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Ein verbrecherischer Arzt

Der Prozeß gegen Dr. Braunstein vor dem Schwurgericht München I

Der künftige Kulturhistoriker wird unser materielles Zeitalter zweifellos als halbbarbarisch bezeichnen. In unserem fortgeschrittenen Zeitalter werden aus Geldgier selbst von wissenschaftlich gebildeten Leuten die ärgsten Verbrechen verübt. Unsere vielgerühmte Kultur ist nur oberflächlich. König Mammon ist der mächtigste Regent auf dem Erdenrund. Um Geld zu erlangen, scheuen sich oftmals selbst gebildete Leute nicht, mit dem Heiligsten ein frevelhaftes Spiel zu treiben. Der Gerichtsberichterstatter, vor dessen Augen sich täglich Verbrechen aller Art entrollen, um eine gerichtliche Sühne herbeizuführen, wird allmählich etwas abgestumpft. Das erschütternde Drama, das sich im April 1905 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts München I entrollte, war aber doch geeignet, selbst die im kriminalrechtlichen Leben ergrauten, allen Vorkommnissen gegenüber gleichgültig gewordenen Berichterstatter in Erregung zu versetzen. Der Mann, der auf der Anklagebank saß, war ein praktischer Arzt, der, sicherem Vernehmen nach, eine sehr einträgliche Praxis in München hatte. Die Geldgier gier bildete auch bei diesem Mann die Triebfeder zu einem so furchtbaren Verbrechen, das in den Annalen der Kriminaljustiz einzig dastehen dürfte. Wohl bilden die Heiratsschwindler, die sich von den Zuhältern nur durch ihre bedeutend größere Gefährlichkeit unterscheiden, eine fast tägliche Erscheinung in den Gerichtssälen. Und dabei gelangt wahrscheinlich nur der kleinste Teil der Heiratsschwindeleien zur gerichtlichen Anzeige, da die Betrogenen neben dem Schaden nicht noch den Spott haben wollen. Ganz besonders scheuen sich die Betrogenen vielfach, vor Gericht als Zeugen zu erscheinen. Trotz aller Warnungen der Presse treibt der Heiratsschwindel, insbesondere in den Großstädten, und zwar in allen Gesellschaftskreisen noch immer die üppigsten Blüten. Noch immer sind zahllose Dienstmädchen, Schneiderinnen und andere Proletarierinnen töricht genug, Schwindlern, die ihnen die Ehe versprechen, ihre durch mühselige, harte Arbeit erworbenen Ersparnisse und oftmals auch noch ihre weibliche Ehre hinzugeben. Wieviel solch betrogene arme Wesen dem Selbstmord zugetrieben wurden, ist nicht annähernd festzustellen, gering dürfte aber diese Zahl kaum sein. Etwas größere Vorsicht Heiratsbewerbern gegenüber täte dringend not. Der noch immer flüchtige internationale Hochstapler „Graf de Passy“, dessen richtiger Namen Max Schimangk ist, betrieb den Heiratsschwindel im großen. Vermöge seiner imposanten Erscheinung und seines vornehmen Auftretens gelang es ihm, selbst in den feinsten Familien Berlins Eingang zu finden und die Herzen wohlhabender junger Damen im Sturm zu erobern. Und die Eltern hatten sämtlich für den zukünftigen gräflichen Schwiegersohn, der sich natürlich nur ganz vorübergehend in Geldverlegenheit befand, offene Kasse.

Im Frühjahr 1875 war ein englisches neuvermähltes Paar auf der Hochzeitsreise begriffen. Das Paar erregte in Bozen die Aufmerksamkeit des Hotelpersonals und der Hotelgäste. Er, namens Henry Tourville aus London, war ein fescher, bildschöner junger Mann von etwa 25 Jahren, sie etwa 25 Jahre älter. Wohl zeigte ihr Gesicht Spuren dereinstiger Schönheit, sie war aber derartig verblüht, daß man fast zu der Annahme geneigt war, es handle sich um Mutter und Sohn. Er war mittellos, sie hatte jedoch ein großes Vermögen und, wie sich später ergab, den jungen Ehemann testamentarisch zum Universalerben gemacht. Das Paar unternahm Ausflüge in die zum Himmel ragenden Tiroler Alpen. Eines Tages vernahmen Hirten vom Stilfser Joch her einen lauten Aufschrei und in demselben Augenblick einen schweren dumpfen Fall. Kurze Zeit darauf sahen die Hirten einen jungen Mann – es war Tourville – in großer Erregung vom Stilfser Joch herunterkommen. Er erzählte te den Hirten und auch im Hotel: seine Frau sei, als sie sich auf der höchsten Spitze des Stilfser Jochs befanden, infolge Unvorsichtigkeit in die Tiefe gestürzt. Die Leiche der Frau Tourville wurde sehr bald im jähen Abgrund einer Felsenschlucht mit zerschmettertem Schädel gefunden. Da starke Verdachtsgründe vorlagen, daß Tourville seine Gattin gewaltsam hinabgeworfen habe, um sie los zu werden und sich in den Besitz des ihm zufallenden Vermögens zu setzen, wurde er verhaftet und die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er hatte sich im Hochsommer 1875 vor dem Schwurgericht zu Bozen zu verantworten. Tourville beteuerte beharrlich, unschuldig zu sein, seine Gattin sei infolge Unvorsichtigkeit hinabgestürzt. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen: eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen. Sämtliche Prozeßbeteiligte, die Mitglieder des Gerichtshofs, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworene fuhren mit dem Angeklagten an einem wundervollen Sommermorgen nach dem Stilfser Joch. Die Vertreter der Presse hatten sich selbstverständlich angeschlossen. Es war eine Puppe von der ungefähren Größe und Schwere der Frau Tourville hergestellt worden. Diese Puppe wurde auf die Anhöhe gestellt, von der, laut Angabe des Angeklagten, der Sturz erfolgt sein sollte. Es ergab sich, daß ein Hinabstürzen ohne fremde Gewalt unmöglich war. Infolge dieses und anderer Vorkommnisse erlangten die Geschworenen die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten. Er wurde wegen Totschlags zu zwanzig Jahren schweren Kerkers, verschärft mit einem Tage Fasten in jedem Monat, verurteilt.

Kehren wir nun in den Münchener Gerichtssaal zurück. Auf der Anklagebank saß ein mittelgroßer hübscher Mann mit dunklem, wohlgepflegtem Vollbart und etwas gelichtetem Haupthaar. Seine Gesichtszüge ließen auf große Intelligenz schließen. Der Angeklagte nannte sich Dr. med. Gusti Iwan Braunstein. Er war am 20. Februar 1858 in Wipperfürth bei Köln geboren und evangelischer Konfession. Dieser Mann, der sich die Heilung der Menschheit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, war einer der kaltblütigsten und grausamsten Raubmörder. Er hat den Mord aber in so raffinierter Weise begangen, daß es unmöglich war, ihn des Mordes auch nur anzuklagen. Dr. Braunstein hatte beim Rheinischen Jägerbataillon sein Jahr abgedient und alsdann in Bonn und München Medizin studiert. 1889 machte er in Bonn das Staatsexamen. Er war zunächst Volontärarzt an der chirurgischen Klinik in Breslau, später im mikroskopischen Institut in Bonn. Zu dieser Zeit wurde er zum Leutnant der Reserve ernannt. 1890 wurde er in Bonn wegen Unterschlagung und Betruges zu 3 Jahren Gefängnis, 5 Jahren Ehrverlust und 900 Mark Geldstrafe verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe wurde er Schiffsarzt, alsdann praktischer Arzt in Bebra, Sangerhausen und Halle a.d.S. Im August 1900 ließ er sich in München als praktischer Arzt, gleichzeitig als Spezialarzt für Nasen-, Hals- und Ohrenkrankheiten nieder. In Halle lernte er ein hübsches junges Mädchen, namens Minna Wege, kennen. Am 16. September 1905 verlobte er sich mit der Wege, und am 15. November 1903 fand die Vermählungsfeier statt. Bald darauf begab sich das neuvermählte Paar auf die Hochzeitsreise. Am 26. November 1903 starb plötzlich Frau Dr. Braunstein in Lugano. Die Todesursache konnte gerichtlich nicht festgestellt werden, da Dr. Braunstein die Leiche sofort in Lugano hatte verbrennen lassen. Er behauptete, es sei der Wunsch seiner Frau gewesen, in dieser Weise bestattet zu werden. Eine Reihe schwerwiegender Verdachtsgründe sprachen aber dafür, daß Dr. Braunstein seine Frau vergiftet hatte, um sich in den Besitz ihres nicht unbeträchtlichen Vermögens zu setzen. Auf Antrag der Münchener Staatsanwaltschaft wurde er in Lugano verhaftet und nach längeren diplomatischen Verhandlungen an das Landgericht München I ausgeliefert. Die Anklage wegen Mordes konnte jedoch, da der Leichnam verbrannt war, nicht erhoben werden. Dagegen hatte die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen Urkundenfälschung und Betruges erhoben, da der Verdacht bestand: stand: Dr. Braunstein habe die Handschrift seiner Frau nachgeahmt, um den Halleschen Bankverein zu beauftragen: das dort deponierte Vermögen seiner Frau im Betrage von 120000 Mark an die Filiale der Deutschen Bank in München zu überweisen.

Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Federkiel. Die kgl. Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Dimroth. Die Verteidigung hatte Justizrat Max Bernstein (München) übernommen.

Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin vollständig unschuldig. Alle Schriftstücke, die ich geschrieben habe, schrieb ich in vollem Einverständnis, ja im Auftrage meiner Frau.

Vors.: Sie haben hier ein Grundstück besessen; das wurde, da die bei Ihnen vorgenommene Pfändung fruchtlos ausgefallen war, meistbietend versteigert?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sofort nach Ihrer Hochzeit unternahmen Sie mit Ihrer Frau eine Hochzeitsreise. Sie fuhren zunächst nach der Schweiz und von dort nach Italien. Am 12. November 1903, also drei Tage vor Ihrer Vermählung, war zwischen Ihnen und Ihrer Frau ein Ehevertrag geschlossen worden, wonach Sie im Falle des Todes Ihrer Frau die Hälfte ihres Vermögens erben sollten. Zunächst sollte jedoch das Vermögen im Besitz Ihrer Frau bleiben, zumal Sie ja doch eine auskömmliche Praxis hatten. Sie waren aber von Anfang fang an bemüht, sich in den Besitz des Vermögens Ihrer Frau zu setzen.

Angekl.: Ich habe nichts getan, ohne das volle Einverständnis meiner Frau.

Vors.: Ich habe Ihnen aber doch soeben den Ehevertrag, den Sie mit Ihrer Frau drei Tage vor der Hochzeit geschlossen haben, vorgehalten.

Angekl.: Ein solcher Vertrag kann doch geändert werden.

Vors.: Ihre Frau hatte bestimmt, daß ihr Vermögen im Depot des Halleschen Bankvereins bleiben solle. Kaum waren Sie aber verheiratet, da schrieben Sie an den Halleschen Bankverein, unter Nachahmung der Handschrift Ihrer Frau: das ganze Depot solle an die Bayerische Filiale der Deutschen Bank in München überwiesen werden.

Angekl.: Meine Frau hatte es sich inzwischen anders überlegt.

Vors.: Weshalb schrieb alsdann nicht Ihre Frau an den Halleschen Bankverein?

Angekl.: Meine Frau war krank, und zwar nicht bloß körperlich, sondern auch psychisch.

Vors.: Sie behaupten, Ihre Frau sei so krank gewesen, daß sie nicht die paar Zeilen an den Halleschen Bankverein schreiben konnte?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Es wird Ihnen von Zeugen gesagt werden, daß das nicht wahr ist; Ihre Frau war am 16. November 1903 nicht krank, sie hat sogar an diesem Tage einen längeren Brief an eine Freundin geschrieben. Hier ist dieser Brief.

Der Vorsitzende verlas den Brief und äußerte: Es ist doch sehr merkwürdig, daß Ihre Frau einen solchen langen Brief, aber nicht ein paar Zeilen an den Halleschen Bankverein schreiben konnte.

Angekl.: Meine Frau war jedenfalls im Augenblick nicht disponiert und hat mir daher den Brief diktiert.

Vors.: Sie schrieben nun an die „Hallesche Vereinsbank“, während das Vermögen Ihrer Frau im „Halleschen Bankverein“ deponiert war.

Angekl.: Das war ein Schreibfehler.

Vors.: Es ist kaum möglich, daß Ihre Frau sich eines solchen Irrtums schuldig gemacht haben soll. Ihre Frau war in Halle a.d.S. geboren und hatte seit mehreren Jahren ihr Vermögen bei dem Halleschen Bankverein deponiert. Ihre Frau hat seit Jahren mit dem Halleschen Bankverein verkehrt, da ist ein solcher Irrtum kaum möglich.

Angekl.: Ein solcher Irrtum ist in der Eile immer möglich. Ich habe selbst 2 Jahre in Halle gelebt und kannte den Halleschen Bankverein ganz genau.

Vors.: Weshalb fälschten Sie die Handschrift Ihrer Frau?

Angekl.: Ich habe die Handschrift meiner Frau nicht gefälscht, meine Frau sagte, ich solle ihre Handschrift nachahmen.

Vors.: Sie haben sogar Übungen zwecks Nachahmung der Handschrift Ihrer Frau vorgenommen.

Angekl.: Das geschah alles im Einverständnis meiner Frau. Meine Frau wollte, daß ich alle ihre geschäftliche Korrespondenz führe.

Vors.: Es ist nur wunderbar, daß Ihre Frau zur Zeit noch ganz munter war und an Bekannte und Verwandte längere Briefe geschrieben hatte.

Angekl.: Das psychische Befinden meiner Frau war jedenfalls ein derartiges, daß sie Geschäftsbriefe nicht schreiben wollte.

Staatsanw.: Bei jeder Bank muß die Handschrift des Deponierenden hinterlegt sein, damit die Bank die Garantie hat, daß Auszahlungen nur auf Anweisung des Deponierenden gegeben werden. Sie haben nun die bei der Bayerischen Filiale der Deutschen Bank in München zu hinterlegende Handschrift Ihrer Frau ebenfalls gefälscht?

Angekl.: Das geschah auch mit Erlaubnis meiner Frau.

Vors.: Das ist höchst merkwürdig. Sie schrieben an die Bayerische Filiale der Deutschen Bank: Sie solle 21900 preußische Konsols verkaufen und den Erlös an Dr. Braunstein nach Lugano schicken. Nachdem Sie das Geld erhalten hatten, sandten Sie 600 Mark an die Filiale der Deutschen Bank mit dem Ersuchen, eine Stahlkammer für Sie und Ihre Frau zu errichten.

Angekl.: Das geschah alles im Auftrage meiner Frau.

Staatsanw.: Weshalb haben Sie gerade solch sichere Papiere wie preußische Konsols verkaufen lassen?

Angekl.: Preußische Konsols geben sehr wenig Zinsen, es gibt andere, ebenfalls ganz sichere Papiere, die mehr Zinsen geben.

Vors.: Sie schrieben nun wiederum mit gefälschter Handschrift Ihrer Frau an die Filiale der Deutschen Bank: sie solle für Ihre Frau und Sie ein gemeinsames Konto errichten. Am 26. November 1903 schrieb die Filiale der Deutschen Bank an Ihre Frau: Sie solle doch einmal persönlich nach München kommen. Dieser Brief ist laut Poststempel am 26. November 1903 auf dem Postamt München 6, zwischen 7 bis 8 Uhr abends, zur Post gegeben, und wie der Portier des Hotels Winter in Lugano bekundet hat, am Morgen des 27. November 1903 angekommen. Am 26. November 1903, abends gegen 11 Uhr, ist aber Ihre Frau gestorben. Am 27. November 1903, also nachdem Ihre Frau bereits tot war, schrieben Sie an die Filiale der Deutschen Bank in München: „Meine Frau ist krankheitshalber nicht in der Lage, nach München zu kommen. Ich werde dagegen in den nächsten Tagen zu Ihnen kommen. Ich ersuche Sie, für uns gemeinschaftlich eine Stahlkammer zu errichten, da wir Preziosen und Silberzeug hinterlegen wollen.“ Ich bemerke wiederholt, Ihre Frau war, als Sie diesen Brief schrieben, bereits tot.

Angekl.: Ich wollte den Tod meiner Frau nicht bekannt werden lassen.

Vors.: So, so, Sie wollten den Tod Ihrer Frau nicht bekannt werden lassen. Weshalb wollten Sie den Tod Ihrer Frau nicht bekannt werden lassen?

Angekl.: Ich hatte meine Gründe. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Wollen Sie diese Gründe nicht angeben?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie trafen also am 30. November 1903 in München ein und begaben sich zur Filiale der Deutschen Bank. Sie gaben dieser eine Anzahl Dinge in die Stahlkammer ins Depot. Sie haben außerdem versucht, das gesamte Vermögen Ihrer Frau der Bayerischen Vereinsbank zu überweisen. Als man die Stahlkammer untersuchte, fand man in dieser nichts als einige wertlose Papiere, Ihr Leutnantspatent und die Ausweispapiere bezüglich Ihres Übertritts vom Katholizismus zum Protestantismus. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Was veranlaßte Sie, das Vermögen Ihrer Frau von der Filiale der Deutschen Bank an die Bayerische Vereinsbank überweisen zu lassen?

Angekl.: Auch dafür hatte ich meine Gründe.

Vors.: Sie geben doch zu, daß, wenn die bayerische Filiale der Deutschen Bank gewußt hätte, Sie haben die Unterschrift Ihrer Frau gefälscht, sie Ihnen das Depot nicht herausgegeben hätte.

Angekl.: Die Bank mußte das Depot herausgeben, denn ich hatte die Unterschrift nicht gefälscht.

Vors.: Sie schrieben ja auch, als Ihre Frau schon tot war: Ihre Frau kann krankheitshalber nicht nach München kommen.

Angekl.: Das war doch keine Fälschung.

Vors.: Aber ein Betrug.

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Mit welchem Rechte versuchten Sie, sich in den Besitz des Vermögens Ihrer Frau zu setzen?

Angekl.: Ich habe mich nur in den Besitz des Depots gesetzt, dies hatte mir meine Frau vor ihrem Tode überwiesen.

Vors.: In dem Ehevertrag ist aber davon keine Rede.

Angekl.: Das geschah später mündlich.

Vors.: Jedenfalls hatten Sie kein Recht, die Hypotheken-Pfandbriefe Ihrer Frau zu veräußern?

Angekl.: Das habe ich auch nicht getan.

Vors.: Sie haben aber wiederholt den Versuch dazu gemacht. Sie haben in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ inserieren lassen, daß Sie Hypotheken-Pfandbriefe verkaufen wollen, und als Ihnen dies nicht gelang, haben Sie sich an das Bankgeschäft Friedmann & Cie. in Halle a.d.S. mit dem Ersuchen gewandt, die Pfandbriefe zu verkaufen. Friedmann & Cie. antworteten Ihnen: Die Pfandbriefe seien auf den Namen Ihrer Frau ausgestellt, könnten daher nur verkauft werden, wenn Ihre Frau mit Ihrer notariell beglaubigten Unterschrift es genehmigt hat. Darauf schrieben Sie am 2. Dezember 1903 an Friedmann – am 26. November 1903 war Ihre Frau gestorben –: Sie schicken eine Generalvollmacht Ihrer Frau, eine notariell beglaubigte Unterschrift können Sie vorläufig nicht beschaffen, da Ihre Frau sehr krank sei; das würde zum mindesten mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Als Ihnen nun Friedmann antwortete: Die Generalvollmacht genüge nicht, er müsse eine notariell beglaubigte Unterschrift Ihrer Frau haben, da schrieben Sie: Er solle den Verkauf einstweilen unterlassen und die Hypothekenbriefe im Depot behalten; er solle aber größte Verschwiegenheit beobachten, da Sie sonst große Ärgernisse haben könnten. Sie haben alsdann noch mehrfach den allerdings vergeblichen Versuch gemacht, die Hypothekenbriefe zu veräußern. Sie haben außerdem eine Anzahl Ihrer Frau gehörender Schmucksachen veräußert.

Angekl.: Diese hatte mir sämtlich meine Frau geschenkt.

Vors.: Sie hätten sich zweifellos in den Besitz des ganzen Vermögens Ihrer Frau gesetzt, es gelang Ihnen bloß nicht, rechtzeitig fortzukommen.

Angekl.: Das wollte ich auch nicht tun.

Vors.: Es ist höchst charakteristisch, daß Sie am 27. November 1903, also als Ihre Frau höchstwahrscheinlich noch als Leiche im Hotel lag, an eine Dame eine lustige Karte schrieben. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Die Karte lautete: „Geehrte Frau! Der beste Wein, den es hier gibt, ist der ?Medilio?, ich leere soeben ein Glas auf Ihr Wohl.“

Angekl.: Das hat doch keine weitere Bedeutung.

Vors. (mit erhobener Stimme): Angeklagter, diese Karte haben Sie am 27. November 1903, wenige Stunden nach dem Ableben Ihrer Frau, als sie höchstwahrscheinlich noch im Hotel als Leiche lag, geschrieben; das ist doch sehr bezeichnend.

Der Angeklagte schwieg.

Auf Antrag des Verteidigers wurden einige vor dem Tode der Frau geschriebene Karten verlesen. Auf diesen gab der Angeklagte seinem Bedauern über die Krankheit seiner Frau Ausdruck.

Auf einer am 27. November 1903 vom Angeklagten geschriebenen Karte hieß es: Ich werde jetzt meine Frau zur Erholung nach Como schicken. Auf einer am 2. Dezember geschriebenen Karte teilte der Angeklagte einer Bekannten mit: Er werde mit seiner Frau eine Reise nach Süditalien unternehmen.

Im weiteren Vorlauf äußerte der Vorsitzende: Herr Doktor! Ihre Sucht, eine Geldheirat zu machen, geht auch daraus hervor, daß, während Sie im Jahre 1901 in Halle wohnten und bereits mit Ihrer verstorbenen Frau ein Liebesverhältnis unterhielten, Sie noch mehrere andere Bräute suchten. So haben Sie sich z.B. gleichzeitig um die Hand einer Dame, namens Julie Weser, bei Leipzig beworben. Sie haben sich dieser als Dr. Stein, praktischer Arzt in Halle a.d.S. vorgestellt und ihr auch eine Visitenkarte mit dem Namen Dr. Stein, praktischer Arzt, gegeben. Sie müssen also falsche Visitenkarten geführt haben. Ferner haben Sie sich um die Hand einer Tischlersfrau, namens Amalie Sandner, in Halle beworben?

Angekl.: Heiraten wollte ich aber nur Fräulein Minna Wege.

Vors.: Nun im Jahre 1902 kamen Sie nach München und knüpften hier eine ganze Anzahl Beziehungen an. Ein Herr Knauer erließ in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ eine Annonce, welche lautete: „Eine vermögende junge Dame wünscht sich mit einem praktischen Arzt zu verheiraten.“ Darauf haben Sie sich sofort gemeldet. Sie sind im Jahre 1899 vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten. Die junge Dame wollte einen Katholiken heiraten. Sie schrieben deshalb an Knauer: „Sagen Sie der jungen Dame, daß ich Katholik bin. Ich bin von katholischen Eltern geboren, katholisch getauft und erzogen. Ich bin allerdings vor einigen Jahren vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten, ich kann mich aber sehr gut als Katholik ausgeben.“ (Große Heiterkeit im Zuhörerraum.) Einige Zeit darauf schrieben Sie an Knauer: Aus der Ehe kann nichts werden, ich kann eine Frau nicht gebrauchen, deren Eltern noch so jung sind, daß ich vielleicht noch 30 Jahre auf Auszahlung des Vermögens warten muß. (Heiterkeit.) Sie haben alsdann noch eine ganze Reihe von Heiratsverbindungen angeknüpft. Am 14. September 1903 verlobten Sie sich mit Minna Wege, Ihrer verstorbenen Frau, und am 8. Oktober 1903 traten Sie in Beziehungen zu einer geschiedenen Frau in Leipzig. Sie schrieben dieser: „Ich bin überzeugt, daß wir eine gute, glückliche Ehe führen werden. In München wird es Ihnen zweifellos gefallen. München bietet in wissenschaftlicher, künstlerischer und gesellschaftlicher Beziehung so viel Anregung, daß es Ihnen in München sehr gut gefallen wird. Gesellschaftlicher Anschluß ist in München sehr leicht zu erhalten.“ Im weiteren bewarben Sie sich um die Hand einer Dame durch Vermittlung eines Herrn Schülein. Die Dame hatte 30000 Mark auf einem Gute stehen. Von diesem Gelde sollten Sie 10000 Mark bei der Hochzeit, das andere Geld in vier Raten ausbezahlt erhalten. Schließlich muß Ihnen aber diese Summe zu klein gewesen sein. Nachdem Sie der jungen Dame, namens Kegel, eine Zeitlang die zärtlichsten Briefe geschrieben, teilten Sie Herrn Schülein mit: Sie müssen wegen Regulierung einer Erbschaft von der Heirat abstehen. Einige Zeit darauf schrieben Sie an Schülein: Wenn die Dame noch nicht vergeben ist, so seien Sie bereit, sie zu heiraten. Allein Fräulein Kegel scheint Sie durchschaut zu haben. Sie lehnte nunmehr Ihre Bewerbung ab. Aus Rache sandten Sie ihr eine Rechnung für ärztliche Behandlung über 40 Mark.

Angekl.: Aus Rache habe ich der Kegel keine Kostenrechnung geschickt. Ich habe alle diese Bewerbungen nicht in der Absicht gemacht, um die betreffenden Damen zu heiraten.

Vors.: Der Inhalt der Briefe läßt doch keinen anderen Schluß zu.

Angekl.: Heiraten wollte ich nur Minna Wege.

Vors.: Sie haben sich doch aber, nachdem Sie mit Fräulein Wege schon verlobt waren, noch um die Hand anderer Damen beworben. Einer Dame schrieben Sie: „Ich gebe Ihnen die heilige Versicherung, daß ich noch niemals mit einer Dame ein Liebesverhältnis unterhalten habe. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Ich habe weder gesetzliche, noch moralische Verpflichtungen. Die Sache mit Halle ist böswilliger Klatsch.“ Diese Dame hat aber trotzdem die Beziehungen zu Ihnen aufgehoben, und daraufhin haben Sie ihr eine Rechnung für ärztliche Besuche über 200 Mark gesandt. Worauf begründeten Sie diese Forderung?

Angekl.: Ich konnte diese Forderung nicht aufrechterhalten.

Vors.: Das will ich schon glauben, die Erhebung dieser Forderung charakterisiert Sie aber. Am 16. September 1903 haben Sie sich mit Fräulein Wege verlobt. Die Hochzeit wurde zwei Monate später festgesetzt, und trotzdem bewarben Sie sich um die Hand des Fräulein Kratz. Sie traten aber schließlich von dieser Neuverlobung wieder zurück, indem Sie der Dame schrieben: „Ich muß zurücktreten, weil ich erst etwas erledigen muß.“ Aber am 8. November 1903 bewarben Sie sich wieder um Martha Kratz. Und als Ihnen diese sagte: Sie habe Ihr Aufgebot mit Fräulein Wege gelesen, erklärten Sie das als Lüge und sagten: Sie seien „scheußlich gemacht worden“. Kaum hatte Ihre Frau die Augen geschlossen, da bewarben Sie sich von neuem um Martha Kratz und versicherten, Sie seien niemals verheiratet gewesen.

Angekl.: Ich habe niemals gesagt, daß ich nicht verheiratet war.

Vors.: Es hat den Anschein, als wollten Sie so schnell als möglich wieder heiraten, weil Sie den Tod Ihrer Frau verheimlichen wollten, aber doch den Leuten, die Sie für verheiratet hielten, als verheirateter Mann gegenübertreten. Sie haben der Martha Kratz gesagt: die ganze Geschichte mit Halle ist Lüge. Sie waren allerdings verlobt, die Hochzeit war festgesetzt, beim Standesbeamten haben Sie aber anstatt Ja, Nein gesagt. Martha Kratz wollte das jedoch nicht glauben, zumal Sie mit der Heirat zögerten. Die Kratz schlug eventuell eine Trauung im Auslande vor. Sie sagten aber, das gehe nicht, Sie müßten erst noch etwas erledigen, wobei es sich um 50-60000 Mark handelt. Nachher haben Sie auch mit einem Fräulein Hegel Beziehungen angeknüpft und haben mit beiden von Italien aus korrespondiert.

Der Kratz haben Sie einen Verlobungsring geschenkt; es war das der Ehering Ihrer verstorbenen Frau. Aus diesem haben Sie den Namen auskratzen und den Namen der Martha Kratz hineingravieren lassen. Der Angeklagte schwieg.

Es wurden alsdann mehrere Briefe verlesen. In einem Briefe schrieb der Angeklagte an Martha Kratz: Dein Mißtrauen hat mir große Schmerzen bereitet. Ich habe Dir doch mein Ehrenwort gegeben, daß ich frei bin. Bist Du denn der Meinung: ich sei verrückt und werde mich wegen Bigamie bestrafen lassen. Und selbst wenn ich verheiratet gewesen wäre, dann könnte ich heute auch frei sein. Der Brief, der von Liebesbeteuerungen überschäumte, schloß mit den Worten: „Dein Dich aufrichtig liebender, unverheirateter Jean, Junggeselle.“ (Große Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten weiter vor, daß, während er mit der Kratz verlobt war, er mit der Heyl die intimsten Liebesbeziehungen unterhielt.

Der Angeklagte schrieb, während er sich kurz nach dem Tode seiner Frau mit Martha Kratz verlobt hatte, an die Heyl: „Mein kleiner, niedlicher Blondkopf, vertraue mir, einen besseren Mann bekommst Du nicht.“ (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Der Verteidiger wendete ein, die Vorlesung dieser Briefe sei zwecklos, da der Angeklagte nicht die Absicht hatte, eine dieser Damen zu heiraten.

Vors.: Die Briefe sind jedenfalls sehr charakteristisch.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: er habe sich nach dem Ableben seiner Frau schnell wieder verheiraten wollen, um den Tod seiner Frau zu verheimlichen.

Es wurden darauf mehrere Briefe und Karten verlesen, die der Angeklagte, unter Nachahmung der Handschrift seiner Frau, an Verwandte seiner früheren Frau geschrieben hatte.

Angekl.: Das bestreite ich.

Am zweiten Verhandlungstage wurde dem Angeklagten das Testament seiner verstorbenen Frau vorgehalten, laut welchem Frau Dr. Braunstein je die Hälfte ihres Vermögens ihrem Gatten und ihrer Halbschwester schwester Anna Sieber vermacht hatte. Es erschien alsdann als Zeugin Gesellschafterin Anna Heid aus Reichenhall. Es war eine sehr hübsche, junge Dame. Sie hatte sich aber die betrügerischen Manipulationen des Angeklagten, der ihr ebenfalls mittels schriftlichen Vertrages die Ehe versprochen hatte, derartig zu Herzen genommen, daß sie an Herzschwäche und hochgradiger Nervosität litt. Es wurde deshalb allseitig auf ihre Vernehmung verzichtet.

Der folgende Zeuge, Stiftgutspächter aus Sangerhausen, war mit einer Kusine der verstorbenen Frau Dr. Braunstein verheiratet.

Vors.: Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?

Zeuge: Gott sei Dank, nein. (Heiterkeit.) Der Zeuge bekundete: Frau Dr. Braunstein habe als Mädchen viel in seinem Hause verkehrt und ihn auch oftmals um Rat gefragt. Im Auftrage der Frau Dr. Braunstein habe er sich nach den Verhältnissen und dem Vorleben des Dr. Braunstein erkundigt. Er erfuhr, daß Dr. Braunstein schon einmal verlobt war, Dr. Braunstein bezeichnete das aber als unwahr. Die Verlobung des Dr. Braunstein mit Fräulein Wege fand in seinem (des Zeugen) Hause statt. Dr. Braunstein machte dabei einen schüchternen Eindruck.

Vors.: Wie hatte es Fräulein Wege bezüglich ihres Vermögens gehalten?

Zeuge: Ich sagte ihr, sie solle ihr Vermögen sichern. Darauf sagte Fräulein Wege dem Angeklagten in meiner Gegenwart, daß sie sich die Verwaltung ihres Vermögens vorbehalte. Die Verstorbene war überhaupt sehr vorsichtig und mißtrauisch und hat vor der Ehe ihr Vermögen stets selbst verwaltet.

Vors.: Was sagte denn Dr. Braunstein dazu?

Zeuge: Er erklärte sich damit einverstanden. In dem Ehevertrag behielt sich die Verstorbene die Selbstverwaltung und den Nießbrauch ihres Vermögens ausdrücklich vor. Daß Frau Dr. Braunstein ihrem Manne die Vermögensverwaltung nachträglich übertragen habe, halte ich für ausgeschlossen.

Vors.: Wußte Fräulein Wege, daß ihr späterer Mann schon wegen Betruges und Unterschlagung eine mehrjährige Gefängnisstrafe erlitten hatte?

Zeuge: Ich nehme an, daß sie kurz vor der Hochzeit davon Kenntnis erhielt. Ich glaube aber, der Angeklagte hat erklärt: er sei später im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden.

Staatsanwalt: Glaubten Sie, aus dem Verhalten des Angeklagten zu folgern, daß er die Ehe nur aus finanziellen Beweggründen geschlossen hat?

Zeuge: Jawohl, diesen Eindruck hatte ich, Neigung schien der Angeklagte zu Fräulein Wege nicht zu haben.

Angekl.: Es ist richtig, daß meine verstorbene Frau sich vor der Verheiratung das Selbstverfügungsrecht über ihr Vermögen in Gegenwart von Zeugen vorbehalten hat. Ich habe gerade den Vorschlag gemacht, daß sie ihr Vermögen selbst verwalten solle.

Der Onkel der verstorbenen Frau Dr. Braunstein, Gutsbesitzer Christian Brömme aus Asendorf bei Halle, ein Mann von 62 Jahren mit weißem Haar, machte seine Aussage mit tränenerstickter Stimme. Er hatte dem Dr. Braunstein von vornherein mißtraut, weil er dessen Vorstrafen kannte, er habe auch, als er von der bevorstehenden Hochzeit hörte, seine Nichte gewarnt, sie war aber von ihrem Vorhaben absolut nicht abzubringen. Sie war eben in den Angeklagten verliebt. Er (Zeuge) war erst einigermaßen beruhigt, als er hörte, daß sich die Verstorbene die Verfügung über ihr Vermögen ausdrücklich vorbehalten hatte. Fräulein Wege war stets sehr sparsam.

Vors.: Glauben Sie, daß Ihre Nichte sich ihr Geld hätte nach München überweisen lassen?

Zeuge: Das ist der reine Schwindel. Meine Nichte sagte mir eines Abends, sie habe sich nach dem Vorleben des Dr. Braunstein erkundigt und erfahren, daß er noch nicht bestraft sei. Als ich die Nichte nochmals warnte und bei meiner Behauptung, daß er vorbestraft sei, stehen blieb, sagte sie: Nun, dann machen wir eben keine Hochzeit, dann machen wir die Sache im stillen ab.

