angeklagte, den Untersuchungsrichter, Landrichter Dr. Dreist, als Zeugen zu laden. Dieser soll Auskunft geben, was in der erwähnten Verfügung des Justizministers steht. Die Voruntersuchung ist nicht geschlossen, Landrichter Dr. Dreist hat vielmehr erklärt, daß er sie nicht schließen könne. Ich halte die Ladung für sehr notwendig, denn ich möchte hier nicht als Lügner und Denunziant erscheinen, der, um Reklame zu machen, die Richter ablehnt. Ich möchte beweisen, daß ich in meinem Innern durchaus der Meinung sein mußte, daß der Justizminister zu meinen Ungunsten in das Verfahren eingegriffen hat. Landrichter Dr. Dreist wird hier aussagen können, was er mir seinerzeit gesagt hat.
Staatsanw.-Rat Dr. Porzelt: Wir begegnen uns in dem Wunsche, daß diese Sache nach jeder Richtung aufgeklärt wird. Ich bitte also auch, Herrn Landrichter Dr. Dreist zu laden.
Angeklagter: Herr Landrichter Dr. Dreist hat mir gesagt, er wolle die Voruntersuchung schließen, könne es aber nicht infolge der Verfügung, die der Justizminister an den Landgerichtspräsidenten gerichtet hat zur Weitergabe an ihn selbst. Dadurch ist nach meiner Ansicht zu Unrecht in das Verfahren eingegriffen worden.
Der Gerichtshof beschloß, Landrichter Dr. Dreist als Zeugen zu laden.
Zur Verhandlung gelangte hierauf folgender Anklagefall: gefall: Im März 1910 kam Graf Metternich zu dem Gärtner Riesbeck in der Neustädtischen Kirchstraße, bei dem er schon öfter kleine Bestellungen gemacht hatte. Er bestellte einen Rosenstrauß zum Preise von 50 Mark für eine Künstlerin, die im Kaiserhof wohnte. Er soll dabei gesagt haben, er kaufe sonst bei Bock, wo er einen Kredit von 200-300 Mark habe. Er werde aber dort überteuert. Die teuren Rosen, die die besten sein sollten, die es gab, wurden beschafft. Riesbeck hat später vergeblich versucht, Zahlung zu erhalten. Er mußte deshalb den Klageweg beschreiten. Erst im August 1911 ist Zahlung geleistet worden.
Der Angeklagte bestritt, sich eines Betruges schuldig gemacht zu haben. Er habe diese Bagatelle einfach vergessen.
Riesbeck: Er habe dem Angeklagten den Kredit gewährt, weil er sich überzeugt hatte, daß es sich wirklich um den Grafen Metternich handelte.
Direktor des Esplanade-Hotels Frey bekundete: Der Angeklagte hat im Esplanade-Hotel verkehrt und Essen und Trinken stets bezahlt. Einmal habe ich ihm ein Darlehen von ca. 100 Mark, das ich wiedererhalten habe, gegeben. Der Graf erzählte dabei, daß er reich heiraten werde. Eines Abends kam er wieder und wollte von neuem Geld von mir leihen; ich lehnte das aber ab. Dann kam er und gab mir einen Scheck, auf den ich ihm 100 Mark lieh. Nach drei Tagen kam der Scheck zurück, weil keine Deckung vorhanden sei. Auf Vorhalt und Drohung mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft hat der Angeklagte die Deckung besorgt und den Scheck zurückerhalten. Der Zeuge bekundete weiter: Metternich habe stets von seiner Mittellosigkeit gesprochen und ihm erzählt, daß er nur 30 Mark monatlich von seinem Vater erhalte, er denke aber, Schwiegersohn der Wertheims zu werden. Er hat den Angeklagten mehrfach mit Wertheims gesehen.
Angeklagter: Sie haben in der vorigen Verhandlung bekundet, daß ich sogar Kellner angepumpt hätte. Ich möchte bitten, daß mir diese Kellner namhaft gemacht werden.
Zeuge: Ein Oberkellner wird bekunden, daß Sie ihn angepumpt haben.
Angeklagter: Ich wußte nicht, daß dies ein Kellner war, ich habe den Betreffenden stets für den Hotelmanager gehalten. Außerdem will ich, wenn es darauf ankommen sollte, die Namen von Offizieren der Gardekürassiere, Gardeulanen, Gardehusaren nennen, die im Esplanade- und im Monopol-Hotel die Kellner angepumpt haben, wenn sie vom Rennen kamen und beim Jeu saßen. Im Esplanade-Hotel wird auch gejeut.
Zeuge: Das muß ich bestreiten.
R.-A. Dr. Jaffé: Es ist uns ja aus dem Harmlosenprozeß prozeß zur Genüge bekannt, daß Offiziere Kellner anborgen.
Als Zeuge wurde darauf Generalmajor a.D. Pauli aufgerufen. Der alte Herr erschien wieder mit einer großen Reihe von Orden und Ehrenzeichen geschmückt und wurde von einer Pflegerin, die ihn stützte, nach einem Stuhl vor dem Richtertisch geleitet.
Vors.: Es hat sich die Notwendigkeit ergeben, Sie noch über einige Punkte zu befragen.
Zeuge (mit erhobener Stimme): Ich möchte recht viel hier reden, denn ich bin in der schmachvollsten Weise angegriffen und beleidigt worden, und zwar vom Staatsanwalt, demselben Herrn, der schon einmal den Grafen einen gemeinen Betrüger genannt hat. Er glaubt wohl, mit mir ebenso verfahren zu können. Das gibt es nicht.
Vors.: Sie haben hier nicht in solchem Ton zum Gericht zu reden. Wieweit haben Sie die Berechtigung, Rang und Titel eines Generalmajors zu führen? Wollen Sie darüber Auskunft geben?
Zeuge: Na, warum denn nicht? Können wir ja machen! Hier liegen alle meine Patente vor mir und hier sind meine Orden und Ehrenzeichen.
Vors.: Ich frage Sie nochmals: Sind Sie preußischer Generalmajor?
Zeuge: Nein. Habe ich auch noch nie behauptet. Ich bin Major a.D., Stabsoffizier, das ist ungefähr ein Unterschied, wie zwischen einem Referendar und einem Kammergerichtsrat. Wenn sich der Staatsanwalt statt an den Kommissar Krüger an die richtige Auskunftsstelle, das Kriegsministerium, gewendet hätte, dann würde er die richtige Auskunft erhalten haben. Ich habe als preußischer Offizier den Krieg 1870/71 mitgemacht, habe das Eiserne Kreuz zweiter Klasse erhalten und bin bis zum Major avanciert. Dann erhielt ich eine Mission nach China und ging dorthin mit zwölf Offizieren und fünf Unteroffizieren, um das chinesische Militär zu reorganisieren. Ich wurde zum kais. chinesischen Generalmajor ernannt und erhielt zwei hohe Orden. Später ging ich nach Peru und habe als Generalstabsoffizier mitgewirkt, die Revolution niederzuschlagen. Bei meiner Abreise wurde ich zum Generaloberst der Republik Peru befördert. Auch den Titel eines Generalmajors der Republik Honduras trage ich. Ich habe hier in Deutschland bei allen offiziellen Gelegenheiten niemals den Titel Generalmajor geführt. Hier überreiche ich zum Beweise dessen eine Schrift ... Vors. (unterbrechend): Das interessiert das Gericht nicht.
Zeuge (lebhaft): Aber was darauf steht, muß Sie interessieren.
Vors.: Was das Gericht interessiert, haben Sie nicht zu bestimmen. Ich muß Sie nochmals auffordern, hier vor Gericht einen angemessenen Ton anzuschlagen. Es tut mir leid, einem alten Herrn diese Vorhaltungen machen zu müssen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Nach der eingeholten Auskunft des peruanischen Generalkonsuls ist ein Mann, namens Pauli, seinerzeit als mittelloser Offizier nach Peru gekommen, hat sich des Verrats gegen den Präsidenten und seinen Kriegsherrn schuldig gemacht und hat dem General noch sein bestes Pferd gestohlen. (Heiterkeit.) Der Staatsanwalt verlas die dahingehende Auskunft des Generalkonsuls, er wurde aber von den Rechtsanwälten Dr. Jaffé und Dr. Alsberg sehr lebhaft unterbrochen: Der Staatsanwalt müsse doch wohl selbst wissen, daß eine Verlesung solcher Privatäußerungen nicht zulässig sei. Eventuell werde beantragt, den Generalkonsul als Zeugen zu laden.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Wenn R.-A. Dr. Jaffé ganze Stellen aus Briefen der Frau Dolly Landsberger vorliest, wird es mir doch gestattet sein, kurz das vorzutragen, was in der Auskunft steht.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich habe nur dem Staatsanwalt Schwickerath einige Stellen vorgehalten und gefragt, ob er sich solcher Stellen erinnert.
Zeuge Pauli: Ich habe die Konsulate im Auslande kennengelernt; sie sind verächtlich, sie sagen nicht die Wahrheit. Auch hier in diesem Falle ist nicht die Wahrheit gesagt worden.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Der Zeuge hat hier mit großem Nachdruck gesagt, er würde dem Grafen Metternich jede Summe geborgt haben. Hat der Zeuge überhaupt Mittel?
Zeuge: Sie müssen fragen: Hatten Sie Mittel vor drei Jahren? (Sehr laut): Ich habe inzwischen 108000 Mark verloren, ich bin wie so viele andere beschwindelt und ausgenutzt worden.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Haben Sie nicht schon den Offenbarungseid geleistet?
Zeuge: Herrgott, warum denn nicht? (Heiterkeit.)
Vors.: Haben Sie also 1904 den Offenbarungseid geleistet?
Zeuge: Ja.
Vors.: Dann können Sie doch auch nicht sagen, daß Sie dem Angeklagten jede Summe zur Verfügung gestellt hätten.
Zeuge: Damals hatte ich Geld; wenn ich es noch hätte, würde ich es ihm unbedingt zur Verfügung stellen, damit er endlich aus der Haft herauskommt und nicht wahnsinnig wird.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Zeuge kann doch viele Orden und Ehrenzeichen vorweisen.
Zeuge: Sehen Sie sich die Orden an! Das sind doch keine Kotillonorden!
Staatsanw.-Rat Porzelt: Sie vermitteln gegen Geld Orden?
Zeuge: Gott bewahre! Das haben Sie wohl geträumt?
Vors.: Das verneinen Sie unter Ihrem Eide?
Zeuge: Haben Sie mich schon vereidigt?
Vors.: Sie sind schon einmal vereidigt worden und werden nachher nochmals den Eid leisten müssen.
Zeuge: Ich habe mit solchen Sachen noch nie Geld verdient. Haben Sie denn ein Gesetz, welches verbietet, daß man jemand aus Freundschaft Titel und Orden besorgt? Fragen Sie mich nicht so! Ich kann machen, was ich will.
R.-A. Dr. Jaffé: Nachdem der Staatsanwalt am Sonnabend schon einmal den Zeugen, der dem Angeklagten günstig war, in seiner Glaubwürdigkeit herabzumindern versuchte und dies heute wiederholt, beantragen wir, noch folgende Zeugen zu laden: 1. den Oberhofmeister der Kaiserin, Exzellenz Graf Mirbach zu Berlin, 2. Landrat a.D. Kammerherrn von Roell zu Berlin, 3. den Geheimen Hofrat René zu Berlin. Diese drei Herren sollen als Zeugen und Sachverständige bekunden, daß es in den Kreisen der hohen und höchsten Gesellschaft absolut nicht als ehrenrührig oder herabsetzend angesehen wird, wenn jemand seine Beziehungen zu Fürstlichkeiten, Regierungen oder anderen einflußreichen Stellen und auch Behörden dazu benutzt, dritten Personen, die sich darum bemühen, Orden, Ehrenzeichen, Titel, Standeserhöhungen oder sonstige derartige Auszeichnungen zu erhalten, mit ihren Beziehungen in Verbindung zu bringen, um diesen Zweck zu erreichen. Der Staatsanwalt hat hier wieder Ausdrücke gegen den Angeklagten und die Verteidigung benutzt, die entschieden zurückgewiesen werden müssen. Wir verdrehen und verschieben nichts! Wenn die Verteidiger versuchten, etwas über die Kokotte Gustke vorzubringen, so wehrt sich der Staatsanwalt stets mit aller Energie dagegen. Wir haben nicht daran gedacht, den Lebenslauf dieser und anderer Damen bis ins kleinste aufzudecken; aber wenn hier ein Zeuge kommt und für den Angeklagten aussagt, so wird Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diesen Zeugen möglichst auszuschalten.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Es werden hier immer Vergleiche mit meinem Verhalten gegenüber der Gustke angestellt. Das ist nicht zutreffend. Wir wissen alle was die Gustke ist; das ist niemals bestritten worden. Ich habe mich nur dagegen gewendet, daß versucht worden ist, diese Zeugin fernzuhalten. Ich habe auch niemals gesagt, Frau Wertheim ist eine vorzügliche Zeugin. Ich habe mich jeden Urteils enthalten, ich habe nur dagegen protestiert, daß gegen diese Zeugin hier vorgegangen wird, obwohl sie sich nicht wehren kann. Was diesen Zeugen betrifft, so trat er hier so großartig auf, daß man annehmen mußte, es handle sich um einen alten Generalmajor. Daß ich gegen einen solchen Zeugen Gegenbeweise bringe, ist mein Recht. Ich wollte zeigen, wie die Zeugen der Verteidigung beschaffen sind. Das wird auch sonst noch geschehen.
R.-A. Dr. Alsberg: Ich stelle fest, daß der Herr Staatsanwalt gegenüber der Verteidigung Ausdrücke wie „Gebaren“, „umdrehen“ usw. gebraucht hat, ohne daß das Gericht es für nötig erachtet hat, einzugreifen. Das ist bezeichnend für den geringen Schutz, den wir bei dem Gerichtshof finden. Was nun die Ausführungen angeht, mit denen der Staatsanwalt sein Verhalten gegenüber dem Zeugen rechtfertigen will, so berühren sie den Kern der Dinge nicht. Dieser Kern ist folgender: Wenn hier ein Entlastungszeuge auftritt, so bemüht sich der Staatsanwalt, in der minutiösesten Weise der Vergangenheit des Zeugen bis in die entferntesten Winkel nachzuspüren. Wenn aber ein Belastungszeuge erscheint, so wird er von der Staatsanwaltschaft höchst liebevoll in Watte gewickelt. Seiner Vergangenheit spürt man nicht nach! Und wenn der Herr Staatsanwalt etwas über einen Belastungszeugen erfährt, so bringt er es nicht vor. So geht die Staatsanwaltschaft vor, welche sich herausnimmt, hier von einem „Verdrehen“ in bezug auf die Verteidigung zu reden. Die Verteidigung hat nicht die Mittel, dem Vorleben eines Zeugen nachzuspüren. In dem einen Falle, in dem sie es, soweit es ihr möglich war, getan hat, im Falle Wertheim, ist sie dazu dadurch genötigt worden, daß der Vertreter der Staatsanwaltschaft in der vorigen Verhandlung diese Zeugin als „vorzügliche“ bezeichnet hat. Und das Gericht hat damals versagt, weil die Zeugin in der vorigen Verhandlung so dastand, daß die gegen sie gerichteten Angriffe unbegreiflich erscheinen.
Vors.: Ich würde eingegriffen haben, wenn ich glaubte, Veranlassung dazu zu haben. Das war nicht der Fall.
R.-A. Dr. Alsberg: Das ist bedauerlich genug!
R.-A. Dr. Jaffé: Der Herr Staatsanwalt bringt hier auch jetzt noch fortgesetzt Dinge vor, von denen er sich längst aus den Akten hätte überzeugen können, daß sie unrichtig sind. Er hat es trotzdem nicht für nötig gehalten, zu revozieren und sich mir gegenüber zu entschuldigen. Der Herr Staatsanwalt hat es vielmehr gewagt, mir noch mit Konsequenzen zu drohen, die sich vor der Anwaltskammer einstellen würden. Ich habe es unterlassen, ihm mit Konsequenzen zu drohen, die sein Verhalten vor der Oberstaatsanwaltschaft haben werden. Ich muß sagen, daß dieser Prozeß und die darin geübte Behandlung der Verteidigung so unglaublich erscheint, daß es wirklich Zeit ist, wenn bei der Strafprozeßreform Mittel und Wege geschaffen werden, welche es unmöglich machen, daß sich die Verteidigung eine derartig ungehörige Behandlung, handlung, die mit aller Schärfe zurückgewiesen wird, gefallen lassen muß.
Angeklagter Graf Metternich (erregt): Der Staatsanwalt hat wiederholt den Ausdruck „absurd“ gebraucht. Wenn ich hier sagen würde, die Anträge des Staatsanwalts sind absurd, würde ich wahrscheinlich mit drei Tagen Haft bedacht werden. Ist denn der Staatsanwalt mehr wie der Verteidiger, nur weil er Beamter ist und der Verteidiger nicht? (Im Zuhörerraum wurden vereinzelte Bravo-Rufe laut.) Der Vorsitzende verbot nochmals jegliche Kundgebungen mit der Androhung, im Wiederholungsfalle den Saal räumen zu lassen.
Der Zeuge Pauli erklärte ziemlich unvermittelt: Ich werde Strafantrag gegen denjenigen stellen, der das in die Zeitungen eingesetzt hat. Ich werde ihn verklagen wegen Beleidigung, Ehrenkränkung und Verleumdung. Sie haben mich in meinem Berufe und in meiner Existenz geschädigt, das ganze Gericht hat es getan, ich werde Sie alle auf Schadenersatz verklagen.
Vors.: Wir haben doch nichts mit den Artikeln in der Presse zu tun, da müssen Sie sich schon an den Verfasser und den verantwortlichen Redakteur wenden.
Zeuge Pauli (zum Vorsitzenden): Sie haben das doch alles hier vorgebracht, Sie sind also dafür verantwortlich.
Hierauf wurde Untersuchungsrichter Landrichter Dr. Dreist als Zeuge vernommen.
Vors.: Der Angeklagte behauptet, daß Sie von dem Justizminister die Anweisung erhalten hätten, die Voruntersuchung gegen den Angeklagten, soweit er in der Stallmann-Affäre in Frage kommt, noch nicht zu schließen?
Zeuge: Eine derartige Verfügung ist nicht ergangen, es ist dies völlig ausgeschlossen. Ich selbst habe seinerzeit, als ich die Fälle des Kreditbetruges genügend aufgeklärt, dagegen die Falschspielfälle für nicht aufgeklärt hielt, diese Verfahren voneinander getrennt. Als ich seinerzeit die Nachricht erhielt, daß der „Baron Korff-König“ alias Stallmann in Kalkutta festgenommen sei, habe ich zu dem Angeklagten geäußert, ich werde, sobald ich die amtliche Nachricht erhalte, daß Stallmann nicht ausgeliefert werde, sofort die Voruntersuchung schließen. Als ich dann die amtliche Nachricht erhielt, Stallmann werde nicht ausgeliefert, ließ sich bald darauf der Angeklagte vorführen und erinnerte mich an jenes Versprechen. Ich äußerte in verbindlicher Form, daß es mir leid tue, augenblicklich nicht die Voruntersuchung schließen zu können, da ich auf Grund eines Ersuchens des Justizministers erst noch weitere Maßregeln vorzunehmen hätte. Ich hatte gar keine Bedenken, dies dem Angeklagten mitzuteilen, außerdem konnten die Verteidiger jeden Augenblick Einsicht in die Akten nehmen.
Vors.: Eine direkte Anweisung, die Voruntersuchung nicht zu schließen, haben Sie also nicht erhalten?
Zeuge: Nein. Der Herr Justizminister hatte keinerlei Kenntnis über den ganzen Stand der Sache; er konnte gar nicht wissen, ob ich die Absicht hatte, die Voruntersuchung zu schließen oder nicht. Der Herr Justizminister konnte also auch gar nicht eine Anweisung geben, die Voruntersuchung nicht zu schließen. In den gesamten Akten befindet sich kein Schriftstück, welches eine von dem Justizminister ausgehende Anweisung, die von ihm unterschrieben ist, enthält. Die vorliegende Angelegenheit ist nach keiner Richtung hin anders behandelt worden, als jede andere Auslieferungssache, in denen diplomatische Verhandlungen mit Hilfe des Justizministers und des Auswärtigen Amts notwendig sind.
Auf Antrag des Angeklagten wurde hierauf die Anweisung verlesen unter Weglassung der Orte und Namen, da deren Bekanntgabe, wie der Untersuchungsrichter erklärte, die Verfolgung des Stallmann sehr erschweren würde.
Staatsanw.-Rat Porzelt (zu Landrichter Dr. Dreist): Ist Ihnen etwas davon bekannt, daß der Angeklagte während der Untersuchungshaft Versuche unternommen hat, Zeugen zu beeinflussen?
Zeuge: Jawohl, diese Sache liegt sehr weit zurück. Ich besinne mich, daß der Angeklagte, während er sich in der Charité befand, Versuche gemacht hat, Briefe an seine Ehefrau meiner Kenntnis zu entziehen. Er soll die Briefe durch einen Charitéwärter und die Verwandte eines anderen Patienten hinausgeschmuggelt haben.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte in einem dieser Briefe seine Frau ersucht hat, nichts davon zu erwähnen, daß er es gewußt habe, daß sie Geld von einem gewissen Herzfelder, mit dem sie...
Angeklagter (höchst erregt, dazwischenrufend): Das ist nicht wahr, das ist eine ganz gemeine Lüge!
Vors.: Wir wollen doch auf diese Sache hier nicht näher eingehen. Allem Anschein nach wollte der Angeklagte, daß seine Ehefrau nichts aussagen sollte, was den Verdacht der Geisteskrankheit aufkommen lassen könnte.
Angeklagter: Jawohl, nur das wollte ich, nichts anderes. Ich habe damit die Zeugin nicht günstig, sondern ungünstig für mich beeinflussen wollen.
Kriminalkommissar Krüger: Meine Aussage setzt sich zusammen 1. aus den Angaben, die der Zeuge Pauli mir selbst gemacht hat, 2. aus persönlichen Feststellungen, 3. aus Feststellungen aus anderen Akten. Als ich Pauli 1908 in einer anderen Sache vernahm, nahm, ergab sich, daß er nicht über großes Vermögen verfügte und außerstande war, Geld zu verleihen. Es handelte sich damals um Vermittlung von Titeln, Orden und Würden. Im Adreßbuch von 1911 steht er als „Generalmajor a.D.“, ohne jeden erläuternden Zusatz verzeichnet. Gelegentlich einer Durchsuchung, die vor einigen Monaten in einer Hannoverschen Sache bei dem Zeugen vorgenommen wurde, wurden Briefe und Papiere gefunden, aus denen sich ergab, daß der Zeuge in großem Umfange sich mit der Vermittlung von Orden, Titeln und Würden beschäftigte, nicht nur in Berlin, sondern auch in München. Dort schwebte eine derartige Sache, bei der sich der Angeklagte an die Fürstin v. Lieffen, die die Heiratsvermittlerin Anna Wolff ist, gewendet hatte.
Staatsanwalt: Ich wollte nur beweisen, daß der Zeuge nicht Generalmajor, sondern nur Major a.D. ist und sich mit Ordens- und Heiratsvermittlungen beschäftigt.
Zeuge Pauli: Ich habe für Titel und Heiratssachen niemals einen Pfennig erhalten, das kann ich beschwören.
Vors.: Sie haben sich doch aber Geld versprechen lassen und Sie behaupten, niemals etwas bekommen zu haben?
Zeuge: I, Gott bewahre.
R.-A. Dr. Alsberg: Ist es denn eine Schande, wenn man preußischer Major a.D. ist und wenn man, um sein Leben zu fristen, im Nebenamt etwas tut, was Persönlichkeiten machen, die sich in den höchsten Stellungen befinden. Wenn diese Persönlichkeiten auch zumeist kein Geld dafür nehmen, so haben sie doch in anderer Form Vorteil davon. Daß man diesen Zeugen, weil er Orden verschafft haben soll, der Unglaubwürdigkeit zeiht, ist bezeichnend für die Art, wie die Zeugen der Verteidigung hier behandelt werden.
Zeuge Pauli: Ich könnte viele hochstehende Personen nennen, die auch Titel und Orden vermitteln, wenn die Betreffenden Geld für wohltätige Zwecke geben.
Staatsanwalt: Ich wiederhole, es kam mir nur darauf an, das Ansehen und die Stellung des Zeugen in das rechte Licht zu setzen.
Zeuge Pauli (sehr erregt) schrie: Wer hat Ihnen das alles gesagt? Das ist eine Lüge. Das sind ja Redensarten. Zu mir kommen viele Leute, die etwas wollen.
Vors.: Können Sie beschwören, daß Sie für Ordens- und Heiratsvermittlungen niemals Geld erhalten haben?
Zeuge: Was soll ich schwören? Das gehört ja gar nicht zur Sache.
Vors.: Sie haben nicht darüber zu befinden, was zur Sache gehört.
Zeuge: Ich habe nie Geld genommen; versprochen hat man mir viel, aber nicht gehalten.
Staatsanwalt: Es wird behauptet, daß der Zeuge Pauli alles versetzt hat, bis auf das, was er am Leibe trägt.
Die Pflegerin des Zeugen rief empört dazwischen: Das ist nicht wahr!
R.-A. Dr. Jaffé: Ich stelle fest, daß gegen Entlastungszeugen alles mögliche vorgebracht wird, nicht aber gegen Belastungszeugen.
Vors.: Ich bitte, solche Insinuationen zu unterlassen.
R.-A. Dr. Jaffé: Ist es dem Zeugen, Kriminalkommissar Krüger, bekannt, daß Leute, wie der Duc de la Chatre oft große Blender sind? Ist es richtig, daß dieser Herr Mitglied des Travellerklubs war, und daß dieser Klub ein solches Ansehen genießt, daß der Kaiser diesem Klub ein Begrüßungstelegramm gesandt hat?
Zeuge Kriminalkommissar Krüger: Das ist mir bekannt.
R.-A. Dr. Alsberg: Es gelang also dem genannten Herrn, die hohen Herren so zu täuschen, daß er selbst Mitbegründer des Klubs werden konnte.
Der Staatsanwalt kam alsdann auf die Bemerkung des Angeklagten zurück, daß ihm der Falschspieler, Baron von Korff-König, alias Stallmann, von einem Gardeoffizier im Königlichen Schloß vorgestellt worden sei. Aus einer Auskunft des Kgl. Oberhofmarschallamts und des Oberzeremonienmeisters sei zu ersehen, daß der Angeklagte nicht auf der Liste der zu den Hoffestlichkeiten einzuladenden Persönlichkeiten stehe.
Angeklagter: Das habe ich gar nicht behauptet. Ich habe einen Gardeoffizier der Schloßwache besucht, darauf bezog sich meine Bemerkung.
Staatsanwalt: Da könnte ja jeder, der 50 Pf. für Besichtigung des Königlichen Schlosses erlegt, sagen: Es ist mir dieser und jener im Königlichen Schloß vorgestellt worden.
Angeklagter: Bei mir ist es doch etwas anderes, als mit irgendeinem Müller oder Schulze. Es wäre mir ein leichtes gewesen, Einladungen zu den Hoffestlichkeiten zu erhalten; ich habe aber darauf verzichtet, weil ich keine Lust empfand, im Königlichen Schloß drei Stunden herumzustehen und zu dienern.
R.-A. Dr. Jaffé: Kann der Zeuge, Kriminalkommissar Krüger, bestätigen, daß Automobilgeschäfte, wie ein solches dem Angeklagten zur Last gelegt wird, bei Kavalieren gang und gäbe sind?
Kriminalkommissar Krüger: Jawohl. Früher machten geldbedürftige sogenannte Kavaliere derartige Geschäfte mit Pferden und Wagen, heute verschaffen sie sich durch Lombardierung von Automobilen Geld.
Staatsanwalt: Herr Zeuge Pauli, wären Sie überhaupt in der Lage gewesen, dem Angeklagten Geld zu leihen?