Es wurde die 42jährige Privatiere Martha Kratz aus München vernommen. Die Zeugin hatte verweinte, abgehärmte Züge. Sie schien völlig gebrochen.

Der Vorsitzende gestattete der Zeugin wegen ihres leidenden Zustandes, während ihrer Vernehmung auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Vors.: Sie scheinen sehr nervös und krank zu sein, ich werde deshalb Ihre Vernehmung so kurz wie möglich machen. Die Zeugin bekundete dann mit kaum vernehmbarer Stimme, daß sie den Angeklagten im September 1903, also zu einer Zeit, als er bereits mit Fräulein Wege verlobt war, kennenlernte. Der Angeklagte machte verschiedene Annäherungsversuche und stattete ihr auch mehrere Besuche in ihrem Hause ab. Dann verschwand er plötzlich, um erst am 11. Dezember 1903 wieder aufzutauchen.

Vors.: Das war also nach dem Ableben seiner Frau. Haben Sie ihm da keine Vorhaltungen gemacht, daß er bereits verheiratet sei?

Zeugin: Jawohl, ich habe ihm das vorgehalten, er erwiderte aber, ich irre mich, er sei nicht verheiratet.

Vors.: Hat er nicht auch gesagt, daß ihm viel daran gelegen sei, sich recht bald mit Ihnen zu verheiraten?

Zeugin: Ja.

Vors.: Sie machten ihm aber wiederholt Vorwürfe?

Zeugin: Ja, ich glaubte ihm nicht, ich hatte von der Halleschen Sache gehört.

Vors.: Sie haben ihn eben für verheiratet gehalten?

Zeugin: Ja. Er blieb aber dabei, daß er sich in Halle nicht verheiratet habe. Er sei allerdings dicht daran gewesen, habe sich die Sache aber nochmals überlegt und im letzten Augenblick auf dem Standesamt Nein statt Ja gesagt. (Heiterkeit.)

Vors.: Wie ist nun die Äußerung des Angeklagten Ihnen gegenüber zu verstehen, daß Sie keine Frau Dr. Braunstein mehr in einem Züricher Sanatorium finden würden?

Zeugin: Ich hatte erfahren, daß eine Frau Dr. Braunstein dort krank liegen solle, und fragte den Angeklagten, ob das seine Frau sei.

Eisenbahnsekretärsfrau Auguste Jolle aus Halle: Sie kannte Fräulein Wege seit 16 Jahren. Fräulein Wege habe ihr Vermögen sehr vorsichtig verwaltet und vor ihrer Verheiratung gesagt: Es bleibt alles beim alten, das Geld bleibt in Halle.

Vors.: Glauben Sie, daß das Verliebtsein Fräulein Wege später anders beeinflußt haben könnte?

Zeugin: Nein, dazu war Fräulein Wege zu vorsichtig.

Der nächste Zeuge, der Kaufmann und Agenturgeschäftsinhaber Emil Wege, kannte die Verstorbene seit über 20 Jahren. In seiner Familie äußerte sie bezüglich der Verwaltung ihres Vermögens, daß auch nach der Hochzeit alles beim alten bleibe. Der Zeuge bekundete weiter, es sei seiner Frau auffällig erschienen, daß nach der Hochzeit Mitteilungen von der jungen Frau Dr. Braunstein ausblieben. Wir machten uns schließlich Gedanken und glaubten, daß etwas passiert sein müsse. Wir erfuhren aber bis zum 15. Dezember 1903 nichts. An diesem Tage erhielten wir eine anonyme Mitteilung aus München. Darin hieß es, Frau Dr. Braunstein ist längst tot und auch bereits in einem Krematorium verbrannt.

Zum Schluß der anonymen Karte hieß es: „Betrachten Sie diese Mitteilung als wohlwollend. Eine Freundin der verstorbenen Frau Dr. Braunstein.“

Die Pensionsvorsteherin Adelheid Riebe aus Dresden, die hierauf als Zeugin vernommen wurde, hatte der Frau Dr. Braunstein auf deren Ersuchen während der Hochzeitsreise Sachen nachgeschickt. Frau Dr. Braunstein schrieb ihr einmal, daß sie krank sei, sich aber jetzt wieder besser fühle.

Prokurist August Koltzer, Kassierer im Halleschen Bankverein, hat die Geldgeschäfte des Frl. Wege fast ausschließlich besorgt. Er schilderte die Verstorbene als eine sehr selbständige Dame. Ihr Vermögen, soweit es beim Halleschen Bankverein untergebracht war, betrug etwa 77000 Mark, darunter 50000 Mark in Wertpapieren und 9000 Mark als laufendes Konto. Es sollte hierauf die Privatierswitwe Maria Wagner aus München, gleichfalls ein Opfer des Angeklagten, vernommen werden. Die Dame war aber nicht erschienen; sie hatte ein ärztliches Attest eingesandt, wonach sie hochgradig nervös sei. Deshalb sollte die Aussage, die sie in der Voruntersuchung gemacht hatte, verlesen werden.

Verteidiger Justizrat Bernstein protestierte hiergegen. Diese Zeugin sei so wichtig, daß es durchaus notwendig sei, sie in Gegenwart des Angeklagten zu vernehmen.

Staatsanw.: Ich lege keinen besonderen Wert auf diese Zeugin.

Dienstmädchen Bertha Zellner, früher Dienstmädchen bei Dr. Braunstein in München, bekundete, Dr. Braunstein sei am 18. November 1903 mit seiner Frau in München eingetroffen.

Staatsanw.: Hat Ihnen der Angeklagte nicht, als er die Hochzeitsreise antrat, den Auftrag erteilt, Sie sollten auf Anfrage nur angeben, daß er verreist sei?

Zeugin: Ja, das sagte er. Er verschwieg auch, daß er verheiratet sei. Ich wußte es, ich durfte es aber niemandem sagen. Die Zeugin gab dann noch an, daß Dr. Braunstein inzwischen Instrumente verkauft hatte. Es gewann den Anschein, als ob er seine Praxis überhaupt aufgeben wolle.

Vors.: Hatte der Angeklagte zu dieser Zeit die Absicht, die Praxis aufzugeben?

Zeugin: Ich durfte wenigstens keinen Patienten mehr hereinlassen. Am 29. November 1903 ist der Angeklagte ohne seine Frau nach München zurückgekehrt.

Angekl.: Ich möchte dazu bemerken, daß ich öfter Instrumente verkauft habe.

Vors.: Es soll auch nur bewiesen werden, daß Sie beabsichtigten, nachdem Sie das Vermögen Ihrer Frau an sich gebracht hatten, das Weite zu suchen.

Die Hausmeisterin und Telephonarbeitersfrau Marie Saffer aus München bekundete: Der Angeklagte habe ihr gesagt, daß die Möbel aus der Wohnung später wieder abgeholt werden würden. Weihnachten 1903 erschien der Angeklagte dann mit einer Dame in der Wohnung, die sehr auffallend gekleidet war.

Altertumshändler Etbauer und der Trödler Strumpf aus München bekundeten, daß Dr. Braunstein Anfang Dezember 1903 an sie wegen Verkaufs von Möbeln, Schmucksachen, Bildern und sonstigen Gegenständen herangetreten sei. Der Verkauf eines Teiles der Sachen wurde auch perfekt.

Max Böttiger, Prokurist der bayerischen Filiale der Deutschen Bank in München, bekundete: Die Eröffnung eines Kontos für Dr. Braunstein bei der Filiale der Deutschen Bank sei am 19. November 1903 erfolgt. In den nächsten Tagen ging dann das Depot ein. Es sollte gemeinschaftlich für Dr. Braunstein und für seine Frau gebucht werden. Er habe das Depotüberweisungsformular weisungsformular am 26. November 1903, also dem Todestage der Frau Dr. Braunstein, nach Lugano geschickt. Am 30. November bereits wurde das gesamte Depot, soweit es noch vorhanden war, behoben. Der Zeuge bestätigte die verschiedenen Fälschungen, die der Angeklagte unter dem Namen seiner Frau gegenüber der Filiale der Deutschen Bank gemacht habe.

Vors.: Würden Sie dem Angeklagten irgend etwas ausgehändigt haben, wenn Sie gewußt hätten, daß er die Handschrift und die Unterschrift seiner Frau gefälscht hat?

Zeuge: Niemals hätte ich das getan.

Vors.: Wenn er gesagt hätte, er handle im Auftrage seiner Frau.

Zeuge: Dann hätte er sich darüber ausweisen müssen.

Otto Schwarzmeier, Beamter der Bayerischen Vereinsbank in München, bekundete, daß von dem Angeklagten am 2. Dezember 1903 zwei Depots im Gesamtwerte von 23000 Mark bei der Bayerischen Vereinsbank eingezahlt worden seien. Schon am 5. Dezember erschien Dr. Braunstein persönlich bei der Vereinsbank und hob 6000 Mark ab, am 12. Dezember erschien er wieder und erhob 17000 Mark, das Depot war also hiermit erschöpft. Am 17. Dezember wurde dann von dem Bankgeschäft Friedmann & Cie. in Halle an die Bayerische Vereinsbank die Summe von 900 Mark für das Konto des Dr. Braunstein überwiesen. Am 23. Dezember erschien Dr. Braunstein nochmals und übergab gegen 40000 Mark zur Aufbewahrung. Er sagte hierbei, die Gelder sollten für seine Rechnung in Depot genommen werden. Er fügte hinzu, daß er verreisen müsse und noch Nachricht geben werde, wohin ihm der Depotschein gesandt werden solle. Auf einer Postkarte bat Dr. Braunstein später auf Grund des Depotgesetzes ausdrücklich um Diskretion. Die Bayerische Vereinsbank schrieb zurück, das sei selbstverständlich, Dr. Braunstein möchte aber nicht per Postkarte solche Bemerkungen machen.

Kaufmann und Bankagent Hermann Hahn (München): Auf Veranlassung des Angeklagten sei er im Dezember 1903 telephonisch mit diesem in Verbindung getreten. Dr. Braunstein verlangte von ihm einen Prospekt über südafrikanische Minenwerte und habe auch tatsächlich Auftrag gegeben, und zwar unter dem 10. Dezember, für 20000 Mark solche Minenwerte zu kaufen. Am 12. Dezember müßte er (Zeuge) noch für 8000 Mark Pfandbriefe für den Angeklagten kaufen. Am 11. Juni 1904 kam noch eine Karte des Angeklagten an den Zeugen, in der er beauftragt wurde, die Stücke zu verkaufen. Da er aber inzwischen gehört hatte, daß hinter dem flüchtigen Dr. Braunstein ein Steckbrief erlassen war, hielt er sich für verpflichtet, von dieser Karte der Staatsanwaltschaft Mitteilung zu machen.

Juwelier Theodor Schallmeyer: Er hatte sein Juweliergeschäft in der Maximilianstraße, in demselben Hause, wo der Angeklagte wohnte. Dr. Braunstein kam am 2. Dezember 1903 in seinen Laden und brachte ihm verschiedene Damenschmuckgegenstände im Werte von etwa zusammen 2000 Mark. Ein Schmuck mit zwei Brillanten hatte einen Wert von ca. 700 Mark. Dieser Schmuck wurde zu einer Schlange verarbeitet. Aus einem Damenring, dessen Wert er auf 400 Mark bezifferte, mußte er Manschettenknöpfe anfertigen. Ein Damentrauring, wie sich später herausstellte, der Ring der Frau Dr. Braunstein, befand sich ebenfalls dabei. Ferner war noch eine goldene Kette, ein Armband und eine goldene Sicherheitsnadel dabei, letztere zwecks Einschmelzens. Der Trauring trug die Inschrift: „November 1903“, welcher Tag eingraviert war, wisse er nicht mehr. Dr. Braunstein beauftragte ihn, die Eingravierung herauszunehmen, da es in Norddeutschland nicht Sitte sei, das Datum der Hochzeit in die Trauringe einzugravieren. (Heiterkeit.)

Vors.: Mußten Sie nicht einmal einen der Schmuckgegenstände zu einer Dame tragen?

Zeuge: Ja, ich mußte einen der Gegenstände zu einem Fräulein Kratz nach dem Fränkischen Hof schicken. (Es handelte sich um die Privatiere Martha Kratz, der der Angeklagte späterhin, wie festgestellt worden ist, den Trauring seiner Frau als Verlobungsring geschenkt hatte, nachdem die Eingravierung entfernt war.) Der Zeuge bekundete noch, daß der Angeklagte ihm den Auftrag für Fräulein Kratz am 27. November 1903 aus Linden gegeben habe.

Die Pensionsinhaberin Adelheid Riebe aus Dresden bekundete, daß sie die Verlobungsringe zwar nicht selbst gesehen habe, aber Frau Dr. Braunstein habe ihr gesagt, daß das Datum der Hochzeit in die Ringe eingraviert worden sei.

Am dritten Verhandlungstage nahm das Wort Staatsanwalt Dimroth: Der Angeklagte steht unter dem schweren Verdacht des Gattenmordes. Das Verfahren ist dieses Verbrechens wegen bereits eingeleitet, die Entscheidung der Beschlußkammer steht jedoch noch aus. Die Frage, ob der Angeklagte seine junge Frau auf der Hochzeitsreise vergiftet hat, ist deshalb nicht Gegenstand der Beweisaufnahme in dieser Verhandlung gewesen. Ich muß mich also aus prozessualen Gründen einer Erörterung der Frage, ob der Angeklagte ein Giftmörder ist, enthalten und diese Frage nur soweit streifen, wie sie mit den Straftaten, wegen der er jetzt angeklagt ist, in unmittelbarem Zusammenhange steht. Der Angeklagte lernte seine spätere Frau, Fräulein Wege, bereits 1893 in Bebra kennen. nen. Zehn Jahre später heiratete er die junge Dame, augenscheinlich lediglich in der Absicht, sich ihres 120000 Mark betragenden Vermögens zu bemächtigen. Die erste betrügerische Manipulation war der Brief vom 18. November 1903 an den Halleschen Bankverein. Dieser erste Schritt führte ihn allerdings noch nicht zum Ziele; denn es gelang dadurch noch nicht die Übertragung des Depots vom Halleschen Bankverein an die Filiale der Deutschen Bank in München auf gemeinsames Konto. Die Überweisung geschah vielmehr noch auf den Namen der verstorbenen Frau des Angeklagten. Entscheidend war erst das Depot-Übergabe-Verzeichnis der Filiale der Deutschen Bank. Dies versah der Angeklagte erst noch nach dem Tode seiner Frau mit dem Vermerk: „Jeder der Kontrahenten darf selbständig über das Vermögen verfügen.“ Dieses Schriftstück versah Dr. Braunstein mit dem Namen seiner verstorbenen Ehefrau, dadurch kam er in die Lage, allein über das gesamte Vermögen seiner Frau zu verfügen. Schon am 27. November 1903, also einen Tag nach dem Tode seiner Frau, schrieb der Angeklagte an die Filiale der Deutschen Bank in München, daß er die in Depot gegebenen Stücke zurückziehe, in den nächsten Tagen würde er selbst bei der Bank vorsprechen. Schließlich war auch der Brief an das Bankhaus Friedmann & Cie. in Halle a.S. charakteristisch, in dem er den Verkauf der Hypotheken potheken im Betrage von 44000 Mark in die Wege leiten wollte. Er schrieb an das Bankhaus: Die Beibringung einer notariellen Urkunde würde auf Schwierigkeiten stoßen und das unangenehmste Aufsehen machen. Eine ganz besonders gefühlvolle Handlung des Angeklagten war auch die Schenkung des Traurings seiner wenige Tage vorher verstorbenen Frau als Verlobungsring an die Privatiere Martha Kratz. Bei Unterschreibung des Formulars, das ihm die Filiale der Deutschen Bank in München zur Ausfüllung sandte, mußte der Angeklagte das Bewußtsein seiner rechtswidrigen Absicht haben. Die Unterschriften auf diesem Formular haben doch nur ganz allgemein den Zweck, die Originalunterschrift zur Vergleichung mit späteren Unterschriften zu besitzen. Der Angeklagte sagt: er habe sich für berechtigt gehalten, auch nach dem Tode seiner Frau die Vollmacht mit ihrem Namen zu unterzeichnen. Jedermann, insbesondere ein gebildeter Mann, weiß, daß eine gegebene Vollmacht mit dem Tode erlischt. Für die Schuld des Angeklagten spricht weiter, daß er ganz allgemein, gegenüber den Banken wie gegenüber den Verwandten, den Tod seiner Frau zu verheimlichen suchte. Die Beweisaufnahme ließ auch klar erkennen, daß der Angeklagte nach Erlangung des Vermögens seiner Frau sich nach dem Auslande wenden wollte. Der Staatsanwalt schilderte sodann eingehend den Charakter des Angeklagten.

Der Angeklagte, so fuhr der Staatsanwalt fort, hat sich in vielen Fällen in der schamlosesten und gemeinsten Weise gezeigt. Er wurde bei allen seinen Verbindungen mit Heiratsvermittlern nur von der Absicht geleitet, möglichst viel Geld zu erlangen. Er legte sich falsche Namen bei und verehrte mehrere Damen gleichzeitig. Bei einer Münchener Dame hat er sich nicht gescheut, mit dem Herrn, mit dem sie früher verkehrte, wegen einer Abfindungssumme im Falle seiner Verheiratung mit ihr in Verbindung zu treten, um möglichst viel herauszuschlagen. Als aus seiner Heirat mit dieser Dame schließlich nichts wurde, scheute er sich nicht, dieser eine Arztrechnung über 200 Mark zu senden. Dazu kommen die zahlreichen, recht bedenklichen Briefe des Angeklagten. Er verlobte sich mit der langjährigen Geliebten eines anderen Herrn und schrieb gleichzeitig die zärtlichsten Briefe an seine spätere Frau. Der Angeklagte hat jedenfalls mit den verwerflichsten Mitteln gearbeitet. Daß der Angeklagte seine Ehefrau ermordet hat, ist im Augenblick noch nicht mit Sicherheit zu erweisen. Aber ich glaube an der Hand des vorliegenden Materials sagen zu können, die Möglichkeit, daß er seine Frau ermordet hat, ist durch die zweitägige Verhandlung sehr nahegelegt. Die heutige Anklage muß ich nach allem, was die Beweisaufnahme ergeben hat, in vollem Umfange aufrechterhalten. Ich unterscheide zwei Gruppen von Straftaten: die Gruppe der Urkundenfälschungen und zwei Fälle der versuchten Urkundenfälschung und des Betruges. Zu der ersten Gruppe gehört der Brief vom 18. November an den Halleschen Bankverein. In die zweite Gruppe fallen die verschiedenen weiteren Schriftfälschungen. Ich komme nun zum Strafmaß. Mildernde Umstände scheiden nach meiner Überzeugung hier völlig aus. Im Gegenteil, es spricht alles zuungunsten des Angeklagten. Ich erinnere nur an die krasse Gewinnsucht und die Gemeinheit des Charakters und endlich auch an die Vorstrafen des Angeklagten. Ich glaube, die Verhandlung hat ein Bild entrollt, das selbst diejenigen, die gewohnt sind, sich von Berufs wegen mit den Schattenseiten des Lebens zu beschäftigen, mit Entrüstung erfüllt. Ich beantrage für den Brief vom 18. November 1903 an den Halleschen Bankverein eine Zuchthausstrafe von vier Jahren und 3000 Mark Geldstrafe, eventuell noch 200 Tage Zuchthaus. Für die zahlreichen, fortgesetzten Urkundenfälschungen im Zusammenhang mit dem Verbrechen des Betrugs beantrage ich fünf Jahre Zuchthaus und 3000 Mark Geldstrafe, eventuell noch 200 Tage Zuchthaus. Ich beantrage weiter, beide Strafen in eine Strafe von acht Jahren Zuchthaus und 6000 Mark Geldstrafe, eventuell noch 400 Tage Zuchthaus, zusammenzufassen. Außerdem beantrage ich, dem Angeklagten die bürgerlichen Ehrenrechte auf zehn Jahre abzuerkennen und ihn in die Kosten des Verfahrens zu verurteilen.

Der Verteidiger, Justizrat Bernstein, suchte in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte nicht schuldig sei, daß ihn zum mindesten die Schuld, daß er Urkundenfälschung und Betrug begangen, nicht nachgewiesen sei. Der Angeklagte müsse daher freigesprochen werden.

Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu sieben Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust, mit etwa folgender Begründung: Nach der Überzeugung des Gerichts sind die Angaben des Angeklagten unwahr. Es steht fest, daß die Fälschungen vom Angeklagten noch nach dem Tode seiner Frau begangen wurden. Es steht ferner fest, daß von dem Angeklagten mit Verheimlichungen gearbeitet worden ist. Der Gerichtshof nimmt an, es ist unwahr, daß Frau Dr. Braunstein nicht habe schreiben können und wollen. Es steht vielmehr fest, daß sie am 18. November noch korrespondiert hat und auch noch weiter bis Bellinzona korrespondierte. Es ist ferner unwahr, daß die Frau den Angeklagten ermächtigt hat, für sie die Unterschriften zu leisten. Nach dem Charakter der Verstorbenen ist das ganz ausgeschlossen. Es ist auch ausgeschlossen durch die Vereinbarungen, welche die Verstorbene selbst nach der eidlichen Aussage des betreffenden fenden Korrespondenten noch kurz vor der Hochzeit mit dem Halleschen Bankverein getroffen hat. Es ist ferner unwahr, daß die Verstorbene vor der Hochzeit beim Halleschen Bankverein die Eröffnung eines gemeinsamen Kontos beantragt hat. Weiter ist diese Angabe widerlegt durch den Ehevertrag vom 11. November, in welchem der Ehemann ausdrücklich von der Verwaltung und Nutznießung des Vermögens ausgeschlossen ist. Dazu kommt noch, daß der Angeklagte den Tod seiner Frau sowohl den Banken wie den Verwandten und sonstigen Personen gegenüber vollständig verschwiegen hat. Aus allen diesen Gründen ist der Gerichtshof zu der Überzeugung gekommen, daß der Angeklagte sich nicht nur objektiv schuldig gemacht hat, sondern auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit seiner Handlungen gehabt hat. Es sind daher alle Voraussetzungen der Urkundenfälschung gegeben. Es liegen zwei verschiedene Verbrechen vor. Der Brief vom 18. November an den Halleschen Bankverein und alsdann die verschiedenen Einzelverbrechen gegenüber der Filiale der Deutschen Bank. Was die Strafabmessung anlangt, so ist zu berücksichtigen die Höhe des Schadens und die große Verwerflichkeit seines Tuns, die Hartnäckigkeit in der Ausführung, die Schlechtigkeit seines Charakters, die auch daraus hervorgeht, daß er seine Frau sofort, nachdem sie ihm angetraut war, hintergangen hat. Mit Rücksicht hierauf wird der Angeklagte wegen der Fälschung gegenüber dem Halleschen Bankverein zu drei Jahren und wegen der vier anderen Fälschungen gegen die Filiale der Deutschen Bank, die sich als fortgesetzte Händlungen darstellen, zu vier Jahren sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Beide Strafen werden zu einer Gesamtstrafe von sieben Jahren Zuchthaus zusammengezogen. Mit Rücksicht auf die ehrlose Gesinnung des Angeklagten wird auf Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf zehn Jahre erkannt.

Der Angeklagte nahm das Urteil mit größter Ruhe entgegen. Er wird, da er meines Wissens auf das Rechtsmittel der Revision verzichtet hatte, Mitte April 1912 aus dem Zuchthause entlassen, also wieder auf die Menschheit losgelassen werden. Mögen alle jungen Frauen und Mädchen vor diesem grausamen und kaltblütigen Verbrecher gewarnt sein.

Die Oldenburgischen Spielerprozeße

Minister Ruhstrat

Ungemein zahlreich sind die menschlichen Leidenschaften. Der Fortschritt der Kultur hat glücklicherweise auch in dieser Beziehung etwas bessernd gewirkt. Die Bemühungen, den Dämon Alkohol zu bekämpfen, sind zweifellos nicht ohne Erfolg geblieben. Eine der größten Geißeln der Menschheit ist unbedingt die Trunksucht. Wie viele Familien durch den Schnapsteufel gesundheitlich, moralisch und materiell ruiniert worden sind, läßt sich auch nicht annähernd feststellen. Vor etwa 50 Jahren war es gar nichts Auffälliges, daß in kleinen Städten und auf dem platten Lande, insbesondere Sonnabend und Sonntag abends, die Rinnsteine mit sinnlos Betrunkenen gefüllt waren. Aber auch in den Großstädten war die Zahl der Trunkenbolde keine geringe. Selbst in Berlin begegnete man vor etwa 30 Jahren, besonders in den Vorstädten, am Sonnabend und Sonntag abend zahllosen Betrunkenen. Wohl ist das Laster der Trunksucht zum großen Schaden der Menschheit immer noch sehr arg. Es gibt selbst in Deutschland zahlreiche Gegenden, in denen unvernünftige Mütter ihren schreienden Säuglingen mit Schnaps gefüllte Lutschbeutel geben, um sie zu beruhigen. Welch furchtbare Verheerungen dadurch angerichtet werden, ist kaum zu schildern. Allein, wie oben bereits angedeutet, es ist in dieser Beziehung bedeutend besser geworden. Es ist allmählich die Erkenntnis durchgedrungen, daß der Alkohol, sei es in Form von Schnaps sowie übermäßigem Bier-oder Weingenuß, nicht nur eine Schwächung des Körpers und des Gehirns verursacht und zu den verheerendsten Krankheiten, wie Delirium, Geistestrübung usw. führt, die Menschheit ist auch, entgegen der früheren allgemeinen Annahme, zu der Erkenntnis gelangt, daß der Alkoholgenuß weder zur Verdauung noch zur Erwärmung des Körpers beiträgt, sondern die gegenteilige Wirkung hat. Ebenso hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß der Alkoholgenuß auf die Nachkommenschaft geradezu eine verheerende Wirkung ausübt, das Gedächtnis sowie die körperliche und geistige Arbeitskraft ungemein schwächt und zur Verrohung führt. Die Bestrebungen der Gesellschaften zur Bekämpfung des Mißbrauchs geistiger Getränke, die internationalen Antialkoholvereinigungen und -kongresse haben jedenfalls sehr segensreich gewirkt. Die Zahl der Gewohnheitstrinker hat sich jedenfalls ganz bedeutend verringert. In Berlin und vielen anderen Städten gibt es zahlreiche Abstinentenvereine aller Art. Ungemein zahlreich sind in Berlin die Arbeiter- und Arbeiterinnen-Abstinentenvereine. Aber auch unter der studierenden Jugend haben die Trinksitten eine bedeutend mildere Form angenommen. Soviel mir bekannt, gibt es auch in Berlin und vielen anderen Universitätsstädten abstinente Studentenvereine. Sehr wirksam haben sich in dieser Beziehung die mehrfachen Aufforderungen des Kaisers zur Mäßigung im Alkoholgenuß erwiesen. Zahlreich sind auch in Berlin und anderen Großstädten die Arbeiterlokale, in denen jeder Alkoholgenuß streng verpönt ist und nur alkoholfreie Getränke verabreicht werden. Obwohl auf den sozialdemokratischen Parteitagen der Alkoholgenuß als Privatsache erklärt worden ist, so wurde doch schon vor vielen Jahren von abstinenten Sozialdemokraten, deren Zahl keine geringe ist, auf fast allen Parteitagen der Antrag gestellt, die Alkoholfrage auf die Tagesordnung zu stellen. Es ist auch den Abstinenten schließlich gelungen, mit ihrem Antrage durchzudringen. Auf dem sozialdemokratischen Parteitage 1906 zu Mannheim wurde beschlossen, die Alkoholfrage auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen. Der sozialdemokratische Parteitag 1907 zu Essen a.d.R. hat sich sehr eingehend mit der Alkoholfrage beschäftigt. Es wurde von allen Rednern auf die großen Gefahren des Alkoholgenusses hingewiesen und größte Enthaltsamkeit empfohlen. Auf dem sozialdemokratischen Parteitage 1909 in Leipzig wurde auf Antrag der Breslauer Delegierten einstimmig mig beschlossen, den Schnaps gänzlich zu boykottieren, da er, abgesehen von den Verheerungen aller Art, die Agitationskraft lähme und zur Bereicherung der Schnapsbrenner, die zu den größten politischen Gegnern der Sozialdemokraten gehören, beitrage. Auf dem sozialdemokratischen Parteitage 1911 in Jena wurde beschlossen, den Parteivorstand zu beauftragen, dafür zu wirken, daß die Parteiblätter Schnapsinserate nicht mehr aufnehmen. Da die weitaus große Mehrheit der deutschen Arbeiter Sozialdemokraten sind, so werden diese Beschlüsse gewiß nicht ohne Wirkung bleiben. Auch die Leidenschaft des Tabakschnupfens und des Tabakkauens, deren nachteilige Folgen auf die Gesundheit ebenfalls nicht gering sind, hat mit dem Fortschritt der Kultur eine ganz wesentliche Verringerung erfahren. Die Zahl der Morphinisten soll sich auch ganz wesentlich verringert haben. Dagegen hat die Zahl der Zigarrenraucher, insbesondere der Zigarettenraucher, wesentlich zugenommen. Es ist das um so beklagenswerter, als das sehr gesundheitsschädliche Zigarettenrauchen, das vielfach zur Lungenschwindsucht führt, hauptsächlich unter der heranwachsenden männlichen, zum Teil auch weiblichen Jugend verbreitet ist. Die Ausschreitungen in sexueller Beziehung haben bedauerlicherweise eher zu- als abgenommen, zumal die immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Verhältnisse die Eheschließungen schließungen immer mehr erschweren. Auch die Sittlichkeitsverbrechen aller Art haben sich ganz wesentlich vermehrt. Hoffentlich wird die Erfindung des Professors Dr. Ehrlich und die Bemühungen der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten die Menschheit allmählich von der Geißel der Syphilis und anderer Geschlechtskrankheiten befreien. Eine der schlimmsten Leidenschaften ist zweifellos das Spiel, dem alle Gesellschaftsklassen frönen. Welch verheerende Folgen das Börsenspiel gehabt hat, läßt sich auch nicht annähernd schildern. Die Sucht nach schnellem, mühelosem Gewinn führt, trotz aller Verluste, der Börse immer neue Käuferscharen zu, die, da sie zumeist vollständig unkundig, d.h. weder die politischen noch die Industrie- und Börsenverhältnisse beurteilen können, vielfach große Verluste erleiden. Eine große Anzahl Leute frönt geradezu leidenschaftlich dem staatlich privilegierten Lotteriespiel. Die kleinen Privatlotterien, die Nieten wie Sand am Meere und nur sehr wenige Gewinne im „Glücksrade“ haben, werden von Jahr zu Jahr zahlreicher. Eine wesentliche Verminderung dieser Lotterien wäre im Interesse der Volkswirtschaft sehr zu empfehlen. Am verbreitetsten dürfte das Kartenspiel sein. Solange dies Spiel als bloßes Unterhaltungsspiel betrieben wird, ist gewiß nichts dagegen einzuwenden. Allein die zahlreichen Spielerprozesse haben bewiesen, daß das Kartenspiel tenspiel vielfach zur argen Leidenschaft wird und oftmals geradezu verheerende wirtschaftliche Folgen zeitigt. Es sei nur an den großen Spielerprozeß erinnert, der Ende Oktober und Anfang November 1893 fast volle drei Wochen die Strafkammer zu Hannover beschäftigte, in dem der „olle ehrliche Seemann“, der mit einer Roulette die Lande durchzog, eine gewisse Rolle spielte. (Vgl. Bd. 1.) Nicht minder bemerkenswert war der Spielerprozeß gegen den Klub der Harmlosen, der im Oktober 1899 und November 1900 die vierte Strafkammer des Landgerichts Berlin I mehrere Wochen beschäftigte. Das „Kümmelblättchen“, das vor etwa 30 Jahren noch das beliebteste Spiel der Berliner Bauernfänger war, sobald es ihnen gelang, einen neuangekommenen Provinzialen in ein obskures Berliner Vorstadtlokal, genannt „Kaschemme“, zu verschleppen, scheint nebst den Berliner Bauernfängern fast verschwunden zu sein. Dagegen wird in den gewöhnlichen Lokalen vielfach „Meine Tante, deine Tante“ und „Gerade oder Ungerade“ gespielt. Ungemein verbreitet ist das Wettspiel auf den Rennplätzen, auf denen betrügerische Buchmacher vielfach ihr Wesen treiben. An diesen Wettspielen beteiligen sich selbst viele Frauen und verspielen oftmals ihre letzten Ersparnisse. In den Zuhälter-Kaschemmen und in den Herbergen der Bäckergesellen wird in arger Weise dem Karten- und Würfelspiel gefrönt. frönt. Der Hannoversche Spielerprozeß und der Harmlosenprozeß haben bewiesen, daß junge Offiziere vielfach in schlimmster Weise der Spielleidenschaft frönen. Ein im Mai 1911 vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin I stattgefundener Spielerprozeß wider Mattiske und Genossen hat gezeigt, daß von den besseren Gesellschaftskreisen im Herzen der Reichshauptstadt elegante Salons unterhalten werden, in denen der Eintritt nur unter Angabe eines Stichwortes und Zahlung von mindestens 5 Mark gestattet wird. Ein großes, hochelegantes Büfett, das von jungen Damen bedient wird, sorgt für die leiblichen Bedürfnisse, und eine Roulette sowie eine Reihe Kartenspiele laden aufs freundlichste ein, dem Glücke die Hand zu reichen. Ein Spielernest schlimmsten Grades schien die Residenzstadt Oldenburg zu sein. Das dortige Wochenblatt, der „Residenzbote“, enthielt im Jahre 1903 einige Artikel, in denen mitgeteilt wurde, daß von den Honoratioren Oldenburgs, an ihrer Spitze der frühere Erste Staatsanwalt des dortigen Landgerichts, jetzige Oldenburgische Justiz- und Kultusminister Ruhstrat im Zivilkasino und im Hinterzimmer des Restaurants „Zum tollen Hengst“ viel und hoch hasardiert worden sei. Minister Ruhstrat sei zumeist Bankhalter gewesen. Die Hasardierungen haben es schließlich verursacht, daß ein Referendar wegen vieler Spielschulden sich erschossen habe, und ein junger Assessor aus demselben Grunde nach Amerika ausgewandert sei. Minister Ruhstrat und Landrichter Haake strengten gegen den Redakteur und Herausgeber des „Residenzboten“, Hans Biermann, die Privatklage an. Im „Residenzboten“ war nämlich auch die Behauptung enthalten: die kirchliche Betätigung des Landrichters Haake beruhe auf Heuchelei und Streberei. Das Schöffengericht verurteilte Biermann wegen Beleidigung des Ministers Ruhstrat zu einem Jahre, wegen Beleidigung des Landrichters Haake zu sechs Monaten Gefängnis. Inzwischen wurde festgestellt, daß die inkriminierten Artikel dem „Residenzboten“ von dem Gymnasial-Oberlehrer Dr. Ries, zurzeit in Barmen, eingesandt waren. Der Staatsanwalt erhob deshalb gegen Biermann und Dr. Ries ex officio Anklage wegen Beleidigung des Ministers Ruhstrat und des Landrichters Haake. Dem Minister war außerdem Hasardspiel vorgeworfen, er habe sich von dem Oberlehrer Früstück Geld geliehen und ihn zum Dank dafür zum Gymnasialdirektor in Birkenfeld ernannt. Außerdem hatte Dr. Ries geschrieben: „Der Minister ist auf Staatskosten zu der Tonnen- und Bakenschau nach Bremerhaven gefahren, obwohl doch ein Minister für Kirchen- und Schulwesen von der Betonnung und Befeuerung der Weser nicht das mindeste versteht.“ Im weiteren wurde im „Residenzboten“ behauptet: Minister Ruhstrat habe im Zivilkasino einen Oldenburger Oberlandesgerichtsrat „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt. Den Gerichtshof, vor dem sich Hans Biermann und Dr. Ries Mitte Oktober 1903 zu verantworten hatten, bildeten: Landgerichtsdirektor Bödeker (Vorsitzender), Landgerichtsrat Kitz, Landrichter Becker, Landrichter Dr. Klaue und Gerichtsassessor Dr. Bartels (Beisitzende).