Zeuge: Ich bitte, mich doch zu entlassen, ich halte es nicht mehr aus. Der Staatsanwalt erzählt immer Sachen, von denen er keine Ahnung hat.
Staatsanwalt: Ich beantrage gegen den Zeugen Pauli, der gegen mich den Vorwurf der Lüge erhoben hat, eine Ungebührstrafe von 50 Mark.
Vors.: Herr Zeuge, wollen Sie sich wegen des Ausdrucks „Lüge“ entschuldigen?
Zeuge Pauli: Na, dann sage ich „Unwahrheit“. (Heiterkeit.)
R.-A. Dr. Jaffé: Ich stelle fest, daß die Befragung nach den finanziellen Verhältnissen der Frau Wertheim der Verteidigung abgelehnt worden war.
Angeklagter: Das wollen unparteiische Richter sein! Das ist preußische Gerechtigkeit. Die Anträge der Verteidigung werden immer abgelehnt, die des Staatsanwalts aber angenommen!
Nach kurzer Beratung beschloß der Gerichtshof, die Anträge der Verteidigung auf Ladung der Herren v. Mirbach, René usw. abzulehnen. Gegen den Zeugen Pauli wird eine Ungebührstrafe von 24 Stunden Haft festgesetzt. Diese soll vorläufig nicht vollstreckt werden.
Zeuge Pauli: Wofür soll ich denn bestraft werden? Wollen Sie das zurücknehmen was in der Zeitung stand? Ich verurteile Sie dafür zu 1500 Mark Geldstrafe.
(Zeuge Pauli verließ empört den Saal.) Das Gericht hat ferner beschlossen, den Angeklagten wegen seiner Äußerung: „Das wollen unparteiische Richter sein,“ da er Untersuchungsgefangener ist, in eine Disziplinarstrafe von Kostbeschränkung auf Wasser und Brot auf 48 Stunden zu nehmen.
Angeklagter (mit erhobener Stimme): Meinetwegen 100 Stunden Wasser und Brot, meinetwegen auch Kopf ab! Die Richter sind von mir moralisch gerichtet, die Öffentlichkeit wird mir recht geben. Alles kann man in Preußen denn doch noch nicht knechten. Im übrigen will ich jetzt essen und verlange eine Pause.
Es folgte eine kurze Mittagspause.
In der Nachmittagssitzung erbat sich der Angeklagte das Wort zu folgender Erklärung: Ich protestiere gegen die 48 Stunden Disziplinarstrafe. Das Gericht hat nur das Recht, entweder eine Geldstrafe oder eine Haftstrafe zu verhängen. Ich habe die Bemerkung „das wollen unparteiische Richter sein“, lediglich zu meinem Anwalt getan. Ich werde doch wohl meinem Anwalt noch meine innere Überzeugung ausdrücken können.
Vors.: Ich habe selbst jene Äußerung gehört. Außerdem ßerdem will ich Ihnen mitteilen, daß Ihnen gegen die Verhängung der Ordnungsstrafe das Beschwerderecht zusteht.
R.-A. Dr. Alsberg: Ich bitte den Gerichtshof, mir mitteilen zu wollen, auf Grund welchen Gesetzes das Gericht die Strafe verhängt hat. Nach § 179 der Gerichtsverfassung ist das Gericht nicht befugt, eine derartige Strafe zu verhängen. Der Angeklagte hat jene Äußerung als Angeklagter in der Sitzung getan und nicht als Untersuchungsgefangener.
Vors.: Das Gericht verweist nochmals auf den Weg der Beschwerde.
R.-A. Dr. Alsberg: Wenn das Gericht die Ordnungsstrafe in der Sitzung erläßt, dann muß es auch eine Beweisaufnahme hierüber zulassen. Ich beantrage deshalb, den anwesenden Oberarzt Dr. Forster zu vernehmen, daß der Angeklagte, wenn er in Erregung gerät, Sachen sagt, über deren Tragweite er sich nicht im geringsten klar ist.
Vors.: Das Gericht lehnt auch diesen Antrag ab und verweist nochmals auf den Weg der Beschwerde.
Angeklagter (halblaut): Natürlich, abgelehnt, das konnte ich vorher sagen, das ist auch eine Gerechtigkeit!
Hierauf wurde Oberleutnant von Fetter als Zeuge vernommen. Er entschuldigte sich, daß er nicht in Uniform erscheine, und gab als Grund an, daß ihn erst gestern abend die telegraphische Vorladung erreicht habe und er in aller Eile von Mainz hierher habe eilen müssen.
Staatsanw.-Rat. Porzelt (zum Zeugen): Sie haben hier bekundet, daß Sie nicht die Absicht gehabt haben, Frau Dolly Landsberger zu heiraten, daß Sie dies auch zu erkennen gegeben und dem Angeklagten erklärt haben, Sie hätten nicht die Absicht, Frau Dolly zu heiraten. Nach dem neuesten, auch Ihnen wohl bekannten Zeitungsartikel mit Behauptungen des Herrn Wolff Wertheim scheint es mir doch so, als ob Sie Ihre Aussage in einigen Punkten wesentlich abändern müßten. Das bezieht sich beispielsweise auch auf Ihre Angabe über die Ihnen geschenkte Tabatiere. Ich habe den Eindruck, daß Sie doch recht wesentliche Punkte bei Ihrer Aussage verschwiegen haben. Wie oft sind Sie bei Wertheims gewesen? War es nicht täglich zwei- bis dreimal?
Zeuge: Ich bin recht oft dagewesen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: War nicht Ihr Verkehr dort recht intim?
Zeuge: Ich glaube wohl, bei der Tochter hat die Meinung geherrscht, daß ich als Bewerber im Hause verkehrte, aber ich glaube, daß dies nur auf die Mutter zurückzuführen war, die das Bestreben hatte, das Kind, welches krank war, zu beruhigen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Haben Sie nicht eine monatliche natliche Rente von Frau Wertheim bezogen?
Zeuge: Nein, nur ein Darlehen, bezüglich dessen ich noch vor nicht langer Zeit einen rein geschäftlichen Brief von Frau Wertheim erhalten habe. Ich habe 3000 Mark und dann noch einige Raten zu 1000 Mark erhalten.
Vors.: Haben Sie nicht angenommen, daß diese Hingabe des Geldes mit bestimmtem Endziel geschehen sei? Gewöhnlich werden doch Wertheims keine Darlehen geben.
Zeuge: Ich glaube, es damit erklären zu können, daß ich nach der Meinung der Mutter einen guten Einfluß auf das Kind hatte.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Haben Sie sich nicht mit Frau Dolly Landsberger geduzt und ihr in Briefen Kosenamen beigelegt?
Zeuge: Nicht ich habe ihr, sondern sie hat mir Kosenamen beigelegt.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Sie haben doch auch sehr wertvolle Geschenke erhalten, beispielsweise einen Pelz, eine Krawattennadel u. dgl.
Zeuge: Ich kann, wie gesagt, nur annehmen, daß alles dies mit Rücksicht auf den leidenden Zustand der Tochter geschah.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Haben Sie nicht bei Ihrer Übersiedlung nach Mainz die Wohnungsausstattung auch noch aus deren Kaufhause übernommen?
Zeuge: Nein.
Es kam noch zur Sprache, daß der Zeuge kaufmännischen Unterricht genommen habe. Er erklärte das damit, daß er das auch schon früher getan habe, da er auf seinen Reisen im Auslande gefunden habe, daß er in dieser Beziehung eine Lücke ausfüllen müßte. Auf wiederholten Vorhalt erklärte der Zeuge nochmals: Er habe nicht die Absicht gehabt. Frau Dolly zu heiraten, die Tochter mag vielleicht dieser Meinung gewesen sein, und diese Meinung dürfte durch Frau Wertheim genährt worden sein, obgleich diese aus einer Unterredung mit ihm das Gegenteil entnommen haben mußte.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Warum haben Sie dies alles bei Ihrer Vernehmung nicht gesagt?
Zeuge: Meine Aussage habe ich gemacht, so wie ich gefragt worden war, und wie ich es zur Aufklärung der Stellung des Angeklagten im Hause Wertheim für genügend erachtete.
Der Angeklagte betonte nochmals, daß der Zeuge ihm von alledem nichts mitgeteilt habe. Er habe annehmen müssen, daß er (Angeklagter) der einzige Bewerber sei, und finde es komisch, daß neben ihm noch zwei oder drei Bewerber bis 2 Uhr nachts mit Frau Dolly allein zusammengeblieben waren.
Zeuge v. Fetter: Er habe der Frau Wertheim zwei-oder dreimal erklärt, daß er nicht heiraten wolle. Als Gerüchte über seine Verlobung laut wurden, habe er seinem Regimentskommandeur auch entsprechende Mitteilungen gemacht, ebenso anderen Leuten; auch habe er auf einem Ball Frau Dolly offensichtlich „geschnitten“. Er betone nochmals, daß er keine Rente, sondern nur ein Darlehen von Frau Wertheim erhalten habe.
R.-A. Dr. Alsberg: Er behaupte, daß andere Personen gleichfalls als Tafeldekorationen bei Wertheim gedient und Geld dafür bekommen haben. Mit dem jungen Thyssen sei man in gleicher Weise verfahren, wie mit dem Angeklagten, indem man ihn mit Geschenken überhäufte, weil man ihn gern als Schwiegersohn haben wollte.
Nach nochmaliger kurzer Vernehmung des Leutnants Rittweger und dessen Gattin über diesen Punkt verwies der Staatsanwalt auf ein Aktenstück, aus welchem hervorgehe, daß der Angeklagte Gerichtskosten zahlen sollte, und Amtsrichter Graf v.d. Schulenburg für ihn Schritte getan habe, um ihm kleine Ratenzahlungen zu bewilligen. Die Verteidiger und der Angeklagte erwiderten, daß daran doch nichts Auffälliges sei. Der Angeklagte erklärte an der Hand einer Aufstellung, daß er an seine Lieferanten insgesamt 1956 Mark zurückgezahlt habe. Er habe auf die Wechsel 8300 Mark bar erhalten, auf diese habe er 4960 Mark bezahlt. Er habe also in dem einen Jahre nur etwa 3000 Mark für sich gebraucht. Hiervon habe er noch 900 Mark im Mai mit nach London genommen. Die Wechselleute haben ihn um 15000 Mark betrogen.
Staatsanw.-Rat Porzelt: Wie kommt es dann aber, daß immer nur ein Teil dieser Schulden bezahlt worden ist? Der Angeklagte spricht doch immer davon, daß seine Frau ein so hohes Einkommen wie die Zinsen eines Kapitals von zwei Millionen hat?
Angeklagter: Ich glaube, ich habe dies schon einmal erklärt. Der Advokat Mayr-Günther hat mir damals gesagt: „Seien Sie doch nicht verrückt, 20000 Mark zu zahlen, wenn Sie nur 8000 Mark bekommen haben.“ Auch meine Frau sagte, es wäre ein Unsinn, das Geld so aus dem Fenster zu werfen. Es ist dann ein Arrangement mit den Gläubigern versucht worden. Als ich im Mai 1910 nach London fuhr, hatten die vierzehn Lieferanten noch 1863 Mark zu bekommen. Ich habe dann an Buchwald 2400 Mark geschickt, so daß er, wenn er alle Leute bezahlt hätte, noch 600 Mark hätte übrig haben müssen. Buchwald hat aber nichts bezahlt, und dies hat mich ja dann auch zu der Strafanzeige gegen ihn veranlaßt.
Vors.: Dann wären wir ja mit allem fertig. Sind noch irgendwelche Anträge zur Beweisaufnahme zu stellen oder noch nicht erledigt?
R.-A. Dr. Jaffé: Wir behalten uns eventuelle Anträge noch vor.
Am siebenten Verhandlungstage erbat sich das Wort Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg: Ich möchte namens der Verteidigung eine kurze Erklärung abgeben. Man hat uns vorgeworfen, daß wir eine private Erklärung des Vorsitzenden bei der Ablehnung verwertet hätten, und daß wir unnötig in das Privatleben einer Zeugin eingedrungen wären. Was den ersten Punkt betrifft, so bemerke ich, daß wir aus der Konferenz mit dem Herrn Vorsitzenden lediglich der einen Punkt verwertet haben, in dem wir eine offizielle Erklärung über die Stellungnahme der Kammer zu unseren Beweisanträgen erblickt haben. Der Vorsitzende wird uns zugeben müssen, daß wir von den vielen Dingen, die dabei privat gesprochen sind, auch nicht den kleinsten Punkt berührt haben. Was nun unser angebliches Eingehen auf das Privatleben von Zeugen angeht, so haben wir uns überhaupt nur mit der Zeugin Wertheim befaßt. Von dem reichen Material, welches uns über die Zeugin zugetragen wurde, haben wir lediglich einige Punkte verwertet, um beweisen zu können, daß Frau Wertheim, die den Angeklagten hier in der Verhandlung schwer angegriffen hat, auch sonst Personen zu Unrecht beschuldigt hat, vor allem aber, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht so war, daß Frau Wetheim dem Gericht authentisch über Heirats- und Nichtheiratsabsichten ihrer Tochter aussagen könnte. Der Staatsanwalt hat umgekehrt mit seinen reichen Mitteln dem Privatleben jedes Entlastungszeugen nachgespürt und hat dabei Dinge zur Sprache gebracht, die mit dem Beweisthema auch nicht das geringste zu tun haben.
Vors.: Bezüglich des zweiten Teils kann ich nichts sagen. Im übrigen habe ich nie behauptet, daß es eine private Unterhaltung zwischen mir und der Verteidigung gewesen sei, die gewissermaßen keinen Zweck hatte. Es war aber eine vertrauliche, nicht bindende Besprechung, die ich gehabt, und in dieser habe ich meine Ansicht, nicht die der Kammer ausgedrückt.
Es nahm alsdann das Wort zur Schuldfrage Staatsanwaltschaftsrat Dr. Porzelt: Ehe ich die einzelnen Fälle der Anklage erörtere, muß ich mich auf die ganze Prozeßgeschichte einlassen. Der Angeklagte stellt es immer so dar, als ob er nur in dieser Strafsache in Untersuchungshaft genommen worden sei, und als ob Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt würden, damit er verurteilt und somit verdeckt würde, daß man einen Grafen Metternich lange Zeit unschuldig in Haft gehalten habe. Nun ist aber festgestellt, daß die Sache, wegen derer der Angeklagte hauptsächlich in Untersuchungshaft sitzt, die Falschspielersache Stallmann ist, in welcher der Angeklagte doch eine verdächtige Rolle gespielt hat im Verkehr mit Leuten, wie Stallmann und dessen Genossen sind. Allein wegen dieser Sache sitzt er in Untersuchungshaft. Während dieser Haft kamen die Betrügereien, um die es sich hier handelt, zum Vorschein. Der Untersuchungsrichter ließ sich zunächst die Zivilakten in den Fällen, in denen die Lieferanten Klage erhoben hatten, kommen, und aus diesen ergab sich dann diese Blütenlese betrügerischer Handlungen. Dieses ganze Strafverfahren spielt gegenüber der Hauptsache eine untergeordnete Rolle. Der Angeklagte kann sich nimmermehr darüber beklagen, daß er irgendwie ungerecht behandelt worden sei. Er steht der Justizverwaltung nicht anders gegenüber, wie irgendein anderer Sterblicher; er ist nicht besser und nicht schlechter wie jeder andere behandelt worden. Hierbei will ich zu der Klage des Angeklagten über seine Behandlung im Gefängnis betonen, daß er nicht deshalb disziplinarisch bestraft ist, weil er sich nicht vom Bett erhob, als der Oberaufseher kam, sondern, weil er sich dem Oberaufseher gegenüber unangemessen benommen hatte. Nach meiner Meinung hätte dieser Prozeß in ein oder zwei Tagen erledigt werden können; er bietet nichts Außergewöhnliches, es handelt sich um ganz banale Betrugshandlungen. Wenn dieser Prozeß so großes Aufsehen erregt, so ist dazu seitens der Behörde nichts geschehen. Aber der Angeklagte, der alle Veranlassung gehabt hätte, im Interesse seiner Familie und seines Namens alles Aufsehen zu vermeiden, hat alles getan, um fortgesetzt Tamtam in der Presse schlagen zu lassen. Trotz des so künstlich entfachten Aufsehens hätte sich dieser Prozeß wohl in dem gewöhnlichen Rahmen abgespielt, wenn nicht am ersten Tage der Verhandlung der seltsame Antrag auf Ablehnung des Gerichtshofes gekommen wäre. Ich muß diesen Antrag beleuchten, weil aus dessen Stellung doch der Schluß zu ziehen ist, daß der Angeklagte und seine Verteidiger einsahen, wie schlecht die Sache des Angeklagten stand. Schon die Stellung dieses Antrages erst in der Sitzung ist seltsam. Es ist doch gang und gäbe, daß vorher dem Gericht Gelegenheit gegeben wird, den behaupteten Sachverhalt sofort klarzustellen. Dies war um so mehr geboten, als es den Verteidigern bekannt war, daß weder dem Gericht noch mir die Akten in der Sache Stallmann bekannt waren. Aber das schadete nichts: die Sache sollte plötzlich, wie ein Blitz, in die Verhandlung hineinfahren, und so wurden denn ganz maßlose, ungerechtfertigte Angriffe gegen die Justizverwaltung erhoben, Angriffe, wie sie wohl noch niemals vorgebracht worden sind. Keiner der vorgebrachten Gründe kann auch nur im geringsten durchschlagen. Wie es um die angebliche Anweisung des Justizministers, durch die eine Beeinflussung erfolgt sein soll, bestellt ist, das ist gestern in aller Ausführlichkeit klargelegt worden. Der unerhörte Vorwurf, daß der Justizminister vorsätzlich gegen Gesetz und Vorschrift in das Verfahren eingegriffen habe, um dem Angeklagten zu schaden, muß mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Was ist denn tatsächlich geschehen? Unsere Justizverwaltung ist in hohem Grade daran interessiert, daß ein Deutscher namens Stallmann, der in dreistester Weise zahlreiche Personen, auch Deutsche, durch Hochstapeleien geschädigt hat, festgenommen und daß die Strafbehörde seiner habhaft werde. Der Justizminister und das Auswärtige Amt haben alles in Bewegung gesetzt, um dieses Schwindlers habhaft zu werden, und dabei ist der vorgeschriebene Weg betreten worden; der zuständige Referent für das Auslieferungsverfahren hat die darauf bezüglichen Vorschriften genau befolgt. Der Justizminister hat nichts weiter getan, als den Sachverhalt auf dem vorschriebenen Dienstwege dem Landgerichtspräsidenten mitzuteilen. Das ist alles. Kein irgendwie erkennbares Eingreifen in dieses Strafverfahren gegen den Angeklagten, kein Wort von Metternich! Wie man aus diesem Sachverhalt eine Anweisung zuungunsten des Angeklagten herauslesen kann, wie man aus diesem Vorgange, der sich nur auf die Auslieferung des Stallmann bezog, folgern kann, daß der Justizminister wider Recht und Gesetz in das Verfahren eingegriffen habe, ist mir absolut unverständlich! Wenn dies in die Welt hinausgeschrien wird, so kann das zwei Gründe haben: Entweder versteht die Verteidigung überhaupt nichts vom Auslieferungsverfahren, oder man muß sagen: diese Beschuldigung wird wider besseres Wissen erhoben! Ebenso ist es mit dem zweiten Punkt: der Ablehnung des ganzen Gerichts wegen Befangenheit, die sich darin geäußert haben soll, daß ein Antrag, Frau Wertheim in Meran durch einen Gerichtsarzt untersuchen zu lassen, abgelehnt worden ist, und daß den Verteidigern in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden dies vorausgesagt worden ist. Derartige Besprechungen, bei denen der Beamte auch einmal aus sich herausgeht, sind selbstverständlich vertraulicher Natur, und wenn dann solche Äußerung zum Ablehnungsantrag verwertet wird, so richtet sich das von selbst. Ebenso war die Frage des einen Beisitzers nach dem Verhältnis, in dem Justizrat Meschelsohn zur Firma A. Wertheim stehe, durchaus kein Beweis von Befangenheit. Dieser gänzlich unbegründete Ablehnungsantrag läßt nur die Schlußfolgerung zu, daß der Angeklagte seiner Schuld sich bewußt sei. Der Antrag ist von A bis Z unbegründet. Das mußten sich die Verteidiger als Juristen sagen, und wenn dann trotzdem ein solcher Antrag plötzlich in die Verhandlung hineinschneit, so müssen sich die Verteidiger sagen, daß er auf Juristen keinen Eindruck machen kann. Ferner erscheint es als ein geschickter aber verwerflicher Theatercoup, daß von dem Angeklagten versucht wurde, die Sache Metternich zu einem Fall Wertheim zu machen. Er hat gewußt, daß Frau Wertheim die bestgehaßte Frau in Berlin W. ist. Er wußte, daß, wenn er den Spieß umdreht und diese Frau an den Pranger stellt, er damit die Aufmerksamkeit ablenkt und ein Streit beginnt unter dem Schlachtruf: Hie Wolff-Metternich, hie Wolff-Wertheim! Das Hineinziehen der Interna aus dem Wertheimschen Haus in diese Hauptverhandlung ist vollständig ungerechtfertigt, denn von den zur Anklage stehenden Betrugshandlungen des Angeklagten fallen nur ganz wenige in die Ära Wertheim. Der Fall Wertheim muß für jeden Menschen, der die Sache übersieht, von vornherein ausscheiden. Wenn die Verteidigung auf anderem Standpunkt steht, so ist das verwunderlich. Es kam auf die Illustration der Glaubwürdigkeit der Frau Wertheim überhaupt nicht an, denn ihre Aussage in der ersten Verhandlung bestand für den Gerichtshof nicht. Gerade dies Hineinziehen des Falles Wertheim ist ein ungeheuerlicher Mißbrauch der Garantien, die für einen Angeklagten geschaffen sind. Daß das ganze Privatleben der Frau Wertheim bis zu einer langen Zeit vorher hereingezogen werden sollte, war schon vorher in die Presse lanciert worden. Daraus ersah Frau Wertheim, was ihr bevorstand, und es war vorherzusehen, daß eine nervöse, überreizte Frau nach diesen Ankündigungen in der Presse und der Angabe aller möglichen Personen, die hier als Zeugen gegen sie auftreten würden, sich nicht bereit finden lassen würde, an Gerichtsstelle zu erscheinen. Die gesamten Beweisanträge in dieser Richtung hatten keinen Zweck, selbst wenn Frau Wertheim hier erschienen wäre. Und wie ist die Abwesenheit der Frau nun wieder ausgenutzt worden? Es waren widerliche, schmutzige Szenen, die hier vorgeführt wurden, von denen wir aber gar nicht wissen, ob die Behauptungen wahr sind! Man führt Briefe der Tochter der Frau Wertheim vor, die aus einer Zeit größter Spannung zwischen Tochter und Mutter stammen, und man nötigte einen Staatsanwalt durch allerlei Vorhaltungen und Fragen, diesen Schmutz zu bestätigen. Ich muß mich bei dieser Gelegenheit gegen den Vorwurf verwahren, als ob die Staatsanwaltschaft in das Privatleben von Zeugen hineingestiegen sei. Ich hatte genug Material in der Hand, um dies tun zu können. Das weiß der Angeklagte genau; mir ist auch über einen Zeugen mancherlei bekannt, ich bin aber nicht darauf eingegangen. Bei dem Zeugen Pauli war ich aber dazu verpflichtet, denn er hatte hier den Anschein erweckt, als sei er ein alter, verdienter Militär und Lebenskenner, und er hatte bestritten, Heiratsvermittler zu sein. Er hatte auch bekundet, daß er dem Angeklagten jede Summe geliehen hätte. Es ist unglaublich, wie der Herr sich hier so aufspielen konnte. Ich bekomme von allen Seiten Nachricht darüber, welchen Geistes Kind der Zeuge sei, und da muß ich doch die Glaubwürdigkeit dieses Herrn nachprüfen. Das ist wohl der einzige Fall, wo ich in das Privatleben hineingeleuchtet habe. Wie aber verhielt sich die Verteidigung in dem Fall der Zeugin Gustke? Gerade dieser zeigt, wie moralisch minderwertig, verwerflich und gemütsroh der Angeklagte vorgegangen ist. Er will auf die Brautschau fahren, geht zu einer Kokotte, läßt sich das Geld zur Reise nach Baden-Baden geben und schreibt von dort einen Brief, der falsche Angaben enthält und die Bitte um weiteres Geld vorbringt. Das ist Betrug, wie er im Buche steht. Da dieser Fall einer der schwersten für den Angeklagten ist, so ist mit aller Macht daran gearbeitet worden, diese Zeugin zu beseitigen. Man hat es sogar nicht verschmäht, in Ballokale zu gehen und dort Stoff gegen die Zeugin zu sammeln.
Der Staatsanwalt kam alsdann noch einmal ausführlich darauf zurück, daß der Verteidiger in einer Eingabe an das Gericht es so dargestellt haben solle, als ob sich die Gustke ihrer Zeugenpflicht entziehen wollte, während gerade das Gegenteil der Fall gewesen sei, und der Verteidiger die Adresse der Gustke gekannt habe. Wenn die Gustke nicht so forsch gewesen wäre, zu rechter Zeit sich zu melden, so wäre wohl die Schlußfolgerung, daß sie meineidig sei, gezogen worden.
Der Staatsanwalt fuhr darauf fort: Es sind nun in der Presse Stimmen auch von bekannten Personen laut geworden, die meinten, daß das, was der Angeklagte getan, in gewissen Kreisen gang und gäbe sei, und es nichts Außergewöhnliches sei, daß sich Kavaliere in solcher Weise Geld verschaffen mit Rücksicht auf eine reiche Heirat. Ich kann nur annehmen, daß die Herren, die das behaupten, nicht wissen, wie hier die Sache liegt. Hier handelt es sich nicht um einen jungen Leutnant oder Beamten, der Schulden macht mit Rücksicht auf eine spätere Heirat, sondern es handelt sich um blanke Hochstapeleien. Dort Leute, die doch etwas sind und schließlich Rückhalt an ihrer Familie haben, hier aber ein im Leben gescheiterter Mann, der von der Familie verstoßen und nichts weiter als ein Graf Metternich ist. Das ist doch etwas anderes als die Fälle, die Herr Fedor v. Zobeltitz und Herr Dr. Oskar Blumenthal im Auge haben. Gott sei Dank ist das Rechtsempfinden in Deutschland so, daß derartige Handlungen, wie sie hier in Frage stehen, bestraft werden müssen. Ein Vergleich mit den gewöhnlichen Pumpereien kann nicht gezogen werden.