Die Großherzogliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Riesebieter.

Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Greving (Oldenburg) für Dr. Ries, Rechtsanwalt Dr. Sprenger (Bremen) für Biermann.

Verteidiger Rechtsanwalt Greving beantragte nach geschehenem Zeugenaufruf die Ablehnung des ganzen Gerichtshofs wegen Besorgnis der Befangenheit.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich muß ebenfalls den Gerichtshof wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen. Ich habe zunächst den Antrag gestellt, die Hauptverhandlung zu vertagen, da ich mit der Vorbereitung der Verteidigung noch nicht fertig war. Dieser Antrag ist abgelehnt worden. Ich habe aber außerdem den Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt. Der Angeklagte Biermann ist Redakteur und Herausgeber des „Residenzboten“. In diesem ist der ganze Stand der Juristen in Oldenburg wiederholt aufs schärfste angegriffen worden. Ich billige dies Verfahren durchaus nicht. Aber die Tatsache besteht; ich halte deshalb die Mitglieder des hohen Gerichtshofes schon aus psychologischen Gründen für befangen. Ich habe außerdem sämtliche Richter in corpore als Zeugen geladen. Es existiert noch keine Entscheidung, ob ein Zeuge in derselben Sache Richter sein darf. Allein vorgeschrieben ist, daß niemand Richter in einer Sache sein darf, worin er unmittelbar oder mittelbar verletzt ist. Einer der inkriminierten Artikel spricht von Mitgliedern des Oldenburgischen Zivilkasinos. Es darf doch wohl als feststehend angenommen werden, daß sämtliche Richter im Zivilkasino verkehren bzw. verkehrt haben. Deshalb liegt die Notwendigkeit vor, daß die Herren Richter sich selbst als befangen erklären.

Vert. Rechtsanwalt Greving: Ich habe noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens den Antrag auf Ablehnung des Gerichtshofes gestellt. Es war daher gar nicht zulässig, die Verhandlung zu eröffnen und die Zeugen aufzurufen. Unter Wahrung dieses meines Standpunktes will ich den Ablehnungsantrag näher begründen. Laut § 22, Absatz 1 der Strafprozeßordnung ist ein Richter vom Richteramt ausgeschlossen, wenn er durch die strafbare Handlung selbst verletzt ist. Nun wird in dem Artikel mit der Unterschrift „Jeu“ von Dingelfingen gesprochen. Es ist ein öffentliches Geheimnis, daß mit Dingelfingen die Stadt Oldenburg gemeint war. Es heißt in dem Artikel: Es gibt kein ärgeres Spielernest als Dingelfingen, dafür spricht, daß der Gerichtsreferendar Max Dietrich, Sohn des Musikdirektors Dietrich an der Akademie der Künste in Berlin, ein Opfer dieser Spielleidenschaft im Zivilkasino geworden ist, indem er sich wegen Spielschulden erschossen hat. Als zweites Opfer der Spielleidenschaft wird der Gerichtsassessor Hellwarth bezeichnet. Dieser, der sich vor Spielschulden nicht mehr zu retten wußte, hat einen kurzen Urlaub dazu benutzt, um nach Amerika zu gehen. Es heißt weiter in dem Artikel: „Den jungen Referendaren und Assessoren könnten wohl mildernde Umstände zugebilligt werden, zumal die Herren, die als Hüter von Recht und Gesetz berufen sind, ihnen mit bösem Beispiel vorangegangen sind. Im übrigen beeinträchtigt die Teilnahme am Hasardieren in Dingelfingen keineswegs das Avancement, im Gegenteil, es trägt nur noch zur Beförderung bei.“ Es ist doch kein Zweifel, daß die Herren Richter zu den Hütern von Recht und Gesetz gehören. Sie werden mithin ganz direkt durch diesen Artikel beleidigt. Sie sind aber nicht bloß mittelbar, sondern auch unmittelbar verletzt, da der inkriminierte Artikel von dem ganzen Stand der Oldenburger Juristen spricht. Der Artikel wendet sich nicht gegen alle Juristen in Deutschland oder einem Bundesstaat, sondern speziell gegen die Juristen der Stadt Oldenburg. Aus diesem Grunde habe ich die 11 Landrichter, 6 Amtsrichter und 5 Oberlandesgerichtsräte der Stadt Oldenburg, im ganzen 22 Richter, aus Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Daß die hiesigen Richter in der vorliegenden Angelegenheit voreingenommen sind, erhellt auch schon aus der Tatsache, daß der Angeklagte Biermann vom Schöffengericht zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden ist. Dieses außergewöhnlich hohe Strafmaß hat bei der ganzen hiesigen Bevölkerung das größte Befremden erregt. Es würde nur dem Rechtsempfinden des ganzen Volkes entsprechen, wenn die vorliegende Sache an ein anderes Gericht abgegeben würde. Selbst wenn die Herren Richter nicht persönlich verletzt wären, so tragen doch die Bande der Freundschaft, der Verwandtschaft, der Familienverkehr dazu bei, das Urteil zu trüben. Ganz besonders liegt eine solche Gefahr bei Abmessung der Strafe vor. Es liegt aber noch eine Reihe weiterer Gründe vor, die bei der Urteilsfindung eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Herr Dr. Ries ist auch angeklagt, Herrn Landrichter Haake beleidigt zu haben, indem er von ihm behauptete: seine kirchliche Betätigung beruhe auf Heuchelei und Streberei. Wenn ein solcher Vorwurf erhoben wird, dann ist die Besorgnis der Befangenheit begründet. Es muß berücksichtigt werden, daß der Hauptbeleidigte der direkte Vorgesetzte der Herren Richter ist. Aber wenn selbst die Herren Richter sich durch die Angriffe nicht verletzt fühlen und auch Freundschaft, Verwandtschaft usw. nicht als eine Besorgnis der Befangenheit angesehen werden sollten, so ist doch jedenfalls das Standesempfinden verletzt. Fast in jeder Nummer des „Residenzboten“ wird über Mißstände in der Rechtsprechung gesprochen. Es wird einem Schwurgerichts-Vorsitzenden der Vorwurf gemacht, daß er bei Ausgabe von Eintrittskarten Offiziere bevorzugt habe. Es wird über den Militarismus im Richterstand Klage geführt und behauptet, daß Reserveoffiziere bei Anstellung und Beförderung von Richtern bevorzugt worden seien. In einem anderen Artikel wird von einer „Oldenburger Protegé-Wirtschaft“ gesprochen, es wird gesagt: der oberste Grundsatz der Oldenburger Behörden sei Maul halten. Es wird bemerkt, daß eine offene Spielhölle in Oldenburg geduldet werde, weil hier die Vetternschaften dominieren. Alle diese Vorwürfe, mögen sie zu Recht oder Unrecht erhoben worden sein, müssen notwendigerweise zum mindesten das Standesempfinden der Herren Richter verletzen. Diesem Empfinden ist auch bereits in den öffentlichen Blättern Ausdruck gegeben worden. Ich muß daher meinen Antrag auf Ablehnung der Herren Richter wegen Besorgnis der Befangenheit aufrechterhalten.

Staatsanw. Riesebieter: Ich muß meiner Verwunderung Ausdruck geben, daß die Herren Verteidiger erst gestern nachmittag gegen 4 Uhr, als die Bureaus fast geschlossen waren, den Antrag auf Ablehnung stellten, und daß der Herr Verteidiger des Angeklagten Biermann gleichzeitig die Ladung von 14 Zeugen, die zum Teil aus weiter Ferne, aus Berlin, aus Birkenfeld usw. hierher gekommen sind, beantragt hat. Der Herr Verteidiger muß doch der Ansicht gewesen sein, daß der Ablehnungsantrag nicht durchgehen wird, er hätte andernfalls schon mit Rücksicht auf die großen Kosten die Ladung der Zeugen nicht beantragt. Ich halte den Ablehnungsantrag in keiner Weise für begründet.

Die Herren Verteidiger scheinen eine Reichsgerichtsentscheidung übersehen zu haben, die im zehnten Bande abgedruckt ist. In dieser heißt es ausdrücklich: Ein Richter ist vom Richteramt ausgeschlossen, wenn er in der Sache als Zeuge vernommen, nicht aber, wenn er als Zeuge vorgeschlagen oder geladen worden ist. Man könnte ja andernfalls sofort eine Gerichtsverhandlung vereiteln, indem man einen Richter oder sämtliche Richter als Zeugen vorschlägt. Laut § 244 der Strafprozeßordnung ist nur dann die Besorgnis der Befangenheit eines Richters begründet, wenn er oder seine Angehörigen durch die strafbare Handlung verletzt sind. In dem vorliegenden Falle, in dem kein Name genannt ist, kann von einer Besorgnis der Befangenheit keine Rede sein.

Wenn ein Angeklagter berechtigt wäre, jeden Richter abzulehnen, weil er den Richterstand beleidigt hat, dann könnte schließlich der Angeklagte straffrei ausgehen, und wir kämen geradezu zu einem rechtlosen Zustande. Auch der Umstand, daß der Herr Justizminister der Vorgesetzte der Herren Richter ist, kann die Besorgnis der Befangenheit nicht begründen. Es wäre ja alsdann kein preußischer Gerichtshof zuständig, über eine Beleidigung des preußischen Justizministers zu urteilen. Mir kommt es vor, als sei es lediglich darauf abgesehen, sich die Richter auszusuchen und die Möglichkeit einer Verhandlung der Sache in Oldenburg zu vereiteln. Anderenfalls hätte man, mit Ausnahme des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten; nicht sämtliche Richter der Stadt Oldenburg abgelehnt. Für meine Auffassung spricht auch der Umstand, daß man sich der Presse bedient hat, um die öffentliche Meinung für die Ablehnung zu gewinnen. Meiner Meinung nach ist der Antrag nur gestellt worden, um die Sache hinauszuziehen. Ich beantrage daher, den Antrag abzulehnen und in die Verhandlung einzutreten.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich muß den Vorwurf, daß ich die Absicht habe, die Sache zu verschleppen, oder daß ich gar die Presse benutzt habe, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Ich habe zunächst den Antrag auf Vertagung gestellt, da ich mit der Vorbereitung der Verteidigung noch nicht fertig war. Und als dies abgelehnt wurde, habe ich den Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt, und zwar aus den bereits angeführten Gründen. Ich habe selbstverständlich gleichzeitig die Ladung der Zeugen beantragt, da ich doch nicht wissen konnte, ob der Ablehnungsantrag abgelehnt und in die Verhandlung eingetreten werden würde. Ich bin weit entfernt, die Hauptverhandlung verschleppen zu wollen. Ich habe keinerlei Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit der Herren Richter, das Ablehnungsrecht ist aber gesetzlich begründet. Den Vorwurf, daß ich die öffentliche Meinung zu beeinflussen versucht habe, weise ich weit zurück. Mir sind mehrere Zeitungsartikel zugegangen, die offenbar von der Gegenseite lanciert waren. Ich wurde direkt aufgefordert, die Artikel zu widerlegen, ich habe dies aber abgelehnt, da ich mich grundsätzlich auf eine Preßfehde nicht einlasse.

Vert. Rechtsanwalt Greving: Der Herr Staatsanwalt hat einen Vorwurf gegen die Verteidigung erhoben, der seine Befugnis überschreitet, ja, der gar nicht seines Amtes ist. Der Herr Staatsanwalt macht der Verteidigung den Vorwurf, daß sie gestern nachmittag gegen 4 Uhr den Ablehnungsantrag erst eingereicht hat. Der Herr Staatsanwalt hat mir aber erst gestern abend angezeigt, daß er vier neue Zeugen geladen hat. Es ist selbstverständlich, daß ich in solch später Stunde nicht in der Lage war, mich noch über das, worüber die Zeugen aussagen sollen, sowie über die näheren Umstände zu unterrichten.

Ich stelle daher aus diesem Grunde den Antrag auf Vertagung der Hauptverhandlung. Ich muß ebenfalls den Vorwurf mit Entschiedenheit zurückweisen, daß ich bemüht war, die Presse zu beeinflussen. Ich kann nicht anders, als diesen Vorwurf des Herrn Staatsanwalts als leichtfertig zu bezeichnen. Ebenso leichtfertig ist der Vorwurf, daß die Verteidigung den Ablehnungsantrag gestellt hat, in der Absicht, die Sache zu verschleppen. Der Verteidigung ist es mit diesem Antrage voller Ernst. Wir haben den Antrag gestellt, um die Würde des Gerichtshofes zu wahren, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, als könnte ein Urteil gesprochen werden, das nicht über jeden Zweifel der Unparteilichkeit erhaben wäre. Der Ablehnungsantrag richtet sich gegen die Herren Richter als Menschen, nicht aber gegen ihre richterliche Eigenschaft.

Inzwischen wurde beschlossen, Rechtsanwalt Wisser als Vertreter des Nebenklägers, des Justizministers Ruhstrat, zuzulassen.

Dieser beantragte ebenfalls, den Ablehnungsantrag abzulehnen. Er könne nicht umhin, auch zu betonen, daß der Antrag augenscheinlich nur gestellt sei, um die Sache zu verschleppen. Zum mindesten sei dem Angeklagten Biermann die Sachlage schon seit langer Zeit bekannt gewesen. Der Umstand, daß der Ablehnungsantrag erst in letzter Stunde gestellt sei, begründe den Vorwurf der Verschleppung. Der Antrag sei auch sachlich in keiner Weise begründet. Dadurch, daß der Richterstand angegriffen sei, seien Richter, deren Namen nicht genannt seien; nicht befangen. Die Sachlage sei wirklich eine solche, daß der Gerichtshof in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung sine ira et studio entscheiden könne.

Nach kurzen Erwiderungen der Verteidiger bemerkte der Vorsitzende, daß die Sitzung bis 12 1/2 Uhr vertagt werde.

Gegen 1 1/4 Uhr nachmittags erschien als Gerichtshof: Landgerichtsdirektor Geh. Justizrat Niemöller (Vorsitzender), Landrichter Meyer-Holzgraefe und Landrichter Janßen (Beisitzende). Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Niemöller, verkündete: Der Antrag auf Ablehnung des Gerichtshofes ist nur bezüglich des Ger.-Assess. Bartels für begründet erachtet worden, weil dieser sich für befangen erklärt hat. Bezüglich der anderen Mitglieder des Gerichtshofes ist der Ablehnungsantrag als unbegründet erachtet worden, da diese erklärt haben, daß sie sich nicht für befangen halten. Es konnte zweifelhaft sein, ob wir befugt sind, über den Ablehnungsantrag zu befinden, da der Ablehnungsantrag sich auch gegen uns richtet. Allein nach einer Reichsgerichts-Entscheidung sind nur die erkennenden Richter von der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ausgeschlossen. An Stelle des Gerichtsassessors Bartels wird Herr Landrichter Janßen in das Kollegium eintreten.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich erhebe gegen diesen Beschluß Beschwerde und beantrage, dies zu protokollieren. Ich lehne außerdem Herrn Landrichter Janßen wegen Besorgnis der Befangenheit ab.

Vert. R.-A. Greving schloß sich diesem Antrage an.

Der Gerichtshof trat darauf ab. Nach einiger Zeit erschien wiederum der erkennende Gerichtshof.

Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bödeker, verkündete: Der Antrag auf Ablehnung des Landrichters Janßen wegen Besorgnis der Befangenheit wird abgelehnt, da Herr Landrichter Janßen erklärt hat, daß er sich nicht für befangen halte.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich erhebe auch gegen diesen Beschluß Beschwerde und beantrage, dies zu protokollieren.

Staatsanw.: Herr Rechtsanwalt Sprenger, bestehen Sie denn noch auf Vernehmung der Mitglieder des Gerichtshofes als Zeugen?

Vert.: Gewiß, ich habe den Antrag nicht gestellt, um ihn wieder zurückzuziehen.

Vors.: Was sollen die Richter bekunden?

Vert.: Sie sollen das bekunden, was sie aus eigener Wissenschaft oder von Hörensagen über die Angelegenheit wissen.

Vors.: Genügt es Ihnen, wenn ich in meinem und im Namen der vier Beisitzenden erkläre, daß wir weder aus eigener Wissenschaft noch von Hörensagen etwas bekunden können?

Vert.: Ich bedauere, ich muß auf meinen Anträgen bestehen.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat den Antrag auf Vernehmung der Mitglieder des Gerichtshofes abgelehnt, weil diese sämtlich versichert haben, daß sie weder aus eigener Wissenschaft noch von Hörensagen über die Angelegenheit etwas bekunden können, und es den Anschein hat, als sei der Antrag nur gestellt, um die Mitglieder des Gerichtshofes an der Ausübung des Richteramtes zu verhindern.

Der Verteidiger R.-A. Dr. Sprenger erhob auch gegen diesen Beschluß Beschwerde und beantragte, eine Beschwerde zu Protokoll zu nehmen, daß ein neuer Gerichtshof einen Beschluß gefaßt und verkündet habe, ohne daß der erkennende Gerichtshof die Verhandlung ausdrücklich ausgesetzt und über den Personenwechsel des Gerichtshofes ein Beschluß gefaßt worden sei.

Der Vorsitzende nahm diese Beschwerde zu Protokoll. koll. Alsdann wurde in die Verhandlung eingetreten. Der Angeklagte, Dr. Gustav Ries, äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei 1867 geboren, 1890 sei er in den Staatsdienst getreten. Im August 1902 sei er nach Jever versetzt worden. Er habe sich dadurch gekränkt und zurückgesetzt gefühlt. Außerdem sei er dadurch pekuniär geschädigt worden. Er hatte seine Eltern zu unterstützen; hier in Oldenburg hatte er verschiedene Nebeneinnahmen, die in Jever ausfielen.

Vors.: Weshalb mag Ihre Versetzung erfolgt sein?

Dr. Ries: Weil eine Oberlehrerstelle eingezogen wurde.

Vors.: Dann war doch die Versetzung ganz natürlich.

Angekl.: Ich war aber nicht der jüngste Oberlehrer. Ich habe die Begründung eines Oberlehrervereins nach preußischem Muster zwecks Erhöhung der Oberlehrergehälter veranlaßt und habe auch die dem Landtag eingereichte Denkschrift zwecks Erhöhung der Oberlehrergehälter verfaßt; das war dem Ministerium bekannt. Außerdem wurde der Sohn des Ministers Ruhstrat wegen einer Straßenprügelei auf Beschluß einer Lehrerkonferenz bestraft. An dieser Konferenz hatte ich teilgenommen, deshalb empfand ich die Versetzung als eine Maßregelung.

Vors.: Weshalb haben Sie Ihre Stellung in Jever aufgegeben?

Angekl.: Weil ich es schließlich für besser gehalten habe, aus dem oldenburgischen Schuldienst zu scheiden.

Vors.: Sie haben nun in dem Artikel „Jeu!“ das Hasardspiel mit krassen Worten gegeißelt. Haben Sie denn niemals selbst Hasard gespielt?

Angekl.: Ich habe in meinen jüngeren Jahren allerdings Hasard gespielt, ich bemerke aber ausdrücklich, daß ich niemals Staatsanwalt war.

Vors.: Sie wußten aber doch, daß Sie sich dadurch gegen die Bestimmungen des Strafgesetzbuches vergingen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie Herrn Landrichter Haake vorgeworfen, seine kirchliche Betätigung sei Heuchelei und Streberei? Kannten Sie Herrn Landrichter Haake?

Angekl.: Ich habe mit Herrn Landrichter Haake das Abiturientenexamen zusammen gemacht, kenne ihn aber nur oberflächlich. Was ich über Herrn Landrichter Haake geschrieben, wurde mir von glaubwürdiger Seite zugetragen. Ich hielt es daher für meine Pflicht, dies Verfahren öffentlich zu geißeln.

Vors.: Weshalb haben Sie die anderen Artikel über Herrn Justizminister Ruhstrat geschrieben?

Angekl.: Weil ich mich durch diesen gekränkt fühlte.

Vors.: Das ist doch aber kein Weg, um den Gefühlen einer Kränkung Ausdruck zu geben. Wenn alle Beamten ähnlich verfahren wollten, dann würde doch alle staatliche Ordnung in die Brüche gehen; sehen Sie das nicht ein?

Angekl.: Jawohl.

Es gelangten alsdann 11 Artikel des „Residenzboten“ zur Verlesung. In einem dieser wird bemerkt, daß sich auch ein Offizier wegen Spielschulden, die im Zivilkasino entstanden seien, das Leben genommen habe. In einem anderen Artikel hieß es: Ein sehr hübsches Lokal ist „Der tolle Hengst“. In diesem wurde einmal von Geschworenen und Staatsanwalt derartig hasardiert, daß die Polizei das Lokal umstellte. Als die Geschworenen das sahen, bemerkten sie dem Staatsanwalt: Wir glaubten nichts Strafbares zu begehen, da Sie, Herr Staatsanwalt, an dem Spiel teilnahmen.

Der Angeklagte Dr. Ries äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe sich für verpflichtet gehalten, derartige Zustände öffentlich zu geißeln. Den Ausdruck Oberschaf vom Oberlandesgericht habe er für unwürdig gehalten. Die Fahrt der Minister zur Tonnen- und Bakenschau auf Staatskosten habe er im Interesse der Steuerzahler rügen zu sollen geglaubt. Wenn er auch zur Zeit nicht mehr in Oldenburg war, so wohnten doch seine Eltern in Oldenburg. Direktor Früstück, der zum Gymnasialdirektor befördert wurde, sei nur wenig Jahre älter als er. Dieser habe außerdem niemals in höheren Gymnasialklassen unterrichtet, seine Beförderung zum Gymnasialdirektor mußte daher auffallen. In Preußen wäre eine solche Beförderung ausgeschlossen.

In weiteren Artikeln war von einem Messias die Rede.

Der Angekl. Dr. Ries bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, daß damit Schulrat Menge gemeint war.

Er befürchtete, verraten zu werden, deshalb habe er sich auch dem Angeklagten Biermann nicht vorgestellt, sondern diesem die Artikel unter dem Pseudonym „Gerdes“ oder „Geritz, Ingenieur“, eingesandt.

Vors.: Weshalb schickten Sie die Artikel gerade dem „Residenzboten“?

Angekl.: Weil ich die Überzeugung hatte, daß andere Blätter meine Artikel nicht aufnehmen würden.

Vors.: Sie sollen auch stets mit deutschen Buchstaben geschrieben haben, während Sie sonst nur lateinisch schreiben?

Angekl.: Das ist richtig, das tat ich, um nicht verraten zu werden.

Im ferneren Verlauf bemerkte der Angeklagte Dr. Ries: Er habe schließlich dennoch Angst bekommen, Biermann könnte ihn verraten, deshalb habe er ihm einen Artikel geschrieben, um ihn für sich einzunehmen.

Es gelangte darauf ein Brief zur Verlesung, der an den Landtagsabgeordneten Meyer-Holte gerichtet war. In diesem hieß es: Befreien Sie uns von diesem Kultusminister, der es mit seiner Moral und seiner Religion für vereinbar gefunden hat, dem Hasardspiel im großen zu frönen, Leute, die mit ihm leidenschaftlich spielten, zu befördern und sich sogar zu duellieren. Unterschrieben war dieser Brief mit: „Ein Geistlicher für viele.“

Der Angeklagte Dr. Ries gab zu auch diesen Brief geschrieben zu haben.

Der Angeklagte Biermann bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe die Artikel aufgenommen, weil er ihren Inhalt für wahr hielt. Der Verfasser sei ihm unbekannt gewesen. Er habe aber schließlich die Spur des Verlassers verraten, weil er hoffte, dadurch aus der Haft entlassen zu werden.

Die Verteidiger erklärten alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie auf die ausgebliebenen Zeugen, Regierungsrat Siebenbürgen und den früheren Kasinowirt Hugo Werner nicht verzichten könnten. Auch müßten sie darauf bestehen, der etwaigen kommissarischen Vernehmung des Werner, der jetzt in Bielefeld wohnt, persönlich beizuwohnen.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete te der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bödeker: Da die Verteidiger erklärt haben, daß sie auf die Vernehmung der ausgebliebenen Zeugen nicht verzichten können und der etwaigen kommissarischen Vernehmung des erkrankten Zeugen Werner persönlich beiwohnen müßten, so hat der Gerichtshof beschlossen: die Verhandlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

Am 19. November 1903 begann die Verhandlung vor demselben Gerichtshof von neuem.

Angeklagter Dr. Ries äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe 1885 das Abiturientenexamen gemacht und alsdann alte Sprachen studiert. 1890 wurde ich an der hiesigen Oberrealschule angestellt, ein Jahr später zum Oberlehrer am hiesigen Gymnasium ernannt. Ich habe meine Amtspflichten mit größter Sorgfalt erfüllt und mir die Liebe und Achtung meiner Schüler erworben. Am 1. April 1902 wurde eine Oberlehrerstelle am hiesigen Gymnasium eingezogen. Obwohl ich nicht der jüngste Oberlehrer war, wurde ich an das Gymnasium zu Jever versetzt. Ich fühlte mich dadurch sehr gekränkt, zumal ich pekuniär sehr geschädigt wurde. Ich hatte hier Nebeneinnahmen von jährlich 1800 Mark, die in Jever wegfielen. Außerdem aß und wohnte ich hier bei meinen Eltern, während ich in Jever bei fremden Leuten essen und wohnen mußte. Meine Eltern haben mit großen Opfern meine Studien ermöglicht, ich fühlte mich daher verpflichtet, meine Eltern zu unterstützen. Dazu war ich aber in Jever nicht mehr imstande. Ich fühlte mich außerdem in Jever gesellschaftlich sehr vereinsamt, zumal alle meine Kollegen in Jever verheiratet waren. Ich hatte viele schlaflose Nächte. Ich fühlte mich um so mehr gekränkt, da die Versetzung eines Oberlehrers aus der Hauptstadt an ein Gymnasium der Provinz noch niemals vorgekommen war. Ein preußischer Schulrat, der einmal nach Jever kam, äußerte: Es muß doch ein trauriger Oberlehrer sein, den man von der Residenz in die Provinz versetzt! Diese vor Zeugen getane Äußerung mußte mich selbstverständlich ungemein verletzen. Ich kam allwöchentlich nach Oldenburg, und jedesmal wurde ich über meine Lage um so mehr erregt, da ich meinem erkrankten Vater sah, den ich infolge meiner Versetzung nicht mehr unterstützen und nicht mehr pflegen und trösten konnte. Ich fühlte mich um so mehr verletzt, da ich der bestimmten Meinung war, meine Versetzung sei erfolgt, weil ich Mitgründer des hiesigen Oberlehrervereins war. Dieser, im Jahre 1898 begründete Oberlehrerverein nach preußischem Muster hatte den Zweck, für Erhöhung der Oberlehrergehälter zu wirken. Es wurde deshalb dem Ministerium eine Denkschrift eingereicht, in der es auch getadelt wurde, daß nicht akademisch gebildete Lehrer, z.B. die am hiesigen Lehrerseminar angestellten, den Titel „Oberlehrer“ erhalten. Ich war Verfasser ser der Denkschrift, das war der Regierung zweifellos bekannt. Es wurde auch in den Kreisen meiner Kollegen sofort, als meine Versetzung erfolgte, gesagt: „Das ist die Folge der Denkschrift!“

Vors.: Das betraf doch aber das frühere Ministerium.

Dr. Ries: Das war doch wohl aber auch dem späteren Ministerium bekannt. Ich war außerdem Teilnehmer einer Oberlehrerkonferenz, die gegen den Sohn des Herrn Ministers Ruhstrat wegen einer Straßenprügelei eine exemplarische Strafe verhängt hatte. Da mir das Leben in Jever absolut nicht behagte und ich auch einsah, daß ich im oldenburgischen Schuldienst auf Beförderung in keiner Weise rechnen konnte, so habe ich eine Stellung am Realgymnasium in Barmen angenommen.

Vors.: Was bezweckten Sie mit den Artikeln, beabsichtigten Sie den Herrn Minister zu stürzen?

Dr. Ries: Das nicht, ich wollte aber meinem Mißmut Ausdruck verleihen und außerdem offenbare Mißstände in meiner Vaterstadt rügen.

Vors.: Sie scheinen doch aber auch die Absicht gehabt zu haben, den Herrn Minister zu stürzen. Sie haben an den Landtagsabgeordneten Meyer-Holte folgenden Brief geschrieben:

Oldenburg, 28. Dezember 1902.

Hochgeehrter Herr Landtagsabgeordneter!

An Sie als den einflußreichsten und beredtesten Abgeordneten unseres geliebten Münsterlandes wende ich mich mit der Bitte: Nehmen Sie den Druck von uns, der auf uns Geistlichen lastet, seitdem unseren kirchlichen Angelegenheiten ein Mann vorsteht, dem nach allem, was man hört, die sittliche Reinheit und Würde fehlt, die für seine hohe und verantwortungsvolle Stellung unerläßlich ist! Wie können wir Geistlichen hinaufblicken zu einem Kultusminister, der, wie unwiderleglich feststeht, als Staatsanwalt und als Oberstaatsanwalt fast Abend für Abend in leidenschaftlicher Weise dem Hasardspiel gefrönt hat und vor noch gar nicht langer Zeit in eine Affäre hineingezogen ist, die für ihn zu einem schweren Duell mit einem Kollegen geführt hat, zu einem Duell, das doch unsere Kirche mit Recht auf das strengste verdammt und verurteilt? Der anliegende Aufsatz „Liebesmahl“ gibt leider ein durchaus wahrheitsgetreues Bild seines Tuns und Treibens. In der ganzen Stadt O. bezeugt man, daß alle Züge bis ins Haarkleinste zutreffen. Das ist um so betrübender, als damit ein Blatt, welches mir nach seinem ganzen Inhalte widerwärtig ist, Recht erhält. Tun Sie, hochgeehrter Herr Landtagsabgeordneter, alles, was in Ihren Kräften steht, um uns von der Last, unter der wir Geistlichen (und auch die Lehrerschaft) seufzen, zu befreien. Wir würden aufatmen und Ihnen ewige Dankbarkeit bewahren.

Ich flehe den Segen des Himmels auf Sie herab, daß er Ihnen bald Ihre volle Gesundheit wiedergeben möge.

In hochachtungsvoller Ergebenheit

Ein Geistlicher für viele.

Dr. Ries: Diesen Brief habe ich allerdings geschrieben, da ich hörte, daß auch die Geistlichen von den Zuständen wenig erbaut waren.

Vors.: Sie scheinen ein großer Gegner des Hasardspiels zu sein. Haben Sie niemals hasardiert?

Dr. Ries: Ich habe allerdings in den ersten Jahren meines Lehramts bisweilen hasardiert, ich habe aber schließlich einen Abscheu dagegen empfunden.

Vors.: Aber am letzten Kaisers Geburtstag hatten Sie diesen Abscheu überwunden.

Dr. Ries: An Kaisers Geburtstag wurde ich wieder einmal zum Spiel verführt.

Vors.: Wieviel haben Sie bei diesem Spiel verloren?

Dr. Ries: 300 Mark.

Vors.: Sie hatten damals schon Ihrem Abscheu über das Hasardieren Ausdruck gegeben?

Dr. Ries: Jawohl.

Vors.: Dies hielt Sie aber nicht ab, selbst dem Hasardspiel zu frönen?

Vert. R.-A. Greving: Herr Vorsitzender: Ich muß doch bitten, nicht Schlußfolgerungen zu ziehen.

Vors. (heftig, mit erhobener Stimme): Ich lasse mir keinerlei Vorschriften machen, in welcher Weise ich den Angeklagten zu vernehmen habe.

Vert.: Ich bin weit entfernt, dem Herrn Vorsitzenden Vorschriften zu machen, ich habe aber als Verteidiger ein Recht, gegen die Schlußfolgerungen des Herrn Vorsitzenden Einspruch zu erheben.

Vors.: Mir steht das Fragerecht zu, der Angeklagte ist allerdings berechtigt, die Antwort zu verweigern.

Vors. fortf.: Um nun Ihrem Mißmut Ausdruck zu verleihen, hielten Sie es für angezeigt, aus dem Hinterhalt Herrn Minister Ruhstrat anzugreifen und wählten als Organ den hiesigen „Residenzboten“?

Dr. Ries: Ich sah keinen andern Weg.

Vors.: Weshalb wählten Sie gerade den „Residenzboten“, kannten Sie denn die Tendenz des „Residenzboten“?

Dr. Ries: Jawohl.

Vors.: War Ihnen diese Tendenz sympathisch?

Dr. Ries: Keineswegs, ich war aber der Überzeugung, daß ein anderes Blatt die Artikel nicht aufgenommen hätte.

Vors.: Daß Sie sich dadurch strafbar machten, scheint Ihnen bewußt gewesen zu sein, sonst hätten Sie die Artikel dem „Residenzboten“ nicht anonym eingeschickt. Sie sandten die Artikel unter dem Pseudonym: „Gerdes“ oder „Göritz, Ingenieur“ mit verstellter Handschrift. Sie schrieben außerdem mit deutschen Buchstaben, während Sie gewöhnlich Lateinisch schrieben?

Dr. Ries: Jawohl.

Vors.: Von wem erhielten Sie das Material?

Dr. Ries: Von verschiedenen stadtkundigen Personen.

Vors.: Hat Ihnen auch Gymnasialdirektor Früstück Mitteilungen gemacht?

Dr. Ries: Zum Teil auch.

Vors.: Sind Sie denn der Meinung, daß Früstück nicht befähigt zum Giymnasialdirektor war?

Dr. Ries: Das will ich nicht sagen. Früstück stand aber in verhältnismäßig noch sehr jungen Jahren und hatte noch niemals in höheren Klassen unterrichtet.

Vors.: Was veranlaßte Sie, den Artikel „Wer bezahlt’s“ zu schreiben?

Dr. Ries: Weil ich es für sehr eigentümlich fand, daß 10 Leute auf Staatskosten zu der Tonnen- und Bakenschau nach Bremerhaven fuhren, von denen nur ein einziger Fachmann war.

Es wurde darauf Angeklagter Biermann vernommen. Dieser bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe die Artikel aufgenommen, weil er glaubte, öffentliche Mißstände rügen zu sollen. Er werde das Beweismaterial weismaterial hierfür vorführen.

Vors.: Von wem haben Sie das Beweismaterial?

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Das Beweismaterial ist mir zugegangen.

Vors. (heftig, mit sehr lauter Stimme): Ich muß es mir verbitten, mich bei meiner Vernehmung zu unterbrechen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Herr Vorsitzender, ich habe das Recht als Verteidiger, bei der Vernehmung meines Klienten einzugreifen. Ich kann mir dies Recht unmöglich einschränken lassen, sonst wäre die Verteidigung überhaupt überflüssig.

Vert. R.-A. Greving: Ich muß hierbei bemerken, daß ich auch nur mein Recht als Verteidiger wahre und kann mir den beschimpfenden, polternden und aufgeregten Ton des Herrn Vorsitzenden unmöglich gefallen lassen. Sollte sich ein solcher Vorgang wie vorhin wiederholen, dann sehe ich mich in meiner Verteidigung beschränkt und genötigt, die Verteidigung niederzulegen.

Vors.: Ich muß es entschieden zurückweisen, daß ich in beschimpfendem Tone gesprochen habe.

Es gelangten alsdann noch einige Artikel zur Verlesung. Der Artikel mit der Überschrift „Jeu“ lautete: Die Spielleidenschaft in Dingelfingen hat ein neues Opfer gefordert, dessen Namen wir im Interesse der geprüften Familie nicht nennen wollen. Die tausend und abertausend Mark Jeuschulden haben diesem Unglücklichen den heimatlichen Boden allzu heiß gemacht. Wieder ist eine Existenz vernichtet, wieder ist über eine angesehene Familie namenloses Elend gekommen. Und wieviel ähnliche oder noch schlimmere Fälle gibt es (der „Bote“ erinnert nur an den Selbstmord eines jungen Juristen, der einer im musikalischen Leben Dingelfingens einstmals eine Hauptrolle spielenden Familie angehörte), die nicht so an die Öffentlichkeit gedrungen sind!

Man darf es getrost aussprechen: Es gibt wohl kein ärgeres Spielernest als Dingelfingen, und unter den verschiedenen Schichten der Bevölkerung keine ärgeren Spieler als in derjenigen Beamtenklasse, welcher beruflich die Aufrechterhaltung der Gesetze und der staatlichen Ordnung obliegt. Den jungen, unerfahrenen Referendaren und Assessoren wird man ja freilich mildernde Umstände zubilligen müssen, wenn ihnen selbst von ersten „Hütern der Gesetze“ ein so leuchtendes Beispiel gegeben wird, wenn sie sehen, daß leidenschaftliches Spielen ihrer Karriere nicht im mindesten schadet, daß ihnen im Gegenteil die höchsten staatlichen Würden trotz alledem nicht verschlossen bleiben, daß ihnen unter Umständen sogar das eifrige Betreiben des Spiels förderlich ist, was vor allem einem gewissen schlagfertigen Fahrradhändler – nicht unbekannt sein dürfte. Darum werfe man ja keinen Stein auf das neueste unglückliche Opfer der Spielleidenschaft. Leichtsinnig hat der junge Mann gewiß im höchsten Grade gehandelt, aber ist er nicht in Wahrheit ein Opfer des ganzen Systems, ein Opfer der gesellschaftlichen Zustände Dingelfingens geworden? „Böse Beispiele verderben gute Sitten“, und, so fügen wir hinzu, besonders verderblich sind diese bösen Beispiele, wenn sie von solcher Seite gegeben werden!

Alsdann wurde unter großer Spannung des Zuhörerraums Minister Ruhstrat, der in seiner Eigenschaft als Nebenkläger der Verhandlung beiwohnte, als Zeuge vernommen. Der Minister bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin seit dem 20. August 1900 Minister. Im Jahre 1902 wurde berichtet, in Jever sei eine Oberlehrerstelle zu besetzen, und zwar solle es ein Altphilologe sein. Ich habe die Versetzung des Dr. Ries nicht vorgenommen, sondern bin lediglich nach den Vorschlägen des Oberschulkollegiums verfahren. Ich hatte keinerlei Kenntnis, daß Dr. Ries der spiritus rector des Oberlehrervereins war, ich hätte, wenn ich es gewußt, es ihm auch durchaus nicht nachgetragen. Die Frage der Oberlehrergehaltserhöhung ist durch Gesetz vom März 1900 geregelt. Ich habe es im übrigen bewirkt, daß die Oberlehrer mit den Amtsrichtern und Professoren gleichgestellt wurden. Ich wußte auch nicht, daß Dr. Ries der Verfasser der Denkschrift war. Das Vorkommnis betreffs meines Sohnes ist vollständig falsch dargestellt. Mein Sohn hatte mit einem gleichaltrigen Knaben, den er von Kindesbeinen an kannte, auf dem Wege von der Schule in die elterliche Wohnung eine Prügelei. Dr. Ries, der Klassenordinarius meines Sohnes, kam hinzu und sagte zu diesem: Du verdientest hier eine Strafe; mit Rücksicht auf deine bisherige gute Führung will ich aber von einer Bestrafung Abstand nehmen. Die Eltern des geprügelten Knaben führten jedoch Beschwerde bei dem Direktor. Dieser kam am folgenden Morgen in die Klasse und verfügte, meinem Sohn einen Strafzettel auszustellen. Dr. Ries hatte die Bestimmung getroffen gehabt, daß die Ausstellung eines Strafzettels eine Stunde Nachsitzen zur Folge hatte. Ich hatte also gar keine Ursache, dem Dr. Ries zu zürnen. Geärgert habe ich mich bloß, daß der Direktor über den Kopf des Ordinarius hinweg eine Strafe verfügte.

Ich betone ausdrücklich, ich hatte absolut nichts gegen Dr. Ries. Ich sagte noch: Wenn es sich wieder tun lassen sollte, dann werde ich den Dr. Ries nach Oldenburg zurückberufen. Wäre Dr. Ries einmal bei mir vorstellig geworden, dann hätte ich vielleicht seine Rückberufung sehr bald wieder veranlaßt.

Vors.: Dr. Ries ist aber niemals bei Ihnen gewesen?

Zeuge: Nein.

Auf ferneres Befragen äußerte der Minister: Ich habe mit dem Direktor Früstück, der, ebenso wie ich, Reserveoffizier ist, nach einem gewöhnlich alle vier Wochen stattgefundenen Liebesmahl zumeist im Zivilkasino gespielt. Es ist auch möglich, daß ich mir von Herrn Direktor Früstück einmal Geld geliehen habe, es ist mir aber absolut nicht erinnerlich, daß ich zu Fr. gesagt habe, ich werde mich dafür revanchieren. Es ist doch vollständig ausgeschlossen, daß ich daran gedacht habe, ich werde Herrn Früstück, wenn ich Minister werden sollte, befördern. Ich habe zur Beförderung des Herrn Direktors Früstück in keiner Weise beigetragen. Als in Birkenfeld Direktor Back gestorben war, da wurde an uns die Bitte gerichtet, einen Gymnasialdirektor vorzuschlagen. Geheimer Schulrat Menge sagte mir, er habe dem Unterricht des Oberlehrers Früstück beigewohnt und ihn für so vortrefflich befunden, daß er Früstück als Direktor in Vorschlag bringe.

Vors.: Es wird nun weiter behauptet, Sie hätten einen alten, bereits verstorbenen Oberlandesgerichtsrat im Kasino in sehr lauter Weise „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt. Sie hätten diesen Ausdruck wiederholt, obwohl Sie auf das Unpassende dieses Verhaltens aufmerksam gemacht wurden. Der Oberlandesgerichtsrat habe schließlich, um allen Weiterungen terungen aus dem Wege zu gehen, das Lokal verlassen.

Zeuge: Wenn ich das getan hätte, dann wäre ja jeder gesellschaftliche Verkehr unmöglich gewesen. Ich erkläre das einfach für erfundenen Klatsch.

Vors.: Es wird ferner behauptet, Sie seien auf Staatskosten zu einer Tonnen- und Bakenschau nach Bremerhaven gefahren, obwohl Sie von der Betonnung und Befeuerung der Weser nicht das mindeste verstehen.

Zeuge: Ich gebe ohne weiteres zu, daß ich von der Betonnung und Befeuerung der Weser nichts verstehe. Ich habe aber der Einladung Folge geleistet, hauptsächlich um einmal eine Seefahrt mitzumachen. Es war auch gleichgültig, ob eine Person mehr oder weniger auf dem Schiff war.

Vors.: Wurde auf dem Schiff gefrühstückt?

Zeuge: Für Geld war auf dem Schiff alles zu haben.

Vors.: Unentgeltlich wurde nichts verabfolgt?

Zeuge: Nein.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist Ihnen bekannt, daß Gerichtsassessor Hellwarth wegen Spielschulden nach Amerika auswandern mußte?

Zeuge: Ich verweigere hierüber die Antwort. Ich behaupte, Dr. Ries hat aus Rachsucht, Biermann aus Skandalsucht gehandelt. Die Beantwortung dieser Frage wäre dem Angeklagten Biermann, an dessen Artikeln der hohe und niedere Pöbel Gefallen findet, gerade recht.

Vors.: Ich weise ebenfalls diese Frage als unzulässig zurück.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Dann beantrage ich einen Gerichtsbeschluß. In dem zur Anklage stehenden Artikel mit der Überschrift „Jeu“ wird u.a. behauptet: Assessor Hellwarth habe sich wegen Spielschulden erschossen. Ich muß ausdrücklich bemerken: ich bin ein entschiedener Gegner jeder Skandalsucht, ich habe deshalb auch anfänglich die Verteidigung Biermanns abgelehnt. Ich habe mich aber schließlich, unter Zustimmung meines Sozius, entschlossen, die Verteidigung zu übernehmen, weil ich zu der Überzeugung gekommen war, es sei gegen Biermann ein juristisches Unrecht begangen worden, indem man ihm jeden Wahrheitsbeweis abgeschnitten hat. Der Angeklagte nimmt den § 193 des Strafgesetzbuches für sich in Anspruch. Dieser kann ihm aber nicht zugute kommen wenn der Wahrheitsbeweis beschränkt wird. Zum mindesten ist bei der Strafzumessung der Wahrheitsbeweis von Belang. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichts ist der Wahrheitsbeweis selbst dann als geführt zu erachten, wenn nur die Mehrheit der Behauptungen bewiesen ist. Das Reichsgericht hat aber auch entschieden, wenn der Angeklagte auch nur geglaubt hat, in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt zu haben, so steht ihm der § 193 des Strafgesetzbuches zur Seite. Ich muß daher auf meinem Antrag mit aller Entschiedenheit bestehen.

Vert. R.-A. Greving: Ich muß mich dem Antrage meines Herrn Kollegen anschließen. Die Fragestellung mag ja etwas unangenehm sein, sie ist aber im Interesse der Sache nicht zu umgehen.

Erster Staatsanw. Riesebieter: Ich beantrage, die Frage als unzulässig zurückzuweisen. Die Beweisführung kann sich nur auf die drei Anklagepunkte erstrecken. Ich bin der Meinung, sobald die Absicht der Beleidigung festgestellt ist, kann der Wahrheitsbeweis eine Einschränkung erfahren.

Vertr. des Nebenklägers, R.-A. Wisser: Ich kann mich der Ansicht des Herrn Ersten Staatsanwalts nur anschließen. Die Anklage ist lediglich erhoben wegen des Vorwurfs, der Herr Minister habe Herrn Direktor Früstück, weil dieser ihm Geld zur Bezahlung von Spielschulden geliehen habe, befördert, 2. der Herr Minister habe einen Oberlandesgerichtsrat „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt und 3. der Herr Minister sei auf Staatskosten zur Tonnen- und Bakenschau nach Bremerhaven gefahren, obwohl er nichts davon verstehe. Fragen, die mit dem Beweisthema nichts zu tun haben, sind abzulehnen. Zu fürchten ten hat der Minister diese Fragen nicht, obwohl in versteckter Weise mit einem Skandalprozeß gedroht wurde, wenn der Herr Minister den Strafantrag nicht zurückziehe. Ich bin der Meinung, es muß alles vermieden werden, was geeignet ist, einem Skandalprozeß Vorschub zu leisten.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich muß es mit voller Entschiedenheit bestreiten, daß in irgendeiner Weise ein Erpressungs- oder Bedrohungsversuch gemacht worden ist. Ich habe lediglich, ohne vorher mit Herrn Biermann gesprochen zu haben, zu dem Herrn Kollegen Wisser gesagt: es ist vielleicht nicht ganz richtig, eine Verhandlung auf alle Fälle herbeizuführen. Von einer Drohung in versteckter oder offener Weise kann gar keine Rede sein. Ich wiederhole, mir liegt jede Skandalsucht fern, ich wäre aber in meiner Verteidigung beschränkt, wenn der Wahrheitsbeweis nicht zugelassen würde. Es ist doch unmöglich, nur einzelne Teile aus dem Artikel herauszureißen und zur Verhandlung zu stellen. Es muß doch gestattet sein, das ganze Milieu zu schildern. Nach der Meinung des Herrn Staatsanwalts und des Herrn Vertreters des Nebenklägers müßte man ja bei einer Anklage auf Mord oder Totschlag sich lediglich auf die Tatsache beschränken, daß der Täler den Revolver abgedrückt hat, und alles, was der Tat vorausgegangen ist, als unerheblich von der Beweisaufnahme ausscheiden. Ich bin der Meinung, selbst wenn bereits die Absicht der Beleidigung festgestellt wäre, ist doch der Wahrheitsbeweis für das Strafmaß von Belang.

Vert. R.-A. Greving: Ich muß bemerken, daß ich mit dem Herrn Vertreter des Nebenklägers keine Verhandlung über Zurückziehung des Strafantrages geführt habe.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen: Die Frage des Herrn Verteidigers zuzulassen, der Gerichtshof ist der Meinung, daß die Frage zur Sache gehört. Nun, Herr Minister, wollen Sie die Frage beantworten?

Minister Ruhstrat: Ich mag mit Herrn Assessor Hellwarth einige Male gespielt haben, er ist aber erst vor einiger Zeit ausgewandert. Ob dies Spielschulden halber geschehen ist, kann ich nicht sagen.

Vors.: Haben Sie noch weitere Fragen, Herr Rechtsanwalt?

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Noch eine ganze Menge. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Ist dem Herrn Zeugen bekannt, daß der Referendar Dr. Dietrich sich, weil er seine Spielschulden nicht bezahlen konnte, erschossen hat?

Zeuge: Ich erinnere mich, Herrn Referendar Dietrich einige Male gesehen zu haben, ob ich mit ihm gespielt habe, weiß ich nicht mehr; ich weiß auch nicht, weshalb sich Referendar Dietrich erschossen hat.

Vert.: Ist Ihnen erinnerlich, daß ein aktiver Offizier im Zivilkasino so viel verloren hatte, daß er sich am folgenden Morgen erschossen hat?

Zeuge: Ich habe wohl gehört, ein Offizier habe sich wegen Spielschulden erschossen, ich weiß aber nicht, ob dies festgestellt worden ist. Es wurde auch behauptet, der Offizier sei am Herzschlag gestorben.

Vert.: Glaubten Sie damals, der Offizier habe sich wegen Spielschulden erschossen?

Zeuge: Was ich vor länger denn zehn Jahren geglaubt habe kann ich heute nicht mehr sagen.

Vert.: Haben Sie mit dem Offizier gespielt?

Zeuge: Das ist möglich.

Vert.: Sie sollen vorzugsweise Bankhalter gewesen sein?

Zeuge: Vorzugsweise war ich jedenfalls nicht Bankhalter. Bekanntlich wird die Bank abwechselnd gehalten.

Vert.: Haben Sie viel gewonnen oder viel verloren?

Zeuge: Ich habe bisweilen gewonnen, bisweilen verloren.

Vert.: Wer mag am meisten verloren haben?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen. Beim Spiel ist sich jeder selbst der Nächste, da achtet man nicht auf andere.

Vert.: Man weiß doch aber, wer mit vollen und wer mit leeren Taschen nach Hause geht, so blind braucht man doch nicht zu sein.

Vors.: Herr Verteidiger, diesen Ton muß ich mir entschieden verbitten.

Vert.: Sie sollen ganz besonders zu hohen Einsätzen verleitet und wenn die jungen Referendare Silbergeld einsetzten, sollen Sie das verächtlich beiseite geworfen haben?

Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie sich von Früstück einmal Geld geliehen haben, weil Sie kein Geld mehr hatten, um für Ihre Familie Weihnachtsgeschenke zu kaufen?

Zeuge: Auch das ist unwahr.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß der Regierungsrat Siebenbürgen, als er noch Referendar war, an einem Abend 5000 Mark im Spiel verloren hat?

Zeuge: Davon ist mir absolut nichts bekannt.

Vert.: Ist es richtig, daß, als einmal im Kasino von dem früheren Minister Flor gesprochen wurde, Sie gesagt haben: „Ich will den Namen des Ministers nicht hören, sagen Sie doch einfach der Minister.“

Zeuge: Das ist vollständig falsch. Einmal wurde ich von dem Minister Flor nicht strafversetzt, sondern im Jahre 1886 von dessen Vorgänger, und andererseits habe ich gesagt: es ist unschicklich, bloß Flor zu sagen, sagen Sie doch einfach: „der Minister“.

Der folgende Zeuge ist Gymnasialdirektor Früstück, Birkenfeld.

Er sei Reserveoffizier und habe nach den Liebesmahlen, die etwa alle 4 Wochen vorkamen, mit Minister, damals Staatsanwalt Ruhstrat, im Zivilkasino gespielt. Er habe auch einige Male dem Minister Geld geliehen. Irgendwelche Versprechungen habe ihm der Minister nicht dafür gemacht. Er glaube auch nicht, daß der Minister zu seiner Beförderung beigetragen habe. Er habe sowohl bei dem Minister Flor als auch bei dem Minister Ruhstrat um eine Gehaltserhöhung nachgesucht, aber eine solche nicht erhalten.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Greving bemerkte der Zeuge: Er sei mit Dr. Ries befreundet gewesen und habe diesem auch bisweilen über Vorgänge im Kasino Mitteilungen gemacht, er hatte aber keine Ahnung, daß Dr. Ries in dieser Weise die Mitteilungen verwerten werde. Dr. Ries habe bei Lehrern und Schülern in hohem Ansehen gestanden und galt für einen Mann, der in jeder Beziehung gerecht war. Es sei ihm daher rätselhaft, wie dieser Mann solche Dinge schreiben konnte. Er könne sich das Verhalten des Dr. Ries nur dadurch erklären, daß er über seine Versetzung sehr verstimmt war.

Versicherungsdirektor Harbers (Frankfurt a.M.): Er habe in den Jahren 1888/89, als er hier Referendar war, oftmals im Zivilkasino gespielt. Es sei bisweilen sehr hoch gespielt worden, die Verluste seien aber durch Revanchegeben zumeist wieder ausgeglichen worden. Es sei in der Hauptsache zum Zwecke der Unterhaltung und nicht des Gewinnes halber gespielt worden.

Regierungsrat Siebenbürgen vom Reichspatentamt in Berlin bekundete dasselbe. Er bemerkte auf Befragen des Vert. R.-A. Sprenger: Er habe niemals 5000 Mark verloren, mehr als 1000 Mark seien wohl niemals beim Spiel im Kasino verloren worden.

Gemeindevorsteher Köster (Zehlendorf bei Berlin): Er sei in den 1880er Jahren hier Referendar gewesen und sei auch Offizier der Landwehr. Er habe im hiesigen Zivilkasino oftmals gejeut.

Vors.: Haben Sie auch mit dem Minister Ruhstrat und dem Gymnasialdirektor Früstück gespielt?

Zeuge: Soweit ich mich erinnere, einmal.

Vors.: Waren Sie mit den Herren als Offizier zusammen?

Zeuge: Nein.

Auf weiteres Befragen verneinte der Zeuge, den Assessor Hellwarth gekannt zu haben und von dem Tode des Referendars Dietrich etwas zu wissen. Es sei ihm auch nicht bekannt, daß Minister Ruhstrat Silbergeld der Referendare als Spieleinsatz verächtlich beiseite geschoben habe.

Amtsrichter Hoyer: Er sei von 1885 bis 1895 Referendar ferendar gewesen und habe oftmals im hiesigen Zivilkasino gejeut. Mit dem Minister Ruhstrat und Gymnasialdirektor Früstück habe er seines Wissens nicht gespielt.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Wurde im Zivilkasino um einige Groschen gespielt?

Zeuge: Nein, es wurde zumeist um hohe Summen gespielt.

Vert.: Können Sie etwas über die Höhe der Einsätze sagen?

Zeuge: Nein.

Ein weiterer Zeuge war der frühere Kasinoökonom, Wirt Hugo Werner (Berlin): Er sei von Mai 1894 bis 1902 Wirt des hiesigen Zivilkasinos gewesen. Es sei in den Nischen gespielt worden, was gespielt worden sei und wie hoch man gespielt habe, wisse er nicht.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist Ihnen bekannt, daß sich Gäste von Ihren Kellnern Darlehen geben ließen?

Zeuge: Im ersten Jahre meines Hierseins ist das einige Male vorgekommen.

Oberamtsrichter Castens: Er habe auch, als er hier Referendar war, im Zivilkasino gejeut. Er glaube, Referendar Dietrich habe sich nicht Spielschulden halber, sondern weil er eine verfehlte Karriere eingeschlagen hatte, erschossen. Dietrich habe allerdings einmal gesagt: Wenn ich nur 100 Mark hätte, dann könnte ich meine Schulden bezahlen. Er, Zeuge, sei der Schwiegersohn des Oberlandesgerichtsrats Tenge, den der Minister „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt haben soll. Er habe aber niemals davon etwas gehört. Er sei überzeugt, sein Schwiegervater hätte ihm, wenn es vorgekommen wäre, bestimmt dies mitgeteilt.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger gab der Zeuge zu, daß im Zivilkasino hoch gespielt worden sei.

Ein weiterer Zeuge war Amtsrichter Stukenborg: Auch er habe, als er hier Referendar war, im hiesigen Zivilkasino viel gejeut. Es sei ziemlich hoch gespielt worden. Einmal habe er mit dem Minister Ruhstrat gespielt. Er habe einmal gehört: Minister Ruhstrat habe den Oberlandesgerichtsrat Tenge „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt. Wer ihm das erzählt habe, wisse er nicht.

Es erschien alsdann als Zeuge der oldenburgische Landtagsabgeordnete Lehrer Ahlhorn, Osternburg.

Auf Befragen des Vorsitzenden gab der Zeuge zu, einmal einen anonymen Brief erhalten zu haben. Der Brief lautete etwa:

„Geehreter Herr Landtagsabgeordneter!

Befreien Sie uns von diesem Justiz- und Kultusminister. Sie können sich nicht denken, wie schwer der Druck dieses Kultusministers auf uns Theologen lastet. Wir können vor einem solchen Minister keinerlei Achtung haben. So unsympathisch die Tendenz und Haltung des ?Residenzboten? auch ist, so trifft doch leider diesmal der Artikel mit der Überschrift ?Liebesmahl? den Nagel auf den Kopf. Minister Ruhstrat war der Führer und Oberst des Hasardspiels im Zivilkasino, obwohl er Staatsanwalt, ja sogar Oberstaatsanwalt war. Sie würden uns Theologen, sicherlich aber auch dem Lehrerstande, ja der ganzen Öffentlichkeit einen großen Dienst erweisen, wenn es Ihnen gelänge, uns von diesem Kultusminister zu befreien. Wenn ein so tapferer Theologe im Landtage wäre, wie Sie, dann hätte ich mich an diesen gewandt.“

Er habe sich geschämt, so etwa fuhr der Zeuge fort, daß man ihm zumutete, auf Grund eines anonymen Briefes den Minister anzugreifen. Er sei wohl mit dem Minister im Landtage oftmals in Meinungsverschiedenheiten geraten, dies habe ihn aber nicht veranlassen können, den Minister persönlich anzugreifen.

Geheimer Schulrat Menge: Seine Stellung bringe es mit sich, daß er die Gymnasiallehrer beobachte, um beurteilen zu können, ob sie sich zum Direktor eignen. Es könne jemand ein sehr braver Mensch und sehr tüchtiger Lehrer sein, sich aber noch lange nicht zum Direktor eignen. Als nun die Gymnasialdirektorstelle in Birkenfeld vakant wurde, habe er Oberlehrer Früstück als den Geeignetsten gehalten. Im Frühjahr 1902 wurde hier ein Oberlehrer überflüssig, da die Schülerzahl sich ermäßigt hatte. Dagegen wurde in Jever ein Oberlehrer verlangt, der Altphilologe und imstande war, französisch zu unterrichten. Es konnte deshalb bloß Dr. Ries in Frage kommen. Dieser sträubte sich gegen die Versetzung. Die Gründe, die er angab, schienen auch derartig, daß der Mann ihm leid tat; es ließ sich aber beim besten Willen nicht anders tun. Er tröstete Dr. Ries und sagte ihm, er werde bei der ersten besten Gelegenheit zurückversetzt werden.

Vert. R.-A. Greving: Konnte das Dr. Ries als Trost ansehen?

Zeuge: Doch.

Auf weiteres Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Dr. Ries war ein sehr tüchtiger Lehrer von durchaus ehrenwertem Charakter, den Direktor Steinvorth sehr ungern fortgab.

Gymnasialoberlehrer Professor Dr. Schuster: Die Ernennung des Oberlehrers Früstück zum Direktor wurde allgemein als glücklicher Griff angesehen. Dagegen wurde die Versetzung des Dr. Ries nach Jever allgemein als Strafversetzung aufgefaßt, zumal weil sie plötzlich und mitten im Schuljahr erfolgt war.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Greving äußerte der Zeuge: Wir faßten den Titel ?Oberlehrer? als Standesbezeichnung auf und waren deshalb erregt, daß auch nicht akademisch gebildete Lehrer den Titel ?Oberlehrer? rer? erhielten.

Gymnasialdirektor Dr. Kuhlmann, Jever: Er kannte Dr. Ries, als er noch in Oldenburg war. Dieser sei ein sehr tüchtiger Lehrer und ehrenwerter Charakter gewesen, so daß er ihm eine Handlungsweise, deren er beschuldigt werde, nicht zugetraut hätte. Dr. Ries habe sich mehrfach über seine Versetzung nach Jever beklagt, da einmal in Oldenburg seine Eltern wohnten und er andererseits pekuniär geschädigt war.

Gymnasialoberlehrer Professor Dr. Schauenburg, Jever: Dr. Ries sei ihm ein sehr lieber Kollege und Freund und sehr ehrenwerter Charakter gewesen. Dr. Ries habe seine Versetzung nach Jever als Strafversetzung aufgefaßt. Er habe gesagt, er sei dadurch von seinen Eltern und Geschwistern getrennt und habe auch pekuniären Schaden.

Vert. R.-A. Greving: Ist Ihnen bekannt, daß Dr. Ries jeden Sonnabend nach Oldenburg fuhr und stets seinen Eltern etwas mitbrachte?

Zeuge: Jawohl.

Buchhändler Max Schmidt (Oldenburg): Er sei Reserveoffizier und habe auch vielfach im hiesigen Zivilkasino gespielt. Es sei ihm bekannt, daß ein Offizier, der noch am Abend vorher im Kasino gespielt, am folgenden Morgen plötzlich gestorben sei.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß der Offizier am letzten Abend viel verloren hat?

Zeuge: Nein.

Vert. R.-A. Greving: Machten nicht die Artikel im ?Residenzboten? den Eindruck, daß man annehmen mußte, der Verfasser habe die geschilderten Verhältnisse selbst erlebt.

Zeuge: Jawohl.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist im Zivilkasino hoch gespielt worden?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß, wenn die jungen Referendare Silbergeld einsetzten, Minister Ruhstrat dies in verächtlicher Weise vom Tisch herunterfegte?

Zeuge: Das habe ich gehört.

Vert.: Von wem?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Vert.: Wann haben Sie das gehört?

Zeuge: Soweit erinnerlich, nachdem der betreffende Artikel im ?Residenzboten? erschienen war.

Geh. Regierungsrat Scheer: Es besteht zwischen Oldenburg, Bremen und Preußen ein Vertrag, zur Tonnen- und Bakenschau ein Schiff zur Verfügung zu stellen; dem Staat erwachsen durch die Tonnen- und Bakenschau keinerlei Kosten.

Gymnasialoberlehrer Dr. Könemann: Er habe die Versetzung des Dr. Ries als Strafversetzung angesehen und diese auf dessen Stellung im Oberlehrerverein zurückgeführt.

Gymnasialdirektor Dr. Steinvorth, Oldenburg: Dr. Ries sei ein sehr tüchtiger Lehrer gewesen. Seine Schüler mochten ihn gern und lernten etwas Tüchtiges bei ihm. Er hielt auf gute Disziplin, in seiner Klasse herrschte ein sehr guter Geist. Die Eltern der Schüler schätzten Dr. Ries als wohlwollenden, tüchtigen Lehrer, bei dem ihre Söhne etwas Tüchtiges lernten. Dr. Ries war auch bei seinen Kollegen sehr beliebt.

Vors.: Irgend etwas Nachteiliges über den Charakter des Dr. Ries ist Ihnen nicht bekannt?

Zeuge: Nein.

Auf weiteres Befragen sagte der Zeuge: Dr. Ries habe seine Versetzung nach Jever als Strafversetzung empfunden. Ihm (Zeugen) sei es allerdings amtlich bekannt gewesen, daß es keine Strafversetzung war.

Landrichter Haake: Er sei Mitglied des Gemeindekirchenrats und der Synode und des Vereins zur Hebung des religiösen Lebens. Er kenne Dr. Ries nur sehr oberflächlich und wisse nicht, wie dieser zu dem Angriff gegen ihn gekommen sei.

Am zweiten Verhandlungstage eröffnete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bödeker, die Sitzung mit folgenden Worten: Ich fühle mich veranlaßt, mitzuteilen, daß sowohl ich als auch der Erste Staatsanwalt Briefe erhalten haben, in denen gedroht wird, wenn Biermann verurteilt werden sollte, werde man uns die Fenster einschlagen, und es werden uns noch andere unangenehme Dinge passieren. (Bewegung.)

Angekl. Biermann: Ich habe wohl kaum nötig, zu versichern, daß es mir nicht im Traume eingefallen ist, derartige Briefe zu veranlassen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Können wir vielleicht die Briefe sehen?

Erster Staatsanwalt: Ich bin überzeugt, daß der Angeklagte Biermann die Briefe nicht geschrieben hat.

Vert.: Und auch nicht veranlaßt hat!

Erster Staatsanw.: Auch dieser Ansicht bin ich. Ich habe die Briefe der Polizei zur weiteren Verfolgung übergeben.

Vors.: Der Brief, den ich erhalten habe, ist mit A. Meyer unterzeichnet.

Angekl. Biermann: Ich habe allerdings gehört, daß von Arbeitern derartige Drohungen ausgestoßen worden seien.

Es wurde darauf mit der Beweisaufnahme fortgefahren.

Der erste Zeuge war Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe. Dieser bekundete: Er habe erst, als der betreffende Artikel im ?Residenzboten? erschienen sei, gehört, daß Minister Ruhstrat einen verstorbenen Oberlandesgerichtsrat einmal im Zivilkasino ?Oberschaf vom Oberlandesgericht? genannt habe.

Der folgende Zeuge, Landgerichtsdirektor Niemöller, ler, äußerte sich in derselben Weise.

Oberlandesgerichtsrat Burlage: Aus eigener Wissenschaft ist mir nicht bekannt, den Ausdruck „Oberschaf vom Oberlandesgericht“, ehe der betreffende Artikel im „Residenzboten“ erschien, gehört zu haben. Herr Brauereidirektor Franz Hoyer sagte mir allerdings, ihm sei erinnerlich, daß ein solcher Ausdruck einmal gefallen sei. Dabei fiel mir ein, daß Herr Landgerichtsrat Niebuhr, jetzt am Landgericht zu Lübeck, mir erzählt hat: Oberlandesgerichtsrat Tenge sei einmal im Kasino an einen Skattisch herangetreten, an dem der jetzige Minister Ruhstrat mit anderen spielte. Da habe der Minister, um den Oberlandesgerichtsrat „wegzuekeln“, „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ gesagt. Es ist mir das aber so dunkel in Erinnerung daß ich Veranlassung nahm, an Herrn Landgerichtsrat Niebuhr zu schreiben und diesen um Auskunft zu bitten. Herr Landgerichtsrat Niebuhr hat mir meine Erinnerung bestätigt. Da ich vermutete, es könnte eine Ladung des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr beantragt werden, so habe ich den Brief des Herrn Landgerichtsrats mitgebracht.

Der Zeuge verlas mit Erlaubnis des Vorsitzenden den Brief.

Erster Staatsanwalt: Sie haben die Überzeugung, daß wenn Herr Landgerichtsrat Niebuhr mehr gewußt, er es auch geschrieben hätte?

Zeuge: Das nehme ich mit Bestimmtheit an, zumal ich Herrn Landgerichtsrat Niebuhr geschrieben habe, ich werde über das, was er mir schreibt, als Zeuge vernommen werden.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist nicht Herr Landgerichtsrat Niebuhr andererseits ein diskreter Herr, der nicht gern jemandem Unangenehmes bereitet?

Zeuge: Das ist ein Urteil, über das sich schwer etwas sagen läßt.

Vert.: Ich beantrage jedenfalls die Ladung des Herrn Brauereibesitzers Franz Hoyer, den Antrag auf Ladung des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr behalte ich mir noch vor.

Vors.: Wollen Sie sich nicht lieber sofort schlüssig machen?

Vert.: Das kann ich noch nicht, ich will erst die weitere Beweisaufnahme abwarten.

Vors.: Der Gerichtshof hat die Ladung des Herrn Brauereibesitzers Franz Hoyer angeordnet.

Auf weiteres Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Es sei ihm erinnerlich, daß im Zivilkasino viel gespielt wurde.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist hoch gespielt worden?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Vert.: Wie hoch waren ungefähr die Einsätze?

Zeuge: Soweit mir erinnerlich ist, wurden 60 Mark, bisweilen darunter, bisweilen darüber gesetzt.

Vert. R.-A. Greving: Ist nicht im allgemeinen, auch vom Herrn Nebenkläger, dem Minister Ruhstrat, viel kritisiert und geschimpft worden, wobei Ausdrücke wie „Hornvieh“ gefallen sind?

Zeuge: Das gebe ich zu.

Vert.: Herr Minister Ruhstrat ist etwas temperamentvoll, eine impulsive Natur?

Zeuge: Allerdings.

Minister Ruhstrat: Wie in allen anderen Kreisen, so ist auch in dem unserigen viel geschimpft worden. Ich war eine Zeitlang in Berlin, da ist ebenfalls viel geschimpft worden.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Dann ist es doch wohl möglich, daß der Ausdruck „Hornochse“ gefallen ist, das ist doch gewissermaßen ein burschikoser Ausdruck.

Zeuge Oberlandesgerichtsrat Burlage: Das ist möglich.

Vert.: Wenn unbar gespielt wurde, wurden dann Schuldscheine ausgestellt?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Die Herren Biermann und Sprenger scheinen Wert darauf zu legen ...