Ich komme nun zu dem bekannten Briefe des Amtsgerichtsrats Grafen v.d. Schulenburg. Dieser schrieb, daß er von dem Angeklagten in der gröblichsten Weise betrogen worden sei und die Angelegenheit der Staatsanwaltschaft übergeben wolle. Einen besseren Beweis, daß das Verhalten des Angeklagten auch in den Kreisen, denen er angehört, als gemeiner Betrug angesehen wird, kann es gar nicht geben. Jetzt hat allerdings Graf Schulenburg unter seinem Eide uns eine andere Auffassung mitgeteilt und gesagt, daß er nur einen zivilrechtlichen Betrug für vorliegend erachte. Das ist verkehrt; gerade er als Strafrichter, der sich dreimal wöchentlich mit Strafsachen beschäftigen muß und den § 263 ebensogut kennt wie wir, hat damals das Kind beim richtigen Namen genannt. Gerade er sprach von einem strafrechtlichen Betrug und drohte mit der Staatsanwaltschaft. Ich will gegen das Zeugnis des Grafen Schulenburg nicht zu scharf vorgehen, da es möglich ist, daß er jetzt freundlich gestimmt ist, weil ihm die Ehefrau des Angeklagten zugesichert hat, ihn schadlos zu halten. Ich betone hierbei ausdrücklich, daß es gar nicht darauf ankommt, ob der Schaden später ganz oder teilweise gedeckt ist, deshalb bleibt der Betrug. Viele Leute, besonders die kleineren Gewerbetreibenden, haben hier bekundet, sie fühlten sich nicht mehr geschädigt, da ihre Forderung bezahlt worden sei. Darauf ist der Umfall dieser Zeugen, die zuerst zur Polizei gelaufen waren, zurückzuführen. Wenn man nun etwas näher auf die ganze Persönlichkeit des Angeklagten eingeht, so muß hervorgehoben werden, daß er, als er nach Berlin kam, vollständig gescheitert war. Trotzdem lebte er als nobler Kavalier, gab im „Moulin rouge“ große Summen aus, verkehrte im Esplanade-Hotel, hielt sich ein Auto, erschien im Tattersall. Dies alles konnte er natürlich sich nur mit Mitteln leisten, die geborgt waren. Der Angeklagte hat gesagt, daß er nach Berlin gekommen sei, um eine Millionärin zu heiraten. Am Sonnabend ist hier schon einmal von der kurzen Dauer der Ära Wertheim gesprochen worden. Ich will zugeben, daß der Angeklagte eine begründete Aussicht vielleicht von Mitte Dezember bis Anfang Januar hatte. Ende Dezember saß ihm aber schon das Messer an der Kehle. Der Angeklagte hat uns hier als echter Kavalier von verschiedenen Intimitäten aus dem Hause Wetheim erzählt. Ist es möglich, daß ein solcher Mann, der, wie wir hören, bis zwei Uhr nachts der Frau Dolly Landsberger auf der Chaiselongue die Haare löst, nicht diese Gelegenheit benutzt haben sollte, um sich durch ein einziges Wort der Werbung aus der Klemme zu befreien, sondern damit wartete, um in mehr romantischer Weise die Werbung in Italien anzubringen? Ich halte dies für sehr unwahrscheinlich. Es wird auch in den Zeitungen gesagt, es sei ganz selbstverständlich, daß ein Graf, der in einer guten Familie eingeführt werde, die Tochter des Hauses heirate. Ich kann sagen, daß dies doch nicht so ganz richtig ist; es wäre traurig, wenn es der Fall wäre. Es betrifft nur eine ganz bestimmte Art von Familien, die emporgekommen sind und sich dann in dem Glanze des gräflichen Schwiegersohnes sonnen wollen. Jede vernünftige Mutter sieht sich ihren Schwiegersohn sehr genau an, auch wenn er Graf ist. Der beste Beweis dafür, daß man nicht so glatt eine Millionärin heiraten kann, ist, daß der Angeklagte schließlich mit ein paar hundert Mark nach London verduftete und dort in eine Falschspielerbande geriet. Ich will nun auf das Ergebnis der Verhandlung näher eingehen. Ich muß sagen, daß der Angeklagte in der ganzen Beweisaufnahme sehr viel Glück gehabt hat, weil sich der Schuldbeweis nicht mehr richtig führen läßt, da die Zeugen zum Teil krank, zum Teil sogar geisteskrank oder aus sonstigen Gründen nicht erschienen sind. Der einzige Fall, in welchem sich die völlige Unschuld des Angeklagten herausgestellt hat, ist der Fall Frey. Zahlreiche andere Fälle lassen sich nicht mehr mit genügender Sicherheit aufklären, trotzdem in diesen ein dringender Verdacht bleibt. Andere Fälle aber sind typische Hochstapeleien. Dies sind die Fälle Horch, Risch, Noack, Gustke, Kilholz, Tilo, Felsing und Werner. Bei der Strafabmessung bitte ich zu berücksichtigen, daß eine Reihe von Fällen, die zweifelhaft lagen, mit zur Anklage gestellt worden sind. Diese Fälle können zur Illustration dienen. Ich wiederhole: Der Angeklagte ist ganz mittellos im Mai 1909 hier angekommen, hat ohne redlichen Erwerb ein ganzes Jahr hindurch gelebt, alle möglichen Leute betrogen und war dann verduftet. Zahlung hat er später ter nur geleistet, wenn er dazu gezwungen war. Ich bitte zu berücksichtigen, daß die Schädigung der Leute im Moment des Betruges außerordentlich groß war. Der Angeklagte hatte gar keine begründete Aussicht, den Schaden wieder gutzumachen. Es handelt sich um erhebliche Objekte, nämlich 16000 M., 2000 Mark, 1650 Mark, 1000 Mark und 800 Mark. Auf der anderen Seite muß das Sachverständigen-Gutachten zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Dieser ist ja moralisch minderwertig, aber wenn er in Ruhe vorgeht, dann ist er, wie wir hier gesehen, sehr klar und hat eine bewunderungswürdige Überredungsgabe. Ferner muß berücksichtigt werden seine Jugend, der Umstand, daß er von seiner Familie verlassen war, mit 30 Mark monatlich auskommen sollte, und daß er schon vor seiner Heirat den Willen bekundet hat, den Schaden einigermaßen wieder gutzumachen. Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände beantrage ich eine Gesamtstrafe von einem Jahre sechs Monaten Gefängnis.
Der Angeklagte protestierte gegen die Behauptung des Staatsanwalts, daß er von seiner Familie verstoßen sei und bat, durch ein Telegramm an seinen Vater das Gegenteil festzustellen.
Der Vorsitzende verwies den Angeklagten darauf, daß der Vater seine Zeugenaussage verweigert habe.
Verteidiger, R.-A. Dr. Jaffé: Ich muß zunächst mein Bedauern aussprechen, daß der Staatsanwalt bei seinen Ausführungen wieder damit angefangen hat, Dinge, die wir als erledigt erachteten, hineinzuziehen. Es handelt sich um persönliche Angriffe des Staatsanwalts, und ich bin genötigt, kurz darauf einzugehen.
Der Verteidiger ging alsdann auf die einzelnen Punkte ein, welche der Staatsanwalt ihm vorgeworfen hat und fuhr hierauf fort: Es ist schon unrichtig, was der Staatsanwalt bezüglich der Haft des Angeklagten gesagt hat: Wir müssen uns an das, was nicht nur in der Anklage, sondern auch an das, was in dem Eröffnungsbeschluß steht, halten. In dem Eröffnungsbeschluß steht wörtlich: „Seit dem 23. Dezember 1910 in dieser Sache in Haft.“ Es ist also unrichtig, wenn der Staatsanwalt sagt, Metternich sitze in der Stallmannsache in Haft. Die ganze Anklage ist juristisch so schwach, juristisch so inhaltlos, wie selten eine Anklage, trotzdem sie von dem Oberstaatsanwalt unterzeichnet ist. Sie ist sicherlich auch nur von einem Referendar verfaßt worden, der es jedenfalls nicht bis zum Assessor bringen dürfte. Was die Form des Ablehnungsgesuches anlangt, so fehlt anscheinend dem Staatsanwalt jedes Verständnis dafür, daß die Verteidigung bei einem Angeklagten, der unter so schwerem Verdacht steht und so lange in Haft sitzt, alle Bedenken, die er gegen die Objektivität eines Gerichtshofes hat, zur Sprache bringen muß. Der Staatsanwalt hat weiter behauptet, daß die Verteidiger gewisse Nachrichten in die Presse lanciert haben, um Stimmung zu machen, er ist sogar soweit gegangen, zu behaupten, daß die Verteidigung damit bezweckt habe, Frau Wertheim abzuschrecken, damit sie nicht zum Termin erscheinen solle. Die Verteidigung weist diesen Vorwurf, der zu absurd ist, mit aller Schärfe zurück. Ich will hier aber darauf hinweisen, daß es manchmal sehr angebracht wäre, wenn die Staatsanwaltschaft ihr Hilfsorgan, die Kriminalpolizei, anweisen würde, mit ihren Pressenotizen etwas vorsichtiger zu sein. Man kann es täglich beobachten, daß über irgendeinen Menschen, der in den Verdacht gerät, irgendeine strafbare Handlung begangen zu haben, die unglaublichsten gefärbten Notizen durch ein bekanntes polizeioffiziöses Bureau verbreitet werden, so daß der Betreffende von vornherein als eine Art Raubmörder erscheint. Es ist Pflicht der Verteidigung, eine gewisse Stimmung hiergegen zu machen, damit die Öffentlichkeit auch das hört, was die Verteidigung sagt. Ich will nun auf die Behauptung des Staatsanwalts, wir leuchten in das Privatleben von Zeugen hinein und kramen siebzehn Jahre zurückliegende Dinge aus, eingehen. Das ist nicht wahr, gerade das Gegenteil ist der Fall. Wir haben gehört, daß gerade diejenige, die von uns angegriffen worden ist, sich selbst nicht gescheut hat, in ihrem Schlüsselroman „Baron Max“ in die intimsten sten Familienangelegenheiten ihres ehemaligen Verwandten hineinzuleuchten und ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Ich muß dem Herrn Staatsanwalt auch hier wieder einen uns gemachten Vorwurf zurückgeben. Entweder hat der Staatsanwalt das ganze Prozedieren nicht verstanden, oder er will es nicht verstehen und behauptet nun wider besseres Wissen jene Dinge. Ich will anerkennen, daß Frau Wertheim in der ersten Verhandlung auf mich einen überraschend sicheren und guten Eindruck gemacht hat. Wenn ich jedoch nachher erfahre, daß sie an einer Art Großmannssucht leidet und außerdem ihre eigenen Verwandten falsch denunziert hat, dann habe ich als Verteidiger nur noch diejenige Rücksicht zu nehmen, die durch die Sache selbst geboten erscheint. Ich habe dann auch, als mir bekannt wurde, daß Frau Wertheim nicht erscheinen würde, sofort auf mehrere Zeugen verzichtet, die Frau Wertheim erheblich mehr kompromittiert hätten, als es bisher geschehen ist. Wenn der Staatsanwalt im Laufe der Verhandlung gesagt hat, die Verteidigung hätte aus einem Prozeß Wolff-Metternich einen Prozeß Wolff-Wertheim gemacht, so sage ich ihm, daß er die Sache Stallmann zu der Sache Wolff-Metternich gemacht hat. Der Staatsanwalt hat während der ganzen Verhandlung alle diejenigen Zeugen, die günstig für den Angeklagten, im Gegensatz zu den übrigen, in einer Weise behandelt, wie es mir noch nicht vorgekommen ist. Ich behaupte ferner, daß der Staatsanwalt die Prostituierte Gustke besser behandelt hat wie den Zeugen Amtsgerichtsrat Graf v.d. Schulenburg. Und wie ist der alte Major a.D. Pauli hier behandelt worden. Der Herr ist preußischer Major a.D., das ist doch was! Er hat das Eiserne Kreuz und andere Ehrenzeichen. Daß er auch einmal in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, ist doch keine Schande, und daß er Orden vermittelt, schändet doch auch nicht. Das machen noch ganz andere hochstehende Persönlichkeiten, wie wir ja unter Beweis gestellt haben. Das Vermitteln von Orden ist also durchaus nichts Schimpfliches. Trotzdem hat der Staatsanwalt alle ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel benutzt, um in das Vorleben des Zeugen hineinzuleuchten. Was hat der Staatsanwalt aber noch getan? Er ist noch viel weiter gegangen! Er hat in das Eheleben des Angeklagten hineingeleuchtet und wollte hier die internsten Dinge aus den Privatverhältnissen der Ehefrau aufdecken. Der Staatsanwalt ist aber, trotzdem es fast unglaublich ist, noch weiter gegangen. Gestern sind in der Wohnung der Eltern der Ehefrau des Angeklagten in Wien Polizeibeamte erschienen und haben versucht, alle möglichen Dinge über ihre früheren Beziehungen zu erfahren. Dies kann nur vom Staatsanwalt ausgegangen sein. Wenn man mit gleichem Maße mißt, so muß man sagen, daß nicht die Verteidigung, sondern gerade die Staatsanwaltschaft es ist, die in Privatverhältnisse hineingeleuchtet und sie aufgedeckt hat. Alles, was der Staatsanwalt über mein Verhalten in Sachen Gustke ausgeführt hat, trifft nicht zu, ist entstellt oder verdreht wiedergegeben. Ich kann nur dem Staatsanwalt mit seinen eigenen Worten sagen: Entweder hat der Staatsanwalt alles dies nicht verstanden oder er behauptet es wider besseres Wissen. Fast muß ich das letztere annehmen. Diese ganze Angelegenheit ist doch bis in das kleinste Detail vollständig aufgeklärt. Und wenn trotzdem der Staatsanwalt auf seinem früheren Standpunkt verbleibt und es nicht für loyal hält, mit Bedauern zu revozieren, so ist darüber nicht mehr zu diskutieren; der Staatsanwalt klammert sich daran bis zum letzten Moment. Das zeigt, wie schwach und haltlos die ganze Anklage ist. Auch der wiederholte Vorwurf, daß ich selbst Zeugen ermittelt habe, ist ganz ungerechtfertigt. Und steht der Ermittelungsapparat des Staatsanwalts nicht zu Gebote, der selbst Auskünfte von dem peruanischen Generalkonsul einzieht. Wir aber müssen selbst Kriminalpolizei spielen. Wenn ich in diesem Falle nicht Detektivs benutzte, so habe ich dies aus ganz bestimmten Gründen getan. Daraus kann mir nicht der geringste Vorwurf gemacht werden. Ich würde, wenn sich in anderen Fällen dieselbe Notwendigkeit ergäbe, immer wieder dasselbe tun. Ich behaupte, die persönlichen Angriffe des Staatsanwalts gegen den Angeklagten und die Verteidigung lassen sich nur erklären aus dem Gefühl, daß die Anklage auf ganz schwachen Füßen steht. Auch der Antrag des Staatsanwalts überrascht mich nicht, denn der Staatsanwalt hat ja schon ganz im Anfange der Verhandlung den Angeklagten als einen „Betrüger“ bezeichnet und ihn damit schon als einen verurteilten Betrüger hingestellt.
Der Vorsitzende unterbrach hier und stellte fest, daß die betreffende, vielleicht nicht ganz geschickte Bemerkung doch nur den Sinn hatte: Der Angeklagte tut so, als ob die Justizverwaltung ihm unrecht tue und ihn verurteilen wolle, damit man nicht einzugestehen brauche, daß man einen Grafen Metternich zu Unrecht so lange in Untersuchungshaft gehalten habe. Da habe der Staatsanwalt gesagt: für die Justiz sei der Graf Metternich nichts anderes als jeder andere, der unter der Anklage des Betruges stehe.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Angeklagte mußte aber auch hieraus auf eine Voreingenommenheit schließen, zumal der Staatsanwalt auch noch äußerte, der Angeklagte werde einer Strafe von mindestens zwei Jahren Gefängnis würdig erscheinen. Ein Bekannter hat mir kürzlich gesagt: Der Angeklagte hat einen großen Fehler gemacht, indem er nur solche kleine Schulden gemacht hat. Wenn er großzügiger vorgegangen wäre und 100000 Mark Schulden gemacht hätte, dann würde seine Situation eine wesentlich bessere und es wohl nicht zur Anklage gekommen sein. Die Richter müßten sich, um zu einem gerechten Urteil zu kommen, in die Seele des Angeklagten versetzen. Der Angeklagte war allein in der Weltstadt sich selbst überlassen und auf fremden Kredit angewiesen. Schon früh hat er erhebliche Abweichungen von der Norm gezeigt, dann einen Selbstmordversuch gemacht. Der Vater hat ihn dann in eine Irrenanstalt gesteckt und mit einigen tausend Mark in die weite Welt geschickt. Nach seiner Rückkehr hat er ihn mit 30 Mark monatlicher Unterstützung nach Berlin gesandt. Was sollte ein Graf Metternich und Neffe des deutschen Botschafters in London mit 22 Jahren anfangen? Er tat das, was jeder in seiner Lage und mit seiner Veranlagung getan hätte und tun mußte, nämlich Schulden machen und vom Kredit leben. Er ist das Produkt seiner Veranlagung und seiner Erziehung. Wenn man alle Menschen, die dasselbe tun, was der Angeklagte getan hat, wenn man alle solche Kavaliere einsperren wollte, dann würde ganz Berlin, ja das ganze Deutsche Reich, mit einem Dache überdeckt, nicht ausreichen, um all diese Leute in sich aufzunehmen. Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß jeder sogenannte Kavalier Kredit bei dem Lieferanten in Anspruch nimmt und Geld bei den Schiebern sucht. Die ersten Firmen Unter den Linden haben zu diesem Zwecke ein ständiges großes Verlustkonto. Eine bekannte Anekdote erzählt folgendes: Bei Ausbruch des Krieges 1870/71 sei der einzige große Militärschneider zum alten Kaiser Wilhelm gegangen und habe ihm sein Leid geklagt, daß er bankerott machen müßte, wenn die Offiziere erschossen werden würden; so ständen sie bei ihm in der Kreide. Der alte Kaiser Wilhelm hat nicht, wie der Staatsanwalt konsequent hätte tun müssen, die Offiziere ins Gefängnis gesteckt, sondern durch das Kriegsministerium die Garantie für die Offiziere dem Schneider gegenüber geleistet. Der Verteidiger beleuchtete darauf die einzelnen Fälle vom juristischen Standpunkte und schloß: Eine Verurteilung des Angeklagten würde einen argen Fehlspruch, ja einen Rechtsbruch darstellen, wie ihn die preußische Justiz noch nicht erlebt hat.
Verteidiger R.-A. Dr. Alsberg beleuchtete die scharfe Gegensätzlichkeit, die in der Verhandlung unaufhörlich hervorgetreten sei. Es sei ja nichts Außergewöhnliches, daß Gericht und Verteidigung mit ganz verschiedenen Empfindungen in den Gerichtssaal kämen. Die Richter brächten die Eindrücke mit, die aus dem toten und oft einseitig gesammelten Aktenmaterial stammten, die Verteidiger dagegen die Empfindungen, die sie aus den vertrauensvollen Besprechungen mit ihren Klienten gewonnen hätten. In diesem sem Prozeß sei aber noch etwas hinzugekommen, was den ursprünglichen und vielleicht unvermeidlichen Zwiespalt zwischen Gericht und Verteidigung in einem ungewöhnlichen Maße verschärfte. Die Anklagebehörde, die Schwesterbehörde der Gerichtsbehörde, erlebe ein nicht gerade erfreuliches Fiasko, wenn der Angeklagte in diesem Verfahren wegen Betruges freigesprochen werde. Auf einem allzu geringen Verdacht hin sei die Auslieferung des Angeklagten wegen Falschspiels aus dem Auslande betrieben worden. Da sei die weitere Strafverfolgung wegen Kreditbetruges der Staatsanwaltschaft nicht unwillkommen gewesen. War diese Strafverfolgung begründet, so wurde damit die Voreiligkeit in der Strafverfolgung wegen Falschspiels verdeckt. Es sei nicht zu leugnen, daß der beamtete Richter der Staatsanwaltschaft hier einen Mißerfolg, der in den Augen der Allgemeinheit auf die Justiz schlechthin seine Schatten würfe, nicht gönne. Deshalb könne auch der beamtete Richter dem Ausgang dieses Strafverfahrens nicht so gleichgültig und unbefangen gegenüberstehen, wie das einem unbeamteten Richter möglich sei. Die Anklage sei eine Verlegenheitsanklage. Ein Teil der unter Anklage gestellten Fälle biete geradezu Schulbeispiele für das, was nicht Betrug sei. In einem anderen Teil der Fälle könne man auch nicht einmal raten, gegen wen überhaupt der Betrug gerichtet sein solle. Wer die Anklageschrift schrift lese, fühle sich in der Rechtsgeschichte mindestens um vierzig Jahre zurückversetzt, in eine Zeit, wo man sich noch völlig darüber unklar war, wie das damals neue Strafgesetzbuch auszulegen sei. Er (Verteidiger) finde den heutigen Rechtszustand, der das frivole Schuldenmachen geradezu legalisiere, durchaus nicht ideal, aber man könne doch nicht die feststehende Auslegung des Betrugsparagraphen über den Haufen werfen. Eine Bestrafung des Angeklagten wegen Betruges könne nur eintreten, wenn sein Verhalten auch nach österreichischem Recht den Begriff des Betruges erfülle. Der Angeklagte sei wegen Betruges durch Falschspiel ausgeliefert worden. Da zwischen Österreich und Deutschland nicht das sogenannte Prinzip der Spezialität bestehe, sei die Staatsanwaltschaft nicht gehindert, den Angeklagten auch wegen solcher strafbaren Handlungen zur Aburteilung zu ziehen, die nicht in dem Auslieferungsgesuch angegeben waren. Hier aber müsse der Richter nachprüfen, ob, wenn wegen dieser Handlungen eine Auslieferung begehrt worden wäre, der österreichische Staat sie auch bewilligt hätte, mit anderen Worten: ob diese Handlungen auch nach österreichischem Recht den Tatbestand des Betruges erfüllten. Der Verteidiger legte alsdann die Unterschiede in der Auffassung des Betruges nach österreichischem und deutschem Recht dar. Er wünsche aber nicht, daß der Angeklagte nur freigesprochen werde, weil er nach österreichischem Recht nicht strafbar sei. Es ließe sich einwandfrei nachweisen, daß auch nach deutschem Recht in keinem der zur Anklage stehenden Fälle der Tatbestand des Betruges nachzuweisen sei. Den Anklagefällen sei gemeinsam, daß der Staatsanwalt aus der mangelnden Zahlungsfähigkeit zur Zeit der Eingehung der Verbindlichkeiten die mangelnde Zahlungsabsicht folgere. Aber der Zahlungswille sei durch die Tatsache der Zahlung in fast allen Fällen bestätigt worden. Die Anklage gehe immer davon aus, daß der Angeklagte nicht mehr und nicht weniger gewesen sei als eine finanziell gescheiterte Existenz, die objektiv und subjektiv nicht die Hoffnung auf eine Wiederaufrichtung gehabt haben könne. Dies sei vollständig widerlegt durch die Aussage des Zeugen Amtsgerichtsrats Grafen Schulenburg. Dieser Herr sei doch nicht unglaubwürdig, weil er in einem Augenblicke der Erregung ein hartes Wort über den Angeklagten gesprochen, und weil er dieses Augenblicksurteil im Gerichtssaal nicht wiedergegeben habe. Es bleibe jedenfalls aus der Aussage des Grafen Schulenburg die Tatsache, daß er dem Angeklagten lediglich auf die Heiratsaussichten hin 6500 Mark geliehen habe. Auch sonst hätten alle, die den Angeklagten kannten, die Überzeugung gehabt, daß ein Graf Wolff-Metternich schon mit Rücksicht auf seine Heiratsaussichten des Kredites tes würdig sei. Der Angeklagte habe auch wiederholt bewiesen, daß es sein ernster Wille gewesen sei, durch eine Heirat seine völlige „Sanierung“ zu bewirken. Wenn der Angeklagte, um seine Freisprechung zu erreichen, den Nachweis führen müßte, daß er objektiv oder wenigstens subjektiv die Hoffnung auf eine günstige Gestaltung seiner Lebensverhältnisse haben könnte, so habe dieser Angeklagte mehr bewiesen, als vielleicht je ein vor ihm wegen Kreditbetruges Angeklagter bewiesen habe. Aber das Gesetz verlange nicht einmal einen solchen Nachweis. Der § 263 StGB. verlange vorsätzliche Schädigung der Gläubiger, und wer hier dem Angeklagten „Vorsatz“ zur Last lege, der zeige, daß er die Grenzlinie zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht kenne. Das ethische Kriterium des Handelns des Angeklagten sei Leichtsinn. Von „Vorsatz“ könne absolut keine Rede sein. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts stehe der Begründung des Staatsanwalts, der dem Angeklagten ein vorsätzliches Handeln vorwerfe, schnurstracks entgegen. Wenn man den dolus eventualis in dem Sinne auffasse, wie ihn das Reichsgericht festgestellt habe, so könne diesem Angeklagten ein dolus eventualis nimmermehr nachgewiesen werden.
Am achten Verhandlungstage fuhr R.-A. Dr. Alsberg fort: Selbst wenn man die Darstellung des Staatsanwalts zugrunde legt, kann man nicht zu dem Schlusse kommen, daß der Angeklagte vorsätzlich seine Gläubiger geschädigt hat. Selbst wenn man im Falle Gustke alles als richtig unterstellt, was Fräulein Elvira Gustke über das Zustandekommen des Wechsels gesagt hat, so wird doch niemand behaupten könen, daß sich der Angeklagte damals gesagt hat: „Der Wechsel wird vielleicht nicht bezahlt werden können, das ist aber ganz gleichgültig.“ Drei Tage und drei Nächte hatte Elvira, wie sie selbst geschildert, mit dem Angeklagten durchgebummelt, viel Geld mit ihm verpraßt und viel Geld von ihm empfangen. Und als es dann ausgegangen war, will sie ihm angeblich 1000 Mark geliehen haben gegen einen Wechsel über 1200 Mark. Wenn man ihr diese Geschichte glaubt, dann muß man auch so gerecht sein, sich in die Seele des Angeklagten hinein zu denken in dem Augenblick, wo dieses seltsame Geschäft zustande kam. In dem, wie Professor Eulenburg sagen würde, vom schwülen Dunst der Parfüms durchzogenen Boudoir sitzen der dreiundzwanzigjährige Graf und die dreiundzwanzigjährige Tänzerin, dreifach übernächtig. Damals hat Elvira gewiß nicht so fromme Stimmungen gehabt, wie sie hier den Zeugen gegenüber geheuchelt hat, die sie als Menschen und Christen ermahnt hat. Und sie wird nicht einmal mit Wilhelm Busch den Angeklagten beschworen haben:
„Ich warne dich als Mensch und Christ,
Bewahre mich vor allem Bösen,
Es macht Vergnügen, wenn man’s ist,
Es macht Verdruß, wenn man’s gewesen.“
Wenn noch etwas nötig war, um den Angeklagten in der Lebensfreude und dem Leichtsinn zu bestärken, dann wird Elvira Gustke dazu beigetragen haben. Ein Psychologe dürfte doch wohl kaum annehmen, daß der Angeklagte, der damals das Heiratsprojekt mit der reichen Amerikanerin betrieb, in diesen Momenten des überschäumenden Lebensgenusses sich gesagt habe: „Heute ist aller Dinge Schluß; ich werde wohl nie im Leben wieder Geld bekommen, nicht in der Lage sein, der Genossin der letzten froh verlebten Tage 1200 Mark zu zahlen.“ Glauben die Richter als Menschen, die sich in die Seele eines anderen Menschen hineindenken sollen, daß der Angeklagte damals auf der Chaiselongue saß und gerade in diesem Augenblicke sich gesagt hat: Du wirst vielleicht nie wieder Geld bekommen, aber das ist ja ganz gleichgültig!? Meinen Sie wirklich, daß man in einem solchen Augenblick, wo man leichtsinnig drei Tage und drei Nächte gebummelt hat, das Leben nicht mehr auf die leichte Achsel nimmt, sondern verzweifelte und verbrecherische Entschlüsse faßt? Auch im Falle Risch sowie in den übrigen Fällen entbehrt die Anklage jeder sicheren Grundlage. Gestern ist mir zugetragen worden – ich will es nicht weiter unter Beweis stellen – daß Fräulein Gustke für den Zeugen Stoeß Juwelenreklame trägt und Brillanten verkauft. Wenn das richtig ist, so wirft dies ein weiteres Licht auf die Aussage dieser Zeugin, die außerordentlich interessiert ist. Es muß wundernehmen, daß man in dem Zeitalter der psychologischen Bewertungsmethode auf eine solche Zeugenaussage überhaupt Wert legt. Vor hundert Jahren war man weiter. In der Kriminalordnung vom Jahre 1805 ist klar ausgedrückt gewesen, daß nie auf die Bezichtigung eines Zeugen etwas gegeben werden kann, wenn es sich um einen Zeugen handelt, der Interesse zur Sache hat. Und hundert Jahre nach dieser Kriminalordnung soll unter Hintansetzung aller psychologischen Erwägungen auf das Zeugnis einer solchen Zeugin Wert gelegt werden! Es ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte in diesem Falle sich so verhalten hat, wie es vom Staatsanwalt hingestellt wird. In dem Anklagefalle Noack, den der Staatsanwalt noch aufrecht erhält, weiß man gar nicht, wer geschädigt sein soll und wem gegenüber falsche Vorspiegelungen gemacht sein sollen. Es ist gar nicht zu begreifen, was ein Jurist in diesem Falle mit dem Betruge wollte. Bei dem Automobilkauf von der Firma Horch ist auch nicht die geringste falsche Vorspiegelung vorgekommen. Der Verkäufer des Wagens hat sich von vornherein gesagt, daß der Angeklagte in die größten finanziellen Schwierigkeiten bei der Anschaffung schaffung dieses Wagens kommen und sich unter Umständen sogar auf den Wagen Geld leihen mußte. Dem Angeklagten ist im Falle Horch noch der Vorwurf der Unterschlagung gemacht worden, doch fehlen sämtliche Tatbestandsmerkmale einer Unterschlagung, denn der Angeklagte hat die bestimmte Hoffnung gehabt, die auch in der Folgezeit sich als richtig erwiesen hat, daß er den Betrag, den er von der Firma Hälsen entliehen hat, zurückzahlen und dann auch das Automobil zurückerhalten werde. Es ist nicht zu verstehen, wie man hier gegen den Angeklagten wegen Unterschlagung Anklage erheben konnte, den Inhaber der Firma Hälsen aber mit einer Anklage verschont hat. Hier bestätigt sich wieder die alte Erfahrung, daß, wenn die Staatsanwaltschaft jemand als Belastungszeugen braucht, sie die auffälligsten Dinge als unbedenklich hinstellt. Wenn in diesem Falle überhaupt jemandem ein Vorwurf zu machen ist, so ist er in erster Linie der Firma Hälsen zu machen, die aus der Verlegenheit des Angeklagten einen großen Nutzen gezogen hat und nicht im Zweifel darüber sein konnte, daß der Wagen noch nicht bezahlt war.