Vert. R.-A. Dr. Sprenger (den Minister unterbrechend): Ich muß mir entschieden verbitten, in diesem Tone mit Biermann zusammen genannt zu werden. Es ist dem Herrn Nebenkläger genau bekannt, daß ich mich weder mit der Person Biermanns, noch mit der Tendenz seines Blattes identifiziere.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Die Herren Biermann und Sprenger scheinen Wert darauf zu legen, ob bar oder unbar gespielt worden ist. Ich bemerke: Es ist bar und unbar gespielt worden.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Was verstehen Sie unter „unbar“?

Minister Ruhstrat: Es wurde bar gesetzt und auch bar geliehen.

Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge Oberlandesgerichtsrat Burlage: Er habe gehört, im Andreeschen Lokale sei einmal sehr viel gespielt worden. Dabei sei Dr. Ries der Anführer gewesen.

Kaufmann Lohse (Oldenburg): Ich bin Offizier der Landwehr und habe mehrfach an den im Zivilkasino stattgefundenen Offizier-Liebesmahlen teilgenommen. Zu meinem Leidwesen habe ich gehört, daß von den jüngeren Herren dort sehr viel gespielt wurde. Ich habe in meiner Eigenschaft als ältester Offizier es nicht geduldet, daß Offiziere in Uniform spielen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Herr Zeuge, haben Sie nicht einmal einen Spieltisch im Kasino aufgehoben?

Zeuge: Ich habe allerdings einmal den jüngeren Herren das Spielen in Uniform verboten und im Nichtbefolgungsfalle mit Anzeige gedroht.

Vert.: Haben Sie auch den Nebenkläger, Minister Ruhstrat, spielen sehen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Haben Sie auch Spielern Geld geliehen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Wer waren diese?

Zeuge: Muß ich darauf antworten, ich möchte nicht gern Namen nennen.

Erster Staatsanwalt: Ich beanstande diese Frage, da sie nicht zur Sache gehört.

Vorsitzender: Ich sehe auch nicht ein, was diese Frage mit der hier zur Verhandlung stehenden Anklage zu tun hat.

Vert. R.-A. Sprenger: Es ist die Behauptung aufgestellt, daß der Nebenkläger eine Spielernatur war.

Vors.: Ich habe Bedenken gegen die Zulässigkeit der Frage.

Vert.: Dann beantrage ich einen Gerichtsbeschluß und stelle die bestimmte Frage: „Hat der Herr Zeuge dem Nebenkläger Geld geliehen.“

Vors.: Vielleicht äußert sich der Herr Minister.

Minister Ruhstrat: Ich habe nichts gegen die Zulassung der Frage.

Vors.: Herr Lohse, haben Sie dem Herrn Minister Darlehen gegeben?

Zeuge: Ja. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Geschah das mehrfach?

Zeuge: Nein, nur ein einziges Mal.

Vert.: Wie hoch belief sich das Darlehn?

Zeuge: Auf 1500 Mark.

Erster Staatsanwalt: Ist diese Darlehnsangelegenheit nicht in diskreter Weise geschehen?

Zeuge: Jawohl.

Minister Ruhstrat: Ich will noch bemerken, daß diese Angelegenheit Ende 1889, also vor 14 Jahren, geschehen ist.

Ein weiterer Zeuge war Landgerichtsrat Tenge: Er habe niemals gehört, daß Minister Ruhstrat seinen verstorbenen Vater „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt hat.

Rechtsanwalt Koch (Jever): Ich bin ein Schulkollege von Dr. Ries. Ich bin einmal mit Dr. Ries auf dem Bahnhofe in Jever zusammengetroffen und habe ihm von der Bemerkung „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ Mitteilung gemacht. Ich kann aus eigener Wissenschaft nichts darüber sagen. Als ich aber 1893/94 hier Referendar war, ist das allgemein erzählt worden.

Vors.: Ist auch erzählt worden, der betreffende Oberlandesgerichtsrat habe deshalb das Lokal verlassen?

Zeuge: Jawohl.

Auf weiteres Befragen sagte der Zeuge: Es sei bekannt gewesen, daß Minister Ruhstrat, damals Staatsanwalt, anwalt, viel mit derben Ausdrücken umherwarf. So soll der Minister einmal gesagt haben: Früher sagte man: „Ignorantia juris nocet“, jetzt muß es heißen: „Ignorantia juris non nocet“. (Heiterkeit.)

Der Zeuge bekundete ferner auf Befragen, daß im hiesigen Zivilkasino viel gespielt worden sei. Er (Zeuge) habe schon als Student dort gespielt.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts sagte der Zeuge noch: Er glaube nicht, daß der Ausdruck anders gelautet habe, denn der Ausdruck „Oberschaf“ sei kein landläufiger, er habe ihn wenigstens vorher niemals gehört.

Referendar Thorade, Hilfsbeamter des Stadtmagistrats zu Oldenburg: Er habe schon als Student im hiesigen Zivilkasino gespielt und 1893 von Kollegen gehört: Der jetzige Minister Ruhstrat habe den Oberlandesgerichtsrat Tenge „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Sprenger bekundete der Zeuge: Professor Dencker habe ihm einmal erzählt: Minister Ruhstrat habe, wenn die Referendare Silbergeld als Einsatz gaben, dies verächtlich auf die Erde geworfen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Dann habe ich noch einen Antrag zu stellen.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Ich will das ja nicht absolut bestreiten. Es ist selbstverständlich teils Silbergeld, teils Gold eingesetzt worden. Wenn ich nun die Bank hatte, dann habe ich nach beendetem Spiel das dem Bankhalter zustehende Silbergeld bisweilen mit den Worten: „Pour le garçon“ zur Erde geworfen.

Vors.: Es ist wohl üblich, das dem Bankhalter zustehende Silbergeld dem Kellner zu geben?

Minister Ruhstrat: Nicht alles Silbergeld, bisweilen ist das eine hohe Summe.

Landgerichtsrat Hartong bekundete als Zeuge: Er habe auch von dem Brauereidirektor Hoyer einmal im Eisenbahnwagen gehört, daß Minister Ruhstrat den Oberlandesgerichtsrat Tenge „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ genannt habe. Der Herr Erste Staatsanwalt Riesebieter sei dabei zugegen gewesen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich stelle an den Ersten Staatsanwalt die Frage, weshalb er diesen Entlastungsbeweis nicht zur Stelle geschafft hat?

Erster Staatsanwalt Riesebieter: Ich fühle mich nicht veranlaßt, hierauf zu antworten.

Vors.: Herr Rechtsanwalt, Sie sind nicht berechtigt, an den Herrn Ersten Staatsanwalt eine Frage zu stellen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich wäre aber berechtigt, zu beantragen, den Herrn Ersten Staatsanwalt als Zeugen zu vernehmen. Ich will jedoch davon Abstand nehmen, da ich nicht gern eine Vertagung der Verhandlung handlung herbeiführen möchte. Ich will mir aber die Bemerkung erlauben, daß es zu den Pflichten eines Staatsanwalts gehört, auch die ihm bekannt gewordenen Entlastungsbeweise zur Stelle zu schaffen.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger bekundete der Zeuge Rechtsanwalt Koch: Er wisse nicht genau, was im hiesigen Zivilkasino gespielt worden sei; er habe aber gehört, daß viel „gepokert“ worden sei.

Es gelangten darauf mehrere Briefe zur Verlesung, die der Angeklagte Dr. Ries geständlich unter dem Pseudonym „I.G., Ingenieur“ an den Angeklagten Biermann gerichtet hatte. In diesen sprach der Briefschreiber seinen Dank und Anerkennung aus, daß er den Mut habe, die Mißstände in Oldenburg aufzudecken.

Weiter heißt es in den Briefen:

„Es ist ja sehr bedauerlich, daß Sie zu einer so hohen Strafe verurteilt worden sind, die Strafe ist aber schließlich nur eine Ehrenstrafe. Sie steigen dadurch in der Achtung aller anständigen Menschen. Erfreulich ist es, daß auch, mit Ausnahme der ?Hoftante?, die Presse für Sie eintritt. Sie haben auch die Genugtuung, daß Sie durch Ihr mutiges Vorgehen ein gutes Geschäft machen. Daß Sie verhaftet worden sind, ist einfach skandalös. Ihre augenblickliche Lage ist ja sehr zu beklagen. Ich bin jedoch überzeugt, wenn ein öffentlicher Aufruf zur Unterstützung Ihrer Familie erlassen wurde, dann dürfte das Ergebnis ein sehr günstiges sein. Ich wäre der erste, der sich an dieser Sammlung beteiligte. Ich sende Ihnen jedenfalls sofort 50 Mark, die ich im Residenzboten unter ?Justus? zu quittieren bitte. Ich hätte gern mehr geschickt, ich bin aber nicht in der Lage, augenblicklich mehr zu geben.“

Ferner hieß es in dem Briefe: „Die Spieler im Kasino haben den Referendar Dietrich, den Assessor Hellwarth und auch den durch Selbstmord geendeten aktiven Offizier auf dem Gewissen.“

Der Offizier soll v. Stutterheim geheißen haben; das 91. Infanterieregiment werde in der Lage sein, über den Offizier nähere Auskunft zu geben. Selbst der Rechtsbeistand des Ministers Ruhstrat, Rechtsanwalt Wisser, habe sich an dem Spiel im Zivilkasino beteiligt.

Der Verteidiger Rechtsanwalt Greving bemerkte darauf: Aus den Briefen gehe hervor, daß der Angeklagte Dr. Ries der Ansicht gewesen sei: Hasardieren sei verboten.

Zahnarzt Wolffram: Er sei ein guter Freund des Angeklagten Dr. Ries, er kenne ihn schon seit 18 Jahren. Dr. Ries habe seine Eltern und Geschwister stets nach besten Kräften unterstützt und mit einer seltenen Liebe an seinen Eltern und Geschwistern gehangen. Der Vater sei infolge langer Krankheit und seiner zahlreichen Familie in schlechten Vermögensverhältnissen gewesen. Dr. Ries habe 3000 Mark auf einmal für seinen Vater und 600 Mark für seinen Bruder an Schulden bezahlt. Der Vater habe an Asthma gelitten, er konnte sich kaum im Bett selbst aufrichten. Dr. Ries habe viele Nächte am Bett seines Vaters gewacht, und ihn in der sorgsamsten Weise gepflegt. Als Dr. Ries nach Jever versetzt wurde, sei im Elternhause großer Jammer gewesen. Die alte Mutter habe ausgerufen: „Es ist einfach schandbar, daß man einen so guten Sohn von den Eltern entfernt.“ Dr. Ries selbst war sehr niedergeschlagen und habe die Versetzung als Strafversetzung empfunden. Dr. Ries habe sich auch sofort in Kiel und Königsberg N.M. um eine Anstellung beworben.

Inzwischen war von dem die Untersuchung führenden Amtsrichter der Befehl eingetroffen: den Angeklagten Biermann zwecks Antritts der bereits rechtskräftig gewordenen Strafe von 6 Monaten Gefängnis wegen Beleidigung des Landrichters Haake sofort in Haft zu nehmen.

Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sprenger richtete an den Gerichtshof und den Ersten Staatsanwalt die Bitte, die Verhaftung wenigstens bis zum Schlusse dieser Verhandlung verhindern zu wollen, da anderenfalls ihm die Verteidigung ungemein erschwert werde.

Der Vorsitzende und der Erste Staatsanwalt erklärten, sie könnten dagegen nichts tun, der Verteidiger müsse sich an den betreffenden Amtsrichter wenden.

Der Angeklagte Biermann wurde bei Eintritt der Mittagspause in Haft genommen.

Nachmittags wurde Direktor Hans Hoyer als Zeuge vernommen: Der jetzige Minister Ruhstrat erzählte einmal im Zivilkasino einen „interessanten Fall“, ob das ein Rechtsfall war, sei ihm nicht bekannt. Dabei legte sich Minister Ruhstrat über den runden Tisch und sagte laut: „Schaf“ oder „Oberschaf“, genau wisse er das nicht mehr. Worauf sich dieser Ausdruck bezogen habe, wisse er nicht. Am gegenüberstehenden langen Tisch saßen die alten Herren, unter diesen auch Oberlandesgerichtsrat Tenge. Dieser sei bald darauf nach Hause gegangen. Er sei aber der Meinung, daß der Ausdruck an dem langen Tisch nicht gehört worden sei.

Vors.: Wissen Sie, auf wen sich dieser Ausruf bezogen hat?

Zeuge: Nein.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich bin leider genötigt, den Antrag zu stellen, Herrn Landgerichtsrat Niebuhr als Zeugen zu vernehmen. Ich will Herrn Landgerichtsrat Niebuhr fragen, ob er den Ausdruck „Oberschaf vom Oberlandesgericht“ selbst gehört hat, eventuell von wem ihm diese Erzählung berichtet worden ist, und ob ihm das Vorkommnis als eigenes Erlebnis erzählt worden ist. Der Antrag wäre nur abzulehnen, wenn der Gerichtshof der Ansicht ist, der Wahrheitsbeweis sei in diesem Punkte geführt.

Vors.: Ist der Brief, den Herr Oberlandesgerichtsrat Burlage hier verlesen hat, Ihre einzige Quelle, oder haben Sie noch andere Momente, auf die Sie Ihren Antrag stützen.

Vert.: Ich habe nicht nötig, die näheren Gründe anzugeben, und bin auch nicht gesonnen, das zu tun. Daß der Antrag nicht frivol ist, beweist der Brief des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr. Das Neutrum „es wurde erzählt“, läßt doch alle möglichen Deutungen zu.

Direktor Hoyer, nochmals vernommen, bekundete: Das Vorkommnis sei seines Wissens nach 1890 geschehen. Er glaube nicht, daß Landgerichtsrat Niebuhr dabei war. Er halte es für ausgeschlossen, daß der Ausdruck am gegenüberstehenden langen Tisch gehört worden sei. Oberlandesgerichtsrat Tenge habe sich etwa 10 Minuten später entfernt.

Erster Staatsanwalt: Ich beantrage, den Antrag als unerheblich abzulehnen, im übrigen halte ich nach der Aussage dieses Zeugen den Sachverhalt für genügend aufgeklärt.

Vert. R.-A. Greving: Es kommt darauf an, in welcher Hinsicht der Herr Erste Staatsanwalt den Sachverhalt verhalt für aufgeklärt hält. Ich bin der Meinung, nachdem Herr Minister Ruhstrat selbst die Möglichkeit zugegeben hat, den Ausdruck getan und mehrere Zeugen bekundet haben, daß das Vorkommnis ihnen erzählt worden sei, ist der Gerichtshof wohl in der Lage, den Wahrheitsbeweis in diesem Punkte für geführt zu erachten. Andernfalls kann der Antrag meines Kollegen nicht abgelehnt werden.

Nach noch längeren Auseinandersetzungen zwischen dem Ersten Staatsanwalt und den Verteidigern zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück.

Nach sehr langer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß der Antrag auf Ladung des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr nicht abzulehnen ist. Der Gerichtshof hat daher beschlossen: Herrn Landgerichtsrat Niebuhr als Zeugen zu laden. Da die Ladung aber nicht so schnell auszuführen ist, hat der Gerichtshof beschlossen, die Verhandlung auf Montag, vormittags 10 Uhr, zu vertagen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich beantrage nun noch, den Assistenzarzt zu laden, von dem Herr Rechtsanwalt Koch gesprochen hat.

Vors.: Dann müssen Sie den Namen und die Wohnung angeben.

Vert.: Ich beantrage, Herrn Rechtsanwalt Koch darüber zu befragen. Ich beantrage ferner als Zeugen zu laden Regierungsrat Mutzenbecher, Amtsrichter Bott, Regierungsassessor Pralle, Regierungsassessor Mücke und Rechtsanwalt Ruhstrat. Diese haben dem Zeugen, Rechtsanwalt Koch, Mitteilungen gemacht. Ich beantrage weiter als Zeugen zu laden Bürgermeister Mahlstedt-Eutin, Amtsrichter Kreßmann-Brake und Regierungsassessor Muß. Von diesen will Referendar Thorade Mitteilungen über das in Rede stehende Vorkommnis erhalten haben.

Vors.: Was sollen diese Zeugen bekunden?

Vert.: Ich bitte, mich nicht immer zu unterbrechen, sondern mir zu gestatten, meine Anträge zu begründen. Die Zeugen sollen gefragt werden, ob sie das Vorkommnis selbst erlebt, oder von wem es ihnen erzählt worden ist.

Erster Staatsanwalt: Ich habe durch Stellung dieser Anträge die Auffassung gewonnen, daß der Angeklagte Biermann das Bestreben hat, die Sache hinauszuziehen. Ich beantrage daher, nicht nur diese Anträge abzulehnen, sondern auch bezüglich der Ladung des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr noch einmal in eine Beratung einzutreten. Es ist doch auffallend, daß der Herr Verteidiger den Antrag erst jetzt stellt, obwohl doch vorhin der Herr Vorsitzende ausdrücklich gefragt hat: Sind noch Anträge zu stellen.

Verteidiger R.-A. Dr. Sprenger: Ich bemerke, daß eine Verschleppung in keiner Weise beabsichtigt ist, zumal sie gar nicht im Interesse der Angeklagten liegt. Die Angeklagten haben im Gegenteil das Interesse, daß die Sache so schnell als möglich zu Ende kommt. Ich habe im übrigen den Antrag gestellt, ohne vorher mit Herrn Biermann gesprochen zu haben. Ich bin zur Stellung der Anträge in der Hauptsache durch die Erklärung des Herrn Oberlandesgerichtsrats Burlage veranlaßt worden. Daher konnte ich die Anträge erst heute stellen. Ich habe die Anträge erst jetzt gestellt, da, wenn der Gerichtshof den Antrag auf Ladung des Herrn Landgerichtsrats Niebuhr abgelehnt und den Wahrheitsbeweis in diesem Punkte für geführt erachtet hätte, der Antrag überflüssig gewesen wäre. Im übrigen schreibt die Strafprozeßordnung ausdrücklich vor, daß ein Antrag, weil er verspätet gestellt ist, nicht abgelehnt werden darf. Ich bin um so mehr genötigt, diese Anträge zu stellen, da, wie ich heute festgestellt habe, die Staatsanwaltschaft bzw. deren Vertreter einen ihr bekannt gewordenen Entlastungsbeweis nicht zur Stelle geschafft hat, und da das Reichsgericht mehrfach beschlossen hat, daß der Wahrheitsbeweis ein Strafausschließungsgrund ist.

Erster Staatsanwalt: Es ist eine alte Gerichtspraxis, daß bei einem Prozeß wegen Behauptung nicht erweislich wahrer Tatsachen der Angeklagte den Wahrheitsbeweis zu führen hat.

Vert.: Mir ist diese Praxis unbekannt, sie findet auch in den Reichsgerichtsentscheidungen keinerlei Unterstützung.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes wurden nochmals Rechtsanwalt Koch und Referendar Thorade vernommen. Diese bekundeten übereinstimmend: Sie können sich nicht erinnern, von wem ihnen der bekannte Vorgang erzählt worden sei.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Greving bemerkte der Zeuge R.-A. Koch: Das Vorkommnis betreffs des „Oberschafs“ usw. und auch, daß der betreffende Oberlandesgerichtsrat darauf sofort das Lokal verlassen habe, sei zur Zeit allgemein erzählt und auch für wahr gehalten worden.

Verteidiger, Rechtsanwalt Greving: Ich habe eine Erklärung abzugeben: Ich erkläre in meinem und auch im Namen des Dr. Ries, daß die sogenannte Oberschaf-Bemerkung, wenn überhaupt gefallen, nicht in der Absicht geschehen ist, um den Oberlandesgerichtsrat Tenge zu verletzen. Ferner erklären wir: Wir haben aus der Verhandlung die Überzeugung gewonnen, daß der Minister seine Teilnahme an der Tonnen-und Bakenschau selbst bezahlt hat.

Der Minister erklärte darauf, daß er nunmehr den Strafantrag bezüglich dieser zwei Punkte zurückziehe.

Am dritten Verhandlungstage nahm das Wort Erster Staatsanwalt Riesebieter: Meine Herren! Vor etwa einem Jahre erschien in hiesiger Stadt eine Zeitung tung mit dem hochtrabenden Titel: „Oldenburger Residenzbote, humoristisch-satyrisches, kritisch-politisches Wochenblatt“. Dieses Blatt entsprach aber in keiner Weise dieser Ankündigung, es war auch kein Klatschblatt oder ein Blatt für freie Meinung, sondern ein Preßerzeugnis niedrigster Sorte, wie es wohl im Deutschen Reiche zum zweiten Male nicht anzutreffen ist. Es war kein humoristisch-satyrisches, kritisches, politisches Wochenblatt, sondern es wurden die höchsten Beamten, Minister Ruhstrat, Geheimer Schulrat Menge, hohe richterliche Beamte, Gymnasiallehrer, Geistliche usw. in der schmählichsten Weise angegriffen, lächerlich zu machen versucht, also beleidigt. Und wie das immer so ist, es bleibt immer etwas haften. Verantwortlicher Redakteur dieses Blattes war der Angeklagte Biermann. Dieser schürte also systematisch die Unzufriedenheit. Die Angriffe geschahen nicht, um öffentliche Mißstände zu rügen, sondern lediglich aus Skandalsucht, um Abonnenten zu gewinnen und ein gutes Geschäft zu machen. Der Angeklagte Biermann betrieb also die Ehrabschneiderei gewerbsmäßig, lediglich seines pekuniären Vorteils wegen. Um so unerklärlicher, aber auch um so verwerflicher ist es, daß ein akademisch gebildeter Mann wie Dr. Ries, ein Gymnasial-Oberlehrer, beliebt und hochgeschätzt von seinen Vorgesetzten, Kollegen, Schülern und deren Eltern, ein Mann, der mit außerordentlicher dentlicher Liebe an seinen Eltern und Geschwistern hing, Mitarbeiter eines solchen Blattes war und aus dem Hinterhalt seine Vorgesetzten in der abscheulichsten Weise beschimpfte und verleumdete. Die öffentliche Meinung konnte es zunächst nicht fassen, daß ein Mann wie Dr. Ries der Verfasser solcher Artikel sein sollte. Wie das aber oftmals mit der öffentlichen Meinung ist, diese empfand schließlich mit Dr. Ries und seiner Familie Mitleid. Es wurde selbst in der hiesigen und zum Teil auch auswärtigen Presse für Dr. Ries Partei genommen. Ich wende mich zu den einzelnen Artikeln. Das Material zu dem Artikel: „Der Wechsel im Ministerium“ kann der Angeklagte Dr. Ries nur durch einen groben Vertrauensbruch erlangt haben. In diesem Artikel ist zum mindesten objektiv eine Beleidigung des Großherzogs enthalten. Der Angeklagte Biermann hat es ja auch nicht verschmäht, in anderen Artikeln den Großherzog anzugreifen und zu beleidigen. Biermann hat auch bereits wegen Majestätsbeleidigung vor dem Schwurgericht auf der Anklagebank gesessen. Ich habe schon hervorgehoben, es ist unerklärlich, daß ein so gebildeter Mann wie Dr. Ries sich herablassen konnte, zu einem Biermann hinabzusteigen und damit seine Ehre zu verletzen. Die Beweisaufnahme hat jedoch ergeben, daß alle Vorwürfe, die durch Dr. Ries dem Herrn Minister gemacht wurden, unwahr sind. Wahr ist nur, daß der Minister vor etwa 14 Jahren im hiesigen Zivilkasino gespielt hat. Ich bin entfernt, die Spielleidenschaft irgendwie zu verteidigen. Wer sich aber im öffentlichen Leben umsieht, der wird zugeben, daß in allen Gesellschaftskreisen des deutschen Volkes bei hoch und niedrig gejeut wird. Ich betone das ganz besonders deshalb, um der Behauptung entgegenzutreten, daß das Spiel ein Übel ist, das nur in höheren Gesellschaftskreisen anzutreffen ist. Und wer sich an seine Brust schlägt, wird das, was er in seinen jungen Jahren getan, als gereifter Mann verantworten wollen? Daß es aber dem Angeklagten Dr. Ries nicht darauf ankam, das Spiel an sich zu brandmarken, erhellt aus der Tatsache, daß er selbst zugibt, in früheren Jahren der Spielleidenschaft gefrönt, ja selbst noch am letzten Kaisers Geburtstag Hasard gespielt zu haben. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß der Herr Minister nicht anders im Kasino gespielt hat, als alle anderen. Und es muß doch festgehalten werden, daß der Herr Nebenkläger nicht als Minister gespielt hat. Dr. Ries macht aber dem Minister in der Hauptsache zum Vorwurf: er habe, als er Minister wurde, den Gymnasiallehrer Früstück, zum Dank, daß er ihm einmal beim Spiel Geld geliehen, zum Gymnasialdirektor befördert. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß an alledem kein wahres Wort ist. Der Minister hat zur Beförderung des Direktors Früstück nicht das mindeste beigetragen. Es ist vom Herrn Geheimen Schulrat Menge eidlich bekundet worden: er habe den Oberlehrer Früstück zur Ernennung als Gymnasialdirektor in Birkenfeld vorgeschlagen. Der Angeklagte hat aber auch selbst zugegeben: er habe sich nicht als Sittenrichter aufwerfen und das Spiel als solches brandmarken wollen, in der Hauptsache sei es ihm darauf angekommen, sich zu rächen. Dies geht auch deutlich aus den Briefen hervor, die Dr. Ries an Biermann geschrieben hat. Dr. Ries fühlte sich durch seine Versetzung nach Jever gekränkt. Allein die Beweisaufnahme hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß von einer Strafversetzung des Dr. Ries nicht die Rede sein kann. Die Versetzung des Dr. Ries erwies sich als unbedingte Notwendigkeit. Am hiesigen Gymnasium mußte eine Oberlehrerstelle eingezogen werden, weil die Schülerzahl sich verringert hatte. In Jever wurde ein Oberlehrer verlangt, der Altphilologe war und gleichzeitig facultas docendi für Französisch hatte. Es wurde bei den verschiedensten Gymnasien des Landes umhergefragt, es fand sich aber außer Dr. Ries niemand, der diese Eigenschaften in sich vereinigte. Der Angeklagte Dr. Ries hat außerdem Herrn Landrichter Haake ohne jeden Grund, obwohl er ihn nur ganz oberflächlich kannte und nicht die geringste Unterlage hatte, Streberei und Heuchelei vorgeworfen. Der Angeklagte Biermann hat diese Artikel mit Behagen in seinem Blatte abgedruckt, obwohl er den Verfasser nicht kannte, also nicht in der Lage war, die Wahrheit der Artikel irgendwie zu prüfen. Darauf kam es aber dem Angeklagten Biermann gar nicht an. Ihm war darum zu tun, Skandalartikel in seinem Blatte zu bringen, nur um damit ein Geschäft zu machen. Biermann ist daher gleich dem Verfasser zu bestrafen. Bei der Strafzumessung kommt bei Dr. Ries strafmildernd in Betracht, daß er bisher unbestraft ist, daß er jetzt Reue zu empfinden scheint. Bei Biermann kommt strafmildernd in Betracht, daß er vielleicht zum Teil den Inhalt der Artikel für wahr hielt. Strafschärfend kommt bei Dr. Ries in Betracht die Schwere der Beleidigungen, der Umstand, daß sie aus dem Hinterhalt geschehen sind, daß sie sich richteten gegen einen der höchsten Beamten des Landes, der ganz besonders geschützt werden muß, und gegen den obersten Vorgesetzten des Dr. Ries. Es kommt strafschärfend der Bildungsgrad und die amtliche und gesellschaftliche Stellung des Dr. Ries in Betracht. Bei Biermann kommt strafverschärfend in Betracht, daß er, wie bereits erwähnt, Ehrabschneiderei gewerbsmäßig betreibt, daß die ganze Tendenz seines Blattes darauf ausgeht, die Skandalsucht zu fördern, und daß er fortgesetzt in systematischer Weise den Herrn Minister beleidigt und in seiner Ehre verletzt hat. In Anbetracht alles dessen beantrage ich gegen Dr. Ries wegen Beleidigung des Herrn Landrichters Haake 6 Monate Gefängnis, wegen der Beleidigung des Herrn Ministers Ruhstrat 9 Monate Gefängnis, die ich auf eine Gesamtstrafe von 1 Jahre zusammenzuziehen bitte.

Gegen Biermann, der schon mehrfach wegen Beleidigung bestraft ist, beantrage ich wegen Beleidigung des Ministers Ruhstrat 9 Monate Gefängnis. Da Biermann wegen Beleidigung des Landrichters Haake bereits rechtskräftig zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, ersuche ich, ebenfalls auf eine Gesamtstrafe von 1 Jahre gegen Biermann zu erkennen. Die Untersuchungshaft ersuche ich den Angeklagten nicht anzurechnen, da die Angeklagten nur sehr kurze Zeit in Haft waren. Ich will dabei ausdrücklich bemerken, daß die Verhaftung Biermanns, die vom Schöffengericht für Privatklagesachen ausgesprochen wurde, durchaus gesetzlich war. Ich beantrage ferner, den Beleidigten die Publikalionsbefugnis in den „Oldenburger Anzeigen“, dem „Oldenburger General-Anzeiger“, den „Nachrichten für Stadt und Land“ und in der „Weser-Zeitung“ auf Kosten der Angeklagten zuzuerkennen, und endlich beantrage ich, den Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Verteidiger Rechtsanwalt Greving-Oldenburg für Dr. Ries: Ehe ich zur Verteidigung übergehe, muß ich erwähnen, daß gestern zwischen dem Nebenkläger, Herrn Minister Ruhstrat, und dem Angeklagten Dr. Ries eine Unterredung stattgefunden, in der der Herr Minister Herrn Dr. Ries vollständig verziehen hat, und zwar verziehen hat in vollem Umfange der Anklage. Wenn der Herr Nebenkläger nicht vollständig den Strafantrag zurückgezogen hat, so liegt das an rein äußeren Gründen. In diesem mir gezogenen Rahmen werde ich die Verteidigung führen. Ich bemerke nun zunächst, daß ich es für verfehlt halte, den verjährten Artikel zur Illustration herbeizuziehen, denn ich weiß, daß bezüglich des Artikels „Liebesmahl“ vom 19. Dezember 1902 der Strafantrag nicht nur mit Rücksicht auf den Angeklagten Dr. Ries, sondern auch im eigenen Interesse nicht gestellt worden ist. Ich habe mich, im Einverständnis mit dem Angeklagten Dr. Ries, nicht an den Einzelfragen beteiligt, allein die Beweisaufnahme hat doch ergeben, daß im hiesigen Zivilkasino viel und hoch gejeut worden ist und sich an diesem Spiel der Herr Nebenkläger beteiligt hat. Ich habe aus der Verhandlung die Überzeugung erlangt, daß Dr. Ries der Meinung war, das Hasardspiel sei verpönt und strafbar. Die Grenze, wo das gewerbsmäßige Spiel anfängt, ist ja schwer zu ziehen. Ich habe einmal gehört, daß Leute durch Hasardieren in die Lage gekommen waren, ihre Universitätsschulden sämtlich zu bezahlen. Ich würde in diesem Falle ein gewerbsmäßiges Spiel erblicken. Es ist richtig, auch der Angeklagte Dr. Ries hat in seinen jungen Jahren hasardiert und auch am letzten Kaisers Geburtstag in fröhlicher Weinlaune sich verleiten lassen, zu hasardieren. Aber es ist doch ein wesentlicher Unterschied, ob ein junger Lehrer oder ein Erster Staatsanwalt, der mit Recht ein Hüter von Recht und Gesetz genannt wird, hasardiert. Inkriminiert ist lediglich die Behauptung des Angeklagten, der Herr Nebenkläger habe Herrn Früstück, weil er von diesem einmal Geld geliehen, zum Gymnasialdirektor befördert. Ich habe aus der Verhandlung die Überzeugung gewonnen, daß diese Behauptung vollständig falsch ist. Die Verhandlung hat ergeben, daß der Herr Minister die Ernennung des Herrn Früstück zum Gymnasialdirektor nicht veranlaßt hat. Allein es ist doch nicht zu bestreiten, daß Dr. Ries den Glauben haben konnte und jedenfalls auch gehabt hat, Früstück sei befördert worden, weil er dem Minister, als er noch Staatsanwalt war, beim Spiel ein Darlehen gegeben habe. In diesem Falle muß aber nach einer Entscheidung des Reichsgerichts Freisprechung erfolgen. Die Beleidigung des Landrichters Haake ist allerdings unerklärlich. Es darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß der Vorwurf der Streberei an sich keine Beleidigung enthält. Immerhin enthält dieser Artikel eine Beleidigung gegen einen hochachtbaren richterlichen Beamten. Es ist auch in keiner Weise der Nachweis erbracht bracht worden, daß Herr Landrichter Haake sich in seine kirchlichen Ehrenämter hineingedrängt hat. Hierfür muß eine Strafe eintreten. Allein es ist doch hierbei zu berücksichtigen, daß der Angeklagte, ob aus Mißverständnis oder nicht, seine Versetzung als Strafversetzung empfunden hat und deshalb vergrämt und verbittert war. Ich bin daher der Meinung, daß dem Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen seien. Die Tendenz des „Residenzboten“ kann Dr. Ries nicht mit zur Last gelegt werden. Dr. Ries hat durch sein Verhalten, mag auf Freiheits- oder Geldstrafe erkannt werden, seine gesellschaftliche und seine Amtsstellung verloren. Er wird genötigt sein, einen schweren Kampf ums Dasein, vielleicht durch Privatunterricht, zu führen. Ich ersuche den hohen Gerichtshof, diesen Umstand und auch in Betracht zu ziehen, daß Dr. Ries sich bisher der größten Achtung und Liebe bei allen, die ihn kannten, erfreut und bisher ein tadelloses Leben geführt hat. Er hat nunmehr alles verloren. Ich bitte nochmals den hohen Gerichtshof, dies in Betracht zu ziehen und den Angeklagten nur zu einer Geldstrafe zu verurteilen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sprenger (Bremen) für Biermann: Der Herr Erste Staatsanwalt ist im Irrtum, daß der Beweis der Wahrheit nicht geführt worden ist. Ich behaupte, der Wahrheitsbeweis ist zum großen Teil geführt. Es ist erwiesen, daß im hiesigen Zivilkasino viel und leidenschaftlich gespielt wurde. Es ist erwiesen, daß Assessor Hellwarth wegen zu vieler Spielschulden nach Amerika gegangen ist, und daß Leutnant v. Stutterheim und Referendar Dietrich wahrscheinlich aus denselben Gründen sich das Leben genommen haben. Es ist erwiesen, daß Herr Gymnasialdirektor Früstück und Herr Kaufmann Lohse dem Herrn Nebenkläger Darlehne gegeben haben, da er offenbar beim Spiel Geld verloren hatte. Betreffs der „Oberschafs-Angelegenheit“ ist in 90 Prozent der Wahrheitsbeweis geführt worden, und es war nicht ausgeschlossen, daß der Wahrheitsbeweis vollständig erbracht worden wäre. Wäre alles aus der Luft gegriffen gewesen, dann hätte man den Artikel vom 19. Dezember 1902 nicht verjähren lassen. Es kann doch nicht bestritten werden, daß hier öffentliche Mißstände gegeißelt worden sind. Die Tendenz oder politische Richtung des Blattes ist dabei vollständig gleichgültig. Ich billige weder die Geschmacklosigkeit des „Residenzboten“, noch teile ich seine politische Richtung, die, wenn auch nicht sozialdemokratisch, so doch sehr nach links geht. Ich bin aber der Meinung, die Tendenz und politische Richtung eines Blattes dürfen weder beim Prüfen der Schuldfrage noch bei der Strafzumessung in Betracht kommen. Es wäre das anderenfalls ein politisches Urteil. Auch die Person Biermanns und seine moralische Qualifikation darf das Urteil nicht beeinflussen. Würde die Tendenz und politische Richtung eines Blattes das Urteil beeinflussen, dann wäre das eine Gefahr für unsere gesamten öffentlichen Rechtszustände. Eine solche Gefahr ist aber bei dem hohen Gerichtshof ausgeschlossen, nachdem sämtliche Mitglieder von vornherein erklärt haben, daß sie nicht befangen seien. Jedenfalls haben Blätter wie der „Residenzbote“ dieselbe Existenzberechtigung, wie alle anderen positiven Zeitungen. Es liegt wohl im Interesse der Allgemeinheit, wenn öffentliche Mißstände gegeißelt werden. Derartige Kritiken mögen ja vielfach unangenehm empfunden werden, sie tragen aber doch zweifellos zur Förderung des Gemeinwohls bei. Im allgemeinen Kulturinteresse wäre es zu beklagen, wenn solche Blätter wieder verschwänden.