Der Herr Staatsanwalt hat in seinem gestrigen Plädoyer seinen Rückzug in zwei Drittel der Anklagefälle durch ein auf die Verteidigung gerichtetes Geschützfeuer zu decken versucht. Wenn ihm diese persönliche Fanfare nach seiner sachlichen Chamade eine Befriedigung digung war, so gönne ich sie ihm. Meine Befriedigung in dieser Sache ist die Überzeugung, daß es nur eine Seite in dieser Verhandlung gab, auf der es mich reizen konnte, als Mensch und Jurist zu kämpfen: die Seite des Angeklagten!
Staatsanwaltschaftsrat Dr. Porzelt: Es sind gestern kräftige Worte hier gesprochen worden, Worte, wie sie selten hier im Saale gehört worden sind. Ein Rechtsanwalt hat dem Gericht für den Fall, daß es zur Verurteilung des Angeklagten käme, einen Rechtsbruch vorgeworfen; ein Rechtsanwalt hat erklärt, daß die Anklage, die der Oberstaatsanwalt unterzeichnete, wohl von einem Referendar verfaßt worden ist, der es niemals zum Assessor bringen werde. Derartiges richtet sich von selbst. Die Verteidigung hat es eben immer darauf abgesehen, die Staatsanwaltschaft anzugreifen. Sie übersieht aber den einen Punkt, daß nämlich gar nicht die Staatsanwaltschaft allein in Betracht kommt, daß vielmehr auch die Strafkammer das ganze Material zu prüfen hat und daß dann erst das Hauptverfahren selbst eröffnet wird. Wie können also die Verteidiger fortgesetzt ihre Angriffe gegen die Staatsanwaltschaft richten! Es ist nun immer wieder betont worden, die vorliegende Anklage sei eine Verlegenheitsanklage, indem man von der Erwägung ausgeht, daß der Angeklagte so lange in Untersuchungshaft sitzt. Angesichts dieser Behauptungen möchte ich denn doch betonen, daß bereits am 1. April d.J. die Anklage in dem vorliegenden Verfahren eröffnet worden ist. Daß der Termin erst jetzt stattfindet, ist nicht meine Schuld. Was den Ablehnungsantrag der Verteidigung betrifft, so ist in dem Schriftsatze betont worden, daß ein gesetzwidriges Eingreifen des Justizministers in ein Verfahren vorliegt, und wenn dieser ganze Ablehnungsantrag überhaupt einen Sinn haben sollte, so war es nur der, daß der Justizminister wider Recht und Gesetz vorsätzlich Anweisungen zuungunsten des Angeklagten gegeben habe. Die Verteidiger wissen wohl selbst, wie ihre Standesgenossen über diese ganze Angelegenheit denken.
Der Staatsanwalt suchte des längeren die von R.-A. Dr. Alsberg vorgebrachten Ausführungen betreffend den Auslieferungsvertrag mit Österreich und die Angabe, daß der Angeklagte hier nur bestraft werden könne, wenn er auch nach österreichischem Gesetz zu bestrafen sei, zu widerlegen. Der Staatsanwalt hatte kein Bedenken, daß in allen Anklagefällen auch das österreichische Strafrecht Platz greift. Zuletzt betonte der Staatsanwalt, daß er nur diejenigen Fälle aufrechterhalten habe, in denen der Angeklagte nicht begründete Aussicht auf eine reiche Heirat hatte.
Vert. R.-A. Dr. Jaffé: Was die groben Ausdrücke anbelangt, so erkläre ich, daß diese lediglich ein Echo dessen waren, was sich der Staatsanwalt in diesem Termin geleistet hat. Der Staatsanwalt hat hier Ausdrücke gebraucht, wie: „die Verteidigung versteht es nicht“, „sie behauptet wider besseres Wissen“, und schließlich hat sich der Staatsanwalt sogar erlaubt, der Verteidigung Inkorrektheiten vorzuwerfen und mit Konsequenzen vor der Anwaltskammer gedroht. Daß wir dann in demselben Tone antworten, ist wohl selbstverständlich. Sind wir denn vogelfrei? Wird die Verteidigung nicht geschützt vor solchen Angriffen? Wenn dies nicht der Fall ist, so müssen wir uns selbst schützen. Stehen wir nicht gesellschaftlich und beruflich genau auf derselben Stufe wie der Staatsanwalt? Ich denke auch, wir haben in diesem Prozeß gezeigt, daß wir juristisch mindestens ebensoviel verstehen, wie der Staatsanwalt. Der Vorsitzende hat es mehrfach abgelehnt, wenn der Staatsanwalt uns unterbrechen wollte und eine Rüge verlangte; der Herr Vorsitzende hatte wohl auch die Empfindung, daß der Staatsanwalt hier viel zuweit gegangen ist. Unsere Standesgenossen haben dieselbe Empfindung gehabt, daß der Staatsanwalt in diesem ganzen Verfahren persönlich der Verteidigung gegenüber beispiellos sich benommen hat. Ich muß auch noch einmal auf die mir immer wieder vorgeworfene Inkorrektheit zurückkommen und lege Wert darauf, daß dies in der Öffentlichkeit und in der Presse zum Ausdruck kommt. Ich habe den Beweisantrag bezüglich der Gustke vom 12. August gust nur gestellt, um zu beweisen, daß die Gustke, nachdem sie in der Voruntersuchung vereidigt war und in dem ersten Termin nicht erschien, sich absichtlich dem ersten Termin entzogen habe. Und dabei bleibe ich! Wenn sich die Gustke nachher gemeldet hat, so hat sie es getan entweder aus Angst oder um irgendwie Geld zu bekommen. Wie kann da der Staatsanwalt immer von neuem sagen, der Beweisantrag hätte nicht aufrechterhalten werden können! Das ist eine absichtliche Verdrehung.
Vors.: Dann ist es die Ansicht des Herrn Staatsanwalts, aber von einer absichtlichen Verdrehung kann doch keine Rede sein.
R.-A. Dr. Jaffé: Hier handelt es sich aber nicht um Ansichten, sondern um Tatsachen.
Vors.: Ich will auf die Sache selbst nicht noch einmal eingehen; es ist aber unstatthaft, dem Staatsanwalt eine absichtliche Verdrehung vorzuwerfen.
R.-A. Dr. Jaffé: Der Staatsanwalt hat auch uns gegenüber von Verdrehungen gesprochen. Bezüglich dessen, was der Staatsanwalt über den notwendigen Eröffnungsbeschluß seitens der Strafkammer gesagt hat, bemerke ich: es geschieht im allgemeinen so, wie es in der Anklage steht, und es kommt sehr selten vor, daß entgegen der Anklage nicht eröffnet wird. Es liegt in den tatsächlichen Verhältnissen und in diesem Falle in der notwendigen Eile, daß es nicht möglich ist, eine Anklage eingehend zu prüfen; hier handelte es sich um eine Haftsache, die beschleunigt werden sollte.
Vors.: Ich muß dagegen protestieren, daß eine Gerichtsbehörde hier in dieser Weise heruntergesetzt wird mit Behauptungen, die absolut nicht den Tatsachen entsprechen. Wenn Sie sich den Eröffnungsbeschluß ansehen, werden Sie sich überzeugen, daß dieser von der Anklage in verschiedenen Punkten abweicht. Diesen groben Vorwurf weise ich zurück.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich habe durchaus keinen Vorwurf erheben wollen.
Vors.: Wenn man einer Behörde sagt, sie tue ihre Pflicht nicht – und es ist ihre Pflicht, sorgfältig zu prüfen, ob das Verfahren gegen einen Angeklagten zu eröffnen ist –, so ist das der Vorwurf einer Pflichtverletzung.
R.-A. Dr. Jaffé: Ich habe nur gesagt, es hat nicht so genau geprüft werden können infolge des Drängens auf Beschleunigung. Ich behaupte, und es ist mir auch von anderer Seite bestätigt worden, daß die Verhaftung des Angeklagten ein taktischer Fehler war. In bezug auf den Ablehnungsantrag muß ich mich dagegen verwahren, daß er so ausgelegt wird, wie es der Staatsanwalt getan. Es ist nicht gesagt worden, daß das Eingreifen des Justizministers vorsätzlich zuungunsten des Angeklagten geschehen sei. Der Staatsanwalt walt sollte als Jurist wissen, daß es einen Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit gibt. Was die Wertheim-Sache betrifft, so ist dies doch gar nicht zu vergleichen mit der Art, wie der Staatsanwalt in das Vorleben von Zeugen hineingeleuchtet hat. Daß diese Beweisführung nötig war, hat der Gerichtshof dadurch anerkannt, daß er unseren Antrag für erheblich erachtete, und wenn dieser Antrag erheblich war, so war auch erheblich, was wir weiter vorgebracht haben. Ich habe schon darauf hingewiesen, wieweit der Staatsanwalt geglaubt hat, in das Privatleben der Ehefrau des Angeklagten hineinleuchten zu sollen. Er hat dabei Dinge vorgebracht, die gar nicht im Zusammenhange mit dieser Strafsache stehen, er hat sogar in Wien durch Kriminalbeamte bei den Pförtnersleuten der Schwiegereltern des Angeklagten fragen lassen, ob etwas Ungünstiges über das Leben der Frau Gräfin festgestellt werden könne.
R.-A. Dr. Alsberg: Es ist unrichtig, wenn der Staatsanwalt die größere Hälfte der Schuld auf die Eröffnungskammer abwälzen will. Die Anklageschrift soll genau angeben, worin der strafbare Tatbestand zu finden ist. Aber diese Anklageschrift läßt manchmal überhaupt nicht erkennen, wer geschädigt ist. Sie weist viele Fehler auf. Für solche Fehler darf sich die Staatsanwaltschaft nicht auf die Eröffnungskammer berufen. Es ist ja bekannt, daß von oben nach unten hin sehr oft Ideen gegeben werden, und es ist kein Geheimnis, daß der Justizminister den Landgerichtsdirektoren häufig seine Auffassung über die Stimmung mitteilt. Ja, der Justizminister hat sogar einem bestimmten Richter in einem Falle über die Auslegung des G.-m.-b.-H.-Gesetzes Mitteilung gemacht. Die Verteidigung hat bei dem Ablehnungsgesuch den Zweck verfolgt und erreicht, eine Klärung darüber zu schaffen, in welchem Umfang die Beweisaufnahme zulässig war. Was den Vorwurf betrifft, daß sich die Standesgenossen gegen uns gewandt haben wegen der Art der Verteidigung, so habe ich heute morgen das entgegengesetzte Urteil aus dem Munde eines hochangesehenen Kollegen gehört. Ich habe erst vor kurzem einen höchst dramatischen Vorfall hier oben im Schwurgerichtssaal erlebt. Die Staatsanwaltschaft stellte durch Befragung einer Zeugin fest, daß die Frau des Angeklagten früher unter sittenpolizeilicher Kontrolle gestanden hatte. Der Angeklagte, der keine Ahnung hiervon hatte, brach bei diesen Feststellungen völlig zusammen. Es ist ein interessanter Zufall, daß in dem Augenblick, wo wir hier diese Dinge behandeln, in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ Oberamtsrichter Riß über eine ungenügende Garantie der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der vorgesetzten Behörde Klage geführt hat. Schließlich noch ein Wort über den Fall Wertheim. Ich konstatiere re ausdrücklich, daß alles, was ich nach dieser Richtung hin in der Beweisaufnahme getan habe, dem einen Zweck diente, festzustellen, daß Frau Wertheim nicht berechtigt war, dem Angeklagten den Glauben an eine Heirat mit ihrer Tochter zu bestreiten, und daß die Gründe, die sich der Verehelichung entgegenstellten, nicht in der Person des Angeklagten lagen. Der Herr Vorsitzende hat auch in der Verhandlung ausdrücklich erklärt, daß meine Fragen zur Sache gehörten. Warum hat Frau Wertheim nicht erklärt: „Meine Tochter ist eine zu selbständige Person, sie ist eine geschiedene Frau und hat ihre eigenen Boudoirs. Ich kann unter meinem Eide nicht sagen, wie sie über eine Heirat mit dem Grafen Metternich gedacht hat.“ Der Verteidiger wies zum Schluß die juristische Replik des Staatsanwalts als mit dem Gesetz und der Rechtsprechung des Reichsgerichts unvereinbar zurück. Darauf erhielt das letzte Wort der Angeklagte: Ich muß zunächst einige allgemeine Bemerkungen machen. Es ist recht charakteristisch, wie der Staatsanwalt gegen meine Zeugen vorgegangen ist. Er hat mir vorgeworfen, daß ich Frau Wertheim angegriffen habe. Ist es denn nicht aber mein gutes Recht, eine Zeugin, die als klassisch in der ersten Verhandlung bezeichnet wurde, und die mich damals als einen gemeinen Lügner hinstellte, in das rechte Licht zu rücken, um zu beweisen, daß sie die Unwahrheit sagte? Der Staatsanwalt hat gegen mich und meine Frau ganz ungeheuerliche Beschuldigungen vorgebracht. Er hat es gewagt, mir eine unglaubliche Beleidigung ins Gesicht zu schleudern. Ich bin leider außerstande, hier von der Anklagebank aus ihm so zu antworten, wie ich es gern möchte ... Ich bitte aber den Staatsanwalt, mir diese Beleidigungen noch einmal ins Gesicht zu schleudern, sobald ich das Gefängnis verlassen habe. Ich werde ihm dann so antworten, wie es unter gebildeten Leuten üblich ist. Der Staatsanwalt hat angedeutet, ich wüßte von Beziehungen meiner Ehefrau zu einem Verehrer, und ich wüßte, daß sie die Revenuen von zwei Millionen beziehe. Ich hätte also von unlauteren Beziehungen gewußt und auch gewußt, woher die Gelder kommen. Das ist eine ganz unglaubliche Beleidigung. Der Herr Staatsanwalt hat den Mut, so etwas der armen Frau noch zu sagen, von der er weiß, daß sie sich nicht wehren kann. Ihm wird so etwas gestattet, aber wenn ich, der ich durch die lange Untersuchungshaft körperlich herabgekommen und nervös geworden bin, in der Erregung über das, was mir und meiner Frau angetan wird, etwas zuweit gehe, dann erhalte ich sofort eine Ordnungsstrafe. Traurig ist es, daß ein Staatsanwalt so etwas sagt; er müßte doch so objektiv sein, nicht private Dinge hier auszukramen, die noch dazu nicht wahr sind. Wir verhandeln doch hier keinen Ehescheidungsprozeß „Metternich ternich kontra Metternich!“ Wie konnte er bei meinem Schwiegervater die erwähnten Ermittlungen anstellen! Wenn ich meine Frau heirate, so ist das doch wohl genügend! Ich will den Herrn Staatsanwalt nicht beleidigen, wenn ich sage, er ist doch mindestens 15 Jahre älter wie ich.
Vorsitzender (unterbrechend): Es ist zweckmäßiger, wenn Sie sich weniger mit der Person des Staatsanwalts beschäftigen würden!
Angeklagter (mit erhobener Stimme fortfahrend): Es ist doch aber meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, meine arme Frau gegen derartige infame Anschuldigungen in Schutz zu nehmen.
Vors.: Ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam, daß dies nicht der Ton ist, in dem man vor Gericht spricht. Ein Prozeßverfahren ist nicht möglich, wenn Sie sich nicht parlamentarischer Ausdrücke bedienen.
Angeklagter: Ich will nun etwas über die Gustke sagen. Wenn ich wirklich von ihr das Geld bekommen hätte, aus welchem Grunde sollte ich gerade sie schädigen und ihr nichts zurückzahlen, da ich doch so vielen anderen Geld gezahlt habe? Gerade ihr hätte ich zuerst das Geld zurückgezahlt, wenn ich etwas bekommen hätte, weil ich weiß, daß dieser Fall für mich sehr ungünstig ausgelegt werden konnte. Ich behaupte und ich bin bereit, es zu beschwören, wenn ich es dürfte: die Gustke hat hier einen ganz gemeinen Meineid geleistet! Als ich nach Berlin kam, hatte ich tatsächlich nichts. Ich mußte mich ausrüsten, um standesgemäß auftreten zu können, wie dies Tausende meines Standes auch tun würden, wenn sie die Absicht haben, als letztes Mittel eine reiche Heirat einzugehen. Ich bin der festen Überzeugung: wenn ich dies nicht getan hätte und hier mit einem Anzuge und einem Paar Stiefeln herumgelaufen wäre, so hätte der Staatsanwalt mir hieraus wieder einen Strick gedreht und gesagt: „Hier seht ihr’s ja. Der Angeklagte hat ja gar keine Absichten gehabt, zu heiraten, sonst wäre er nicht so herumgelaufen, sondern hätte versucht, sein Äußeres so zu gestalten, daß er Eindruck macht!“ Ich kann nur immer wieder sagen: Ich war leichtsinnig, ich habe Schulden gemacht, aber ich habe nicht betrogen. Ich hatte die Absicht, mich zu rangieren, und habe dies ja auch getan. Ist vielleicht die große Schauspielerin Claire Vallentin nicht noch mehr, wie die Dolly Pincus, die das Glück hat, Millionen zu besitzen, die ihr Vater erschachert und gestohlen hat, wie die eigene Mutter der Dolly erklärt hat? Ist denn das Geld allein immer nur maßgebend? Ich hätte ja in Wien von meinem Gehalt allein den kleinen Rest der Schulden bezahlen können. Es wird mir doch niemand zutrauen, daß ich so töricht sein würde, 50000 Mark an Roeder und 26000 Mark an die Metallindustrie Schönebeck noch zu zahlen. Das Wenige, was übrigbleibt, konnte ich aus eigener Kraft tilgen. Alles, was zu meinen Gunsten spricht, wird außer acht gelassen, aber das, was mir ungünstig ist, wird auseinandergetreten. Ich selbst als armer Mensch bin ja gar nicht angeklagt, aber der Name Metternich ist hier angeklagt. Das fühle ich in meinem Innern. Wenn ich nur daran denke, wie damals von dem Staatsanwalt oder der Kriminalpolizei in die Zeitungen lanciert wurde, Graf Metternich ist ein Betrüger, so –
Vorsitzender: Der Staatsanwalt lanciert nichts in die Presse!
Angeklagter: Ich sage ja, der Staatsanwalt oder die Kriminalpolizei. Ich kann nur nochmals fragen: Mußte ich nicht in meiner traurigen Lage Schulden machen, um essen zu können? Deshalb bin ich doch noch kein Betrüger. Zum Schluß will ich noch ins Gedächtnis zurückrufen, wie ich im Leben behandelt worden bin. Ich wurde mit 19 Jahren nach Südamerika geschickt, ich verstand kein Wort Spanisch und mußte arbeiten wie ein gewöhnlicher Arbeiter und Knecht. Ich habe es zum zweiten Inspektor gebracht und habe die 200 Pesos nicht umsonst bekommen. Als ich dann die Stellung bei der Bank erhielt, wurde ich von meinem Vater zurückgerufen. Als ich nach Hause kam, entstanden wieder die alten Reibereien, weil wir zuviel Kinder sind und man auf mich nicht mehr gerechnet hatte. Man hat mich dann wieder allein lein in die Welt hinausgeschickt. Ich mußte mich allein durchs Leben schlagen. Nachdem ich hart gearbeitet hatte, bin ich schließlich dazu gekommen, mir zu sagen, daß ich mir endlich durch eine reiche Heirat Ruhe schaffen werde. Habe ich denn nicht auch selbst während der schönen Flitterwochen gearbeitet? Wenn mein Vater, wie er mir versprochen, die Schulden für mich bezahlt hätte, dann wäre ich nie auf die Anklagebank gekommen. Als ich meine Frau heiratete, war mein Vater auch nicht damit einverstanden. Hat mein Vater für mich etwas getan, was mich veranlassen konnte, seinem Wunsche nachzukommen? Meine Herren Richter. Ich bitte, sprechen Sie mich frei. Denken Sie an die Qualen, die nicht nur ich in der kleinen Zelle des Untersuchungsgefängnisses unter Verbrechern zehn Monate lang durchmachen mußte, und auch an die Leiden meiner Frau, die mich im Gefängnis besucht hatte und abends das Publikum durch Scherze hinreißen mußte. Ich bin fürwahr durch das alles genug bestraft worden. Lassen Sie auch Ihr Herz dabei mitsprechen. Ich bitte nochmals um meine Freisprechung.