Der Verteidiger suchte im weiteren den Nachweis zu führen, daß eine beleidigende Absicht nicht festgestellt sei, daß der Angeklagte Biermann als Bewohner Oldenburgs in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe, und jedenfalls die Behauptung, Gymnasialdirektor Früstück sei, weil er dem Minister Geld geliehen, befördert worden, für wahr gehalten habe. Daß Biermann den Artikel aus bloßer Skandalsucht aufgenommen habe, um sein Blatt interessant zu machen und Abonnenten zu gewinnen, sei eine bloße Vermutung, für die jeder Beweis fehle. Er schließe daher mit dem Antrage, den Angeklagten Biermann freizusprechen.

Vertreter des Nebenklägers, Rechtsanwalt Wisser (Oldenburg): Ich bin erstaunt, daß der Herr Verteidiger Biermanns mit Bezug auf den „Residenzboten“ von einem politischen Blatte gesprochen hat. Ich habe die Überzeugung: jedes politische Blatt ohne Unterschied der Parteirichtung würde es sich ganz energisch verbitten, mit dem „Residenzboten“ auf eine Stufe gestellt zu werden. Der „Residenzbote“ ist keine politische Zeitung, sondern ein Skandalblatt allerniedersten Ranges, das bloß die Tendenz verfolgt, Leute, die im öffentlichen Leben stehen, mit Schmutz zu bewerfen, um dadurch recht interessant zu sein. Nicht um Aufdeckung öffentlicher Schäden ist es dem „Residenzboten“ zu tun, lediglich Skandalsucht ist sein Leitmotiv. Der beste Beweis hierfür sind ja die hier zur Anklage stehenden Artikel. Der Angeklagte Biermann nahm Artikel auf, ohne irgendwie sich zu erkundigen, ob die darin aufgestellten Behauptungen wahr seien. Daß ein Wahrheitsbeweis auch nur im entferntesten geführt worden ist, bestreite ich. Es ist lediglich festgestellt worden, daß hier in einem Klub fröhlicher junger Leute zum Zwecke der Unterhaltung gejeut worden ist, und daß auch damals in jungen Jahren der jetzige Herr Minister an diesen Spielen teilgenommen hat. Es ist außerdem nachgewiesen worden, daß das Spielen sich in einer gewissen Grenze gehalten hat. Eine wirtschaftliche Gefahr ist nicht entstanden. Die Spielschulden sind in diesem Klub nicht als Ehrenschulden angesehen worden, sondern man gewährte Kredit und Revanche. Es ist ferner der Nachweis erbracht worden, daß der Fall Hellwarth in gar keinem Zusammenhange mit den Vorkommnissen im Zivilkasino gestanden habe. Es ist auch nicht nachgewiesen, daß die Selbstmorde des Referendars Dietrich und des Leutnants v. Stutterheim eine Folge der Spielleidenschaft waren. Daß ein Beweis für die „Oberschaf“ – Bemerkung geführt worden ist, bestreite ich. Ich will nicht weiter auf die Sache eingehen, da mir die Einzelheiten zu grobkörnig sind, sondern mich mehr mit der Strafzumessung beschäftigen. Es wird hierbei zu erwägen sein, daß der Angeklagte Biermann die Ehrabschneiderei gewerbsmäßig betreibt, daß er nicht die öffentliche Wohlfahrt, sondern lediglich sein persönliches Interesse im Auge hatte. Es liegt somit fast eine Verleumdung wider besseres Wissen vor, für die eine höhere Strafe als zwei Jahre Gefängnis vorgesehen ist. Biermann hat fortgesetzt einen starken verbrecherischen Willen bekundet. (Lautes Gelächter im Zuhörerraum.)

Vors.: Ich muß dies Verhalten des Publikums aufs Ernsthafteste rügen. Sollte sich ein solch ungehöriger Vorgang wiederholen, dann werde ich den Zuhörerraum raum räumen lassen.

Rechtsanwalt Wisser (fortfahrend): Ich habe vor Richtern nicht nötig, auseinanderzusetzen, daß ich im juristisch-technischen Sinne mit Recht von einem fortgesetzten verbrecherischen Willen des Angeklagten Biermann gesprochen habe. Das ganze bisherige Verhalten Biermanns charakterisiert ihn als einen gemeingefährlichen Menschen. Ich bemerke, der Herr Nebenkläger hatte keinerlei Ursache, diesen Prozeß zu fürchten. Es gehört aber eine gewisse Überwindung dazu, sich mit einem Menschen wie Biermann vor Gericht zu stellen. Erst als die Angriffe fortlaufend ohne Aufhören kamen, fühlte sich der Herr Nebenkläger gezwungen, den Strafantrag zu stellen. Dies der Erklärungsgrund, daß der erste Artikel verjährt ist. Die Persönlichkeit Biermanns ist schließlich sehr gleichgültig. Viel interessanter ist die Persönlichkeit des Dr. Ries. Ich muß offen bekennen, ich finde es unerklärlich, wie ein Mann von der Bildung und sozialen Stellung des Dr. Ries sich soweit vergessen konnte. Ich gebe zu, Dr. Ries fühlte sich verletzt. Aber dadurch, daß er darauf los schrieb, ohne sich irgendwie zu erkundigen, ob seine Vermutungen wahr seien, hat er sich auch fast der Verleumdung wider besseres Wissen schuldig gemacht. Daß er nicht bloß aus Rachsucht gehandelt hat, geht aus dem Artikel, der eine schwere Beleidigung des Landrichters Haake enthält, hervor. Allein Dr. Ries hat in der Tat aufrichtige Reue empfunden. Wenn ich auch der Meinung bin, daß den Dr. Ries eine Freiheitsstrafe treffen muß, so will ich doch das Strafmaß dem hohen Gerichtshof anheimstellen.

Anders dagegen ist der Angeklagte Biermann zu beurteilen. Ich halte es für notwendig, im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt gegen diesen auf eine hohe Strafe zu erkennen. Ich ersuche daher den hohen Gerichtshof, gegen Biermann zum mindesten nach dem Antrage des Herrn Ersten Staatsanwalts zu erkennen.

Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sprenger suchte nochmals darzutun, daß die Behauptung, Biermann hatte bloß die Tendenz, Leute, die im öffentlichen Leben stehen, mit Schmutz zu bewerfen, in der Luft stehe. Ein Beweis sei hierfür nicht erbracht. Noch weniger könne von einem fortgesetzten verbrecherischen Willen die Rede sein.

Der Erste Staatsanwalt teilte darauf mit, es sei amtlich festgestellt, daß Leutnant v. Stutterheim eines natürlichen Todes gestorben sei.

Der Vert. R.-A. Greving suchte darzutun, daß den Angeklagten Dr. Ries eine Freiheitsstrafe sehr hart treffen würde. Der Verteidiger wies auf die hohe Begabung und Charaktereigenschaften des Dr. Ries hin, der aufrichtige Reue empfinde, und ersuchte den Gerichtshof, ein Urteil zu fällen, das dem Angeklagten die Möglichkeit gäbe, sich eine neue Lebensstellung zu schaffen.

Die Angeklagten erklärten, daß sie sich den Ausführungen ihrer Verteidiger anschließen.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bödeker, folgendes Urteil: Der Gerichtshof hat dahin erkannt, daß der Angeklagte Dr. Ries zu einer Gesamtstrafe von 6 Monaten Gefängnis, unter Anrechnung der bereits erlittenen Untersuchungshaft, Biermann, unter Einrechnung der gegen diesen bereits erkannten Strafe von 6 Monaten und 2 Monaten Gefängnis, zu einer Gesamtstrafe von 10 Monaten Gefängnis zu verurteilen sei. Dem Angeklagten Biermann ist die vom 1. bis 9. August erlittene Untersuchungshaft in Anrechnung gebracht.

Den Beleidigten, Herrn Minister Ruhstrat und Landrichter Haake, ist die Befugnis zuerkannt worden, das Urteil nach erlangter Rechtskraft auf Kosten der Angeklagten bekanntzumachen im „Generalanzeiger für Oldenburg und Ostfriesland“, in den „Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land“, im „Oldenburger Residenzboten“ und in der „Weser-Zeitung“. Wegen der zwei Anklagepunkte, bezüglich deren der Herr Minister den Strafantrag zurückgezogen, hat der Gerichtshof auf Einstellung des Verfahrens erkannt.

Die Kosten des Verfahrens fallen den Angeklagten zur Last, die Kosten betreffs des eingestellten Verfahrens hat der Herr Nebenkläger zu tragen.

Der Gerichtshof hat in dem „Jeu“-Artikel, in dem gesagt ist, die Spielleidenschaft trage nur zur Beförderung bei, und Herr Gymnasialdirektor Früstück habe seine Beförderung nur dem Umstand zu verdanken, daß er dem Minister beim Spiel Geld geliehen, eine arge Beleidigung des Herrn Ministers gefunden; die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß diese Behauptung vollständig unwahr ist. Es ist allerdings der Nachweis geführt worden, daß vor langen Jahren im hiesigen Zivilkasino hin und wieder Hasard gespielt worden ist, an dem auch der jetzige Minister Ruhstrat sich beteiligt hat. Daß der Herr Minister sich dabei besonders hervorgetan hat, ist nicht nachgewiesen. In dem Artikel, in dem dem Landrichter Haake vorgeworfen wird, er heuchle Frömmigkeit, um Karriere zu machen, hat der Gerichtshof eine sehr schwere Beleidigung gefunden. Wegen der Beleidigung des Landrichters Haake ist auf drei Monate, wegen der Beleidigung des Ministers Ruhstrat auf fünf Monate Gefängnis erkannt und diese Strafe auf sechs Monate Gefängnis zusammengezogen worden. Bei der Strafzumessung ist einmal die Schwere der Beleidigungen, der Umstand, daß sie aus dem Hinterhalt kamen und einen Mann von solch exponierter Stellung wie den Herrn Minister trafen, andererseits aber betreffs des Dr. Ries, dessen bisherige gute Führung, der Umstand, daß ihm der Herr Minister verziehen hat und auch, daß er sich offenbar in dem Glauben befunden hat, er sei mit Unrecht strafversetzt, in Betracht gezogen worden. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen konnte den Angeklagten nicht zugestanden werden. Der Presse kann in dieser Beziehung keine Ausnahmestellung eingeräumt werden. Bei dem Angeklagten Biermann ist erwogen worden, daß seine Zeitung lediglich die Tendenz halle, in der Öffentlichkeit Skandal zu machen. Es kam ihm lediglich darauf an, die Ehre anderer in den Schmutz zu ziehen, und zwar betrieb er das gewerbsmäßig. Es ist deshalb, wie geschehen, erkannt worden.

Der Vert. R.-A. Dr. Sprenger beantragte noch, einen Protest zu Protokoll zu nehmen, daß, nachdem dem Vertreter des Nebenklägers, Rechtsanwalt Wisser, nochmals das Wort gegeben, der Gerichtshof abgetreten, bald darauf aber wieder erschienen sei und den Angeklagten das letzte Wort gegeben habe, ohne die Sitzung wieder eröffnet zu haben.

Im „Residenzboten“ wurden die Angriffe gegen den Minister Ruhstrat fortgesetzt. Es wurde deshalb im März 1904 der verantwortliche Redakteur Kruse wegen Beleidigung des Ministers Ruhstrat zu einer ziemlich empfindlichen Strafe verurteilt.

Im September 1904 erschienen im „Residenzboten“ ten“ wiederum mehrere Artikel, in denen mitgeteilt wurde, es sei gegen Minister Ruhstrat bei der Großherzoglichen Staatsanwaltschaft die Anzeige erstattet worden, er habe in der im November 1903 stattgefundenen Gerichtsverhandlung wissentlich einen Meineid geleistet. Außerdem wurde behauptet, der Minister habe im Landtag die Unwahrheit gesagt. Er habe vor Gericht beschworen, er habe nur im Zivilkasino gespielt. Im Landtag habe der Minister gesagt, seine Spielerepoche liege 14 Bis 15 Jahre zurück. „Tatsächlich hat der Minister,“ so hieß es in einem der Artikel, „bis in die neueste Zeit in öffentlichen Lokalen mit größter Leidenschaftlichkeit dem Glücksspiel gefrönt und ist fast stets Bankhalter gewesen.“ Es wurde in den Artikeln ferner öffentlich Protest erhoben, „daß ein unwidersprochen des Meineids beschuldigter Mann in irgendeiner Form an den Geschicken des Landes teilnimmt“ usw. Die Strafanzeige wurde von der Staatsanwaltschaft als unbegründet abgelehnt.

Als Minister Ruhstrat von seiner Ferienreise zurückkam, stellte er gegen Biermann und den verantwortlichen Redakteur des „Residenzboten“, Hermann Fritz Schweynert, Strafantrag. Die Großherzogliche Staatsanwaltschaft erhob sogleich die Anklage wegen Beleidigung und schritt sofort zur Verhaftung beider Angeklagten.

Am 1. und 2. Dezember 1904 hatte sich Schweynert nert wegen Beleidigung des Ministers vor der ersten Strafkammer des Oldenburger Landgerichts zu verantworten.

Den Gerichtshof bildeten: Landgerichtsdirektor Erk (Vorsitzender), Landgerichtsrat Kitz, Landrichter Janßen, Amtsrichter Böhmcker und Gerichtsassessor Dr. Rumpf (Beisitzende). Die Großherzogliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Fimmen. Minister Ruhstrat hatte sich der Anklage als Nebenkläger angeschlossen und Rechtsanwalt Wisser (Oldenburg) mit seiner Vertretung beauftragt. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Sprenger (Bremen) und Rechtsanwalt Dr. Herz (Altona).

Sogleich nach Eröffnung der Sitzung erklärte der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Er habe die Beisitzenden Landrichter Janßen und Landgerichtsrat Kitz als Zeugen geladen und könne auf deren Zeugnis nicht verzichten. Aus diesem Grunde, aber auch, weil diese Herren in der vorjährigen Verhandlung gegen Biermann als Richter mitgewirkt haben, lehne er sie wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Es sei gerichtsnotorisch, daß der „Residenzbote“ seit langer Zeit die Oldenburger Juristen mit Angriffen verfolge. Das sei keineswegs zu billigen. Es sei aber Tatsache, und deshalb sei die Besorgnis der Befangenheit gegen alle Oldenburger Richter gerechtfertigt.

Staatsanwalt Dr. Fimmen: Er beantrage, sämtliche Ablehnungsanträge als unbegründet abzulehnen. Es seien das alte Geschichten, die sich in jeder Verhandlung gegen die Redakteure des „Residenzboten“ wiederholen. Es wiederhole sich auch stets, daß die Ablehnungsanträge erst in letzter Minute gestellt werden; es gewinne dadurch den Anschein, als bestehe die Absicht, die Verhandlung zu verschleppen.

Der Vertreter des Nebenklägers, Rechtsanwalt Wisser, stellte den Beschluß dem Gerichtshofe anheim.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Eine Verschleppung liegt mir und meinem Klienten absolut fern. Der Eröffnungsbeschluß ist dem Angeklagten erst vor acht Tagen zugestellt worden, und ich habe erst vor einigen Tagen die Vollmacht erhalten. Ich konnte auch die Zusammensetzung des Gerichtshofes nicht kennen. Im übrigen hat im vorigen Jahre in der Verhandlung wider Dr. Ries und Biermann Herr Rechtsanwalt Greving den Ablehnungsantrag vorher eingereicht, der Gerichtshof hatte aber trotzdem beschlossen, erst in der öffentlichen Verhandlung darüber Beschluß zu fassen.

Vorsitzender: Ich bemerke, daß vom Angeklagten eine ganze Reihe Zeugen nachträglich geladen sind; ich frage den Herrn Staatsanwalt, ob er deshalb Veranlassung nehmen wird, die Aussetzung der Verhandlung zu beantragen.

Staatsanwalt: Ich kann mich darüber noch nicht entscheiden, da ich nicht weiß, was die Zeugen aussagen sollen. Ich werde selbstverständlich bemüht sein, eine Aussetzung der Verhandlung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Rechtsanwalt Wisser schloß sich dieser Erklärung an.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes bemerkte der Vorsitzende: Die Verhandlung wird zwecks Beschlußfassung über die gestellten Ablehnungsanträge auf eine Stunde vertagt.

Nach etwa einer Stunde trat ein neuer Gerichtshof, bestehend aus Landgerichtspräsident Niemöller (Vorsitzender), Landgerichtsrat Hartong und Amtsrichter Brauer (Beisitzende), in den Saal. Der Vorsitzende verkündete: Die abgelehnten Richter haben auf Befragen erklärt, daß sie sich nicht für befangen halten. Wir haben nun beschlossen, nur den Ablehnungsantrag betreffs der Landgerichtsräte Kitz und Janßen als gerechtfertigt anzuerkennen, da diese als Zeugen geladen sind, und es nicht angängig ist, daß Zeugen gleichzeitig Richter sind. Der Ablehnungsantrag betreffs des Landgerichtsdirektors Erk, Amtsrichters Böhmcker und Assessors Dr. Rumpf ist abgelehnt worden. An Stelle der Landgerichtsräte Kitz und Janßen werden Landgerichtsrat Hartong und Amtsrichter Brauer als Richter hinzugezogen. Darauf tritt dieser Gerichtshof ab, und es erscheint ein anderer Gerichtshof, hof, bestehend aus Landgerichtsdirektor Erk, Vors., Landgerichtsrat Hartong, Amtsrichter Böhmcker, Oberamtsrichter Brauer und Gerichtsassessor Dr. Rumpf (Beisitzer).

Der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Erk erklärte die Sitzung wieder für eröffnet.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich muß auch die neueingetretenen Richter, die Herren Landgerichtsrat Hartong und Oberamtsrichter Brauer aus Besorgnis der Befangenheit ablehnen. Ich erkläre ferner von vornherein, daß ich sämtliche Mitglieder des Oldenburger Landgerichts und auch des Oberlandesgerichts wegen Besorgnis der Befangenheit ablehne. Ich bin genötigt, diesen Antrag zu stellen, da der „Residenzbote“ seit langer Zeit die Oldenburger Juristen in heftigster Weise angegriffen hat. Es liegt somit die große Gefahr vor, daß die Oldenburger Juristen gegen die Redakteure des „Residenzboten“ voreingenommen seien. Ich halte es daher für notwendig, daß das Reichsgericht über meinen Ablehnungsantrag befindet.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich muß mich diesem Antrage anschließen. Der „Residenzbote“ gilt in Oldenburg als Schmutz- und Skandalblatt, es liegt daher nahe, daß gegen die Redakteure dieses Blattes in der Oldenburger Gesellschaft, insbesondere aber in den Kreisen der Oldenburger Juristen, eine große Erregung gegen dieses Blatt besteht. Es ist daher die Befürchtung gerechtfertigt, daß Oldenburger Richter gegen die Redakteure dieses Blattes objektiv nicht ganz ohne Voreingenommenheit sein werden. Den Vorwurf der Verschleppung muß ich ebenfalls als unbegründet zurückweisen. Ich habe den Herrn Staatsanwalt um Aushändigung der Prozeßakten ersucht, bin aber abschlägig beschieden worden. Die Verteidigung war daher nicht in der Lage, sich rechtzeitig zu informieren. Der Verteidigung stehen nicht derartige Mittel zwecks Informierung zu Gebote wie der Staatsanwaltschaft. Es kommt noch hinzu, daß beide Angeklagte sich in Haft befunden haben, Ferner kommt hinzu, daß der eine der Verteidiger in Bremen, der andere in Altona wohnt.

Staatsanwalt: Ich erwidere darauf, daß die Anklage dem Angeklagten am 12. Oktober zugegangen ist, der Herr Verteidiger war daher wohl in der Lage, sich zu informieren. Eine Aushändigung der Prozeßakten steht bekanntlich dem Verteidiger gesetzlich nicht zu. Ich lehne grundsätzlich die Aushändigung der Prozeßakten ab.

Verteidiger R.-A. Dr. Herz: Daß die Verteidigung einen gesetzlichen Anspruch auf Aushändigung der Prozeßakten nicht hat, ist mir selbstverständlich bekannt. Dadurch ist doch aber die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß die Verteidigung nicht in der Lage war, sich rechtzeitig zu informieren. Wenn auch die Anklage dem Angeklagten am 12. Oktober zugegangen ist, so ist doch daraus nicht zu ersehen, daß und wann der Eröffnungsbeschluß erfolgen wird.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger schloß sich dieser Erklärung an. Er müsse wiederholen, daß nicht die Verteidigung überraschen wollte, sondern daß die Verteidigung überrascht worden sei. Der Verteidiger wollte wiederholt den Antrag auf Ablehnung aller Mitglieder des Oldenburger Landgerichts und Oberlandesgerichts begründen.

Vorsitzender (mit erhobener Stimme): Ich muß Sie dringend auffordern, Herr Rechtsanwalt, sich nur auf die Begründung der Ablehnung der beiden in das Kollegium neu eingetretenen Richter zu beschränken.

Verteidiger R.-A. Dr. Sprenger: Der scharfe Ton des Herrn Vorsitzenden nötigt mich um so mehr, bei meinem Ablehnungsantrag zu beharren.

Vorsitzender: Darauf entziehe ich Ihnen das Wort, Herr Rechtsanwalt.

R.-A. Dr. Sprenger: Ich beantrage, einen Gerichtsbeschluß zu fassen, ob der Herr Vorsitzende berechtigt ist, mir das Wort zu entziehen.

Vors. (mit erhobener Stimme): Diese Bemerkung ist eine solche, wie man sie von einem Rechtsanwalt nicht zu hören gewohnt ist. Mir steht in diesem Saale als Vorsitzender die Sitzungspolizei zu, ich muß diese Bemerkung als ungehörig bezeichnen.

Verteidiger R.-A. Dr. Herz: Ich erkenne an, daß dem Herrn Vorsitzenden die Sitzungspolizei zusteht, ich muß aber im Interesse der Verteidigung bitten, Herrn Rechtsanwalt Sprenger das Wort zu geben.

Nach noch längerer Erörterung zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück.

Nach sehr kurzer Zeit trat ein anderer Gerichtshof in den Saal. Der Vorsitzende, Landgerichtspräsident Niemöller, verkündete: Der Gerichtshof hat den Ablehnungsantrag des Herrn Verteidigers abgelehnt, da die Herren sämtlich erklärt haben, daß sie sich nicht für befangen halten.

Darauf trat der alte Gerichtshof wieder ein.

Verteidiger R.-A. Dr. Sprenger: Ich beantrage, die Sache Schweynert mit der Sache Biermann zu verbinden; dies würde sehr wesentlich zur Vereinfachung der Verhandlung beitragen.

Staatsanwalt: Ich beantrage, den Antrag abzulehnen, da die inkriminierten Artikel vollständig verschiedener Art sind.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Aber doch nur in der Form.

Der Gerichtshof lehnte den Antrag des Verteidigers ab und begann mit dem Zeugenaufruf.

Der Vorsitzende forderte Rechtsanwalt Dr. Sprenger auf, da er Zeuge war, vorläufig den Saal zu verlassen. sen.

R.-A. Dr. Sprenger: Ich bitte, mir im Interesse des Angeklagten zu gestatten, im Saale zu bleiben, es ist das jedenfalls statthaft.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich muß mich im Interesse des Angeklagten dieser Bitte anschließen und beantrage eventuell hierüber einen Gerichtsbeschluß.

Nach kurzer Beratung verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger, da dieser als Zeuge geladen ist, aufzufordern, vorläufig den Saal zu verlassen. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß Zeugenpflicht vor Verteidigungspflicht geht.

R.-A. Dr. Sprenger: Dann bitte ich den Herrn Vorsitzenden, mich möglichst in erster Reihe zu vernehmen.

Vors.: Dieser Bitte werde ich wohl nicht entsprechen können.

Rechtsanwalt Dr. Sprenger verließ darauf den Saal.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich beantrage, auch den Herrn Minister Ruhstrat und Herrn Rechtsanwalt Wisser aufzufordern, den Saal zu verlassen.

Vors.: Herr Rechtsanwalt, dem Herrn Minister ist als Nebenkläger der Aufenthalt im Saale zweifellos gestattet.

Vert.: Dann beschränke ich meinen Antrag auf Herrn Rechtsanwalt Wisser.

Nach kurzer Beratung beschloß der Gerichtshof, den Antrag des Verteidigers abzulehnen. Nach einer Reichsgerichtsentscheidung sei es sowohl dem Nebenkläger als auch seinem Vertreter gestattet, im Saale zu bleiben.

Es wurden darauf die inkriminierten Artikel des „Residenzboten“ verlesen. In diesen wurde dem Minister zum Vorwurf gemacht, er habe in der Verhandlung wider Dr. Ries und Biermann (November 1905) unter seinem Eide ausgesagt, seine Spielerepoche liege 14 bis 15 Jahre zurück, und er habe lediglich im Kasino gespielt. Eine ähnliche Erklärung habe der Minister im Landtage gemacht. Es könne aber nachgewiesen werden, daß der Minister noch bis in die neueste Zeit und auch bei Eilers viel und hoch hasardiert habe und dabei zumeist Bankhalter gewesen sei.

Der Angeklagte Schweynert äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe die inkriminierten Artikel geschrieben und bitte, dem Beweisantrag seines Verteidigers stattzugeben.

Der Angeklagte gab solch unklare Antworten und machte überhaupt einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Herz, bemerkte: Der Angeklagte ist durch die lange Untersuchungshaft geistig so deprimiert, daß seine Antworten nicht maßgebend sein können.

Angeklagter Schweynert: Ich werde im Gefängnis „Vechta“ gezwungen, täglich 11 Stunden Zwangsarbeit zu tun, dadurch bin ich in einem Seelenzustande, daß ich nur schwer eine klare Antwort geben kann.

Alsdann wurde Justiz- und Kultusminister Ruhstrat als Zeuge vernommen: Er heiße mit Vornamen Friedrich Theodor Karl und sei 45 Jahre alt. Er sei in der Verhandlung wider Dr. Ries und Biermann, November 1903, gar nicht gefragt worden, seit wann er nicht mehr gespielt habe, auch nicht, ob er nur im Kasino gespielt habe, er hatte also keine Veranlassung, sich hierüber auszulassen. Er wolle aber ausdrücklich bemerken, daß er weder als Oberstaatsanwalt noch als Minister jemals „Lustige Sieben“ gespielt habe. Er glaube bestimmt, daß er seit 1895 nicht mehr „Lustige Sieben“ gespielt habe.

Vert. R.-A. Dr. Herz beantragte, diese Aussage des Ministers zu protokollieren.

Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Herr Minister, wurden Sie in der vorerwähnten Prozeßverhandlung nicht auch einmal gefragt, ob Ihnen bekannt sei, daß Assessor Hellwarth wegen Spielschulden ausgewandert sei?

Zeuge: Das ist mir wohl erinnerlich.

Vors.: War das nicht ein Vorgang aus neuerer Zeit?

Zeuge: Das ist möglich, ich wurde aber nicht danach gefragt.

Landgerichtsdirektor Bödeker, der alsdann als Zeuge erschien, bekundete: Er habe in der Verhandlung wider Dr. Ries-Biermann (November 1903) den Vorsitz geführt. Er erinnere sich nicht, daß Minister Ruhstrat gefragt worden sei, wann er das letzte Mal gespielt habe, auch nicht, ob er bloß im Kasino gespielt habe.

Vorsitzender: Ist vom Herrn Minister vielleicht eine dahingehende Antwort gegeben worden?

Zeuge: Nein.

Vert.: Ist in der Verhandlung nicht zur Sprache gekommen, daß Dingelfingen, d.h. Oldenburg, das größte Spielernest sei?

Zeuge: Das ist allerdings zur Sprache gekommen.

Vert.: Ist nicht in der Verhandlung ein Brief von Dr. Meyer-Holtgraefe verlesen worden?

Zeuge: Jawohl.

Landrichter Dr. Klaue, der in der Strafkammer-Verhandlung Beisitzender war und das Erkenntnis abgefaßt hat, schloß sich im wesentlichen der Bekundung des Vorzeugen an.

Referendar Christians, der im Auftrage des Oldenburger „General-Anzeigers“ die Verhandlungen stenographisch aufgenommen hat, bekundete ebenfalls, er habe weder gehört, daß Minister Ruhstrat gesagt habe, wie lange seine Spielerepoche zurückliege, noch daß er lediglich im Kasino gespielt habe.

Staatsanwalt: Sie haben das Stenogramm nach bestem stem Können wortgetreu aufgenommen.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wenn der Minister gesagt hätte: er habe vor 14 bis 15 Jahren zum letzten Male lediglich im Kasino gespielt, würden Sie es alsdann nicht für Ihre Pflicht erachtet haben, das in Ihr Stenogramm aufzunehmen?

Zeuge: Gewiß.

Lohndiener Laturnus: Er sei von 1888 bis 1890 Kellner bei Eilers gewesen und habe dort den Minister oftmals spielen sehen.

Vors.: Die Zeit vom 1888 bis 1890 kommt doch aber gar nicht in Betracht.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich muß bemerken, daß der Zeuge sich aus eigenem Antriebe bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger gemeldet hat.

Ein weiterer Zeuge war der 21jährige Kellner Johann Hermann Meyer: Er sei von 1899 bis 1900 Kellner im Kasino gewesen. Er habe den Minister Ruhstraf sehr oft im Kasino „Lustige Sieben“ spielen sehen. Es sei stets zunächst Skat, alsdann „Lustige Sieben“ gespielt worden. Wenn „Lustige Sieben“ gespielt wurde, seien die Gardinen vorgezogen worden. Wenn er alsdann in die Nähe gekommen sei, habe er 3-5 Mark erhalten, damit er sich entfernen solle. Auf die Erde geworfenes Silbergeld konnten sich die Kellner nehmen.

Vors.: Hat sich Herr Minister Ruhstrat auch an den Examenskneipereien beteiligt?

Zeuge: Nein.

Vors.: Bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger haben Sie aber gesagt: der Herr Minister habe sich an den Examenskneipereien beteiligt. Auch haben Sie sich bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger keineswegs so bestimmt betreffs des Spielens „Lustige Sieben“ ausgedrückt.

Zeuge: Als ich von Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger vernommen wurde, wußte ich das nicht mehr so genau; ich habe es mir erst später genau überlegt.

Vors.: Wie kamen Sie überhaupt zu Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger?

Zeuge: Ich wurde vorgeladen.

Vors.: Wie alt waren Sie, als Sie als Kellner ins Kasino kamen?

Zeuge: 16 Jahre.

Kellner Boineß: Er sei von 1898 bis Ende 1900 im Kasino gewesen; er habe den Minister Ruhstrat nur immer Skat spielen sehen.

Minister Ruhstrat bemerkte darauf auf Befragen des Vorsitzenden, im August 1896 sei er Oberstaatsanwalt, im August 1900 Minister geworden.

Buchhändler Schmidt, Zahnarzt Dr. Schleppegrell, Oberregierungsrat Dr. Woebs und Regierungsrat Becker bekundeten übereinstimmend: Sie haben 1898, 1899 und 1900 oftmals mit dem Minister Ruhstrat im Kasino Skat gespielt. Bisweilen sei auch nach dem Skat gepokert worden. „Lustige Sieben“ haben sie niemals gespielt.

Es wurde darauf Rechtsanwalt Dr. Sprenger (Bremen) als Zeuge in den Saal gerufen. Er sei in dem Prozeß Ries-Biermann, November 1903, Verteidiger gewesen. Er könne sich nicht mehr auf einzelne Vorgänge erinnern, er habe aber das Gefühl, daß Minister Ruhstrat gesagt habe: er habe seit 13-14 Jahren nicht mehr gespielt. Dies sei auch zweifellos die Auffassung der Zeitungsberichterstatter gewesen. Soweit ihm erinnerlich, habe der Vorsitzende es auch in der mündlichen Urteilsbegründung zum Ausdruck gebracht, daß die Spielerepoche des Ministers 13-14 Jahre zurückliege. Dieser Umstand sei auch bei der Strafzumessung bezüglich des Angeklagten Ries strafschärfend ins Gewicht gefallen, zumal Ries zugegeben hatte, daß er sich selbst am Spiel beteiligt habe. Der Zeuge Meyer sei auf Veranlassung des Laturnus zu ihm gekommen. Er habe den Zeugen Meyer aufs eindringlichste ermahnt, die Wahrheit zu sagen. Er habe ihm scharf ins Gewissen geredet und gesagt: er solle sich jedes Wort genau überlegen, denn er müsse seine Aussage beschwören. Er solle bedenken, daß man ihm als Kellner nicht ohne weiteres glauben werde. Meyer habe ihm erst Räubergeschichten erzählt. zählt.

Vors.: „Räubergeschichten“? Das ganze Protokoll wimmelt ja von Räubergeschichten.

Der Vorsitzende ermahnte den Zeugen Meyer nochmals, die Wahrheit zu sagen. Der Zeuge blieb bei seiner Bekundung; er habe inzwischen genau nachgedacht.

Regierungsrat Becker, Zahnarzt Dr. Schleppegrell usw. bemerkten dem Kellner Meyer, daß sie nicht „Lustige Sieben“ gespielt haben.

Meyer blieb jedoch bei seiner Aussage, er könne sich aber nicht mehr erinnern, ob ihm Minister Ruhstrat 3 oder 5 Mark an den Kopf geworfen habe, damit er sich zurückziehe.

Der Staatsanwalt beantragte auf Grund des § 185 des Gerichtsverfassungsgesetzes, die Aussage des Zeugen Meyer zu protokollieren.