Nach mehrstündiger Beratung des Gerichtshofs verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Crüger folgendes Urteil: Um zu einer Beurteilung der Frage zu kommen: hat sich der Angeklagte des Betrugs in einer Reihe von Fällen schuldig gemacht oder nicht? müssen wir prüfen, was ist in dieser Verhandlung an objektiven Tatsachen erwiesen, und was ist erwiesen über den Charakter, die Lebensanschauungen des Angeklagten und ferner, wie läßt sich dann dieses alles unter die Paragraphen des Strafgesetzes subsummieren? Da müssen wir beginnen mit der Frage nach der Lebensanschauung, der Lebensstellung und der gesellschaftlichen Stellung des Angeklagten. Wir haben gehört, daß der Angeklagte, eigentlich von Anfang seines Lebens an, seinem Vater Sorge und Kummer bereitet hat. Auf den verschiedenen Gymnasien, auf denen er gewesen ist, hat er schon – natürlich in kleinerem Umfange – Schulden gemacht. Er mußte auch öfter die Schulen wechseln, weil er nicht recht vorwärts kam. Dann sind die Differenzen größer geworden, der Angeklagte hat einen Selbstmordversuch unternommen; sein Vater hielt es für notwendig, ihn zunächst einmal nach Amerika zu schicken, hier hielt er es nur kurze Zeit aus und kam wieder zurück. Da sich aber auch nach der Rückkehr ein einigermaßen angenehmes häusliches Verhältnis mit dem Angeklagten nicht herstellen ließ, hielt es der Vater für angemessen, ihn wieder nach Amerika zu schicken, und gab ihm dieses Mal eine größere Summe, etwa 4000 Mark, mit, die die Grundlage für eine Existenz bilden sollten. Auch in diesem Falle ist es dem Angeklagten nicht geglückt, sich zu halten. Nach kurzer Zeit hatte er das ganze Geld verbracht und kam wieder nach Hause. Nun wies ihm sein Vater direkt die Tür. Er ließ sich bereit finden, dem Angeklagten noch monatlich 30 M. zu geben. Aber der Angeklagte und auch sein Vater mußten sich sagen, daß diese Summe nicht zum Lebensunterhalt ausreichen, sondern nur die Existenzmöglichkeit, die Möglichkeit einer Wohnung, gewähren konnte. Nach kurzem Aufenthalt in Frankfurt kam der Angeklagte nach Berlin. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, daß der angebliche Baron v. Teplitz-Zeuner ein Schwindler war, und daß der Angeklagte nicht gewußt hat, daß dies der Fall war, vielmehr geglaubt hat, daß dieser ihm eine Stellung verschaffen würde. Bald mußte der Angeklagte aber erkennen, daß es sich um einen Schwindler handelte, nachdem er ihm selbst einen Wechsel über 5000 Mark gegeben hatte. Nun stand der Angeklagte wieder dem Nichts gegenüber. Jetzt setzt nun das Verhalten des Angeklagten ein, wie es im Eröffnungsbeschluß ihm als Straftat zur Last gelegt wird. Er hatte nichts und hatte auch einstweilen keine Aussicht, Geld zu bekommen. Er hat alsdann in keiner ernstlichen Weise sich bemüht, sich Arbeit, eine Anstellung, überhaupt einen Verdienst zu verschaffen, sondern er hat angefangen daraufloszuleben, und dieses Leben gründete er, wie er wußte und wissen mußte, nur auf Schulden und auf eine ganz unsichere chere Aussicht, später in bessere Verhältnisse zu kommen. Erleichtert wurde ihm das sehr; Kredit wurde ihm von allen Seiten entgegengebracht infolge seines Namens. Der Angeklagte hat gelebt, und wie hat er gelebt! Das muß man bedenken. Da wird ein Automobil gekauft, ein teures Reitpferd, beim Schuhmacher wird eine Rechnung von 500 Mark gemacht in kaum einem Jahre, beim Schneider werden Sachen für 1000 Mark bestellt, dann muß eine goldene Uhr für 400 Mark angeschafft werden, und es werden Dedikationen für über 100 Mark gemacht. Der Rosenstrauß muß besonders feine Rosen haben, die erst besorgt werden müssen, weil sie sonst kaum im Handel sind. Der Angeklagte verkehrt dann mit den teuersten Kokotten von Berlin in den Ballokalen und gibt dort in einer Nacht das Doppelte von dem aus, was eine Arbeiterfamilie in einem Monat zu verzehren hat. Das ist das Bild, das wir von dem Leben des Angeklagten notwendig gewinnen mußten. Er weist darauf hin, um sein bescheidenes Leben darzutun, daß er eine Wohnung für nur 30 Mark und eine Pension von 90 Mark monatlich gehabt hätte. Das hat aber wohl daran gelegen, daß es selten Pensionsmütter geben wird, wie Fräulein Uhrmann, die den Angeklagten nahm, obwohl er ihr sagte: „An Geld ist vorläufig nicht zu denken, vorläufig muß ich alles auf Borg nehmen,“ und die ihm dann noch einmal 1000 Mark und dann 800 Mark zur Verfügung gestellt hat, ohne daß bestimmte Aussichten auf Rückerstattung vorhanden waren. Daß sonst das Leben des Angeklagten nicht so einfach war, sehen wir auch daraus, daß er ständiger Gast im Hotel Esplanade war, von dem wir wissen, daß es kein billiges Lokal ist. Zu diesem Leben gehörte Geld, Geld und immer wieder Geld. Wir sehen, zu wie wenig skrupellosen Mitteln der Angeklagte zum Schluß gegriffen hat, um sich Geld zu verschaffen. Mit schlimmen und berüchtigten Geldagenten ist er vielfach zusammengekommen, um Darlehen von kleinen und höheren Summen zu erhalten. Mit Leuten, die ihm ziemlich unbekannt waren, wie Hagenow, Schlesinger hat er Wechsel auf hohe Summen geschrieben, ohne sich viel darum zu kümmern, was aus den Wechseln wurde. Wir sehen, daß er ohne irgendwelche weitere Erkundigungen über die Sicherheit der Geldmänner sogar gegen ein Darlehn von 2000 Mark 50000 Mark Geschäftsanteile einer Teppichfabrik übernahm, daß er sich Lexika, Klassikerausgaben bestellte, von denen er nie Gebrauch machen wollte, nur um sich in irgendeiner Weise Geld zu schaffen. Das ist das, was der Angeklagte getan hat. Nun fragen wir, welche Aussichten hatte er, die von ihm gemachten Schulden je bezahlen zu können? Konnte er überhaupt darauf rechnen, sie in absehbarer Zeit zu bezahlen? Da hat er angeführt, daß ihm eine Aussöhnung mit seiner Familie in Aussicht gestanden hätte, er sei sogar der Meinung gewesen, daß nach zwei Jahren sein Vater ihm ohne weiteres eine große Zulage gewähren würde. Das Gericht ist gegenteiliger Ansicht. Vielleicht hätte sich der Vater dazu verstanden, dem Angeklagten wieder zur Seite zu stehen. Aber wenn er wußte, wie sein Sohn hier in Berlin lebte, daß er nichts geworden war, sich um nichts bemüht hatte, daß dann ein größerer Zuschuß von seinem Vater zu erwarten war, davon kann nach Ansicht des Gerichts nicht die Rede sein. Die folgenden Vorgänge haben dies ja auch bestätigt. Der Angeklagte hat immer auf seine Heiratsprojekte hingewiesen. Es ist darüber gesprochen worden, ob seine Heiratsprojekte ihm eine Anwartschaft darauf gaben, in den Besitz großer Summen zu kommen. Auch hier kann nur betont werden: Wir haben ja den praktischen Erfolg gesehen, daß es dem Angeklagten nicht geglückt ist, eine reiche Frau zu bekommen. Er hat erst später eine Frau geheiratet, die ihm die Mittel zur Verfügung gestellt hat. Aber hier ist es ihm nicht geglückt, und er mußte Berlin verlassen, weil er sich wegen seiner Schulden nicht halten konnte. Es soll nicht gesagt werden, er flüchtete, aber er konnte sich hier nicht halten, weil er fertig war mit seiner Kreditfähigkeit. Tatsächlich konnten ihm aber auch die Heiratsprojekte, die er hatte, absolut keinen Grund geben, sich für kreditfähig hig zu halten, denn sämtliche Projekte sind nicht weiter hinausgekommen, als über einen Schriftwechsel mit einem Heiratsagenten und mit Buchwald. Bei Frau Dolly nimmt das Gericht an, daß er sich längere Zeit eingebildet zu haben scheint, daß sie ihm dereinst als Frau anheimfallen werde. Es ist dem Angeklagten geglaubt worden, daß er sich mindestens einbilden konnte, sie zu heiraten. Daß diese ganz unsicheren Heiratsprojekte ihm aber keinerlei Berechtigung geben konnten, bestimmte Versprechungen zu machen, kann keinem Zweifel unterliegen. In allen Fällen der Anklage, mit Ausnahme von einigen ganz kleinen Warenschulden, wußte er nicht, ob er die Schulden zu dem bestimmten Termin bezahlen konnte. In allen Fällen ist also ohne weiteres gegeben das Bewußtsein des Angeklagten, daß seine Gläubiger geschädigt würden. Nichts weiter ist nötig zu dem Tatbestandsmerkmal des Betruges. Er braucht nicht die Absicht gehabt zu haben, seine Gläubiger zu schädigen, er brauchte nur das Bewußtsein gehabt zu haben, daß sie geschädigt würden. Dieses eine Moment, das für alle Fälle zutrifft, ergibt aber nicht allein das Tatbestandsmerkmal des Betruges, dazu gehört mehr. Daß er die Absicht hatte, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, bedarf keiner Erörterung. Zu dem Tatbestandsmerkmal des Betrugs gehört aber noch, daß er falsche Vorspiegelungen gemacht und dadurch einen Irrtum bei seinen Gläubigern erregt hat. Das Gericht geht nicht soweit, die Unterdrückung wahrer Tatsachen schon darin zu sehen, daß er nicht von vornherein mitteilte, er sei unvermögend. Das Gericht muß verlangen, um das Tatbestandsmerkmal des Betruges festzustellen, daß der Angeklagte tatsächlich durch falsche Vorspiegelungen seine Gläubiger getäuscht hat. Weil dies in den allermeisten Fällen nicht hat festgestellt werden können, ist die Mehrzahl der Anklagefälle in Wegfall gekommen. Dagegen bleiben drei Fälle übrig, bei denen die Vorspiegelung falscher Tatsachen erwiesen ist. Das ist erstens der Fall Gustke-Stöß, zweitens der Fall Horch und drittens der Fall Risch. Der Gerichtshof hat nicht den geringsten Zweifel, daß die Gustke tatsächlich dem Angeklagten ein Darlehen von 1000 Mark gegeben hat. Wenn die Gustke uns das allein bezeugt hätte, so würde es uns nicht einfallen, daraufhin den Angeklagten zu verurteilen, denn die Zeugin hat nach mancher Richtung hin doch Bedenken erregt. Die Aussage der Gustke wird aber außer Zweifel gestellt durch eine Unmenge anderer Tatsachen. Die Zeugin Haase hat bekundet, daß die Gustke zunächst zu Stöß kam und weit über 1000 Mark vorzeigte. Als sie nach einigen Tagen wiederkam, hatte sie das Geld nicht mehr, sondern einen Wechsel von 1200 Mark und sagte, das Geld habe sie einem Graf geborgt. Ferner kommt die Aussage des Rechtsanwalts Ballien hinzu, der auf Veranlassung der Gustke dem Angeklagten mit dürren Worten schrieb, er habe sich nach der Behauptung der Gustke des Betruges schuldig gemacht. Jeder andere hätte daraufhin mit Entrüstung gesagt: „Was denkt sich diese Person!“ Der Angeklagte aber ging zu Rechtsanwalt Ballien und erhob den Einwand des Wuchers gegen die Gustke, weil der Wechsel auf 1200 Mark lautete, während er nur 1000 Mark erhalten habe. Wenn der Angeklagte es jetzt so darstellt, als ob er den Einwand des Wuchers nur bedingungsweise erhoben habe, so hält das Gericht dies nur für eine leere Ausrede, die gegenüber der Aussage des Rechtsanwalts Ballien nicht standhalten kann. Hinzu kommt, daß der Angeklagte auch einer anderen Kokotte, der Zeugin de Lor, gegenüber das Ansinnen gestellt hat, ihm gegen einen Wechsel von 500 Mark 300 Mark zu borgen. Hinzu kommt auch noch der Brief an die Gustke, in dem er fälschlich angibt, er hätte die Braut schon getroffen. Nimmt man alle diese Punkte zusammen, so kann kein Zweifel bestehen, daß der Angeklagte das Geld von der Gustke bekommen hat und unzweifelhaft auf Grund falscher Vorspiegelungen. Er hat der Gustke erzählt, daß er 2000 Mark monatlich zu verzehren habe. Daraufhin hat sie ihm das Geld gegeben. Er kann sich nicht damit entschuldigen, daß er damals auf die Brautschau nach einer vielfachen Millionärin ging, denn er hatte die Dame noch nicht gesehen, sondern nur einen Brief von Buchwald bekommen. Bemerkenswert ist noch, daß der Angeklagte bei der späteren Auseinandersetzung an Stöß noch das Ansinnen gerichtet hatte, ihm für 3000 Mark Brillanten zu verkaufen, die er noch auf Kredit haben wollte. Es kommt der Fall Horch, in dem sich der Angeklagte ein Automobil gegen eine Anzahlung von 1000 Mark verschafft hat. Er hat es wenige Tage nachher, sobald sich ihm die Möglichkeit bot, versetzt. Der Angeklagte hat sich darauf berufen, daß ihm der Kredit auf seinen guten Namen hin gewährt worden sei. Der Gerichtshof nimmt an, daß der Angeklagte den Wagen nur zu dem Zweck gekauft hat, um sich damit aus einer großen Verlegenheit zu helfen und sich 5000 Mark zu verschaffen. Es kann nicht die Rede davon sein, daß er von dem Zeugen Bellmer die Erlaubnis erhalten habe, den Wagen zu versetzen. Dagegen sprechen alle begleitenden Umstände und die eidliche Aussage Bellmers. Wenn man sich überlegt, daß Bellmer das Geschäft ausdrücklich abgelehnt hatte und nur auf direkte Anweisung aus Zwickau es gemacht hat, so muß man doch sagen: er würde von Sinnen gewesen sein, wenn er sich in dieser Weise seiner Firma gegenüber verantwortlich gemacht hätte. Der Angeklagte war nicht berechtigt, den Wagen zu versetzen, er hat auch Herrn Bellmer ausdrücklich drücklich versichert, er wolle ihn nicht versetzen, aber er hatte doch von Anfang an die Absicht des baldigen Versatzes. Das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Er konnte auch nicht mit der Möglichkeit rechnen, daß er den Wagen werde einlösen können. Er hat den Wagen ja schließlich eingelöst, aber nur mit Hilfe des Amtsgerichtsrats Grafen v.d. Schulenburg. Dieser hat dem Angeklagten das Geld mit einigem Zögern gegeben, weil er sich sagte, der ihm befreundete Angeklagte könnte in große Verlegenheit kommen. Es ist auch charakteristisch, daß der Angeklagte 6500 Mark borgt und nur einen Teil des Geldes dazu verwendet, um das Automobil auszulösen, den übrigen Teil aber behält. Das ist eine wenig schöne Handlung, die auch dadurch nicht aus der Welt geschafft wird, daß Graf Schulenburg bekundete, es wäre ihm auch recht gewesen, wenn der Angeklagte ein paar hundert Mark zu anderen Zwecken verwendet hätte. Dann kommt als dritter der Fall Risch. Hier hat der Angeklagte das Pferd im Februar 1910 gekauft, also zu einer Zeit, als er sich schon in hoher Bedrängnis befand und als von ernsten Heiratsprojekten nicht mehr die Rede sein konnte. Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte das Pferd lediglich gekauft, um sich darauf Geld zu machen. Wenige Tage nach dem Kauf stellte er es schon zum Verkauf, er hat sich überhaupt das Pferd wenig angesehen, und auf den Preis kam es ihm gar nicht an. Es handelte sich für ihn nur darum, Geld zu erhalten. Er hat dies nicht nur verschwiegen, sondern auch versprochen, den Wechsel am 1. Mai einzulösen, da er angeblich um diese Zeit Gelder bekomme. Das war eine falsche Vorspiegelung, denn er hatte keinerlei Sicherheit, zu diesem Termine Frau Risch 2500 Mark zahlen zu können. In allen anderen Fällen hat der Gerichtshof zu einer Verurteilung des Angeklagten nicht kommen können. Es handelt sich da zumeist um Geschäftsleute, die dem Angeklagten bereitwilligst Kredit gewährt haben, und er hat ja auch Abschlagszahlungen geleistet. Er hat in diesen Fällen auch direkte falsche Vorspiegelungen nicht gemacht. In anderen Fällen hat das Gericht deshalb nicht angenommen, daß er sich bewußt war, eine Vermögensschädigung zu begehen; das ist namentlich in allen den Fällen nicht anzunehmen, wo noch andere Personen auf den Wechseln standen. Nun handelt es sich noch um die Frage: sind diese Fälle auslieferungsfähig und können sie abgeurteilt, oder muß das Verfahren eingestellt werden? Da kann es keinem Zweifel unterliegen, daß in allen Fällen die Tatbestandsmerkmale des Betruges, sowohl nach österreichischem als auch nach deutschem Recht gegeben wird. Wir kommen nun zum Strafmaß. Da ist im weitesten Maße berücksichtigt worden, daß sich der Angeklagte in schlimmer Lage befand. Er war von seiner Familie einstweilen vor die Tür gesetzt und hatte auf Unterstützung von dort nicht zu rechnen. Das war schlimm für ihn. Er war nach seinem ganzen Bildungsgange, nach seiner Zugehörigkeit zu einer altadligen Familie und seinem Charakter – der Gerichtshof folgt hierin ganz dem lichtvollen Vortrage des Oberarztes Dr. Forster – ein großer Optimist, der sich einbilden mochte, über kurz oder lang zu Gelde zu kommen, und er war ferner ein Mann, der wenig fähig war, sich im Leben zu halten. Es muß aber betont werden, daß das Gericht die Behauptung des einen Verteidigers: das Verhalten des Vaters sei eine Schändung des Blutes, aufs höchste gemißbilligt hat und der Meinung ist, daß von einer Berechtigung dieses Ausdrucks in keiner Weise die Rede sein kann. Aber anderseits muß zugegeben werden, daß der Angeklagte von der Familie hart angefaßt wurde. Er war dadurch, daß er nichts Rechtes konnte, nichts wußte, nicht arbeitsfähig, aber auch nicht arbeitswillig war, in eine sehr üble Lage versetzt, wenn auch nicht zu billigen ist, daß er sich in solcher Lage nicht auf das alleräußerste beschränkte, und nicht versuchte, sich eine Existenz zu schaffen. Der Sachverständige hat mit Recht gesagt, der Angeklagte sei das Produkt seiner Erziehung und teilweise der Verhältnisse. Es soll ihm auch im weitesten Maße angerechnet werden, daß er bei seinem Optimismus meinte, darauf rechnen zu dürfen, er werde später einmal in die Lage kommen, zu zahlen. Die spätere Erfüllung der Verpflichtungen kann ja den Tatbestand des Betruges an sich nicht beseitigen, aber dazu beitragen, die Verfehlung milder zu beurteilen.
Schließlich war zu erwägen, daß der Angeklagte in der Tat bemüht gewesen ist, den Schaden wieder gutzumachen, und mit Hilfe seiner Frau, die ihm ja in uneigennützigster Weise zur Seite gestanden, versucht hat, den Schaden zu beseitigen, und daß ihm dies auch wohl gelungen wäre, wenn er nicht verhaftet worden wäre. Trotz der sehr erheblichen Objekte, und obgleich das ganze Verhalten des Angeklagten sehr leichtfertig und verwerflich war, hat der Gerichtshof sehr milde Strafen eingesetzt, und zwar: für den Fall Gustke drei Monate, für den Fall Horch fünf Monate, für den Fall Risch vier Monate. Der Gerichtshof hat diese Einzelstrafen auf neun Monate Gefängnis zusammengezogen. Da der Angeklagte lange Zeit in Untersuchungshaft gesessen, hat der Gerichtshof es für angezeigt erachtet, ihm sechs Monate auf die Strafe als verbüßt anzurechnen. Die Kosten des Verfahrens werden, soweit Verurteilung erfolgt ist, dem Angeklagten, soweit Freisprechung erfolgt ist, der Staatskasse auferlegt. Ich schließe die Sitzung.
Angekl. Graf Metternich (sehr erregt): Ich mache von dem Rechtsmittel der Revision Gebrauch! Ungerecht! recht! Natürlich! Der Name mußte verurteilt werden, das ist ja selbstverständlich, das habe ich schon vor vier Wochen gesagt. Den Grafen Metternich kann man nicht laufen lassen; wenn es ein Schultze oder Müller gewesen wäre, hätten die Herren anders geurteilt. Das ist deutsche Gerechtigkeit! In Rußland wäre so etwas nicht möglich gewesen.
Als die Verteidiger den Angeklagten zu beruhigen suchten, rief er mit lauter Stimme: Ich soll Horch falsche Tatsachen vorgespiegelt haben? Hahaha! Das ist klassisch! Bei solcher verdammten Ungerechtigkeit soll man ruhig bleiben!
Der Angeklagte wurde nach kurzer Besprechung mit seiner Gattin und den Verteidigern in das Untersuchungsgefängnis zurückgeführt.
Der Angeklagte hat schließlich auf Revision verzichtet und sich bereit erklärt, die drei Monate sofort zu verbüßen, da ein Antrag auf Haftentlassung abgelehnt wurde. Inzwischen ist gegen den Grafen Gisbert v. Wolff-Metternich und den Rumänen Bejos die Anklage wegen Falschspiels erhoben worden. Der Hauptangeklagte, der sogenannte König der Falschspieler, der angebliche Freiherr v. Korff-König, dessen richtiger Name Stallmann ist, wird auf der Anklagebank nicht erscheinen, da die Behörde in Kalkutta die Auslieferung abgelehnt hat.
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BearbeitenGrete Beier, Tochter des Bürgermeisters Beier zu Brand, wegen Ermordung ihres Bräutigams vor dem Schwurgericht zu Freiberg i. Sa.
Wer länger als ein Menschenalter fast täglich genötigt ist, sich in beruflicher Eigenschaft in den Gerichtssälen zu bewegen und auch die Stätten zu betreten, auf denen der Scharfrichter seines grauenvollen Amtes waltet, der wird naturgemäß etwas abgestumpft. Allein wenn eine junge Dame, die zu den gebildeten Kreisen gehört, eine Dame der Gesellschaft, die jugendliche Tochter eines Bürgermeisters auf die Anklagebank geführt wird, unter der Beschuldigung, ein Verbrechen begangen zu haben, wie es entsetzlicher nicht gedacht werden kann, dann ergreift auch den abgestumpftesten und gleichgültigsten Gerichtsberichterstatter ein heftiges Schaudern. Der Fall „Grete Beier“ wirft auf die Sittenzustände im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts ein um so traurigeres Schlaglicht, da nicht nur das Töchterlein eines Bürgermeisters, sondern auch der Bürgermeister selbst, der durch das Vertrauen seiner Mitbürger zum Oberhaupt der Stadt berufen worden war, der eidlich gelobt hatte, das Wohl der Stadt zu fördern und für die öffentliche Sicherheit Sorge zu tragen, sich nebst seiner ner Gattin der ärgsten Verbrechen schuldig gemacht hatte. Eine Bürgermeistersfamilie im Herzen Deutschlands, eine Verbrecherfamilie, fürwahr ein Kulturbild, das Abscheu und Entsetzen erregen muß. An einem Knotenpunkt der sächsischen Staatsbahn, in der Nähe der sächsischen Kreisstadt Freiberg, liegt die kleine Bergstadt Brand. Der Bürgermeister dieses Städtchens erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Er hatte viel für die Stadt getan. Unter seiner Amtsführung wurde eine Anzahl Einrichtungen geschaffen, die für die gesundheitlichen und Sauberkeitsverhältnisse ungemein fördersam waren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse nahmen während der Amtsführung Beiers einen großen Aufschwung. Allein eines Tages verbreitete sich das Gerücht: Der Bürgermeister und Chef der Polizei stehe mit mehreren Frauen in ehebrecherischem Verkehr. Der Bürgermeister konnte diese Beschuldigung nicht auf sich sitzen lassen. Er stellte gegen die Verbreiterin dieses Gerüchts Strafantrag wegen Beleidigung. Da er in der Verhandlung vor dem Schöffengericht die Beschuldigung unter seinem Eide in Abrede stellte, so wurde die Angeklagte verurteilt. In der Berufungsverhandlung äußerte der Staatsanwalt: Er habe auf Grund von Erhebungen die Überzeugung gewonnen, daß Bürgermeister Beier in der ersten Instanz einen Meineid geschworen habe, er beantrage daher die Freisprechung der Angeklagten. Der Gerichtshof erkannte dementsprechend und schloß sich in der Urteilsbegründung der Auffassung das Staatsanwalts an. Bürgermeister Beier war eine Woche vor der Berufungsverhandlung gestorben. Er wäre andernfalls verhaftet und die Anklage wegen wissentlichen Meineids gegen ihn erhoben worden. Beier hinterließ ein Vermögen von 60000 Mark. Es entstand sogleich der Verdacht, Beier habe den früheren Armenhausverwalter Kröner, einen entfernten alten Verwandten, der seine letzten Lebensjahre bei ihm zugebracht hatte, arg bestohlen, zumal bekannt war, daß die Vermögensverhältnisse des Bürgermeisters nicht günstig waren. Es tauchte auch der Verdacht auf, Beier habe zugunsten seiner Tochter eine Testamentsfälschung begangen. Frau Bürgermeister Beier wurde im Februar 1908 wegen versuchter Verleitung zum Meineid zu zwei Jahren. Zuchthaus verurteilt.
Die Bürgermeisterstochter Grete Beier war eine auffallende Schönheit. „Bürgermeisters“ zählten, naturgemäß zu den Honoratioren der Stadt. Es war daher erklärlich, daß das liebreizende Mädchen zahlreiche Anbeter hatte. Daß bei allen Festlichkeiten der Bürgermeisterstochter von den Söhnen der besseren Bürgerschaft der Hof gemacht wurde, war selbstverständlich. Die träumerischen Augen des entzückend schönen, dunkelblonden, mittelgroßen, körperlich sehr entwickelten Mädchens ließen es nicht ahnen, daß diese junge Dame eine geradezu grausame Verbrecherin werden könnte, die ihr jugendliches Leben auf dem Schafott beenden werde. Sie hatte in sehr jungten Jahren intimen Verkehr mit ihren zahlreichen Verehrern unterhalten. Eine ganz besondere Zuneigung schien sie zu dem Handlungsgehilfen Hans Merker gehabt zu haben. Um die Folgen dieses Verkehrs zu beseitigen, hatte sie sich wiederholt gegen die Bestimmungen des § 218 des StGB. vergangen. Inzwischen hatte sie in Chemnitz einen hübschen, äußerst stattlichen Mann von vierunddreißig Jahren, den Oberingenieur Kurt Preßler, kennengelernt. Preßler war verheiratet, lebte aber von seiner Frau getrennt. Er betrieb die Scheidungsklage. Die schöne Bürgermeisterstochter, die er in Chemnitz auf einer Festlichkeit kennengelernt, hatte es ihm angetan. Er näherte sich ihr und erklärte: Er sei bereit, sich mit ihr zu verloben. Sobald er von seiner Frau geschieden sein werde – das dürfte in wenigen Monaten bestimmt der Fall sein – werde er sie heiraten. Grete Beier erklärte sich damit einverstanden, zumal sie in Erfahrung gebracht hatte, daß Preßler ein großes Vermögen besitze. Die Liebe zu Preßler schien aber nicht groß gewesen zu sein, denn während ihrer Verlobungszeit stand sie mit Merker fortgesetzt in intimstem Verkehr. Sie brachte viele Nächte bei ihm zu. Gleichzeitig versicherte cherte sie ihrem Bräutigam Preßler, daß er allein ihr Herz besitze. Am 13. Mai 1907 kam Grete Beier zu ihrem Bräutigam Preßler, der in Chemnitz bereits eine Wohnung gemietet hatte, um seine angebetete Braut heimführen zu können, aufs Zimmer. Preßler lag gerade auf der Chaiselongue und war in heiterster Laune. Er freute sich, als er das anmutige Mädchen sah. Grete trat an die Chaiselongue und bedeckte den Mund Preßlers mit einer Flut heißester Küsse. „Nur dich allein liebe ich, nur dir allein will ich angehören“, beteuerte die schöne Grete. Preßler zog „Gretchen“ zu sich hinüber. „Wie gern küsse ich dies Rosenmündchen,“ seufzte er. Grete Beier: „Damit du, heißgeliebter Kurt, auch siehst, daß ich dir von ganzem Herzen zugetan bin, habe ich dir etwas Schönes vom Jahrmarkt mitgebracht. Erst wollen wir aber Kaffee trinken.“ Nach dem Kaffee lud Preßler „sein herziges Gretchen“ ein, mit ihm ein Gläschen Eierkognak zu trinken. „Gretchen“ lehnte ab. „Dann gieße mir wenigstens ein Gläschen ein, es wird mir um so besser schmecken,“ sagte Preßler. Das will ich gern tun, versetzte „Gretchen“ mit süßem Lächeln. „Gretchen“ goß den Eierkognak in ein Gläschen und ließ unbemerkt ein Stückchen Zyankali in das Glas gleiten. Preßler sagte: „Auf dein Wohl, mein herziges, heißgeliebtes Kind,“ und leerte das Glas mit einem Zuge. In demselben Augenblick sank Preßler um, er gab keinen Laut mehr von sich. Grete Beier wollte aber „ganze“ Arbeit machen. Sie zog daher eiligst einen geladenen Revolver aus ihrem Busen. Der Augenblick war günstig. Preßler lag, heftig röchelnd, mit geöffnetem Munde auf der Chaiselongue. Das dämonische Weib steckte ihrem Opfer den Revolver in den Mund und drückte ab. Das Gehirn spritzte weit im Zimmer umher, ein heftiger Blutstrom ergoß sich aus dem zerschmetterten Kopfe Preßlers. Die verruchte Mörderin war reichlich mit Blut besudelt. Sie vermied es aber, sich vom Blut zu reinigen. Eiligst verließ sie die Stätte ihres infamen Verbrechens. Die gebrochenen Augen ihres ermordeten Bräutigams grinsten unheimlich, als wollten sie sie anklagen. Der Abend begann bereits zu dämmern, das Mordzimmer lag im Halbdunkel. Von einer benachbarten Kirche ertönte das Abendgeläut. Ein heftiger Schauer überfiel sie. Die Mörderin lief, so schnell sie es vermochte, zum Bahnhof, um mit dem nächsten Zuge nach Freiberg zu fahren. Die Menschen, die ihr auf der Straße begegneten, ahnten selbstverständlich nicht, daß die feingekleidete, hübsche, junge Dame eine grausame Mörderin war. Mit Blut besudelt, langte des Bürgermeisters Töchterlein in Freiberg an. Sie begab sich in eine Gesellschaft, wo viel gelacht, gegessen und getrunken, musiziert und getanzt wurde. Niemand merkte der liebreizenden Bürgermeisterstochter auch nur das geringste ringste an. Gretchen war ungemein heiter und seelenvergnügt. Sie erzählte ihren Freundinnen: Ihr Bräutigam freue sich, daß er sie sehr bald werde als Gattin heimführen können, er habe bereits eine sehr hübsche Wohnung gemietet. „Ich bin alsdann Frau Oberingenieur,“ rief sie freudig aus.
Kehren wir nun an die Stätte des Verbrechens zurück. Etwa eine Stunde nach der grausigen Tat trat der Bruder des so jäh Ermordeten, Gerichtsreferendar Karl Preßler, in das Mordzimmer. Entsetzt wich er zurück, als er seinen Bruder als Leiche auf der Chaiselongue liegen sah. Referendar Preßler war sofort der Überzeugung, sein Bruder habe Selbstmord begangen. Der Revolver lag neben der Leiche. Einen Schuß hatte er sich in den Mund gegeben. So handelt nur ein Selbstmörder. Auf dem Tisch lag ein Brief, der zweifellos von seinem Bruder geschrieben war. In diesem Briefe bat er den Bruder um Verzeihung, daß er ihm das Schreckliche angetan habe, er war aber genötigt, aus dem Leben zu scheiden. Er bitte ihn, seine Braut und alle Angehörigen zu trösten. Auch die polizeiärztliche Untersuchungskommission gewann nach eingehender Prüfung die Überzeugung, daß Preßler Hand an sich gelegt habe. Die Leiche wurde deshalb in das Krematorium für Selbstmörder geschafft und dort eingeäschert. Inzwischen fand man im Nachlaß des Entseelten ein Testament, in dem Grete Beier zur Universalerbin eingesetzt war. Diese Entdeckung sowie das Verhalten der Grete machte den Referendar Preßler etwas stutzig. Er ließ den erwähnten Brief und das Testament durch Schreibsachverständige prüfen. Letztere gelangten zu der Überzeugung, daß beides gefälscht war. Referendar Preßler erstattete sogleich Anzeige. Grete Beier, die sich bereits seit einiger Zeit wegen Unterschlagung eines Sparkassenbuchs in Untersuchungshaft befand, gestand nach anfänglichem Leugnen, daß sie den Brief und das Testament gefälscht und alsdann Preßler ermordet habe. Sie gestand auch, daß sie lange vor dem Morde eine Brander Botenfrau beauftragt hatte, ihr in einer Freiberger Waffenhandlung einen Revolver mit scharfen Patronen zu kaufen. Der Waffenhändler hatte aber die Verabfolgung des Revolvers abgelehnt, weil die Botenfrau keine Bescheinigung hatte. Am folgenden Tage kam die Botenfrau mit einer von Grete Beier ausgestellten Bescheinigung, darauf erhielt sie den Revolver. Der Waffenhändler gab aber nur Platzpatronen und machte dem Bürgermeister Beier von dem Waffenkauf seiner Tochter telephonische Mitteilung. Der Bürgermeister nahm darauf seiner Tochter den Revolver ab und brachte ihn nach einigen Tagen dem Waffenhändler zurück. Es gelang alsdann der Bürgermeisterstochter, sich einen Revolver mit scharfen Patronen zu beschaffen, den die Brander Polizeibehörde mit Beschlag belegt hatte, da der Besitzer des Revolvers den Versuch gemacht hatte, sich zu erschießen. Mit diesem Revolver hatte Grete Beier ihren Bräutigam, den Oberingenieur Preßler, erschossen.