Der Vert. R.-A. Dr. Herz protestierte dagegen. Dadurch würde der Gerichtshof vor Beendigung der Beweisaufnahme ein Urteil fassen.

Der Vorsitzende bemerkte, daß die Beschlußfassung hierüber ausgesetzt werde.

Am folgenden Tage nahm sogleich das Wort Verteidiger R.-A. Dr. Herz: Ehe wir in die Verhandlung eintreten, bin ich genötigt, betreffs des Angeklagten Schweynert einige Bemerkungen zu machen. Der Angeklagte hat gestern mitgeteilt, ohne daß seiner Mitteilung teilung von dem Herrn Staatsanwalt widersprochen wurde, daß er täglich 11 Stunden lang schwere körperliche Arbeit verrichten müsse. Das ist für den Angeklagten um so härter, da er Kopfarbeiter und an körperliche Arbeit nicht gewöhnt ist. Es kommt hinzu, daß der Angeklagte körperlich schwächlich und eine sehr empfindsame Natur ist. Dieser Umstand hat es auch verschuldet, daß der Angeklagte gestern nur mit Mühe dem Gange der Verhandlung folgen konnte. Es kommt hinzu, daß die Verpflegung des Angeklagten im Gefängnis eine sehr schlechte ist. Gestern hat z.B. der Angeklagte während des ganzen Tages nur eine kalte Erbsensuppe und ein Stück trockenes Brot bekommen. Der Angeklagte sitzt außerdem in Isolierhaft, nun ist er gestern plötzlich in einen großen Menschenstrom hineingekommen. Der Angeklagte befindet sich infolgedessen in einem Zustande, daß ich den Herrn Vorsitzenden bitten muß, nicht länger als vier Stunden hintereinander zu verhandeln und nach vier Stunden eine größere Pause zu machen.

Staatsanwalt Dr. Fimmen: Ich muß erwidern, ich habe deshalb der Bemerkung des Angeklagten nicht widersprochen, da ich sie nicht von weiterer Bedeutung hielt, damit habe ich aber die Bemerkung noch keineswegs als richtig zugegeben. Im übrigen muß ich behaupten, daß die Behandlung und Verpflegung des Angeklagten nicht schlechter ist als in anderen deutschen schen Strafanstalten.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Soviel mir bekannt, ist es statthaft, daß der Herr Vorsitzende anordnet, es solle wenigstens während der Dauer der Verhandlung dem Angeklagten eine bessere Verpflegung zuteil werden.

Vors.: Ich werde das in Erwägung ziehen. Daß eine Verhandlung, wie wir sie gestern gehabt haben, den Angeklagten aufregt, ist selbstverständlich. Wir werden ja sehen, wieweit der Angeklagte imstande ist, der Verhandlung zu folgen. Ich ersuche den Zeugen Meyer, nochmals vorzutreten und bitte Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger, den Saal zu verlassen, da ich eine Gegenüberstellung dieser beiden Zeugen beabsichtige.

Vors.: Nun Meyer! Sie haben gestern gehört, daß drei Herren beschworen haben, sie haben in den Jahren 1899/1900 niemals mit Herrn Minister Ruhstrat „Lustige Sieben“ gespielt. Wollen Sie trotzdem Ihre gestrige Aussage aufrecht halten?

Kellner Meyer: Jawohl, ich erinnere mich jetzt ganz genau, daß die drei anderen Herren mit Herrn Minister Ruhstrat „Lustige Sieben“ gespielt haben. Zunächst spielten die Herren Skat, alsdann „Lustige Sieben“.

Vors.: Wie erklären Sie es, daß Sie bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger davon nichts gesagt haben?

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich muß gegen diese Fragestellung protestieren, Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger hat gestern ausdrücklich bekundet: Der Zeuge habe ihm gesagt, es sei zunächst Skat und alsdann „Lustige Sieben“ gespielt worden, er habe aber, da er auf das Skatspiel keinen Wert legte, dies nur angedeutet.

Vors.: Jedenfalls ist dies in dem Protokoll des Herrn Rechtsanwalts Sprenger nicht klar zum Ausdruck gekommen.

Es wird darauf Rechtsanwalt Dr. Sprenger als Zeuge in den Saal gerufen. Dieser bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe auf das Skatspiel keinen Wert gelegt; mir kam es lediglich darauf an, ob „Lustige Sieben“ gespielt wurde. Deshalb habe ich natürlicherweise den Hauptwert auf die „Lustige Sieben“ gelegt. Das Protokoll ist auch durchaus nicht als ein solches aufzufassen, das von dem Zeugen beschworen werden sollte. Mir war die große Bedeutung der Angaben des Kellners Meyer vollständig klar. Ich habe dem jungen Mann gesagt: Überlegen Sie sich die Sache ganz genau! Es werden Zeugen auftreten, die das Gegenteil beschwören werden. Sie sind Kellner, man wird Ihnen nicht ohne weiteres glauben. Sagen Sie also nur das, was Sie beweisen können, Sie könnten andernfalls in eine sehr mißliche Lage kommen. Meyer bat mich daher, seine Aussagen noch nicht sämtlich ins Protokoll aufzunehmen, er werde es sich noch einmal genau überlegen. Ich hielt es in meiner Eigenschaft als Verteidiger für meine Pflicht, im Interesse meines Klienten dieser so wichtigen Aussage des Zeugen näherzutreten. Obwohl ich den Eindruck hatte, daß der Zeuge vollkommen glaubwürdig war, hielt ich es für meine Pflicht, ihn in entschiedener Weise zur größten Vorsicht zu ermahnen und ihm zu sagen: Sie sind vielleicht heute nicht vorbereitet, überlegen Sie sich die Sache lieber noch ganz genau. Dieser Umstand hat mich veranlaßt, die Aussagen des Zeugen nicht so ganz bestimmt ins Protokoll aufzunehmen.

Staatsanwalt: Wie kommt es aber, daß Sie den Zeugen haben unterschreiben lassen: „Ich bin bereit, zu jeder Zeit nach Oldenburg zu kommen und den Inhalt des Protokolls zu beschwören“?

Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Das ist doch ganz selbstverständlich; das Protokoll konnte ja nur einen Wert haben, wenn der Zeuge es in dieser Weise unterschrieb. Ich ersuche, den Zeugen zu fragen, ob ich ihm schließlich gesagt habe: er müsse jetzt unterschreiben, ob er bereit sei, das, was er ausgesagt habe, vor Gericht zu beschwören, da ich das Protokoll dem Gericht einreichen müsse.

Vors.: Hat Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger dies zu Ihnen gesagt?

Zeuge: Jawohl.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich beantrage ferner, den Zeugen zu fragen, ob er zu mir gesagt hat: Ich war sehr erstaunt, als ich in den Zeitungen las: Minister Ruhstrat habe vor Gericht erklärt, daß er seit 13 bis 14 Jahren nicht mehr gespielt habe.

Vors.: Haben Sie das Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger gesagt?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Wie kommt es, daß, obwohl Sie dem Zeugen gesagt haben: er solle sich das, was er zu Protokoll erkläre, noch einmal genau überlegen, Sie die Aussage trotzdem in dem Prozeß Kruse vorgebracht und dies als eine ganz neue Belastung des Herrn Ministers Ruhstrat bezeichnet haben. Auch in der Öffentlichkeit ist diese Ihre Mitteilung als ganz besonders belastend aufgefaßt worden.

Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich habe die Aussagen des Zeugen Meyer deshalb in dem Prozeß Kruse mitgeteilt, weil ich sie für vollkommen glaubwürdig hielt.

Vors.: Nun, Meyer, machen Sie es sich klar, Ihre Aussage ist von schwerwiegendster Bedeutung und steht im direkten Gegensatz zu drei anderen beschworenen Zeugenaussagen. Sie können Ihre Aussage jetzt noch ändern; ich frage Sie also nochmals, wollen Sie mit voller Bestimmtheit sagen, daß Herr Minister Ruhstrat in den Jahren 1899 und 1900 sehr oft im hiesigen Zivilkasino „Lustige Sieben“ gespielt hat?

Zeuge: Jawohl, ich halte meine Aussage aufrecht.

Vors.: Ist es auch richtig, daß die Herren Ihnen oftmals 3-5 Mark gegeben haben, damit Sie sich aus dem Spiellokal entfernen?

Zeuge: Nein, aber aus Ihren Blicken konnte ich entnehmen, daß die Herren meine Entfernung aus dem Lokal wünschten.

Vors.: Haben Sie gesehen, daß die Herren Silbergeld auf die Erde geworfen haben?

Zeuge: Das habe ich nicht gesehen, ich habe aber oftmals nach Beendigung des Spiels Geld auf dem Fußboden gefunden.

Vors.: War das nur Silbergeld oder auch Gold?

Zeuge: Nur Silbergeld.

Vors.: Wie lange haben die Herren gewöhnlich gespielt?

Zeuge: Bis 12 Uhr nachts, bisweilen auch länger.

Vors.: Wie erklären Sie es sich aber, daß drei der von Ihnen bezeichneten Herren beschworen haben, sie haben in der fraglichen Zeit niemals mit dem Herrn Minister „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Ich habe die Wahrheit gesagt.

Vors.: Der Gerichtshof hat beschlossen, die Aussage des Zeugen Meyer zu protokollieren.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich habe vorher eine Frage an den Zeugen Meyer zu stellen. Ist es richtig, Meyer, daß Sie gestern abend in der hiesigen Gastwirtschaft Meyer erklärt haben: Sie seien gestern bei Ihrer Vernehmung befangen gewesen, da Sie sowohl den Herrn Staatsanwalt als auch drei Ihnen gegenübersitzende Richter oftmals im Kasino bedient haben, während diese „Lustige Sieben“ spielten? (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Zeuge: Das ist richtig.

Vors.: Haben Sie den Herrn Staatsanwalt im Kasino „Lustige Sieben“ spielen sehen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Können Sie die Richter bezeichnen, die im Kasino „Lustige Sieben“ gespielt haben?

Zeuge: Richter waren es nicht, nur Referendare.

Vors.: Sie sollen doch aber gesagt haben: Ihnen gegenübersitzende drei Richter?

Verteidiger R.-A. Dr. Herz: Der Zeuge, der nicht juristisch gebildet ist, hält naturgemäß alle Herren, die auf der Erhöhung des Richtertisches sitzen, für Richter.

Vors.: Er hat doch aber ausdrücklich gesagt, ihm gegenübersitzende drei Richter.

Zeuge Meyer: Dann habe ich mich falsch ausgedrückt.

Vors.: Welchen Referendar haben Sie spielen sehen?

Zeuge: Ich sehe heute nur einen von diesen Herren. Der Zeuge bezeichnete den gestern als Zeugen vernommenen Referendar Christians.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Ich bemerke, daß Herr Referendar Christians gestern zunächst gar nicht im Saale gewesen ist, da er als Zeuge geladen war. Nach seiner Vernehmung hat er aber nicht auf der Erhöhung des Richtertisches, sondern im Zeugenraum gesessen.

Der Gerichtshof beschloß, den Referendar Christians sofort als Zeugen zu vernehmen.

Referendar Christians: Ich war in den Jahren 1899/00 noch Student und in dieser Zeit nur einige Male vorübergehend in Oldenburg. Jedenfalls habe ich im Oktober 1902 zum ersten Male das hiesige Zivilkasino betreten.

Vors.: Das wissen Sie genau?

Zeuge: Ganz genau.

Vors.: Nun, Meyer, was sagen Sie dazu?

Meyer: Ich sage die Wahrheit.

Vors.: Sie haben doch aber gehört, daß der Herr Referendar 1899/00 nicht in Oldenburg war.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Der Zeuge Meyer ist im Herbst 1901 auch einige Zeit Kellner im Kasino gewesen, vielleicht irrt sich der Zeuge in der Zeit.

Meyer: Das ist möglich.

Vors.: Herr Referendar Christians! Haben Sie im Herbst 1901 im Kasino „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Nein, das weiß ich ganz bestimmt.

Vors.: Nun, Meyer, wollen Sie trotzdem Ihre Aussage aufrechterhalten?

Zeuge: Jawohl, ich habe die Wahrheit gesagt.

Staatsanwalt Dr. Fimmen: Da auch ich in die Sache hineingezogen worden bin, so beantrage ich, mich ebenfalls als Zeugen zu vernehmen.

Der Gerichtshof gab diesem Antrage statt. Der Staatsanwalt entledigte sich seiner Robe und trat vor den Richtertisch, während Staatsanwalt Dr. Becker den Platz des Staatsanwalts einnahm.

Staatsanwalt Dr. Fimmen bekundete als Zeuge: Ich war in den Jahren 1899/00 Referendar oder Akzessist, wie man es früher nannte. Ich wurde im Juli 1901 Regierungsassessor, im Oktober 1901 Gerichtsassessor. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich während meiner Referendarzeit mit anderen Referendaren mehrfach im hiesigen Zivilkasino „Lustige Sieben“ gespielt habe. Mit dem Herrn Minister habe ich niemals gespielt. Ich habe auch niemals gehört, daß der Herr Minister als Oberstaatsanwalt oder gar als Minister „Lustige Sieben“ gespielt hat; hätte der Herr Minister dies getan, dann bin ich überzeugt, ich würde das angesichts der hiesigen kleinstädtischen Verhältnisse gehört haben.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Herz: Haben Sie gehört, daß Herr Minister Ruhstrat bis in die neueste Zeit gepokert hat, wobei Einsätze bis zu 100 Mark gemacht worden seien?

Zeuge: Nein.

Vert.: Haben Sie gehört, daß der Herr Minister sich dem Würfelspiel hingegeben hat?

Staatsanwalt Dr. Fimmen hatte augenscheinlich diese Frage nicht gehört; denn er verließ in diesem Augenblick den Saal, um sich wieder seine Robe anzuziehen und seinen Platz als Staatsanwalt einzunehmen.

Es wurde darauf die gesamte Aussage des Zeugen Meyer in ausführlichster Weise protokolliert.

Nachdem dies geschehen, beantragte Rechtsanwalt Dr. Sprenger, auch seine Aussage zu protokollieren.

Der Gerichtshof beschloß nach kurzer Beratung, diesen Antrag abzulehnen.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich beantrage, der protokollierten Aussage des Zeugen Meyer hinzuzufügen: „Ich habe deshalb bei Herrn R.-A. Dr. Sprenger mich nicht so bestimmt ausgedrückt, da ich infolge der scharfen Vorhaltungen des Herrn Rechtsanwalts Dr. Sprenger etwas stutzig geworden bin.“

Vors.: Meyer, wollen Sie, daß Ihrer protokollarischen Aussage noch etwas hinzugefügt werde?

Zeuge: Nein, es steht ja alles darin.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Herz: Ich muß trotzdem auf meinem Antrag beharren; der Zeuge ist nicht in der Lage, die Bedeutung meines Antrages zu erkennen, ich beantrage eventuell einen Gerichtsbeschluß.

Vors.: Wenn der Zeuge erklärt, er wünscht seiner protokollarischen Aussage nichts weiter hinzuzufügen, dann können wir es doch nicht tun.

Vert.: Dann bitte ich, mir zu gestatten, dem Zeugen meinen beantragten Zusatz vorhalten zu dürfen.

Der Vorsitzende gestaltete das dem Verteidiger. Darauf erklärte der Zeuge, er wünsche, daß dieser Satz ins Protokoll aufgenommen werde.

Der Vorsitzende ließ nunmehr dem Zeugen Meyer seine protokollarische Aussage vorlesen.

Vors.: Nun, Meyer, ich halte Ihnen noch einmal vor, daß in dem einen Falle drei, in dem anderen Falle ein Zeuge das gerade Gegenteil beschworen, was Sie ausgesagt haben, ich frage Sie nochmals, wollen Sie trotzdem Ihre Aussage aufrechthalten? Sie haben jetzt noch Zeit, Ihre Aussage zu ändern.

Meyer: Ich halte meine Aussage aufrecht, ich habe die Wahrheit gesagt.

Vors.: Ist hierzu ein Antrag zu stellen?

Der Staatsanwalt und die Verteidiger erklären, daß sie keine weiteren Anträge zu stellen haben.

Vors.: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Zeugen in Haft zu nehmen. Kellner Meyer ist abzuführen. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Zwei im Saale postierte Polizeibeamte führten den Zeugen ab.

Vors.: Die Vernehmung des Herrn Rechtsanwalts Dr. Sprenger als Zeugen hat es fraglich erscheinen lassen, ob Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger noch weiter die Verteidigung wird führen können. Der Gerichtshof wird hierüber Beschluß fassen.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich muß dringend bitten, Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger weiter als Verteidiger zuzulassen. Ein sachlicher Grund, daß Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger von der Verteidigung ausgeschlossen wird, liegt nicht vor. Ich habe nur eine untergeordnete Rolle in der Verteidigung, und zwar deshalb, weil ich erst sehr spät eingetreten bin. Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger ist dagegen aufs genaueste mit allen Einzelheiten vertraut; die Verteidigung wäre daher beschränkt, wenn Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger von der Verteidigung ausgeschlossen werden würde.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich bitte um eine Pause; wir Verteidiger sind genötigt, in eine sehr wichtige Beratung einzutreten.

Es trat eine Pause ein.

Nach Wiedereröffnung der Verhandlung nahm das Wort Vert. Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich habe die Beobachtung gemacht, daß ich als Verteidiger in dieser Sache persönlichen Verletzungen ausgesetzt bin. Diese persönlichen Verletzungen würden mich von der Ausübung meiner Amtspflichten nicht abhalten, wenn dadurch die Sache nicht geschädigt werden würde. Ich lege daher mein Amt nieder. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vert. Rechtsanwalt Dr. Herz: Ich habe folgende Erklärung abzugeben: Sowohl im Laufe des Vorverfahrens als auch während der Hauptverhandlung ist eine Anzahl außergewöhnlicher Maßnahmen und Entscheidungen ergangen, welche die Verteidigung illusorisch machen. Die Verteidigung hat nicht die Absicht, ihr Amt fortzuführen, dessen tatsächliche Ausübung ihr unmöglich gemacht ist. Die unterzeichneten Verteidiger erklären somit die Niederlegung ihres Amtes.

Der Angeklagte hat uns folgende Erklärung gegeben: „Ich erkläre hiermit, daß ich die sämtlichen von meinen Verteidigern gestellten Beweisanträge zurückziehe und auf die Gegenwart der Zeugen verzichte, da meine Verteidiger sich zur Fortführung der Verteidigung außerstande erklärt haben. Ich selbst vermag, entkräftet durch mangelhafte Verpflegung und elfstündige Zwangsarbeit während der letzten zwei Monate, der Verhandlung nicht zu folgen und halte eine Zeugenvernehmung ohne einen vertrauten nichtoldenburgischen Rechtsbeistand für gänzlich bedeutungslos. Ich werde eine Erklärung in diesem Prozesse nicht mehr abgeben.“ (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Auch ich habe eine Erklärung abzugeben. Ich bemerke, daß es mir ferngelegen hat, irgend jemanden zu verletzen, auch ist die Verteidigung in keiner Weise beschränkt worden. Wenn ein Vorwurf gegen die Leitung der Verhandlung gerichtet sein soll, so weise ich diesen als vollständig unbegründet zurück. Der Gerichtshof hat jeden Antrag der Verteidigung in eingehendster Weise geprüft.

Staatsanwalt Dr. Fimmen: Ich erkläre ebenfalls, daß mir jede Verletzung ferngelegen hat; eine Beschränkung der Verteidigung im Vorverfahren hat auch nicht stattgefunden. Eine Aushändigung der Prozeßakten konnte ich allerdings nicht gewähren. Herr Rechtsanwalt Sprenger erklärte mir privatim, daß die Art des Prozesses eine gewisse Schärfe mit sich bringe.

Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich bin entfernt, dem Herrn Vorsitzenden oder dem Herrn Staatsanwalt einen Vorwurf zu machen. Ich erkenne an, daß die Art des Prozesses eine gewisse Schärfe in sich schließt. Ich fühle mich aber verletzt über meine Behandlung als Zeuge. Dieser Vorwurf trifft ganz besonders den Nebenkläger, Herrn Minister Ruhstrat. Letzterer erklärte im Oldenburgischen Landtage: Wir werden ja sehen, ob der Zeuge das, was er bei einem Bremer Rechtsanwalt zu Protokoll gegeben, aufrechthalten wird. Tatsache ist aber, daß der Zeuge Meyer über seine bei mir zu Protokoll gegebene Aussage erst weit hinausgegangen ist, und zwar wohl in der Hauptsache deshalb, weil ich dem Zeugen die schärfsten Vorhaltungen gemacht und ihn auf die Folgen, die ihn treffen könnten, aufmerksam gemacht habe. Wir Bremer Rechtsanwälte sind etwas hoffärtige Leute. Wir erachten das, was wir in unserem Bureau zu Protokoll nehmen, für genau ebenso feststehend, wie den Inhalt eines gerichtlichen Protokolls. Aus diesem Grunde gehen wir bei der Protokollierung von Zeugenaussagen mit der strengsten Sorgfalt zu Werke. Ich weiß nicht, ob dasselbe Verfahren von den Oldenburger Anwälten beobachtet wird. Trotzalledem wurde ich von dem Herrn Nebenkläger in der erwähnten Weise angegriffen. Der Herr Nebenkläger hätte sich ja bei mir nach dem Zustandekommen der protokollarischen Erklärung erkundigen können. Ich habe keinerlei Geheimnisse. Meine Akten stehen mit Erlaubnis meiner Klienten jedermann zur Einsicht frei.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Ich finde es sehr eigentümlich, daß, nachdem im „Residenzboten“ fortwährend geschrieben wurde: Ein Strafantrag ist uns sehr erwünscht, dann werden wir unsere Behauptungen vor Gericht beweisen, man plötzlich auf alle weiteren Beweise verzichtet. Es ist behauptet worden: Ich habe bis in die letzte Zeit, noch 1903 „Lustige Sieben“ mit jungen Referendaren gespielt, ja, es ist behauptet hauptet worden, ich hätte beim Examen mit den jungen Referendaren gekneipt und alsdann mit ihnen gejeut, den Beweis ist man aber vollständig schuldig geblieben. Ich bemerke, daß Herr Rechtsanwalt Sprenger die Aussagen des Zeugen Meyer in dem Prozeß Kruse als eine Tatsache vorgebracht hat. Wäre dies nicht geschehen, dann wäre dieser Prozeß und der ganze Skandal nicht gewesen.

Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ich erwidere, was ich bereits als Zeuge gesagt habe: Ich habe es sofort bezweifelt, daß Herr Minister Ruhstrat bei der Examenfeier mit den jungen Referendaren gekneipt und alsdann mit diesen zusammen gejeut hat. All die anderen Aussagen hat doch aber der Zeuge Meyer mit vollster Bestimmtheit aufrechterhalten, ja, er ist sogar noch darüber hinausgegangen. Jedenfalls ist doch erwiesen, daß der Herr Minister bis in die jüngste Zeit gepokert hat. Ich war jedenfalls genötigt, im Prozeß Kruse die Aussagen Meyers vorzubringen.

Nebenkläger Minister Ruhstrat: Ich beantrage, noch Frau Biermann zu vernehmen. Diese wird bekunden, daß Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger zu einigen Artikeln des „Residenzboten“ in Beziehungen steht. (Allgemeine Bewegung.)

Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Heute morgen bereits ist mir ein solches Gerücht zu Ohren gekommen, ich ersuche daher ebenfalls dringend, Frau Biermann als Zeugin zu vernehmen. Ich kann mir nicht denken, daß Frau Biermann dies bekunden wird. Sollte sie es dennoch tun, dann lege ich selbstverständlich mein Mandat auch für Biermann nieder. Ich erkläre, daß ich weder direkt noch indirekt zu einem Artikel des „Residenzboten“ in irgendeiner Beziehung stehe. Ich habe wiederholt erklärt, daß ich den Ton des „Residenzboten“ für geschmacklos halte und seine Haltung aufs schärfste mißbillige. Das kann mich aber nicht hindern, für die Redakteure die Verteidigung zu führen. Als ich allerdings sah, in welch schneller Weise die Strafanzeige gegen Minister Ruhstrat von der hiesigen Staatsanwaltschaft erledigt wurde, da sagte ich zu Biermann: Da Sie die Strafanzeige einmal gemacht haben, so müssen Sie die Sache auch weiter verfolgen.

Rechtsanwalt Dr. Herz: Ich kann dem Herrn Kollegen Sprenger nur bestätigen, daß er sich stets mißbilligend über die Haltung des „Residenzboten“ geäußert hat. Ich hatte aber die Empfindung, es bestand die Absicht, Herrn Kollegen Sprenger aus der Verteidigung herauszudrängen, deshalb ist hauptsächlich seine Zeugenladung beantragt worden.

Vors.: Ich weiß nicht, gegen wen sich dieser Vorwurf richtet. Ich muß doch aber bemerken, daß die Vernehmung des Herrn Rechtsanwalts Sprenger als Zeuge geboten war, das ist doch wohl jedem einleuchtend. tend. Meine Absicht war es nicht, Herrn Rechtsanwalt Sprenger aus der Verteidigung hinauszudrängen. Der beste Beweis hierfür ist, daß ich ihn nachher noch als Verteidiger zuließ. Später sind mir erst Bedenken aufgestoßen, ob es zulässig ist, daß Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger weiter die Verteidigung führt.

Staatsanwalt Dr. Fimmen: Ich muß den Vorwurf als unbegründet bezeichnen, daß die Strafanzeige Biermanns von der hiesigen Staatsanwaltschaft nicht genügend geprüft worden sei.

Vors.: Nun, Angeklagter, sind Sie damit einverstanden, daß wir weiter verhandeln, oder beantragen Sie die Aussetzung der Verhandlung, damit Sie sich nach einem neuen Verteidiger bemühen können?

Angekl.: Ich kann gar keine Erklärung abgeben.

Vors.: Ja, Sie müssen uns eine Erklärung geben; wir müssen doch auf die eine oder andere Weise die Sache zu Ende bringen.

Angekl.: Ich bin zu erschöpft, ich kann keine Erklärung abgeben.

Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück.

Nach wenigen Minuten trat der Gerichtshof wieder in den Saal. Der Vorsitzende verkündete: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Antrag auf Vernehmung der Frau Biermann abzulehnen und um 5 Uhr nachmittags die Verhandlung fortzusetzen. Die Zeugen sind sämtlich entlassen.

Nach Wiedereröffnung der Sitzung nahm sogleich das Wort Staatsanwalt Dr. Fimmen. Wer geglaubt hat, es würden in diesem Prozeß sensationelle Enthüllungen zutage treten, wird gründlich enttäuscht sein. Selten hat wohl ein Prozeß einen solchen Ausgang genommen, wie der gegenwärtige. Es ist in dem „Residenzboten“ behauptet worden: Minister Ruhstrat habe in der Verhandlung wider Dr. Ries-Biermann wissentlich einen Meineid geleistet, denn er habe unter Eid erklärt, er habe seit 13 bis 14 Jahren nicht mehr gespielt, und er habe nur im Kasino gespielt; es könne aber aufs bestimmteste nachgewiesen werden, daß der Minister noch bis in die neueste Zeit leidenschaftlich dem Glücksspiel gefrönt und zumeist die Bank gehalten habe. Monatelang wurde vom Angeklagten im „Residenzboten“ geschrieben: er sei in der Lage, den striktesten Beweis für seine Behauptungen zu erbringen. Der Angeklagte war aber nicht in der Lage, auch nur einen Zeugen für seine Behauptung namhaft zu machen. Der Staatsanwalt ging näher auf den Inhalt der zur Anklage stehenden Artikel ein und äußerte alsdann: Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger hat allerdings als Zeuge bekundet, er, der in dem Prozeß Dr. Ries-Biermann Verteidiger war, habe die Empfindung, daß der Minister unter seinem Eide erklärt habe, er habe seit 13 bis 14 Jahren nicht mehr und auch nur im Kasino gespielt. Allein der Vorsitzende dieser Verhandlung, Herr Landgerichtsdirektor Bödeker, hat als Zeuge bekundet, er erinnere sich einer solchen Aussage des Ministers nicht. Wäre es geschehen, dann würde es ihm noch im Gedächtnis sein. Soweit ihm erinnerlich, lag zu solcher Frage an den Minister keine Veranlassung vor. Herr Landrichter Dr. Klaue, der in dieser Verhandlung Referent, also zu ganz besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet war, hat sich dieser Bekundung vollständig angeschlossen. In einem Artikel hat der Angeklagte dem Herrn Minister den Vorwurf gemacht, daß er im Landtage die Unwahrheit gesagt habe. Auch hierfür ist kein Beweis erbracht worden. Die gesamten Vorwürfe stützten sich auf die Zeugen Laturnus und Meyer. Die Aussage des ersteren kommt überhaupt nicht in Betracht. Bezüglich des Meyer hat der Gerichtshof sich ja bereits entschieden, indem er beschlossen hat, den Zeugen wegen Verdachts des wissentlichen oder fahrlässigen Meineids zu verhaften. Es widerstrebt mir, da Herr Rechtsanwalt Dr. Sprenger nicht hier ist, auf dessen Protokollierung näher einzugehen. Aber ich kann doch nicht umhin, mein Befremden auszudrücken, daß man die Aussagen der Zeugen Laturnus und Meyer in öffentlicher Gerichtssitzung mitteilte und sie somit in die Welt hinausposaunte, ohne nähere Erkundigungen einzuziehen. Der Angeklagte ist jeden Beweis für seine ungeheuerlichen Behauptungen vollständig ständig schuldig geblieben; es ist im Gegenteil erwiesen worden, daß der Herr Minister weder in der Gerichtssitzung wider Dr. Ries-Biermann, noch im Landtage eine Unwahrheit gesagt hat. Zugegeben ist nur, daß der Minister in den letzten Jahren im Kasino bisweilen gepokert hat. Da von der Verteidigung beantragt worden ist, den Kriminalkommissar von Manteuffel (Berlin) als Sachverständigen zu befragen, ob Pokern ein Glücksspiel ist, so will ich mich darüber nur in Kürze äußern. Ich halte Pokern, zumal wenn es im Kreise von gesellschaftlich Gleichgestellten gespielt wird, für kein Glücksspiel. Das Reichsgericht hat über diese Frage noch keine Entscheidung getroffen, es hat aber entschieden: ein Glücksspiel ist nicht vorhanden, sobald das Spiel nicht vom Zufall, sondern von einer gewissen Geschicklichkeit abhängt. Beim Pokern ist aber eine gewisse Geschicklichkeit erforderlich. Ich wiederhole, der Angeklagte hat in keinem Punkte den Beweis der Wahrheit zu führen vermocht, er ist also auf Grund des § 186 des Strafgesetzbuchs zu bestrafen. Bei der Strafzumessung ist zu erwägen die Schwere der Beleidigungen und der Umstand, daß der Angeklagte die Artikel aus Skandalsucht veröffentlicht hat, ohne sich irgendwie zu erkundigen, ob die Behauptungen wahr seien. Es ist ferner zu erwägen, daß dem höchsten Justizbeamten des Landes wissentlicher Meineid, also wohl die schwerste ste Beleidigung, zum Vorwurf gemacht worden ist. Dadurch hat aber auch der Angeklagte die öffentliche Autorität in schwerster Weise erschüttert. Ich beantrage eine Gefängnisstrafe von einem Jahre drei Monaten, Publikationsbefugnis für den beleidigten Herrn Minister und außerdem, dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Der Nebenkläger, Minister Ruhstrat, sein Vertreter, Rechtsanwalt Wisser, und selbstverständlich auch die Verteidiger, waren zur Verhandlung nicht erschienen.

Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas anzuführen?

Angeklagter, der körperlich sehr heruntergekommen aussah, antwortete mit einem vernehmlichen Nein.

Nach etwa halbstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Erk, folgendes Urteil: Der Gerichtshof hat den Angeklagten der zweifachen Beleidigung des Ministers Ruhstrat im Sinne des § 186 des Strafgesetzbuchs für schuldig erachtet und ihn, einschließlich der gegen den Angeklagten am 28. September 1904 erkannten Gefängnisstrafe von einem Monat, zu einem Jahre Gefängnis verurteilt. Dem beleidigten Herrn Minister ist Publikationsbefugnis in den „Oldenburgischen Anzeigen“ und im „Residenzboten“ zugesprochen worden. Es ist dem Minister Ruhstrat in zwei Artikeln des „Residenzboten“ vom Angeklagten der Vorwurf gemacht worden: er habe einen Meineid geleistet und im Landtag die Unwahrheit gesagt. Für beide Behauptungen ist der Beweis der Wahrheit nicht erbracht worden. Die beiden vernommenen Richter, die in der Verhandlung wider Dr. Ries-Biermann, der eine als Vorsitzender, der andere als Referent fungiert, haben in durchaus glaubwürdiger Weise bekundet, daß der Minister die behauptete Äußerung nicht getan hat. Damit fällt auch der Vorwurf, daß der Minister sich der Unwahrhaftigkeit im Landtage schuldig gemacht habe. Der Bekundung des Zeugen Meyer hat der Gerichtshof keinen Glauben geschenkt, zumal sie im direkten Gegensatz zu den Bekundungen der Zeugen Schmidt, Dr. Schleppegrell und Becker steht und der Zeuge Meyer heute außerdem zu einem durchaus glaubhaften Zeugen in einen direkten Gegensatz getreten ist. Es ist nur erwiesen, daß der Minister nach 1896 im Kasino gepokert hat. Der Gerichtshof ist aber auch der Ansicht, daß Pokern kein Glücksspiel ist, da dabei nicht der blinde Zufall, sondern eine gewisse Geschicklichkeit entscheidet. Jedenfalls ist nicht erwiesen, daß der Minister als Oberstaatsanwalt und Minister „Lustige Sieben“ gespielt hat. Bei der Strafzumessung war zu erwägen, daß der Angeklagte dem höchsten Justizbeamten des Landes den schwersten Vorwurf, den man sich denken kann, den des Meineids gemacht und diesen Vorwurf erhoben hat, ohne sich zu vergewissern, ob er auf Wahrheit beruht. Strafmildernd ist erwogen worden, daß der Angeklagte in fremde Verhältnisse geradezu hineingedrängt wurde und auch nicht festgestellt ist, welche Einflüsse und Zuflüsterungen auf ihn eingewirkt haben. Angesichts dieser Erwägungen ist, wie geschehen, erkannt und sind dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt worden.

Anfang April 1905 hatte sich Biermann wegen derselben Beleidigung und auch wegen Beleidigung des Rechtsanwalts Wisser vor der Ersten Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zu verantworten. Er wurde nach dreitägiger Verhandlung zu einer Gesamtstrafe von einem Jahre drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Am 11. Juli 1905 begann vor dem Schwurgericht zu Bückeburg der Prozeß wider den Kellner Meyer wegen wissentlichen Meineids.

Den Gerichtshof bildeten: Landgerichtsrat Wippermann (Vorsitzender), Landgerichtsrat Reiche und Gerichtsassessor Dr. Zwitzers (Beisitzende).

Die öffentliche Anklagebehörde vertraten Staatsanwalt Becker (Oldenburg) und preußischer Gerichtsassessor Weßberge (Bückeburg). Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Dr. Sprenger (Bremen), Dr. Herz und Dr. Jonas (Altona). Da die beiden ersten sten Verteidiger als Zeugen benannt waren, so war Rechtsanwalt Steinemann (Stadthagen) zum Offizialverteidiger ernannt.