Am 4. Juni 1908 wurden Grete Beier und Hebamme Kunze von der Strafkammer zu Freiberg in nichtöffentlicher Sitzung wegen Abtreibung, im Sinne des § 218 des StGB., unter Zubilligung mildernder Umstände, zu je einem Jahre Gefängnis verurteilt. Am folgenden Tage, den 5. Juni 1908, hatte sich Grete Beier vor demselben Gerichtshof in öffentlicher Sitzung wegen versuchter Anstiftung zum Morde, Testamentsfälschung, schweren Diebstahls und schwerer Urkundenfälschung zu verantworten. Mit ihr waren angeklagt Hebamme Kunze wegen Beihilfe zum Diebstahl und Begünstigung und Handlungsgehilfe Hans Merker wegen Hehlerei. Letzterer, damals 27 Jahre alt, machte einen sehr unsympathischen Eindruck. Er verbüßte zur Zeit wegen Unterschlagung eine zweijährige Gefängnisstrafe. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Dr. Rudert. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Manuel. Die Verteidigung hatten die Rechtsanwälte Dr. Knoll (Dresden) und Vollhering (Freiberg) übernommen. Grete Beier wurde beschuldigt, aus einer verschlossenen Kassette, die dem Armenhausverwalter Kröner gehörte, 300 Mark bares Geld und ein Sparkassenbuch buch über 4234 M. genommen zu haben. Mit diesem Sparkassenbuch war sie auf die Freiberger Bank gegangen, hatte sich als Erna geborene Kröner ausgegeben und das Geld abgehoben. Sie hatte außerdem aus der Untersuchungshaft heraus an Merker einen Brief geschrieben), in dem sie ihn aufforderte, eine Frau Schlegel, die von ihrem Diebstahl wußte, zu ermorden.
Grete Beier bestritt nur die Testamentsfälschung, alles andere gab sie zu.
Vors.: Wissen Sie, wer das Testament gefälscht hat?
Angekl.: Jawohl, ich weiß es, ich kann aber die Person nicht nennen.
Die Angeklagte Kunze gab die ihr zur Last gelegten Straftaten zu.
Angeklagter Merker: Ich habe nicht gewußt, daß das Geld, das ich von Grete erhielt, auf unrechtmäßige Weise erworben war.
Vors.: Was machten Sie mit dem vielen Gelde? Es wird behauptet, Sie haben es in Gesellschaft liederlicher Frauenzimmer durchgebracht?
Angekl.: Das ist eine Lüge.
Vors.: Sie scheinen einen ungünstigen Einfluß auf Grete Beier ausgeübt zu haben. Sie haben sie in ihrem Lügengewebe aufs tatkräftigste unterstützt. Wissen Sie, woher Grete das viele Geld hatte?
Angekl.: Sie sagte immer, sie hätte einen ihrer Onkels einen Tag vor dessen Tode besucht und da habe dieser ihr das Sparkassenbuch und eine größere Summe geschenkt.
Vors.: Sie mußten doch aber aus allen Umständen entnehmen, daß das Geld unrechtmäßig erworben war. Die Beier schrieb Ihnen wiederholt, Sie sollten niemandem sagen, daß Sie Geld erhalten haben.
Angekl.: Ich verstand darunter, daß wir Konflikte mit den Eltern vermeiden sollten. Die Beier schrieb mir eines Tages, sie hätte jeden Muskel und jeden Nerv angespannt, daher das Geld. Ich wußte nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte. Später erfuhr ich, daß sie den Brief geschrieben, nachdem sie ihren Bräutigam Preßler erschossen hatte.
Vors.: Hat Grete Beier aus der Untersuchungshaft viele Kassiber an Sie geschrieben?
Angekl.: Nur den einen, in dem sie mich zum Morde anstiften wollte. Der Brief begann mit den Worten: „Hans, ich habe Dich von Preßler befreit. Ich habe Dich gerächt. Er hat es gewagt, Dich zu schmähen. Jetzt mußt Du mir aber noch helfen. Das kannst Du nur dadurch tun, daß Du Frau Schlegel und ihre Tochter umbringst. Das geht am besten auf folgende Weise: Du nimmst sie in Narkose und erschießt sie dann. Aber Du mußt schlau zu Werke gehen. Du mußt Dir das Haar schwarz färben lassen und einen Anzug anziehen, daß Du von niemandem erkannt wirst. Wenn Du das tust, bin ich gerettet, wenn nicht, sehen wir uns nicht wieder. Bis Freitag mochte ich Bescheid haben.“ Ich sollte dann, wenn ich zu der Tat bereit sei, einen Brief an sie schreiben mit den Schlußworten: „Dein Dich liebender Hans.“ Wenn ich die Tat nicht begehen würde, sollte ich den Brief schließen nur mit den Worten: „Dein Hans.“ Sie schrieb in dem Briefe auch noch: Wenn ich es nicht tun sollte, dann solle ich mir am Sonntag den schwarzen Rock vorsuchen, und wenn die Kirchenglocken läuten, solle ich an sie denken; denn sie würde dann nicht mehr unter den Lebenden weilen.
Vors.: Wer hat Ihnen den Zettel gegeben?
Angekl.: Frau Beier. Sie sagte, das ist ja verrückt.
Vors. (zur Angekl. Beier): Haben Sie den Brief geschrieben?
Angekl. Beier: Ja, ich war damals furchtbar aufgeregt. Es war kurz nach der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Der Untersuchungsrichter schien meinen Angaben nicht zu glauben. Die Tat hatte ich noch nicht gestanden. Da mein Vater noch lebte, wollte ich ihm diesen Schmerz nicht antun. Deshalb schrieb ich den Brief. Ich habe aber nicht geschrieben, daß Merker die Tochter der Frau Schlegel umbringen sollte. Ich habe lediglich geschrieben, er solle sehr vorsichtig zu Werke gehen und die Sache so machen, daß er die Tochter nicht treffe. Von Erschießen habe ich nichts geschrieben. Ich habe allerdings den Brief sehr phantastisch angelegt. Ich muß verrückt gewesen sein, als ich das geschrieben habe.
Vors.: Der Zettel war in eine Bluse eingenäht, Sie sind also sehr vorsichtig zu Werke gegangen. Sie bleiben dabei, daß Merker vollständig im klaren war, daß Sie das Geld auf unrechtmäßige Weise erworben hatten?
Angekl.: Natürlich, ich gab ihm doch das Geld heimlich und riet ihm dringend, vorsichtig zu sein, damit niemand etwas merke.
Vors.: Weshalb gaben Sie ihm überhaupt Geld?
Angekl.: Ich mußte es ja tun, ich mußte sein Schweigen erkaufen. Er drohte fortwährend, daß er die Abtreibung Preßler mitteilen würde.
Es gelangte alsdann eine Reihe Briefe, die Grete Beier an Merker geschrieben hatte, zur Verlesung.
Vors.: Es ist auffällig, Merker, daß Sie niemandem sagten, von wem Sie das Geld hatten. Wenn Sie damals mit der Beier verlobt waren, konnten Sie doch ruhig sagen, Sie haben von Ihrer Verlobten Geld bekommen?
Angekl.: Das wäre mir peinlich gewesen.
Vors.: Statt dessen machten Sie bei der ersten Vernehmung vor dem Kriminalkommissar Fegenbrecht allerlei falsche Angaben.
Angeklagter: Ich werde doch das Mädchen, das ich so sehr liebte, nicht gleich hineinreiten. Ich sagte deshalb zunächst die Unwahrheit.
Grete Beier: Merker wußte alles ganz genau. Wir hatten vereinbart, er solle sagen, er habe das Geld durch Grundstücksspekulationen erworben.
Vors.: Merker gab früher einmal an, der Vater Beier habe ihn zum Morde verleiten wollen.
Angekl. Merker: Als ich den Vater Beier einmal in Dresden im Krankenhause kurz vor seinem Ende besuchte, forderte er mich mit lallenden Worten auf, eine Frau Flade aus dem Wege zu räumen. Weshalb, sagte er mir nicht. Er sagte, ich solle sie ins Freie locken und dann töten.
Verf. R.-A. Dr. Knoll: Vielleicht war der Alte im Fieber?
Angekl.: Das ist möglich. Ich möchte übrigens hierbei betonen, daß der Kassiber, in dem Grete Beier mich zum Morde aufforderte, mit zitternder Hand geschrieben war.
Vors.: Ich komme nochmals auf das gefälschte Testament zu sprechen. (Zur Angekl. Beier): Den Fälscher kennen wir nicht, er muß aber im engen Kreise Ihrer Familie gesucht werden. Auf Ihre Aussage hin würde niemand verurteilt werden. Ihr Vater ist tot, wenn er es gewesen ist, können Sie es also sagen.
Angekl. Beier: Ich gebe darüber keine Auskunft.
Vors.: Wer hat das gefälschte Testament in die Kassette getan?
Angekl.: Ich habe es nicht getan.
Vors.: War es der Fälscher?
Angekl.: Ja, der Fälscher und der, der es in die Kassette getan hat, sind ein und dieselbe Person.
Vert. R.-A. Dr. Knoll: Ich habe mit der Angeklagten alles eingehend erwogen und ihr vorgehalten, daß diese Antwortverweigerung ihr zum Nachteil ausschlagen könnte. Sie hat mir daraufhin die Person des Fälschers genannt. Ich kann nur versichern, daß ich die Gründe, die die Angeklagte bewegen, den Namen nicht zu nennen, billige. Ja, es freut mich, daß die Angeklagte diesen Namen) nicht nennt. Das spricht für eine gute Seite der Angeklagten.
Vors.: Sie hat doch aber früher ein Geständnis abgelegt.
Angekl. Beier: Ich habe das getan, um Ruhe zu haben und weil der Schein doch nun einmal gegen mich sprach.
Vors.: Wenn Sie nun auch das Testament nicht gefälscht haben, so haben Sie doch eine ganze Reihe Fälschungen begangen. Sie haben eine Anzahl Briefe, die Preßler niemals geschrieben hat, geschrieben, um den Schein zu erwecken, daß Preßler mit Ihrem Vorgehen einverstanden war.
Angekl. Beier: Jawohl. Teils habe ich Briefe erfunden, den, teils aber habe ich auch alte Briefe neu abgeschrieben und die Preßlerschen. Briefe soviel mit diesen Briefen vermischt, damit die Handschrift der erfundenen Briefe möglichst mit der Handschrift der anderen Briefe übereinstimme.
Angekl. Merker bestritt auch bezüglich dieses Punktes jede Mitschuld.
Angekl. Beier: Ich kann nur wiederholen, daß Merker von allem gewußt hat. Er sagte sogar: Das Geld, das wir in Händen haben, geben wir auf keinen Fall her.
Merker: Das ist nicht wahr. Ich sagte nur, es wird uns wohl schwer werden, das Geld zurückzugeben, da wir keins haben.
Vert. R.-A. Knoll: Also, nachdem Sie erst kurz vorher von Grete Beier einen größeren Betrag erhalten, hatten Sie das ganze Geld schon wieder verwichst?
Vors. (zu Merker): Auch ich kann nur sagen, daß Sie in dieser Sache eine schlimme Rolle spielen. Sie haben das Geld der Angeklagten Beier in frivolster Weise ausgegeben. 600 Mark bekommt die Angeklagte Kunze heute noch von Ihnen.
Merker: Ich bin bereit, ihr einen Schuldschein auszustellen und will das Geld gern zurückzahlen, heute kann ich es aber nicht. (Heiterkeit.)
Vors. (zur Beier): Zur Charakteristik dessen, in welch gefährlicher Weise in Ihrer Familie vorgegangen gen wurde, möchte ich noch ein paar Worte sagen. Nachdem Sie, Angeklagte Beier, den Mord begangen hatten, scheuten Sie sich nicht, über Leichen zu gehen. Ihre Mutter scheute sich nicht, auf Ihre Veranlassung falsche Zeugen zu stellen, um Sie aus der Haft herauszubringen. Sie hat deshalb eine Strafe von zwei Jahren Zuchthaus erhalten. Das sind alles Sachen, die auf eine ziemliche Bosheit schließen lassen. Über die Leichen anderer Leute hinweg wollten Sie Frauen und Männer bewegen, falsch zu schwören, nur um einen Freispruch oder eine mildere Strafe zu erzielen. Und alles das zu einer Zeit, wo Sie einen Mord auf dem Gewissen hatten, wo man annehmen mußte, daß Sie windelweich seien, und daß Ihr Gewissen Sie schwer belastete.
Es gelangten alsdann wiederum zahlreiche, von der Angeklagten Beier gefälschte Briefe und Quittungen zur Verlesung, mit denen sie ebenfalls ihre Straftaten zu verdecken gesucht hatte. Das Testament, das die Angeklagte Beier selbst nicht gefälscht haben, dessen Fälscher sie aber nicht angeben wollte, setzte ihre Mutter zur alleinigen Erbin des Besitztums des Armenhausverwalters Kröner, Grete Beier selbst als Erbin der von Frau Kröner vorhandenen Wäsche ein.
Polizeiwachtmeister Fähndrich, Freiberg, bekundete als Zeuge: Nach dem ersten Verhör habe er von der Mutter Beier mehrere Briefe erhalten, in denen er inständigst gebeten wurde, die Sache möglichst niederzuschlagen, damit der alte Beier, der damals im Dresdener Krankenhause lag, von dem Schmerz verschont werde. Frau Beier schrieb in einem Briefe, daß er schon dafür belohnt werden würde. Weiter hatte Frau Beier, wie der Vorsitzende feststellte, sich auch brieflich an den Vorgesetzten des Zeugen Fähndrich, einen Stadtrat in Freiberg, gewandt. In diesen Briefen gab sie ihrem großen Bedauern Ausdruck, daß ihrer Tochter Grete, die sich bei ihren angenehmen Charaktereigenschaften bei der ganzen Einwohnerschaft Brands einer außerordentlichen Beliebtheit erfreue, diese Schande gemacht werde. An allem sei nur der gewissenlose Betrüger Preßler schuld. Er habe es 14 Monate lang unter falschen Vorspiegelungen verstanden, bei der Familie Beier zu verkehren. Er habe auch seine eigene Mutter getäuscht; allen Leuten habe er verheimlicht, daß er bereits ein Jahr lang in Italien mit einer gewissen Veroni verheiratet war, daß er auf seinen Reisen ein ausschweifendes Leben geführt habe, so daß seine Gesundheit dem Zusammenbruch nahe gewesen sei. In einem anderen Briefe schilderte Frau Beier dem Stadtrat, welche große Betrübnis die Aufdeckung dieser Affäre ihrem Manne bereiten würde, wenn er gesund aus dem Krankenhaus käme. Ihr Mann würde dann ganz unverdienterweise mit Schimpf und Schande aus dem Dienste gejagt werden. „Im Interesse der Zukunft ihres geliebten Kindes und um drei Menschenleben zu retten,“ bitte sie daher den Stadtrat, die Sache möglichst geheim zu halten. Ferner brachte der Vorsitzende einige Briefe zur Verlesung, die Grete Beier an Frau Schlegel gerichtet hatte. Frau Schlegel war nämlich die rechtmäßige Erbin der Hinterlassenschaft des Armenhausverwalters Kröner. Sie war durch die Manipulation der Grete Beier geschädigt worden. Als nun die Fälschungen und Betrügereien Grete Beiers herauskamen, wandte letztere sich brieflich an Frau Schlegel mit dem Ersuchen, sie möge sich mit der Zession der Erbschaft an sie (Grete Beier) einverstanden erklären. Ihr könne doch nichts daran liegen, daß ihr junges Leben vernichtet und daß sie wie eine Diebin und Verbrecherin bestraft werde. Wenn sie sich mit den Maßnahmen einverstanden erkläre, die sie (Grete Beier) in den gefälschten Briefen niedergelegt habe, dann sei es möglich, die ganze Affäre aus der Welt zu schaffen. In dem Briefe drohte jedoch Grete Beier der Frau Schlegel, sie werde sie, wenn sie darauf nicht eingehe, der Fälschung bezichtigen.
Vors.: Herr Wachtmeister, können Sie sich über den Leumund des Angeklagten Merker äußern?
Zeuge Fähndrich: Ich muß den Angeklagten Merker als schroffen und zurückhaltenden Charakter bezeichnen. Preßler dagegen war ein Ehrenmann in jeder Beziehung. Was die Familie Beier anlangt, so erfreute sie sich in Brand nicht des besten Ansehens. Rat und Stadtverordnete sahen dem alten Beier viel nach. Die Mutter galt direkt als schlecht, die Tochter Grete als hochmütig. Übrigens haben Merker und Grete Beier in der Untersuchungshaft bestimmte Punkte gehabt, an denen sie Gegenstände niederlegten und sich so miteinander verständigten.
Untersuchungsrichter Landrichter Dr. Mangler-Freiberg machte eingehende Bekundung über seine Wahrnehmungen in der Voruntersuchung. Die Angeklagte Kunze machte auf ihn zunächst einen sehr günstigen Eindruck. Später erfuhr er, daß sie sehr hinterhältig war und sehr viel log. Der Angeklagte Merker machte zunächst gleichfalls einen äußerst günstigen Eindruck. Er rückte frei mit der Sprache heraus. Wenn er nicht offen und ehrlich aufgetreten wäre, würde noch weniger Licht in die dunkle Affäre gekommen sein. Er hat allerdings gelogen, aber meist nur, um Grete Beier zu schonen. Die Sache bekam aber ein anderes Bild, als die Kassiber entdeckt wurden. Da änderte sich sowohl die Taktik der Angeklagten Beier, als auch die Taktik Merkers.
Angekl. Merker: Meine Taktik änderte sich in dem Augenblick, als ich erfuhr, daß Grete Beier auch mit anderen Männern intimen Umgang gehabt hat.
Dr. Mangler: Ich kann dies bestätigen. Als Merker von mir erfuhr, daß die Angeklagte Beier auch mit anderen Männern Umgang hatte, sagte er sich von ihr los.
Vors.: Wodurch ist das Geständnis der Angeklagten Beier zustande gekommen, daß sie den Mord begangen hat?
Zeuge: Auf Grund des vorhandenen Überführungsmaterials.
Vert. R.-A. Knoll: Ich möchte bitten, die Sache hier nicht zu erörtern. Das kommt dann in die Presse und kann Eindruck auf die Geschworenen machen, die demnächst über Grete Beier wegen Mordes zu befinden haben. Ich möchte eine andere Frage an den Herrn Untersuchungsrichter richten: Hat Merker vielleicht nur deshalb falsche Angaben gemacht, um sich herauszureißen?
Zeuge: Ich war zuerst der Ansicht, daß Merker der Mörder oder wenigstens an der Tat beteiligt sei. Das hat er wohl aus meinen Worten herausgemerkt und daher seine Angaben geändert. Ich kann mein Urteil über ihn nur dahin zusammenfassen, daß ich sage, Merker ist ein sehr leichtsinniger Mensch, der damals zweifellos sehr verliebt war und die Beier durchaus heiraten wollte. (Heiterkeit, in die auch die Angeklagte Beier einstimmte.) An dem Tage, an dem er von Grete Beier den Tod Preßlers erfuhr, hatte er die Einladung zu einem Stelldichein mit einem anderen jungen gen Mädchen. Er hat überhaupt sehr viel mit Mädchen verkehrt. Zu seiner Entschuldigung muß ich aber sagen, daß die Mädchen gerade ihm sehr großes Entgegenkommen gezeigt zu haben scheinen.
Vert. R.-A. Dr. Vollhering: Die Angeklagte Beier hat heute erklärt, sie habe in der Voruntersuchung das Geständnis, das Testament gefälscht zu haben, nur gemacht, um vor Ihnen Ruhe zu haben.
Landrichter Dr. Mangler: Wenn sie das sagt, so ist das eine Unwahrheit. Sie hat freiwillig aus sich heraus mir gestanden, das Testament gefälscht zu haben. Ich hatte ihr vorher gesagt, wir würden nachforschen, wer es gewesen sei, wenn sie es nicht gewesen ist. Da kam sie dann mit dem Geständnis heraus.
Vors.: Die Angeklagte Kunze soll wiederholt gesagt haben, der Vater Beier habe von den Manipulationen seiner Frau und Tochter Kenntnis gehabt. So soll er ihr gegenüber sein Bedauern ausgesprochen haben, daß die Kassette verschlossen sei. Wenn die Kassette offen sei, dann hätte man Geld.
Angekl. Kunze: Ja, so etwas hat mir Herr Beier gesagt.
Angekl. Beier: Ich möchte zunächst Frau Kunze recht dringend ersuchen, diese unerhörten Beschuldigungen gegen meinen verstorbenen Vater zurückzunehmen. Er hat nichts von unserem Vorhaben gewußt. (Mit erhobener Stimme.) Ich dulde nicht, daß mein Vater hier verdächtigt wird. Ich ersuche Frau Kunze dringend, ihre Angaben zu berichtigen.
Angekl. Kunze: Ich kann doch nicht die Unwahrheit sagen. Es tut mir ja leid, daß ich so etwas sagen muß.
Angekl. Beier: Mir tut es leid, daß Sie meinen Vater jetzt mit Schmutz bewerfen. Ich kann nur wiederholen, Frau Kunze hat mir wiederholt den Gedanken nahegelegt, mir etwas von der Erbschaft anzueignen. Sie hatte ja ein Interesse daran, daß ich Geld bekam. Sie kannte mein Verhältnis zu Merker, der immer Geld brauchte und mir drohte, wenn ich ihm kein Geld gab.
Angekl. Merker (erregt aufspringend): Ich verbitte mir, Fräulein Beier, zu sagen, daß ich Sie bedroht habe. Ich habe Sie niemals bedroht. Ich habe höchstens damit gedroht, daß ich mich von Ihnen lossagen werde, wenn Sie sich nicht mit Preßler entloben.
Angekl. Beier: Die Kunze sagte mir, sie bekäme Geld von Merker, und sie wollte das möglichst bald haben. Sie sagte mir, ich sei doch so schlau, daß ich mir leicht Geld beschaffen könnte. Ich sträubte mich zuerst, dann aber beauftragte ich Frau Kunze, zu einem Schlosser zu gehen, um einen Schlüssel zu der Kassette anfertigen zu lassen.
Auf die weitere Beweisaufnahme wurde verzichtet.
Staatsanwalt Dr. Mannel beantragte die Verurteilung lung aller drei Angeklagten in vollem Umfange, unter Versagung mildernder Umstände.
Vert. R.-A. Dr. Knoll beantragte die Freisprechung der Beier im Falle der Testamentsfälschung. Im übrigen bat er, der Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen.
Angekl. Merker versicherte wiederholt, daß er von dem unrechtmäßigen Ursprung des Geldes, das er von Grete Beier bekommen habe, nichts gewußt habe. Er erklärte sich bereit, diese Aussage zu beeidigen. (Heiterkeit.) Für seine Glaubwürdigkeit und für seinen Charakter berief er sich auf die Aussage des Landrichters Dr. Mangler. Er verstehe nicht, weshalb man der Beier soviel glaube. Er kenne die Beier besser, wie vielleicht alle Herren im Saale. (Heiterkeit.) Grete Beier habe ihre eigene Mutter als Scheusal bezeichnet. Heute sei er der Ansicht, daß nicht die Mutter die Tochter, sondern die Tochter die Mutter verleitet habe. Auf weitere Ausführungen wolle er verzichten. Er hebe es sich auf, später noch mehr über Fräulein Grete Beier zu sagen. (Heiterkeit.)
Nach eineinhalbstündiger Beratung verurteilte der Gerichtshof die Angeklagte Grete Beier, unter Freisprechung von der Anklage der Testamentsfälschung, wegen schweren Diebstahls, einer schweren, einer einfachen Urkundenfälschung, sowie wegen erfolgloser Aufforderung zur Begehung des Mordes zu fünf Jahren Zuchthaus und acht Jahren Ehrverlust, die Angeklagte Kunze wegen Beihilfe zum schweren Diebstahl und Begünstigung in zwei Fällen zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis, den Angeklagten Merker wegen Hehlerei zusätzlich zu vier Monaten Gefängnis. Der Angeklagten Beier wurden sechs Monate durch die Untersuchungshaft als verbüßt angerechnet. Außerdem wurde die Zulässigkeit der Polizeiaufsicht gegen Grete Beier ausgesprochen.
In der Urteilsbegründung wies der Vorsitzende auf das höchst verwerfliche, mit großem Raffinement ausgeführte Schreiben der Angeklagten Beier hin, die keinerlei Reue gezeigt, sondern noch in weitestgehendem Maße bestrebt war, Unschuldige in die Sache hineinzuziehen. Straferschwerend fiel auch die Mißachtung ihrem Bräutigam Preßler gegenüber ins Gewicht, dem sie das Leben genommen hat. Die Aufforderung zur Begehung des Mordes war nach Ansicht des Gerichts ernst gemeint. Die Straftat hat eine um so schwerere Ahndung verdient, da sie aus der Untersuchungshaft heraus, kurze Zeit, nachdem die Angeklagte einen Mord begangen hatte, geschehen war. Am 29. Juni 1908 hatte sich Grete Beier wegen Ermordung ihres Bräutigams, des Oberingenieurs Preßler, und wegen schwerer Urkundenfälschung vor dem Schwurgericht zu Freiberg in Sachsen zu verantworten. Das an der Promenade gelegene Gerichtsgebäude war von einer nach Tausenden zählenden Menschenmenge belagert; der Zuhörerraum des Schwurgerichtssaales wurde fast gestürmt. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Rudert. Die Anklage vertrat auch hier Staatsanwalt Dr. Mannel, die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Knoll (Dresden). Auf Aufforderung des Vorsitzenden erzählte die Angeklagte in tadellosem, fließendem Deutsch: Ich bin am 25. September 1885 in Brand als Tochter des dortigen Bürgermeisters geboren und evangelischer Konfession. Nach meiner Konfirmation kam ich in die Tanzstunde. Dort lernte ich einen Herrn Öhlsner kennen, zu dem ich mich um so mehr hingezogen fühlte, als meine Mutter sehr schroff und lieblos zu mir war. Mein Vater und meine Großmutter waren zwar sehr gut, aber meine Mutter wies meine Zärtlichkeiten zurück. Als ich sie einmal umarmen wollte, stieß sie mich von sich. Bettelarm kam ich mir immer vor, wenn ich sah, wie andere Mädchen mit ihren Müttern verkehrten. Unter diesen Umständen hatte ich mehr wie andere Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit. Ich fühlte mich allein auf der Welt und freute mich daher, in Öhlsner einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich anschließen konnte. Es war ein schönes, rein ideales Verhältnis; jedoch die Mutter war dagegen; denn ihr genügte der junge Mensch nicht. Ich aber fand ihn sehr lieb und konnte nicht von ihm lassen. Wir setzten daher unsern Verkehr heimlich fort. Im Laufe der Zeit nahm das Verhältnis einen intimeren Charakter an, ich konnte ihn nicht abweisen. Durch Mißverständnisse kamen wir auseinander. Am 25. Februar 1905 lernte ich auf einem Maskenball des kaufmännischen Vereins in Freiberg Merker kennen. Es war sozusagen eine Liebe auf den ersten Blick, denn wir fanden sofort Gefallen aneinander. Schon am 9. März desselben Jahres verlobten wir uns heimlich. Er wußte so schön zu erzählen. Neben der Liebe zog mich Mitleid zu diesem Mann, der allein auf der Welt stand. Es war eine sehr glückliche Zeit, die ich mit ihm verlebte, auch ein schönes ideales Verhältnis. Da erfuhr ich von Unterschlagungen, die er im Geschäft begangen hatte. Kniefällig bat er meinen Vater, ihn zu retten, aber ich war dagegen.
An einem Sonntagmorgen kam er wieder: „Nur Sie können mir helfen!“ sagte er zu meinem Vater. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern ging in die Kirche. Ich bin überhaupt – wenigstens war es früher so – sehr religiös veranlagt, ich bin nicht so ruchlos, wie ich jetzt erscheinen mag. In der Kirche sprach der Pfarrer über das Thema vom verlorenen Sohn. Er legte nahe, daß wir nicht das Recht hätten, über die Menschen zu richten, und daß wir einem, der gestrauchelt sei, helfen müßten. Die Rede machte tiefen Eindruck druck auf mich. Ich faßte den Entschluß, aus Merker einen tüchtigen Menschen zu machen. Ich glaubte nicht, daß er ein unverbesserlich leichtsinniger Mensch war. Er bekam also von uns das Geld, und von jetzt ab wurde der Verkehr intimer, ich nahm ihn wiederholt mit auf mein Zimmer. Um diese Zeit hörte ich, daß Merker auch andere Verhältnisse hatte. Es gab Szenen und Auftritte, in deren Verlauf Merker hartnäckig leugnete. Aber ich blieb mißtrauisch. Am 15. Februar 1906 lernte ich auf dem Ingenieurbau in Chemnitz Preßler kennen. Er war mein Tischherr, und wenn ich mich auch nicht gleich zu ihm hingezogen fühlte, so interessierte er mich doch. Es folgte ein längerer Briefwechsel, schließlich lud er mich ein, ihm in Chemnitz zu besuchen. Wir gingen ins Theater. Für den andern Tag war Preßler zu Mittag geladen, er sagte, daß er durchaus ernste Absichten habe, ich wollte mich aber nicht gleich binden. Als er mir vor dem Essen auf dem Flur das Jackett hielt, versuchte er, mich an sich zu ziehen. „So schnell auf keinen Fall!“ sagte ich. Beim Essen faßte er plötzlich meine Hand mit den Worten: „Wir beide müssen zusammenbleiben.“ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Dieser Händedruck war eigentlich die ganze Liebeserklärung Preßlers. Ich mochte ihn auch ganz gern leiden, wenn ich ihn auch noch nicht lieben konnte. Ich empfand es gewissermaßen als eine Genugtuung, daß ein Mann von der Stellung Preßlers sich für mich interessierte. Dann aber glaubte ich auch im Sinne meiner Mutter zu handeln, der Merker nicht genügt hatte und der Preßler genügen mußte. Schließlich sagte ich mir, daß ich durch die Verlobung mit Preßler dem Merker einen empfindlichen Schlag versetzen könnte. Ich konnte ihm beweisen, daß ich nicht auf ihn angewiesen war. Deshalb habe ich mich mit ihm verlobt. Ich war zwar nicht sehr glücklich, aber ich dachte, daß sich das schon geben würde. Preßler hatte sogar schon den Tag der Hochzeit festgesetzt, er hatte die Ringe gekauft. Je näher aber ich ihn kennenlernte, desto mehr erfuhr ich, daß er doch ein ganz anderer war, als wie ich ihn zuerst kennengelernt hatte. Er war unfreundlich und grob zu mir, ich kann wohl sagen, daß ich Furcht vor ihm hatte. Das konnte ich nicht vertragen, ich wurde unglücklich. Auf den Spaziergängen mit Preßler sah ich häufig Merker. Auch hatte ich gehört, daß Merker gesagt hat, er könne mich nicht vergessen, und daß er bei der Nachricht von meiner Verlobung sich wie rasend benommen hätte. An einem Tage, an dem ich Preßler besonders schlecht behandelt hatte, faßte ich den Entschluß, mit Merker zusammenzutreffen. Ich mußte von Preßler los, sonst sah ich ein Unglück voraus. Zitternd betrat ich das Zimmer Merkers und warf mich dem Geliebten in die Arme. „Ich wußte ja, Gretel, daß du wiederkommen kommen würdest, denn du fühlst dich unglücklich,“ sagte Merker. „Ja,“ sagte ich „ich fühle mich sehr unglücklich.“ „Dann löse doch die Verlobung,“ sagte Merker. Er tröstete mich, doch bei diesem Zusammensein ist zwischen uns beiden nichts passiert. Von diesem Moment ab war ich aber eine ganz andere geworden. Ich hatte Mut und Energie bekommen, vor allem war ich auf Preßler mehr wie ärgerlich. Ich behandelte ihn absichtlich niederträchtig, denn er sollte mich satt bekommen. Es gab schließlich einen lebhaften Auftritt mit Preßler, der zum vollständigen Bruche führte. Da sah meine Mutter ein, daß der Rücktritt von der Verlobung die beste Lösung des Verhältnisses sein würde, und wir fuhren am nächsten Morgen nach Hause. Ich atmete auf, wie von, einer schweren Last befreit. Nun schien die Sonne auch wieder für mich. Kaum waren wir zu Hause angekommen, da traf auch schon ein eingeschriebener Brief von der Mutter Preßlers ein, in dem sie mich dringend bat, den zurückgegebenen Verlobungsring wiederzunehmen. Sie schrieb: „Seien Sie sicher, mein liebes Kind, Karl wird Sie glücklich machen.“ Meine Mutter redete mir zu, und ich gab nach.
Vors.: Aber Ihr Verhältnis mit Merker ging weiter?
Angekl.: Ja, ich betrachtete mich ja gar nicht als Braut des Preßler.
Vors.: Durch Zufall erfuhr nun Ihre Mutter von Ihrer Schwangerschaft und veranlaßte Sie, sich Preßler preiszugeben?
Angekl.: Ja, ich ging scheinbar darauf ein und schrieb Preßler liebenswürdige Briefe.
Vors.: Was hat Sie dann zu der Abtreibung, die Sie durch die Hebamme Kunze vornehmen ließen, veranlaßt?
Angekl.: Darüber möchte ich nichts sagen.
Vors.: Was haben Sie denn zu Merker gesagt?
Angekl.: Ich sagte, ich sei gefallen.
Vors.: Glaubte er das?
Angekl. Nein, er war mißtrauisch. Mein Vater hatte daher Angst, daß er uns anzeigen könnte.
Vors.: Ihr Vater wußte also von der Abtreibung?
Angekl.: Nein, daran, ist er ganz unschuldig. Am 5. Dezember schrieb Preßler einen zwölf Seiten langen Brief, worin er in die Entlobung willigte. Ich sagte Merker, daß ich die Verlobung mit Preßler aufgelöst hätte. Mit Preßler hatte ich dagegen ausgemacht, daß wir trotz der Entlobung miteinander verkehren und uns gegenseitig die vollste Freiheit garantieren wollten. Am Weihnachtsheiligenabend kam Preßler zu uns.
Vors.: Merker war auch da?
Angekl.: Ja, ihm war es natürlich gar nicht recht, daß Preßler ebenfalls da war. Es kam sogar zu einer heftigen Szene zwischen ihm und mir, am Abend söhnten wir uns jedoch aus.
Vors.: Sie blieben die Nacht bei ihm?
Angekl.: Ja. Nach gar nicht langer Zeit erhielt mein Vater von Merker einen Brief, in dem ihm Wortbruch vorgeworfen wurde. Es wäre gar nicht wahr, daß die Verlobung mit Preßler aufgehoben sei, denn Preßler sei ja zu Weihnachten dagewesen. Damit war die Situation für mich kritisch geworden. Wenn Merker etwas von der Abtreibung verriet, war ich verloren. Ich faßte daher den Plan, mich zu töten.
Vors.: Sie ließen sich einen Revolver besorgen, und zwar brauchte es nach Ihren Worten kein eleganter Revolver zu sein, sondern einer, der gut trifft?
Angekl.: Vor allem lag mir daran, einen Revolver zu bekommen, der möglichst wenig Geräusch machte.
Vors.: Woher nahmen Sie das Geld zu dem Revolver?
Angekl.: Von meinem Taschengeld.
Vors.: Was kostete er?
Angekl.: Sechs Mark.
Vors.: Sie sollen früher, zur Zeit Ihrer Liebschaft mit Öhlsner, schon einmal mit einem Revolver zu tun gehabt haben?
Angekl.: Öhlsner fand in meinem Zimmer einmal einen Revolver und war darüber ganz entsetzt.
Vors.: Sie scheinen eine gewisse Vorliebe für Waffen zu haben?
Angekl.: Der Revolver gefiel mir damals sehr gut.
Vors.: Ich verstehe nicht, weshalb gerade damals Ihre Lage so unerträglich gewesen sein soll. Wenn Sie vor der Abtreibung den Gedanken gehabt hätten, sich zu töten, so wäre es begreiflich gewesen. Mit der erfolgten Abtreibung war doch aber das schlimmste vorbei.
Angekl.: Meine Situation war damals die schlechteste, denn ich befand mich durch meine kolossale Unvorsichtigkeit ganz in den Händen Merkers.
Vors.: Sie nahmen sich schließlich nicht das Leben, sondern brachten Merker mit Geld zum Schweigen.
Angekl.: Ja, er brauchte immer Geld. Mit der Zeit wurde mir das zuviel. Ich sagte mir, wenn Preßler käme und das Jawort verlangte, würde ich es ihm geben. Als er dann kam, sagte ich wirklich die Heirat zu.
Vors.: Wie kamen Sie dazu, auf einmal das abgeflaute Feuer wieder zu schüren?
Angeklagte: Kaum hatte ich das Jawort ausgesprochen, da tat es mir auch wieder leid.
Vors.: Früher sagten Sie, Sie hätten Preßler nur heiraten wollen, um zu Gelde zu kommen, das Sie Merker geben konnten.
Angekl.: Ich glaubte allerdings auch dadurch Merker befriedigen zu können.
Vors.: Es wurde nun der 14. Mai 1907 als Hochzeitstag zeitstag mit Preßler festgesetzt. Im Februar tauchten die Veronibriefe auf. Was wollten Sie mit diesen Veronibriefen, wen wollten Sie täuschen?
Angekl.: An dem Wesen Preßlers war mir manches aufgefallen. Unsre Verlobung sollte möglichst geheimgehalten, das Aufgebot sollte in der Kirche nicht verkündet werden und anderes mehr. Dadurch entstand in mir der Verdacht, daß Preßler Grund hatte, vor irgend jemandem etwas zu verschweigen. Durch diese Umstände kam ich darauf, unter dem Namen einer gewissen Leonore Veroni zunächst zwei Briefe an mich selbst zu schreiben. In dem einen lasse ich die Schreiberin mich um eine Unterredung bitten.
Vors.: Nach meiner Auffassung kann die Erfindung nur unter dem Gesichtspunkte verstanden werden, daß Sie Preßler vor der Öffentlichkeit bloßstellen und dadurch den Eindruck hervorrufen wollten, er habe die Waffe gegen sich selbst gerichtet.
Angekl.: Ich sagte Merker, Preßler sei bereits verheiratet, und ich hätte mit Frau Veroni selbst gesprochen. Diese habe den Plan, am Hochzeitstage aufzutreten, und dann würde ich frei sein.
Vors.: Dachten Sie zur Zeit der Abfassung der Briefe noch nicht an die Tötung Preßlers?
Angekl.: Nein, ich wollte nur Merker täuschen.
Vors.: Am 9. März 1907 soll Merker nach Chemnitz gefahren sein, um sich nach Frau Veroni zu erkundigen, kundigen, aber er fand sie natürlich nicht.
Angekl.: Das ist richtig.
Vors.: Am Abend soll er dann ärgerlich zu Ihnen nach Freiberg gekommen sein.
Angeklagte: Ja, wir versöhnten uns aber.
Vors.: Sie blieben die Nacht zusammen?
Angekl.: Ja.
Vors.: Die Hochzeit wurde nun wegen der Erkrankung Ihres Vaters wiederholt verschoben?
Angekl.: Ja.
Vors.: In diesen Tagen fuhren Sie mit Preßler nach Leipzig, um Silberzeug zu kaufen?
Angekl.: Ja.
Vors.: Aber damals hegten Sie doch schon Mordgedanken?
Angekl.: Ja. Ich wußte nur noch nicht, wie ich es anfangen sollte.
Vors.: Also Sie kauften mit dem Bräutigam Silberzeug für die Wohnung, im geheimen sannen Sie aber darauf, wie Sie ihn um die Ecke bringen könnten?
Angekl.: Ja.
Die Angeklagte erzählte alsdann, daß sie einen Moment, als sie allein im Bureau ihres Vaters war, benutzte, um den Tischkasten herauszuziehen und den darin liegenden Revolver an sich zu nehmen. Sie trug ihn dann in der Aktenmappe nach Hause.
Vors.: Es soll ein Revolver gewesen sein, den man einem Selbstmörder abgenommen hatte?
Angekl.: Ja. Ob ich den Revolver jemals benutzen würde, wußte ich damals noch nicht.
Vors.: Aber den unbestimmten Gedanken, daß Sie ihn eventuell benutzen könnten, hatten Sie doch?
Angekl.: Ja. Es war in der Karwoche. Preßler kam zu uns zu Ostern, Merker war nicht da. Letzterer hatte mir geschrieben, er würde nicht eher wieder nach Brand kommen, als bis ich mich von Preßler definitiv losgesagt haben würde. Am dritten Osterfeiertag fuhr ich mit Preßler nach Chemnitz. Bei diesem Besuch setzte ich mich in den Besitz von Zyankali. Preßler wollte seine Spieldose aufziehen und suchte den Schlüssel. Dabei mußte er den Kasten seines Schreibtisches herausziehen, und ich sah ein Fläschchen darin liegen. In dem Augenblick, als Preßler am andern Ende des Zimmers die Spieldose aufzog, nahm ich das Fläschchen an mich. Ich wußte nicht, was es enthielt, aber ich nahm aus dessen Etikett an, daß es Gift war. Zu Hause schlug ich das Lexikon nach und sah, daß Zyankali ein starkes Gift sei.
Vors.: In einem Briefe aus dieser Zeit an Merker befindet sich folgende Stelle: „Nach langem, hartnäckigem Kampfe winkt uns ein süßer Frieden, der Traum des lange ersehnten Glückes nähert sich seiner Erfüllung.“ Der Frieden sollte natürlich mit der Ermordung Preßlers eintreten?
Angekl.: Ja, nach zahllosen Kämpfen winkte die Ruhe.
Vors.: Daneben korrespondierten Sie aber immer noch mit Preßler?
Angekl.: Selbstverständlich. Er glaubte doch, ich würde ihn heiraten.
Vors.: Sie hatten doch aber schon längst den Plan zu seiner Ermordung gefaßt?
Angekl.: Ich schwankte immer noch, ob ich es tun sollte.
Vors.: Sie schrieben zwar an Merker hoffnungsvoller und liebenswürdiger als an Preßler, aber es finden sich doch auch in den Briefen an Preßler Stellen, die von großer Zuneigung zeugen.
Angekl.: Ja.
Vors.: Sie trieben also ein Doppelspiel in des Wortes vollster Bedeutung?
Angekl.: Ich mußte das tun, damit nichts herauskam.
Vors.: Nun kam der Entschluß, daß Sie möglichst bald handeln mußten?
Angekl.: Ja, bald mußte es geschehen. Merker hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich zu Pfingsten frei sein müßte. Als er am 2. Mai wegen seiner Schulden 4500 Mark von mir erhalten hatte, war er zunächst zufrieden. Ich fürchtete aber, es würde wieder anders werden, und suchte daher den Mord bald auszuführen.
Vors.: Dann wollten Sie also bei Gelegenheit der Ermordung Preßlers auch dessen Vermögen an sich bringen?
Angekl.: Ja.
Vorsitzender: Im Interesse Merkers?
Angeklagte: Ja.
Vors.: Sie setzten zu diesem Zweck ein Testament auf, das Sie zur Universalerbin einsetzte?
Angekl.: Ja.
Vors.: Da Sie aber nicht wußten, ob ein Bräutigam unter Umgehung aller seiner Verwandten seine Braut zur Erbin einsetzen könne, fragten Sie im Briefkasten des Freiberger Anzeigers an?
Angekl.: Ja.
Vors.: Vor allem hatten Sie doch das Interesse, nach außen den Schein hervorzurufen, als ob Preßler einen Selbstmord begangen habe?
Angekl.: Ja, zu diesem Zwecke schrieb ich auch die Veronibriefe.
Vors.: Wann war Preßler zum letzten Male in Brand?
Angekl.: Am 6. Mai 1907.
Vors.: Wann haben Sie den letzten Veronibrief geschrieben, und wann haben Sie das falsche Testament fertig gemacht?
Angekl.: Am 12. Mai.
Vors.: Und am Tage darauf fuhren Sie nach Chemnitz und führten den Mord aus?
Angekl.: Ja.
Vors.: Wie verbrachten Sie die letzte Nacht vor dem Mordtage?
Angekl.: Ich schlief nicht besonders gut, denn ich wußte ja nicht, ob ich den Mord am andern Tage ausführen würde.
Vors.: Nun kam der 13. Mai, der große Tag, an dem Sie den Schlußstein zu Ihren ganzen Taten legen wollten. Unter dem Vorwande, Sie fahren zu einer Freundin nach Freiberg, fuhren Sie in Wirklichkeit nach Chemnitz zu Preßler?
Angekl.: Ja.
Vors.: Revolver und Zyankali hatten Sie bei sich?
Angekl.: Ja. In Chemnitz holte mich Preßler von der Bahn ab. Er hatte Kaffeegebäck gekauft, wir gingen sofort zu ihm, und er bat mich, Kaffee zu kochen. Währenddessen holte er Sahne, da er wußte, daß ich sie gern aß. Dann tranken wir gemeinschaftlich Kaffee. In den Kaffee konnte ich das Gift nicht tun, da ich ihn auch trank. Preßler war sehr zärtlich, nach dem Kaffee lud er mich zu einem Gläschen Eierkognak ein. Ich lehnte ab, worauf er sagte, ich solle ihm dann wenigstens ein Glas einschenken. Ich tat dies und ließ schnell das Gift hineinfallen. Dann rührte ich mit dem Löffel mehrere Male herum und hätte beinahe in der Erregung den Löffel an meine Lippen geführt. Ich besann mich aber noch rechtzeitig. Preßler saß währenddem abseits auf der Chaiselongue. Ich trat vor ihn hin, er wurde zudringlich und suchte mich auf den Schoß zu ziehen, wobei er sagte: „Da wir doch bald heiraten, könnten wir doch einmal glücklich sein!“ Er war sehr leidenschaftlich, und seine Gesichtszüge waren derart verzerrt, daß mich Ekel und Abscheu ergriff. Meiner Sinne nicht ganz mächtig, reichte ich ihm den Kognak und sagte: „Hier, trink!“ Er nahm das Glas und trank es auf einen Zug aus. Kaum hatte er es aus der Hand gesetzt, als er auch schon umsank. Was nun geschah, habe ich nur noch dunkel in der Erinnerung. Alles folgende tat ich nur rein mechanisch. Ich glaubte nicht, daß Preßler tot war, ich dachte, er könnte wieder zu sich kommen und würde dann furchtbare Schmerzen haben. Da nahm ich eine Serviette, band sie ihm um den Kopf – weshalb, weiß ich nicht, denn seine Augen waren geschlossen –. Ich hielt den Revolver ihm weit in den offenstehenden Mund hinein und drückte ab. Dann legte ich das Testament aus dem Schreibtisch heraus, die zwei Veronibriefe daneben und schlich davon. Um sieben Uhr kam ich in Freiburg an und begab mich in eine Gesellschaft, wo es allerdings sehr lustig zuging.
Vors.: Und Ihnen soll man auch nichts angemerkt haben?
Angekl.: Nein, meine Erregung hatte sich inzwischen gelegt. Ich telephonierte nach Brand an meine Eltern, daß ich mich in angenehmer Gesellschaft befände und erst mit dem letzten Zuge kommen werde. Unser Mädchen holte mich von der Bahn ab und fragte mich, ob ich mich gut amüsiert hätte, was ich bejahte.
Vors.: Wie war es denn mit dem Schlaf?
Angekl.: Zuerst schlief ich sehr schlecht, dann aber fiel ich infolge allgemeiner Abspannung in einen tiefen Schlaf.
Vors.: Was geschah am Morgen des 14. Mai?
Angekl.: Da kam ein langer Veronibrief an, den ich am Tage vorher in Chemnitz zur Post gegeben hatte. Die Mutter las ihn und ersuchte mich, sofort an Preßler zu schreiben.
Vors.: Das taten Sie natürlich?
Angekl.: Ja. Am 15. Mai kam ein Brief mit der Mitteilung, daß Preßler sich erschossen hätte. Ich fuhr noch am Vormittag desselben Tages nach Chemnitz. Am folgenden Tage fand die Einäscherung statt, Mutter und ich wohnten ihr bei.
Vors.: Wurde bei all diesen Vorgängen niemals Ihr Gewissen lebendig?
Angekl.: Nein, es war mir so, als ob Preßler wirklich Selbstmord begangen hätte. Alle Welt brachte den Selbstmord mit dem in letzter Zeit besonders verschlossenen schlossenen Wesen Preßlers in Zusammenhang.
Vors.: Am 15. Mai schrieben Sie an Merker: „Nun bin ich gänzlich frei, mein Schatz, aber nicht durch eine Entlobung, sondern Gott hat selbst gerichtet!“
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Früher sagten Sie, Sie hätten Preßler aufgefordert, er solle mal den Mund aufmachen, Sie hätten ihm etwas mitgebracht.
Angekl.: Ich hatte mir das so ausgedacht.
Vors.: Schließlich sagten Sie Preßler nach, er habe in Zwickau zwei uneheliche Kinder abgeschworen.
Angekl.: Gesagt habe ich es, es ist aber nicht wahr.
Vors.: Weshalb verleumdeten Sie nun noch den Mann, den Sie ermordet hatten?
Angekl.: Weil es Merker gefiel, wenn ich Preßler recht schlecht machte.
Am zweiten Tage der Verhandlung wurden Briefe verlesen, die Grete Beier an Preßler und Merker und diese an Grete Beier gerichtet hatten. In einem Briefe vom Anfang Dezember 1906 schrieb Grete Beier an Merker: „Weißt Du, Schatz, der Gedanke, meinem Vater – meine Mutter kommt nicht in Betracht, denn sie steht meinem Herzen ziemlich fern – einen Kummer zu bereiten, kann mich förmlich wahnsinnig machen, wenn er erfahren würde, was sein einziges Kind für ein verworfenes Geschöpf ist. Er wird denken: wäre sie doch lieber gestorben, denn dann könnte ich sie doch wenigstens noch achten. Auch Du, Hans, kannst mich nicht mehr achten. Ich habe es selbst schon gefühlt, daß ich ein leichtsinniges, gewissenloses und gewöhnliches Mädchen bin, nicht besser als die erste beste. Aber eine Entschuldigung gibt es für mich: was ich tat, geschah aus Liebe zu Dir. Ich bin sehr verzweifelt, da meine eigene Mutter mir drohte, mich auf die Straße zu setzen.“
In einem zwölf Seiten langen Briefe vom 5. Dezember 1906 an Grete Beier löste Preßler die Verlobung. Er zeichnete darin in kurzen Umrissen sein Ideal einer Frau und eines Familienlebens, das Grete Beier in keiner Weise erreiche. Er rechne es ihrer Jugend und ihrer geringen Weltkenntnis zugute, wenn sie kein Verständnis für das besitze, was sie ihm angetan habe. Am Schlusse des Briefes brach er in die verzweifelten Worte aus: „Hätte ich Dich nicht geliebt, so hätte ich nicht den Glauben an die Menschheit verloren!“
Vors.: Der Brief gewährt einen interessanten Einblick in die Seele Preßlers. Er gab Sie vollständig frei, in vollständiger Harmonie sollten Sie auseinandergehen.
Angekl.: Ich war auch sehr damit einverstanden.
Vors.: Preßler malt in dem Briefe aus, wie er sich ein Familienleben vorstellt. Ich muß sagen, eine idealere Auffassung kann man vom Familienleben nicht haben, und Sie sagten, er sei barsch und schroff gewesen.
Angekl.: Preßler gab sich in seinen Briefen immer rührend, in Wirklichkeit war er schroff. Ich muß sagen, daß dieser Brief mich sehr angenehm berührt hat. Ich war auch gerührt; durch meine Mutter wurde ich jedoch darauf gebracht, daß Preßler den Brief aus Berechnung geschrieben hätte. Ich sollte gerührt werden, um in dieser Rührung mich wieder zu ihm zu schlagen.
In einem Briefe an Merker schrieb Grete Beier, daß sie den Verkehr mit Preßler jetzt anfange von der humoristischen Seite zu nehmen.
In einem anderen Briefe fanden sich Wendungen wie: „Sein Ehrenwort soll man zwar halten, aber in Liebessachen ist das etwas anderes,“ und weiter: „Die Gesetze sind dazu da, um umgangen zu werden, Liebe macht erfinderisch.“
Von dem Abschiedsbriefe Preßlers an Grete Beier sagte die Angeklagte, daß sogar die Mutter davon gerührt war, sie habe damals wirklich geweint.
Von besonderem Interesse waren die mit „Veroni“ gezeichneten gefälschten Briefe der Beier an Preßler.
Vors.: Die Veronibriefe lassen sich nicht anders erklären, als daß Sie schon bei der Abfassung den Gedanken gehabt haben, Preßler aus dem Wege zu räumen. Wenn die Briefe einen Sinn haben sollten, dann kann es nur der gewesen sein, einen Grund für einen Selbstmord Preßlers zu haben.
Angekl.: Ich hatte bei der Abfassung des ersten Veronibriefes im Februar noch nicht den festen Plan gefaßt, Preßler umzubringen, ich schwankte noch hin und her.
Der Veronibrief, den Grete Beier am Tage vor dem Morde geschrieben und nach vollbrachter Tat auf dem Schreibtische Preßlers niedergelegt hatte, lautete: „Chemnitz, den 12. Mai. Hierdurch teile ich mit, daß ich wieder in Chemnitz eingetroffen bin. Ich habe Deiner armen Braut alles geschrieben, denn ich kann den Betrug nicht länger ansehen. Es ist eine reine Schande, die Frau eines solchen Mannes zu sein. Ein Glück nur, daß es niemand weiß. Du bist doch ein ganz erbärmlicher, feiger Schuft. Wenn. Du nicht nach Brand fährst und die Wahrheit sagst, fahre ich hin und erzähle allen Deine Schlechtigkeiten. Ich kenne Deine Braut noch nicht, aber ich habe gehört, daß sie ein Engel voller Liebe und Güte ist. Du hast geglaubt, ich bin so dumm und bleibe immer in Italien. Aber ich habe Dich von Anfang an beobachtet und nur jetzt auf die Hochzeit gewartet. Deine ?Ehegattin? Leonore Preßler geb. Veroni.“
Vors.: Dieser Brief ist doch geradezu etwas Unerhörtes. Um einen Selbstmord glaubhaft zu machen, legten Sie diesen Schwindelbrief auf den Schreibtisch des Mannes, den Sie wenige Minuten vorher erschossen hatten. Können Sie irgend etwas dazu angeben?
Die Angeklagte schwieg.
Der zweite Veroni-Brief, den Grete Beier an sich selbst adressierte und nach der Ermordung Preßlers in Chemnitz zur Post gegeben hatte, lautete: Sehr geehrtes Fräulein! Als rechtmäßige Gattin Preßlers fühle ich mich verpflichtet, Ihnen die volle Wahrheit zu schildern, da ich der elenden Schurkerei endlich ein Ziel setzen will. Ich war die Tochter eines kleinen italienischen Staatsbeamten. Meine Mutter war eine Deutsche und wohnte in Riva am schönen Gardasee, wo sie sich mit meiner bildhübschen Schwester aufhielt. Dort lernten wir Preßler kennen. Er ging meiner Schwester nach und knüpfte Beziehungen mit ihr an, die nicht ohne Folgen blieben. Da Preßler meine Schwester von sich stieß, nahm sie sich das so zu Herzen, daß sie an einem Morgen mit durchschossenem Munde und Kopfe am Ufer des Sees gefunden wurde. Nur ich wußte, was vorgegangen war, nur ich kannte den erbärmlichen Kerl. Lediglich das Gefühl der Rache beseelte mich. Nachdem ich die Zustimmung meiner Eltern erlangt hatte, gelang es mir, Preßler durch Drohungen zur Heirat zu bewegen. Er wurde mir nach katholischem Ritus angetraut, d.h. die Ehe wurde unlöslich geschlossen. Ich hatte niemals Gemeinschaft mit ihm, er sollte nur an mich gebunden sein. Er schickte mir alljährlich Geld, wofür ich ihm das Versprechen geben mußte, nicht nach Chemnitz zu kommen. Ich besorgte mir aber einen Detektiv, der ihn beobachtete. Mein ?Gatte? lebt in Chemnitz mit seiner Wirtin und deren Tochter in ungestörter wilder Ehe. Er hat in Zwickau zwei Kinder abgeschworen. Dann verlobte er sich mit Ihnen. Er weiß jetzt, daß ich in Chemnitz bin und ist daher der Verzweiflung nahe. Nur ein Weg bleibt ihm: denselben Tod zu suchen, den meine arme Schwester gefunden hat. Danken Sie Gott, daß Sie diesen Mann loswerden! Er ist durch seinen leichtfertigen Lebenswandel auch gefährlich krank. Es ist überhaupt eine außerordentliche Frechheit von ihm, sich mit Ihnen zu verloben, da ihm das Zuchthaus sicher ist. Sie werden mich nicht mehr sehen, denn wenn diese Zeilen in Ihre Hände gelangen, bin ich wieder im Auslande. Meine Mission in Deutschland ist erfüllt, vielleicht sehen wir uns einmal in Italien. Ihre ergebene Leonore Preßler.
Vors.: Dieser Brief ist nun der Gipfel alles Schwindels und aller Lüge. Können Sie für diese maßlosen Entstellungen irgendeine Entschuldigung angeben?
Die Angeklagte schwieg.
Vorsitzender: Ich möchte der Angeklagten nun nur noch vorhalten, daß sie sich selbst im Gefängnis hat Durchstechereien zuschulden kommen lassen. Zunächst haben Sie auch noch nach dem Geständnis der Abtreibung glühende Liebesbriefe mit Merker gewechselt und ihn angestiftet, Ihre Tante, Frau Schlegel, zu ermorden. Das spricht doch für ein geradezu felsenfestes Vertrauen zu Merker, nicht aber, daß Sie Furcht vor Merker hatten. Außerdem haben Sie sich auch auf den Spaziergängen und in der Zelle auffällig benommen. Ferner haben Sie einen Brief geschrieben, obgleich Sie gar kein Schreibzeug haben konnten. Wo hatten Sie denn das Material her?
Angekl. Beier: Von meiner Mutter.
In dem Kassiber machte Grete Beier dem Merker Vorwürfe, daß er ihre Briefe ausgeliefert habe, was nicht notwendig gewesen sei. Auf Grund dieser Briefe habe man sie des Mordes überführt. Sie sei es aber nicht gewesen, Preßler habe sich infolge eines amerikanischen Duells selbst erschießen müssen.
Vert. R.-A. Dr. Knoll: Dieser Kassiber ist datiert vom 5. Oktober 1907. Bis zu diesem Tage hat die Angeklagte auf Merker gebaut. Am 17. Oktober 1907 kam ich nach Freiberg und sagte der Angeklagten, welcher Schuft Merker sei. Er hatte, um sich beim Untersuchunssrichter lieb Kind zu machen, alle Kassiber und Briefe der Angeklagten ausgeliefert. Damit war dem Verkehr mit Merker natürlich ein Ende gemacht.
Vors.: Angekl. Beier, es ist im Gefängnishof ein Zettel mit einem Gedicht von Ihrer Hand gefunden worden:
„Nun blüht in meinem Herzen wieder,
Was frevelhalt gebrochen,
Die Lippen plaudern, lächeln, scherzen,
Jedoch die Seele schreit nach dir!“
Angekl.: Das Gedicht habe ich nicht selbst gemacht.
Vors.: Das Testament Preßlers haben Sie so fein gefälscht, daß Sie sogar seinen Bruder und seine Mutter getäuscht haben.
Angekl.: Allerdings.
Alsdann wurde in die Zeugenvernehmung eingetreten.
Ingenieur Herzog (Chemnitz) bekundete als Zeuge: Er war der intimste Freund des ermordeten Preßler. Preßler hatte eine wirklich tiefe Neigung zu Grete Beier, er war ein anständiger, nobler Charakter. An die Wahrheit der Geschichte von der Leonore Veroni habe er (Zeuge) niemals geglaubt und auch sogleich die ganze Sache als Schwindel bezeichnet.
Vors.: Hat Ihnen Preßler einmal gesagt, er wünsche für den Fall seines Ablebens verbrannt zu werden?
Zeuge: Nein. Als ich am 14. Mai 1907 im Sterbezimmer war, wurde mir gesagt, seiner Braut gegenüber habe er diesen Wunsch geäußert.
Vors.: Wer hat Ihnen das gesagt?
Zeuge: Die Mutter der Angeklagten.
Ein Geschworener: Die Angeklagte sagt, sie hätte eine unüberwindliche Abneigung gegen Preßler gehabt. Haben Sie etwas davon gemerkt?
Zeuge: Niemals.
Angekl.: Es war aber so. Als meine Mutter nach dem Bekanntwerden meiner Schwangerschaft in mich drang, mich Preßler hinzugeben, damit er als der Vater des Kindes bezeichnet werden könnte, ging ich nur scheinbar darauf ein. Lieber wäre ich gestorben, als daß ich das wirklich getan hätte.
Zeuge Ingenieur Lippe (Chemnitz) schilderte Preßler als einen verschlossenen und komplizierten Charakter, der aber von glühender Liebe für seine Braut erfüllt war. Im letzten halben Jahre schien es so, als ob er an Gelbsucht leide.
Oberwachtmeister Schirks (Chemnitz): Er wurde als erster Polizeibeamter an die Leiche Preßlers gerufen. Preßler hatte eine Binde um die Augen, der Mund stand offen, hinten waren zwei Schußwunden zu sehen. Auf dem Tisch lag ein verschlossener Brief an Fräulein Grete Beier und ein offener Brief von der angeblichen Italienerin Veroni. Mir kam die Sache romanhaft vor, aber alle Umstände sprachen für einen Selbstmord.
Frau Robel, die Aufwärterin Preßlers, kam am 14. Mai in dessen Wohnung.
Vors.: Sie haben früher bekundet, es sei Ihnen aufgefallen, daß es beim Fortschaffen der Sachen durch Grete Beier „happig“ zugegangen sei.
Zeugin: Ja, sie nahm alles mit, was sie wegschaffen konnte.
Vors.: Auch die Chaiselongue, auf der Preßler getötet wurde?
Zeugin: Ja.
Frau Möser (Chemnitz) und Frau Pauscher (Chemnitz) hatten den Schuß gehört, sie nahmen aber an, daß er auf der Straße gefallen sei.
Ein Beisitzer (zur Angekl.): Rechneten Sie nicht damit, daß alle Leute die Schüsse hören mußten?
Angekl.: Ich habe keinerlei Vorsichtsmaßregeln gebraucht.
Vors.: Sie hielten wohl den Revolver ziemlich weit in den Mund hinein?
Angekl.: Ja, sehr weit.
Vors.: Haben Sie sich nach dem Abfeuern der Schüsse noch lange bei Preßler aufgehalten?
Angekl.: Nein, nur wenige Minuten. Ich horchte, ob alles ruhig sei und schlich alsdann fort.
Witwe Kleinbeckes, geb. Preßler, die Schwester des Ermordeten, bekundete: Sie habe sofort an der Echtheit des Testaments gezweifelt.
Assessor Karl Preßler machte Bekundungen über die Vermittlungstätigkeit bei den wiederholten Zwistigkeiten stigkeiten zwischen seinem Bruder und Grete Beier.
Vors.: Sie und Ihre Mutter haben das Testament anstandslos anerkannt?
Zeuge: Ja.
Vors.: Haben Sie an die Geschichte mit den Veroni-Briefen geglaubt?
Zeuge: Ja.
Damenschneiderin Tuerk (Chemnitz) war vom Jahre 1899 bis 1907 die Wirtin Preßlers. Eines Tages, als Preßler verreist war, kam Merker zu ihr und sagte, die Grete würde nie und nimmer Preßler heiraten; die Aussteuer sei auch nicht für Preßler, sondern für ihn bestimmt. Sie habe Preßler davon Mitteilung gemacht. Dieser wollte es nicht glauben, sie habe aber gesagt, die Grete scheint eine Dirne zu sein. Die Geschichte mit der Veroni bezeichnete Preßler als Blödsinn.
Vors.: Hat Preßler sich nicht für Ihre Nichte interessiert?
Zeugin: Er hatte ihr früher einmal die Ehe versprochen, aber ich habe gesagt, das geht nicht, wir sind aus einfachem Stande.
Vert. R.-A. Dr. Knoll: Sie sind nach Brand gefahren und haben dort erzählt, Preßler habe mit einer Frau in Dresden ein Verhältnis. Weshalb haben Sie das getan?
Zeugin: Es war zur Zeit der Rheinreise. Ich wollte endlich Gewißheit haben, wann die Hochzeit sein sollte, damit ich über die Wohnung verfügen konnte. Ich bereue, daß ich das getan habe.
Kriminalwachtmeister Fähndrich schilderte das Ergebnis der ersten polizeilichen Ermittelungen. Grete Beier habe immer das Bestreben gehabt, sich zu entlasten und andere zu belasten. Das gleiche Verhalten beobachtete die Mutter der Angeklagten. Vor allem sei Frau Schlegel beschuldigt worden. Merker habe schon ungefähr vierzehn Tage vor dem Morde die Äußerung getan: Wenn geheiratet werde, dann tue er es. Preßler würde nichts weiter übrigbleiben, als sich zu erschießen. Er sagte also den Tod zwei Wochen vorher voraus. Dies habe ihn (Zeugen) zuerst auf den Gedanken gebracht, daß mit dem Selbstmord Preßlers doch nicht alles so stimme.
Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf Kaufmann Hans Merker als Zeuge aufgerufen. Er verbüßte zur Zeit eine zweijährige Gefängnisstrafe. Bei seinem Eintritt in den Gerichtssaal warf er der Angeklagten einen flüchtigen Blick zu, die Angeklagte schlug die Augen zu Boden.
Merker bekundete: Ich lernte Grete Beier auf einem Maskenball des Kaufmännischen Vereins in Freiburg im Jahre 1905 kennen. Ich glaubte, sie sei ein gebildetes Mädchen aus guter Familie, das, was wir eine „Kronleuchterpartie“ nennen. (Heiterkeit.) Ich wußte nicht, daß sie schon vorher mit anderen Männern Verkehr gehabt hatte. Nach einiger Zeit bestellte sie mich des Nachts zu sich nach Brand, ohne daß ich wußte, weshalb das geschah. (Heiterkeit.) Diese nächtlichen Zusammenkünfte wurden immer häufiger, und um sie zu rechtfertigen, sagte mir Grete Beier, ihre Eltern sähen unseren Verkehr nicht gern. Zu einem intimen Verkehr zwischen uns war es aber noch nicht gekommen. Das geschah erst, nachdem mir Grete einen Brief geschrieben hatte, in dem es hieß: „Hans, Du mußt mich viel, viel lieber haben!“ Später kam es zwischen uns zu Zwistigkeiten. Eines Abends wurde mir von einem Bekannten in einem Restaurant in Brand eine Verlobungskarte „Grete Beier – Preßler“ gezeigt. Ich war einfach baff. (Heiterkeit.) Ich gratulierte formell der Beierschen Familie und verhielt, mich streng passiv. Nach vier bis sechs Wochen erhielt ich von Grete einen Brief, in dem sie mich um eine Unterredung bat. Ich lehnte aber ab. Wenige Tage darauf, es war neun Uhr abends, kam Grete selbst. An der Tür sank sie um. Ich glaube, daß dieser Ohnmachtsanfall geheuchelt war. Ich hob sie auf und trug sie auf die Chaiselongue. Ich fragte sie, warum sie sich verlobt habe. Sie antwortete, es sei so schnell gegangen, daß sie es nicht verhüten konnte. „Wenn du mir versprichst, daß du dich so bald wie möglich entloben willst, können wir uns wieder gut sein,“ sagte ich. „Ich verspreche dir,“ antwortete sie, „daß ich das in allernächster Zeit tun werde.“ In der Folgezeit kam es wieder zu nächtlichen Zusammenkünften. Den Preßler schilderte sie mir als einen ganz ehrlosen Menschen. Um so strenger mußte ich natürlich auf der Entlobung bestehen. Da machte mir Grete Beier eines Tages die Mitteilung, daß sie sich „in anderen Umständen“ befinde. „Jetzt müssen wir uns rasch verloben,“ sagte ich. „Gern,“ erwiderte sie, „aber er läßt mich nicht frei. Ich kann ihn noch so grob behandeln, es nützt nichts.“ Nun kam die Rheinreise, an der Grete Beier trotz aller meiner Proteste teilnahm. (Heiterkeit.) Aus Eisenach schrieb sie mir, daß sie nun glücklich entlobt sei. Weiter habe ich nichts von der Reise gehört. Nach ihrer Rückkehr wurde Grete Beier dabei ertappt, als sie einmal zu mir wollte. Dabei kam auch heraus, daß sie sich „in anderen Umständen“ befand. Vater Beier bestellte mich aufs Rathaus und machte mir heftige Vorwürfe. Während dieses Gesprächs kam Frau Beier hereingestürzt und beschimpfte mich. Sie sagte: „Das beste wäre, Sie schießen ihr eine Kugel durch den Kopf, dann wäre sie weg.“ Sie fügte noch hinzu, sie werde alles aufbieten, um zu verhindern, daß wir ein Paar würden. Am 21. Oktober 1906 wurde ich auf Veranlassung des Bürgermeisters meine Stellung los und mußte nach Dresden gehen. Ich war längere Zeit dort, als ich einen Brief bekam, daß Grete geboren habe. Ich fragte telephonisch bei ihrem Vater an, der mir sagte, es ginge Grete recht gut. Ich erwiderte: „Machen Sie mir doch nichts vor, ich habe einen Brief in Händen, daß Grete geboren hat. Wenn ich etwas von einer Abtreibung erfahren sollte, gehe ich energisch gegen Sie vor.“ Kurze Zeit darauf schrieb mir Grete, sie sei jetzt dahinter gekommen, was man mit ihr vorhabe. Sie habe einen Brief gefunden, aus dem klar hervorgehe, daß Preßler und ihre Mutter unter einer Decke stecken. Preßler habe sich ein außerordentlich gutes Abtreibungsmittel aus Mailand kommen lassen, das ihm viel Geld gekostet habe.
Vors.: Das ist doch aber alles nicht wahr.
Zeuge: Damals habe ich es aber geglaubt. Grete hat mir gesagt, sie werde an Preßler schon Rache nehmen. Preßler müsse vor Scham vor ihr noch in die Erde sinken. Sie wolle dafür sorgen, daß wir beide zusammenkämen, aber ihr Vater solle nichts davon wissen, daß ihre Mutter und Preßler Hand in Hand arbeiteten. Später bestellte mich der Vater Beier nach Brand, und dort mußte Grete mir in seiner Gegenwart sagen, daß die Sache mit dem Preßlerschen Abtreibungsmittel nicht wahr sei. Um dem Vater zu Gefallen zu sein, sagte sie es auch, aber als ich nachher mit ihr allein war, sagte sie mir, es sei doch wahr. Inzwischen drängte ich immer energischer auf die Entlobung, bung, weil ich von meinen Gläubigern auch gedrängt wurde. Der Bürgermeister war bereit, mir Geld zu geben, das offenbar dazu benutzt werden sollte, um mich zum Schweigen zu veranlassen. Im März 1907 kam ich nach Klingenthal in eine andere Stellung. Dorthin schrieb mir Grete, daß sie mir eine Mitteilung zu machen habe, die mich sehr überraschen und uns beide bald zusammenführen würde. Ich fuhr nach Brand, und dort zeigte mir Grete zwei Briefe von Frau Preßler, geb. Veroni, in denen diese schrieb, daß sie Grete von Preßler loshelfen könne. Ich glaubte den Angaben der Grete natürlich; sie hielt mich aber immer davon ab, die angebliche Veroni in Chemnitz aufzusuchen. Der Zeuge schilderte darauf eingehend, wie Grete die Geschichte mit der Veroni weiter ausgesponnen und er Schritte unternommen habe, um diese ausfindig zu machen; Grete habe es aber stets vereitelt.
Vors.: Sie haben von Grete rund 4000 Mark erhalten?
Zeuge: Ja, vorher hatte sie mir aber geradezu geschworen, daß sie das Geld rechtmäßig erworben habe.
Vors.: Als Sie von Preßlers Tode erfuhren, haben Sie da Mitleid empfunden?
Zeuge: Gewiß, ganz selbstverständlich. Nach Gretes Verhaltung wegen des Krönerschen Kassettendiebstahls diebstahls kam ich allmählich hinter all ihre Schwindeleien.
Vors.: Haben Sie an den Selbstmord Preßlers geglaubt?
Zeuge: Nein, ich war von vornherein der Ansicht, daß er ermordet sein mußte, ich konnte nur nicht an Gretes Täterschaft glauben. Später erfuhr ich, daß Grete am 13. Mai in Chemnitz gewesen sei. Ich stellte sie zur Rede, weshalb sie mir nichts davon gesagt habe, sie erklärte mir aber nur, daß sie mich nicht habe aufregen wollen. Damit begnügte ich mich, denn ich war froh, daß sie nicht erschossen war. (Heiterkeit.)
Vors.: Ist es richtig, daß die Angeklagte Sie durch einen Kassiber zur Ermordung der Schlegel anstiften wollte?
Zeuge: Ja, ich kann meinen früheren Mitteilungen in dieser Sache noch hinzufügen, daß auf einem Kassiber auch die Worte standen: „Wenn ich draußen wäre, würde es gehen.“
Vors.: Das ist allerdings neu.
Vert.: Wenn Grete draußen gewesen wäre, so brauchte sie Sie natürlich nicht. Ich glaube nicht, daß sie ein so törichtes Zeug an Sie geschrieben hat.
Vors.: Die Angeklagte sagt, sie hätte wegen der Abtreibung in ständiger Angst und Furcht vor Ihnen gelebt, da Sie sie jeden Tag hätten anzeigen können?
Zeuge: Ich würde Grete nie angezeigt haben, ich glaube, jetzt den Schlüssel zu allen ihren Handlungen gefunden zu haben. Sie ist von einer kolossalen Sinnlichkeit und hat auch unseren Verkehr wohl nur als einen solchen niedrigster Art aufgefaßt. Ich habe immer auf Verlobung oder Trennung gedrängt. Hätte Grete mich rechtzeitig mit Preßler zusammenkommen lassen, so wäre alles anders gekommen. Sie wäre nicht hier, ich wäre nicht im Gefängnis, und Preßler wäre heute ein glücklicher Mensch.
Vert.: Ich will mich so wenig wie möglich mit dieser Aussage beschäftigen, weil ich sonst glaubte, ihr einen zu großen Wert beizulegen. Sie sagen, Grete Beier habe Sie verführt. Halten Sie das aufrecht?
Zeuge: Ja.
Vert.: Das mag glauben, wer will. Wenn Sie weiter an dem Kassiberverkehr Anstoß nahmen, so daß Sie die Kassiber der Gefängnisverwaltung zur Verfügung stellten, wer in aller Welt zwang Sie denn, diese Kassiber zu beantworten?
Zeuge: Ich hatte immer noch Zuneigung zu Grete, und es wurde mir schwer, gegen sie auszusagen. Noch als ich hierher transportiert wurde, schwankte ich.
Es folgte die Vernehmung der Sachverständigen.
Sachverst. Oberarzt Dr. med. Nerlich (Hochweitzschen): Die Angeklagte hat während der Beobachtungszeit in der Landesirrenanstalt Waldheim nicht den geringsten Versuch gemacht, irgendeine Krankheitserscheinung auf geistigem oder körperlichem Gebiet vorzutäuschen. Es finden sich keinerlei Degenerationszeichen am Schädel, sie zeigt keinerlei Zeichen von Hysterie oder Neurasthenie und ist körperlich vollkommen gesund. Was ihre geistige Beschaffenheit anlangt, so war sie immer natürlich, bescheiden, höflich, geschickt, fleißig, immer bereit zur Hilfe. In Handarbeiten war sie außerordentlich geschickt und hatte ein treffendes Urteil über die Vorgänge in ihrer Umgebung. Ihre Gemütsstimmung war gleichmäßig ruhig. Wenn man von ihrem Vater sprach, traten ihr die Tränen in die Augen. Wenn die Frage aufgeworfen wird, ob sie die Tat in einem epileptischen Dämmerzustand begangen haben kann, so halte ich das für ausgeschlossen, da keinerlei Zeichen von Epilepsie bei ihr beobachtet worden sind. Sie hat großes musikalisches Verständnis und entwickelt am Klavier außergewöhnliche Fähigkeiten. Im schriftlichen Ausdruck ist sie außerordentlich gewandt. Ihre Schulverhältnisse waren ausgezeichnet, ihre Allgemeinbildung desgleichen. Nur in religiöser Beziehung ist sie oberflächlich. Sie war der Überzeugung, daß ihr Vater aus Kummer um sie gestorben sei. Was ihre Liebe zu Merker auf der einen und zu Preßler auf der anderen Seite anlangt, so bin ich der Meinung, daß sie Merker wirklich geliebt hat. Wie dieser ihr das vergolten hat, darüber möchte ich schweigen. Er hat ihre Briefe an die Gefängnisverwaltung ausgeliefert und dadurch die Mordsache erst in Fluß gebracht, während sie ihn bis zum letzten Moment zu schützen gesucht hat. Preßler wäre vielleicht der Mann gewesen, Grete Beier einen moralischen Halt zu geben. Das hat er nicht getan. Er handelte um so schlimmer, als er ihr auch noch den religiösen Glauben nahm.
Vors.: Dafür, daß Preßler der Angeklagten den Glauben genommen hat, hat die Verhandlung keinerlei Beweis erbracht.
Sachverständiger: Ich weiß es von Grete Beier selbst. Ihre Mutter hat sich nie um sie gekümmert. Sie war in Brand eine übelbeleumundete Person, ränkisch, zänkisch und hinterlistig. Aber auch der Vater stand in einem sehr schlechten Ruf. Es war niemand da, an den die Angeklagte Anschluß finden konnte. Oberarzt Dr. Nerlich faßte schließlich sein Gutachten in folgenden Sätzen zusammen: 1. Grete Beier ist moralisch minderwertig; 2. sie ist nicht geisteskrank, auch nicht im Sinne des § 51 StGB.; 3. sie hat sich auch zur Zeit der ihr zur Last gelegten Straftaten nicht in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden, durch welchen ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen sein würde.
Sachverst. Sanitätsrat Dr. Nittolz schloß sich diesem sem Gutachten im großen und ganzen an und gelangte ebenfalls zu dem Schluß, daß die Angeklagte nicht erblich belastet und geistig gesund sei. Darauf wurde von allen Prozeßbeteiligten auf weitere Zeugen verzichtet und die Beweisaufnahme geschlossen. Den Geschworenen wurden folgende Schuldfragen vorgelegt: 1. Ist die Angeklagte Margarete Beier schuldig: a) am 15. Mai 1907 zu Chemnitz vorsätzlich ihren Bräutigam Kurt Preßler getötet und b) diese Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben? 2. Ist die Angeklagte Margarete Beier schuldig: a) im Mai zu Chemnitz und Brand eine Privaturkunde, die zum Beweise von Rechten oder Rechtsverhältnissen erheblich ist, nämlich das Testament ihres Bräutigams fälschlich angefertigt und zum Zwecke der Fälschung gebraucht zu haben, b) durch diese Urkundenfälschung sich oder einem andern einen rechtswidrigen Vermögensvorteil hat verschaffen wollen?
Staatsanwalt Dr. Mannel beschränkte sich in seinem Plädoyer auf eine Schilderung der Tat und beantragte zum Schluß die Bejahung beider Schuldfragen in vollem Umfange.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Knoll (Dresden) stellte keine bestimmten Anträge, sondern überließ die Entscheidung dem freien Ermessen der Geschworenen.
Die Angeklagte, der der Vorsitzende zum letzten Male Gelegenheit gab, sich zu äußern, erklärte mit leiser Stimme: Ich habe nichts mehr zu sagen.
Nach nur kurzer Beratung bejahten die Geschworenen beide Schuldfragen.
Der Gerichtshof verurteilte darauf die Angeklagte zum Tode und, unter Einrechnung der bereits erkannten Strafe von fünf Jahren Zuchthaus, zu acht Jahren Zuchthaus und zu dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Grete Beier nahm das Urteil ruhig und gefaßt entgegen. Sie sprach noch einige Worte mit ihrem Verteidiger und verabschiedete sich von ihm durch Händedruck. Sie ließ sich darauf widerstandslos zurückführen.
Die Geschworenen unterstützten einstimmig das Begnadigungsgesuch des Verteidigers. Der Schwurgerichtsverhandlung hatten im Auftrage des Sächsischen Justizministeriums ein Geheimer Regierungsrat beigewohnt. Nach dessen zweimaligem Vortrage entschied der König von Sachsen: Er fühle sich nicht veranlaßt, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. Infolgedessen erfolgte am 23. Juli 1908 im Hofe des Freiberger Gerichtsgefängnisses durch den sächsischen Landesscharfrichter Brandt (Hohenlinde bei Oederan) die Hinrichtung der Grete Beier mittels Guillotine. Die Guillotine wurde zwei Tage vor der Hinrichtung von Dresden nach Freiberg geschafft. schafft. Grete Beier betrat, geführt von ihrem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Knoll (Dresden) und dem Gefängnisgeistlichen, Pastor Schmidt (Freiberg), ruhig und gefaßt das Schafott. Sie rief mit lauter Stimme: „Vater, Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, da sauste das haarscharfe Messer hernieder, das glatt den Kopf vom Rumpfe trennte.
Scharfrichter Brandt rief: „Herr Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt.“ Das Gerichtsgebäude war trotz der frühen Morgenstunde während der Hinrichtung von einer Ungeheuern Menschenmenge umlagert.
Zwei Tage vor der Hinrichtung traf die Mutter der Mörderin, Frau Bürgermeister Beier, die eine zweijährige Zuchthausstrafe in Waldheim verbüßte, in später Nachmittagsstunde in Begleitung von zwei Gefängnisbeamten im Freiberger Gerichtsgebäude ein. Sie wurde zu ihrer Tochter in die Zelle geführt. Der Abschied zwischen Mutter und Tochter war herzzerreißend.