Der Angeklagte Meyer war am 31. Oktober 1883 in Walle bei Bremen geboren. Er war ein mittelgroßer, kräftig gebauter, hübscher junger Mann mit schön frisiertem goldblondem Haar. Sein Gesicht war fast bartlos. Er sah auffallend blaß aus; die lange Untersuchungshaft schien nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben zu sein.

Der Angeklagte Meyer gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er habe in Bremen die Volksschule besucht und frühzeitig seinen Vater verloren. Nach Beendigung der Schulzeit habe er sich zuerst in Bremen der Kellnerlaufbahn gewidmet. Er sei ziemlich weit herumgekommen, bis er schließlich nach Oldenburg in Stellung kam. Er war der einzige der Söhne seiner Stiefmutter, der dieser reichliche Unterstützungen zukommen ließ.

Vors.: Wie kamen Sie eigentlich in die Spielerangelegenheit hinein?

Angekl.: Ich las im vorigen Jahre in der Zeitung, daß der jetzige Minister Ruhstrat seit einer bestimmten Zeit nicht mehr gespielt haben wollte, und sprach darüber mit meinen Kollegen. Durch diese ist meine Kenntnis von der Sache an die Öffentlichkeit gekommen. Der Angeklagte gab alsdann an der Hand einer im Gerichtssaale angehängten Situationstafel nähere Auskunft über die Örtlichkeiten und die Nischen im Oldenburger Zivilkasino.

Vors.: Sie waren am Büfett beschäftigt?

Angekl.: Nein, ich hatte das Büfett selbständig übernommen und bediente die Herren selbst, so daß ich immer anwesend war.

Vors.: War der Verkehr im Zivilkasino sehr bedeutend?

Angekl.: Nein, ich konnte ihn leicht allein bewältigen.

Im Anschluß hieran wurde das Protokoll über die Lokalbesichtigung in Oldenburg verlesen, in dem eingehend der Situationsplan erörtert war. An die Geschworenen wurden photographische Aufnahmen verteilt, aus denen die Lage der einzelnen Nischen ersichtlich war.

Vors.: Wer verkehrte meistens in der Nische, in der hauptsächlich gespielt wurde?

Angekl.: Hauptsächlich der damalige Oberstaatsanwalt Ruhstrat, der Buchhändler Schmidt und der Zahnarzt Dr. Schleppegrell, die vereint immer miteinander spielten. Auch verschiedene andere Herren fanden sich dann und wann ein.

Vors.: Was spielten diese drei Herren vor allem?

Angekl.: Sie spielten meistens Skat, oft die ganze Nacht hindurch.

Vors.: Haben die Herren außer Skat auch noch ein anderes Spiel gespielt?

Angekl.: Ja, sie spielten im Anschluß an den Skat auch „Lustige Sieben“.

Vors.: Haben Sie schon etwas von „Pokern“ gehört?

Angekl.: Früher nicht, erst im Laufe der Verhandlung erfuhr ich davon.

Vors.: Sie wußten aber, daß „Lustige Sieben“ gespielt wurde? Wissen Sie das genau?

Angekl.: Jawohl.

Im Anschluß hieran erklärte der Angeklagte die Spielweise der „Lustigen Sieben“ und zeichnete hierbei die Spielfigur auf. Der Vorsitzende fragte ihn eingehend über die Spielmethode.

Vors.: Also, Sie bleiben dabei, daß die erwähnten Herren im Anschluß an den Skat wiederholt „Lustige Sieben“ gespielt haben?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Angeklagter, können Sie sich nicht irren, daß diese drei Herren dort „Lustige Sieben“ gespielt haben? Alle drei Herren haben unter ihrem Eide ausgesagt, daß das nicht der Fall gewesen ist.

Angekl.: Nein, ich irre mich nicht.

Vors.: Haben Sie vielleicht den Minister Ruhstrat mit seinem Bruder verwechselt?

Angekl.: Nein, ich kenne den Minister ganz genau.

Vors.: Wissen Sie genau, daß jeder der Herren als Bankhalter oder als Setzer beteiligt war?

Angeklagter schwieg.

Staatsanw. Becker: Vielleicht ist die Frage besser so gestellt, ob es möglich ist, daß einer der Herren nur Zuschauer war?

Angekl.: Nein, das ist nicht möglich. Ich bin mir ganz klar darüber. (Erregt): Ich habe stets die volle Wahrheit gesagt und kann nicht mehr sagen. Ich bin jetzt schon sieben. Monate in Untersuchungshaft und schon ganz wirr.

Vors.: Skat und Pokern können Sie nicht verwechseln?

Angekl.: Nein.

Vors.: Auch nicht mit „Lustige Sieben“?

Angekl.: Nein.

Pokern wird mit Karten gespielt und „Lustige Sieben“ mit Würfeln.

Vors.: Wie ging es bei dem Spiel des Ministers Ruhstrat zu? Wurde wüst dabei getrunken?

Angekl.: Nein, im allgemeinen ging es sehr mäßig zu.

Vors.: Ist dabei Sekt getrunken worden?

Angekl.: Nein.

Vors.: Wurde das Geld verächtlich herumgeworfen?

Angekl.: Ja, ich fand nach dem Spiel oft Geld.

Vors.: Auch nach dem Spiel des Ministers Ruhstrat?

Angekl.: Ja.

Vors.: Sind Sie von den Gästen oft angeschnauzt worden?

Angekl.: Ja, ich wurde öfter angeschnauzt, ich sollte hinausgehen.

Vors.: Auch von der Gesellschaft des Ministers Ruhstrat?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wieviel Trinkgelder hatten Sie nach einem solchen Spielabend?

Angekl.: 50 bis 60 Mark. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Soviel?

Angekl.: Allerdings mit dem, was auf die Erde fiel.

Auf weiteres Befragen erklärte der Angeklagte, er habe seiner Mutter und seinem Bruder von dem Spiel im Zivilkasino Mitteilung gemacht. Er erinnere sich aber nicht mehr genau, was er erzählt habe.

Auf Veranlassung von Laturnus war er zu Rechtsanwalt Dr. Sprenger gekommen.

Vors.: Wußten Sie, was Sie dort sollten?

Angekl.: Nein.

Vors.: Was sagte Ihnen Herr Dr. Sprenger?

Angekl.: Ob mir bekannt sei, daß Minister Ruhstrat im Oldenburger Kasino gespielt habe.

Vors.: Sagte Ihnen Herr Dr. Sprenger, weshalb er das wissen wollte?

Angekl.: Nein.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Sie sich von einem Rechtsanwalt nicht auszufragen lassen brauchen?

Angekl. schwieg.

Vors.: Wie kam es, daß Sie vom Rausschmeißen und Geld-an-den-Kopf-werfen gesprochen haben, das doch mit dem Minister Ruhstrat nichts zu tun hatte?

Angekl. schwieg.

Vors.: Wie kam es, daß Sie sich sofort bereit erklärten, das Protokoll zu beschwören?

Angekl.: Das, was ich gesagt habe, war wahr.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Herz erklärte der Angeklagte: Rechtsanwalt Dr. Sprenger habe ihn wiederholt zu der größten Vorsicht ermahnt. Er habe ihm gesagt, daß die Sache vor das Gericht komme, und Zeugen auftreten würden, die das gerade Gegenteil bekunden werden.

Der Vorsitzende verlas hierauf die Aussagen, die der Angeklagte bei Dr. Sprenger zu Protokoll gegeben hatte, und bemerkte: In dem Protokoll heißt es, „es wurde viel und hoch gespielt, um Tausende. Wenn ich in die Nähe kam, wurde ?Raus!? gerufen und mir Taler und Fünfmarkstücke an den Kopf geworfen.“ Nach Ihren früheren und heutigen Aussagen haben diese Mitteilungen mit Minister Ruhstrat nichts zu tun gehabt.

Angekl.: Ich habe das auch gar nicht so gesagt.

Vors.: Dann hätten Sie doch gegen das Protokoll, das Ihnen vorgelesen wurde, Einspruch erheben sollen!

Angekl.: So genau habe ich nicht darauf acht gegeben.

Vors.: Wie kam es nun, daß Sie sagten: „Es wurde viel und hoch gespielt?“

Angekl.: Es wurde so gespielt, daß ich annehmen mußte, es handle sich um große Beträge. Ich habe aber immer erklärt, ich könne über Einzelheiten des Spiels des Ministers nichts Genaues sagen.

Vors.: Sie haben doch aber auch gesagt, der Minister habe mit Referendaren und Offizieren mehrere Male gespielt.

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Sie haben bei einer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter zugegeben, Sie hätten im Café „Roland“ in Bremen geäußert, Sie haben Dr. Schleppegrell und den Buchhändler Schmidt als Mitspieler des Ministers angegeben. Wenn diese das Gegenteil behaupteten, dann befürchteten Sie, verhaftet zu werden.

Angekl. (mit fast weinerlicher Stimme): Herr Präsident, es ist in der Untersuchung alles aufgeboten worden, um ein Geständnis von mir zu erpressen, so daß ich schließlich nicht mehr wußte, was ich sagte. Der Kriminalkommissar Böning hat so furchtbar auf mich eingeredet, daß ich schließlich alles zugab, was er mich fragte. Das ist auch beim Untersuchungsrichter zur Sprache gekommen. Ich bitte aber über das, was ich beim Untersuchungsrichter gesagt habe, nicht mehr vernommen zu werden.

Vors.: Sie haben überhaupt nicht nötig, zu antworten.

Angekl.: Ich will mich über alles vernehmen lassen, nur nicht über meine Aussagen beim Untersuchungsrichter.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung gab der Angeklagte zu, daß der Vorsitzende in der Strafkammerverhandlung gegen Schweynert in Oldenburg, Landgerichtsdirektor Erk, ihn wiederholt ermahnt habe, sich zu überlegen, was er sage. Er sei aber in einer Weise vernommen worden, daß er ganz verwirrt wurde. Wäre er in der Weise vernommen worden wie heute, dann wäre er wohl nicht verhaftet worden. Wenn er in Oldenburg in richtiger Weise vernommen worden und ihm Zeit zum Überlegen geblieben wäre, dann würde er erklärt haben, es ist möglich, daß ich mich bezüglich des Herrn Referendars Christians irre. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Sie sind infolge der Vernehmungen krank geworden?

Angekl.: Ich wurde halskrank, und der Krankenwärter sagte, das käme von der trockenen Luft im Gefängnis.

Staatsanw. Becker: Es liegt mir daran, von dem Angeklagten zu erfahren, ob er den Minister Ruhstrat mehrere Male oder häufig die „Lustige Sieben“ habe spielen sehen?

Angekl.: Ich kann das nicht auseinander halten, für mich bleibt der Sinn derselbe.

Als erster Zeuge wurde Redakteur von Busch, Oldenburg, vernommen. Dieser hatte der Verhandlung gegen den Redakteur Schweynert beigewohnt. Er bekundete: Dem Angeklagten Meyer sei energisch ins Gewissen geredet worden, dieser sei aber nicht verstört gewesen. Die Frage, ob er glaube, daß der Angeklagte damals eingeschüchtert worden sei, verneinte der Zeuge. Er hatte die Empfindung, daß der Angeklagte für wahr hielt, was er damals aussagte.

Zeuge Referendar Christians wiederholte seine früheren Aussagen, wonach er nicht mit dem Staatsanwalt Dr. Fimmen „Lustige Sieben“ gespielt habe.

Es sollte darauf Minister Ruhstrat als Zeuge vernommen werden. Die Verteidiger widersprachen einer Vereidigung und beantragten, daß die Vereidigung bis zum Schluß seiner Vernehmung ausgesetzt werde. Es sei festgestellt, daß Ruhstrat noch als Oberstaatsanwalt sich an Glücksspielen beteiligt, und daß er zu Glücksspielen angestiftet habe.

Das Gericht lehnte nach kurzer Beratung diesen Antrag der Verteidigung ab. Ruhstrat erklärte als Zeuge auf Befragen der Verteidigung, ob er „Lustige Sieben“ zu spielen aufgehört, weil Hauptmann Pavel sich das Leben genommen hatte, daß dies nicht der Fall sei. Die weitere Frage der Verteidigung, ob er wegen der bevorstehenden Ernennung zum Staatsminister das Spielen der „Lustigen Sieben“ eingestellt habe, beantwortete Minister Ruhstrat mit einem entschiedenen Nein.

Zahnarzt Dr. med. Schleppegrell erklärte, daß er in seinem Leben niemals gepokert oder „Lustige Sieben“ gespielt habe. Er sei ein Duzfreund des Ministers Ruhstrat. In Oldenburg herrschen eigentümliche Gesellschaftsverhältnisse. Zum Schluß der Verhandlung wiesen die Verteidiger darauf hin, daß ein junger Kellner leicht verwechseln konnte, wer unter den Herren gespielt habe und welches Spiel gespielt wurde.

Am zweiten Verhandlungstage beantragte der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sprenger, mehrere in Bremen konditionierende Kellner als Zeugen und den Kriminalkommissar Frhrn. v. Manteuffel (Berlin) als Sachverständigen und Zeugen zu laden. Letzterer sollte befragt werden, ob Pokern ein Glücksspiel ist, und in welcher Weise „Lustige Sieben“ gespielt wird. Das eigentliche Beweisthema in dem Prozeß Schweynert war: „Hat Minister Ruhstrat in den letzten Jahren Hasard gespielt?“ Ob der Minister „Lustige Sieben“ gespielt, gepokert oder gemauschelt hat, ist dabei sehr gleichgültig. Wenn nachgewiesen ist, daß der Minister in den letzten Jahren hasardiert hat, dann hat der Angeklagte keinen Meineid geleistet. Wenn auch der Angeklagte behauptet hat, der Minister habe „Lustige Sieben“ gespielt, so ist es möglich, daß der Angeklagte „Lustige Sieben“ mit Pokern verwechselt hat. Kriminalkommissar v. Manteuffel, der ja bereits, wie gerichtsnotorisch sein dürfte, in einem Berliner Prozeß Pokern für ein Glücksspiel erklärt hat; wird bekunden, daß in den internationalen Spielhöllen in der Hauptsache gepokert wird und daß, wenn auch nicht in Deutschland, so doch in allen anderen Kulturstaaten Pokern durch Gesetz verboten ist.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Ich beantrage, die Gefangenaufseher Kühling und Gode (Oldenburg) als Zeugen zu laden. Diese werden bekunden, Kriminalkommissar Böning habe auf den Angeklagten derartig eingewirkt, daß dieser schließlich zu seinen Verteidigern jedes Vertrauen verloren hatte und nahe daran war, seinen Verteidigern das Mandat zu entziehen und sich einen Verteidiger von Staats wegen geben zu lassen. Die vorgeschlagenen Zeugen werden auch bekunden: Der Angeklagte habe eines Tages erklärt: Er werde bei seinen Vernehmungen in einer Weise behandelt, daß er die Empfindung habe, er befinde sich in einer Räuberhöhle. Wenn sich das bewahrheitet, dann hat sich Kriminalkommissar Böning einer Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht.

Staatsanw. Becker: Gegen die Ladung der Gefangenaufseher habe ich nichts einzuwenden. Dagegen muß ich der Ladung des Kriminalkommissars v. Manteuffel widersprechen. Es steht zunächst nicht fest, ob im Oldenburger Kasino gepokert wurde, als der Angeklagte dort Kellner war, und andererseits kann man doch wohl Pokern auf verschiedene Weise spielen. Die Beurteilung, ob Pokern ein Glücksspiel sei, kann man doch auch dem Gerichtshof überlassen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Minister Ruhstrat hat selbst zugegeben, daß er in den letzten Jahren im Oldenburger Kasino gepokert hat; es ist danach anzunehmen, daß dies auch geschehen ist, als der Angeklagte dort Kellner war. Aber gerade der Umstand, daß Pokern auf verschiedene Art gespielt werden kann, macht es notwendig, daß ein Sachverständiger befragt wird, ob Pokern mit dem Spiel „Lustige Sieben“ verwechselt werden kann. Im übrigen hat die Strafkammer zu Oldenburg in dem Prozeß Schweynert entschieden: Pokern ist kein Glücksspiel.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Ich erachte die Abhörung eines Sachverständigen für um so notwendiger, da nicht anzunehmen ist, daß die Herren Geschworenen den Unterschied zwischen Pokern und „Lustige Sieben“ kennen. Ich will noch bemerken, daß Kriminalkommissar v. Manteuffel anerkannt der erste Sachverständige auf dem Gebiete des Spielwesens ist.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung verzichteten die Verteidiger auf die Ladung der Bremer Kellner.

Nach sehr langer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, die Gefangenaufseher zu laden, dagegen den Antrag auf Ladung des Kriminalkommissars v. Manteuffel abzulehnen. Der Angeklagte hat sowohl in der Strafkammerverhandlung in Oldenburg, als auch hier ausdrücklich erklärt: Minister Ruhstrat hat „Lustige Sieben“ gespielt, mithin kann das Pokerspiel hier nicht interessieren, und zwar um so weniger, da dem Gerichtshof bekannt ist, daß das Pokern mit Karten, „Lustige Sieben“ mit Würfeln gespielt wird, also eine Verwechslung zwischen beiden Spielen unmöglich ist. Der Angeklagte hat ja auch selbst erklärt, er habe den Würfelbecher hineingereicht. Der Antrag der Herren Verteidiger wäre nur von Belang, wenn sie behaupteten: Pokern kann auch mit Würfeln und „Lustige Sieben“ mit Karten gespielt werden.

Es wurde alsdann Buchhändler Schmidt (Oldenburg) als Zeuge aufgerufen: Er habe mit dem Minister Ruhstrat in den letzten Jahren im Oldenburger Kasino oftmals Skat gespielt. Bisweilen auch gepokert. „Lustige stige Sieben“ sei in der fraglichen Zeit niemals gespielt worden.

Vors.: Kann der Laie das Pokerspiel mit dem Spiel „Lustige Sieben“, verwechseln?

Zeuge: Das halte ich für ausgeschlossen, Pokern kann nur mit Karten und „Lustige Sieben“ nur mit Würfeln gespielt werden.

Vors.: Haben Sie niemals mit dem Minister Ruhstrat „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Jawohl, aber vor vielen Jahren.

Der Zeuge bekundete darauf auf Befragen des Vorsitzenden: Er hatte nicht die Empfindung, daß der Angeklagte in der Oldenburger Strafkammer befangen oder verwirrt war. Er wurde auch vom Vorsitzenden und dem amtierenden Staatsanwalt wiederholt verwarnt.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sie haben viel mit Minister Ruhstrat, auch früher oftmals „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie dabei fast Ihr ganzes Vermögen verloren und deshalb bisweilen Kellner angepumpt haben?

Zeuge: Eigenes Vermögen besaß ich nicht, ich gebe aber zu, daß ich viel Geld verloren und auch bisweilen gepumpt habe.

Vert.: Wann haben Sie zum letzten Male mit dem Minister „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Genau kann ich es nicht sagen, ich glaube, es fiel in die Zeit, als der Minister Oberstaatsanwalt wurde.

Vert.: Also als Staatsanwalt hat der Minister noch „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Ich glaube wohl.

Vert.: Sind Sie der Ansicht, daß ein Staatsanwalt weniger Pflichten hat als ein Oberstaatsanwalt?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Fiel nicht das Aufhören des „Lustigen-Sieben“-Spiels des Herrn Ministers in die Zeit, als Hauptmann v. Pavel sich das Leben nahm?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Vert.: Wann starb Hauptmann v. Pavel?

Zeuge: Meiner Erinnerung nach vor etwa 15 Jahren.

Vert.: Kann es 1895 gewesen sein?

Zeuge: Es ist möglich.

Vert.: Hauptmann v. Pavel war ein Spielgenosse des Herrn Ministers Ruhstrat?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß Hauptmann v. Pavel sich Spielschulden halber erschossen hat?

Zeuge: Daß sich Hauptmann v. Pavel erschossen hat, ist mir bekannt, ob es Spielschulden halber geschehen ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Wird das Spiel „Lustige Sieben“ als so unfair in Oldenburg gehalten, daß ein Oberstaatsanwalt es nicht spielen, wohl aber das Pokerspiel betreiben kann?

Vors.: Das ist ein Urteil, das der Zeuge nicht abgeben kann.

Vert.: Ich will nur dir persönliche Ansicht des Herrn Zeugen hören.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich will die Frage so stellen: Gilt in den besseren Gesellschaftskreisen Oldenburgs Pokern als ein einwandfreies, solides Spiel?

Vors.: Ich kann diese Frage aus denselben Gründen, aus denen der Gerichtshof den Antrag auf Ladung des Kriminalkommissars v. Manteuffel abgelehnt hat, nicht zulassen. Das Pokerspiel kann uns hier nicht interessieren.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Herz bekundete der Zeuge noch: Es sei zumeist bis 1 Uhr nachts, hin und wieder auch bis 3 oder 4 Uhr morgens gespielt worden.

Hierauf wurde Polizeikommissar Böning (Bremen) als Zeuge aufgerufen.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Ich ersuche, den Zeugen darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn eine Frage an ihn in bezug auf den § 343 des Strafgesetzbuchs gestellt werden sollte, er berechtigt ist, die Antwort zu verweigern. Der erwähnte Paragraph lautet: „Ein Beamter, amter, welcher in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet oder anwenden läßt, um ein Geständnis oder Aussagen zu erpressen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.“

Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Zeuge, daß, wenn eine Frage an Sie gerichtet werden sollte, durch deren Beantwortung Sie sich einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen könnten, Sie berechtigt sind, die Antwort zu verweigern.

Polizeikommissar Böning bekundete darauf auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe den Angeklagten in der Untersuchungshaft sehr eingehend vernommen. Der Angeklagte habe ihm schließlich gesagt: Er könne die Behauptung nicht mehr aufrechterhalten, daß Minister Ruhstrat mit Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell „Lustige Sieben“ gespielt habe. Es war das nur eine Schlußfolgerung, weil die drei Herren zusammen Karten gespielt haben. Er bleibe aber dabei, daß Minister Ruhstrat „Lustige Sieben“ gespielt habe, er wisse nur nicht, mit wem er gespielt habe. Er habe dies auch in der Oldenburger Strafkammerverhandlung sagen wollen, es aber nicht getan, da Laturnus unaufhörlich auf ihn eingeredet habe, er müsse bei seiner Aussage bleiben, und er sich auch fürchtete, wegen Meineids verhaftet zu werden.

Vors.: Ist es richtig, daß Sie den Versuch machten, dem Angeklagten Mißtrauen gegen seine Verteidiger einzuflößen?

Zeuge: Das habe ich nicht getan. Ich habe allerdings dem Angeklagten gesagt: Es ist selbstverständlich, daß die Verteidiger zunächst die Interessen des „Residenzboten“ wahrnehmen.

Vors.: Haben Sie dem Angeklagten gesagt: Die Verteidiger haben nur ihr Honorar im Auge, er solle diesen das Mandat entziehen und sich einen Verteidiger von Amts wegen bestellen lassen?

Zeuge: Ich habe dem Angeklagten gesagt: Infolge seines Geständnisses könnte sich die Sache in die Länge ziehen, desto mehr Honorar werden aber die Verteidiger beanspruchen, sein Vermögen werde infolgedessen immer mehr zusammenschmelzen. Da versetzte der Angeklagte: Herr Rechtsanwalt Dr. Herz hat mir versprochen, mich ohne Bezahlung zu verteidigen. Ich bemerkte darauf: Das ist brav, dann bleiben Sie dabei.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger verlas einen vom Angeklagten aus der Untersuchungshaft geschriebenen Brief, in dem der Angeklagte über heftige Kopfschmerzen klagte, die er für die Folge seiner vielen Vernehmungen halte. Der Polizeikommissar Böning habe ihm gesagt: wenn er ein Geständnis ablege, käme er mit einer kurzen Gefängnisstrafe davon, und womöglich werde die Strafe durch die Untersuchungshaft als verbüßt erachtet. Anderenfalls seien ihm 10 Jahre Zuchthaus sicher. Der Polizeikommissar habe ihm ferner gesagt: er könne sich doch irren, es haben sich schon Kaiser und Könige geirrt. Er (Angeklagter) habe sich deshalb gesagt: Geglaubt werde ihm doch nichts, und um einer 10jährigen Zuchthausstrafe zu entgehen, habe er schließlich seine vor Gericht gemachte Aussage widerrufen.

Polizeikommissar Böning bestritt, solche Äußerungen getan zu haben. Er führe seit 23 Jahren selbständig Vernehmungen und wisse genau, daß er in keiner Weise auch nur den leisesten Versuch machen dürfe, ein Geständnis zu erpressen. Er gebe zu, daß er dem Angeklagten gesagt habe, wenn er ein offenes Geständnis mache, würde er eine mildere Strafe erhalten.

Der Angekl. bemerkte: Er halte alles, was er in dem verlesenen Briefe geschrieben habe, vollständig aufrecht.

Auf weiteres Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger bestritt der Zeuge, den Versuch gemacht zu haben, dem Angeklagten Mißtrauen gegen seine Verteidiger einzuflößen.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Jonas sagte der Zeuge: Durch den Aufruf und die Vernehmungen sollte nur festgestellt werden, ob das, was der Angeklagte behauptet hat, wahr ist.

Vert.: Dann verstehe ich nicht, weshalb der Angeklagte so eingehend vernommen worden ist. Haben Sie etwa von dem Herrn Untersuchungsrichter die Anweisung erhalten, den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen?

Zeuge: Eine solche Anweisung habe ich von dem Herrn Untersuchungsrichter nicht erhalten, ich hätte sie auch nicht angenommen.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger bemerkte der Zeuge: Er pflege gewöhnlich Angeklagte in Gegenwart von Zeugen zu vernehmen, da die von ihm erzielten Geständnisse mehrfach angefochten worden seien. Da er aber in Oldenburg fremd war, vermochte er einen Zeugen nicht hinzuzuziehen. Er habe deshalb, um sich zu sichern, den Angeklagten sofort zum Untersuchungsrichter führen lassen, damit dort die Aussage sogleich zu Protokoll genommen werde.

Im weiteren Verlauf der Vernehmung sagte der Zeuge: Bei dem Aufruf habe er das Beweisthema lediglich darauf beschränkt, ob Minister Ruhstrat mit Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell „Lustige Sieben“ gespielt habe.

Vert. R.-A. Herz: Haben Sie von dem angeblichen Geständnis des Angeklagten dem Minister Ruhstrat Mitteilung gemacht?

Zeuge: Keineswegs, ich habe den Herrn Minister nur ein einziges Mal gesehen.

Staatsanw. Becker: Haben Sie einmal gesagt, daß Sie die ganze Sache nur widerwillig übernommen hätten, weil man in Bremen eingenommen gegen Oldenburg sei, und Sie seien doch auch ein Bremer?

Zeuge: Ich erinnere mich nicht. (Heiterkeit.) Man hat doch nur ein Gehirn, und nach einer stundenlangen Vernehmung, wie ich sie eben hier durchgemacht habe, kann man doch jede Frage nicht mehr so ohne weiteres beantworten.

R.-A. Dr. Sprenger: Wir erklären uns mit diesen Aussagen des Zeugen durchaus einverstanden und akzeptieren sie für unser Plädoyer zugunsten des Angeklagten Meyer, der nach einer ebenso langen Vernehmung nicht mehr genau alles gewußt hat, was er sagte. Herr Böning ist Kommissar und der Angeklagte nur ein einfacher Kellner.

Der folgende Zeuge, Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe: Er habe gegen den Angeklagten die Untersuchung geführt und zunächst alle diejenigen vernommen, die über das von dem Angeklagten behauptete Spielen des Ministers etwas wissen konnten. Er habe fast sämtliche Richter am Oldenburger Landgericht und auch alle diejenigen vernommen, die in der in Betracht kommenden Zeit Referendare in Oldenburg waren oder das Assessorexamen gemacht hatten. Er hatte außerdem in Erfahrung gebracht, daß gleich nach der Verhaftung des Angeklagten der Deutsche Kellnerbund in einem Fachblatt einen Aufruf erlassen hat, in dem alle Kellner aufgefordert wurden, sich zu melden, die über die Vorgänge im Oldenburger Kasino etwas aussagen könnten, und daß sich daraufhin acht Kellner gemeldet hätten. Trotzdem habe er selbst einen öffentlichen Aufruf in einer Reihe von politischen und Fachzeitungen erlassen. Da der Vorwurf erhoben war, die Oldenburger Richter seien alle befangen, so habe er die Bremer Polizeibehörde ersucht, einen tüchtigen Beamten nach Oldenburg zu schicken, der ihn (den Untersuchungsrichter) unterstützen solle.

Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe bekundete ferner als Zeuge: Der Angeklagte habe bei dem Polizeikommissar Böning die Aussage zu Protokoll gegeben: Er habe nur die Schlußfolgerung gezogen, daß Minister Ruhstrat mit Dr. Schleppegrell und Buchhändler Schmidt „Lustige Sieben“ gespielt habe, er bleibe aber dabei, daß der Minister „Lustige Sieben“ gespielt habe, er wisse nur nicht, mit wem. Gleich darauf habe der Angeklagte diese Aussage bei ihm (Zeugen) wiederholt. Er habe den Angeklagten gefragt, ob er die Aussage auch zu Protokoll nehmen solle, oder ob die Bestätigung des Protokolls des Kommissars genüge. Der Angeklagte antwortete: es sei nicht notwendig, noch ein Protokoll aufzunehmen. Als er den Angeklagten wieder abführen lassen wollte, sagte letzterer: Nun wird man mir wohl den Vorwurf machen, daß ich absichtlich die Unwahrheit gesagt habe. Ich erwiderte: Wenn Sie sich versehen haben, dann wird Ihnen von keiner Seite ein solcher Vorwurf gemacht werden. Aber weshalb haben Sie nicht in dem Prozeß Schweynert schon Ihre jetzige Aussage gemacht? Da antwortete der Angeklagte: Ich wollte es sagen, aber ich erinnerte mich, daß der Untersuchungsrichter in Bremen zu mir sagte: Das, was Sie hier bekundet haben, müssen Sie beschwören. Ich glaubte daher, ich müsse dabei bleiben, was ich in Bremen gesagt habe, sonst werde ich verhaftet. Außerdem hat Laturnus unaufhörlich auf mich eingeredet, ich solle bei meiner Aussage bleiben. Schließlich begann der Angeklagte zu weinen und sagte: Wenn ich nicht auf meine Mutter Rücksicht genommen hätte, wäre ich längst ins Ausland gegangen. Der Angeklagte hat dies sein Geständnis noch mehrfach bei späteren Vernehmungen wiederholt. Einige Zeit darauf bekam der Angeklagte ein Paket von auswärts. Von diesem Tage an erklärte er: Es sei so richtig, wie er zuerst ausgesagt habe. Schließlich erklärte der Angeklagte: Seine Verteidiger hätten ihm verboten, weitere Aussagen zu machen. Der Angeklagte habe sich über die Behandlung des Polizeikommissars Böning niemals beschwert.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Meinen Sie nicht, daß der Angeklagte das Protokoll in einem traumhaften Zustande verfolgt hat? Als man das Widerrufsprotokoll koll verlas, rief er ganz erstaunt: Was, ich habe doch immer gesagt, der Minister habe mit Schmidt und Dr. Schleppegrell „Lustige Sieben“ gespielt!

Zeuge: Ich halte es nicht für glaubhaft, daß sich Meyer in einem traumhaften Zustande befunden habe.

R.-A. Dr. Sprenger: Dann beantrage ich die Ladung der Professoren Forel, Zürich und Mendel, Berlin und bitte, diese als Sachverständige zu vernehmen, ob es nicht eine psychologische Tatsache sei, daß vor Staatsanwälten, Untersuchungsrichtern und Polizeibeamten häufig falsche Aussagen gemacht werden, weil die Vernommenen fortwährend bedrängt werden: „Du irrst dich, das ist nicht richtig, was du sagst, ist unmöglich.“ So kommt es, daß die Betreffenden das schließlich selbst glauben, obgleich Zeugen nachher das Gegenteil bekunden.

R.-A. Dr. Sprenger fortfahrend: Ist Ihnen bekannt, daß die meisten Zeugen glaubten, daß, wenn sie in Oldenburg vernommen würden, der Verhaftungsbefehl schon über ihrem Haupte schwebte?

Zeuge: Ich habe mit einigen Zeugen darüber gesprochen, habe aber nichts davon bemerkt.

R.-A. Dr. Sprenger: Wissen Sie, daß ein Zeuge Vogt vor einem preußischen Gericht ganz andere Aussagen gemacht hat, als vor dem oldenburgischen?

Zeuge: Ja, der Zeuge ist dort bei seiner Aussage geblieben, er will nur vom preußischen Richter falsch verstanden worden sein.

R.-A. Dr. Herz: Sie hielten das Geständnis des Angeklagten für glaubwürdig und den Widerruf für unglaubwürdig?

Zeuge: Ja.

R.-A. Dr. Herz: Sie besaßen also schon eine gewisse Voreingenommenheit?

Zeuge: Ja.

R.-A. Dr. Herz: Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? Es müssen doch innere Motive vorliegen?

Vors.: Ich ersuche die Herren Verteidiger, doch nicht uferlose Debatten zu führen. Wie sollen die Geschworenen der Verhandlung folgen können, wenn hier von psychologischen Tatsachen gesprochen wird.

Die Verteidiger zogen schließlich den Antrag auf Ladung der Professoren Forel und Mendel zurück.

Nächster Zeuge war Regierungsrat z.D. Rechtsanwalt Becker, Oldenburg: Er habe regelmäßig mit Minister Ruhstrat, dem Buchhändler Schmidt und dem Dr. Schleppegrell Skat gespielt. Nachher wurde gepokert, woran sich aber Dr. Schleppegrell nicht beteiligt hat.

Vors.: Wurde auch „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Meines Wissens nicht.

Vors.: Was wurde gespielt?

Zeuge: Es wurde gepokert.

Vors.: Haben Sie von anderen etwa gehört, daß der Minister in jener Zeit „Lustige Sieben“ gespielt hat?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kann Pokern und „Lustige Sieben“ verwechselt werden?

Zeuge: Wer beide Spiele kennt, kann sie nicht verwechseln.

R.-A. Dr. Sprenger: Aber wer sie nicht kennt, kann sie doch verwechseln, weil beides Hasardspiele sind? Ich spreche hier von einem 15jährigen Kellnerlehrling.

Zeuge: Da müßte er nicht hinsehen, sondern auf Grund von Aussprüchen, wie „Wer setzt?“ usw. zu der Verwechslung gelangen.

R.-A. Dr. Sprenger: Liegt die Möglichkeit vor, daß etwa von den Herren die Zeche ausgeknobelt wurde, und daß deshalb der Angeklagte veranlaßt wurde, den Würfelbecher zu bringen?

Zeuge: Möglich ist das schon.

R.-A. Dr. Sprenger: Wie denken Sie im allgemeinen über den Angeklagten? Können Sie ihm ein gutes Leumundszeugnis geben?

Zeuge: Ich konnte ihn stets gut leiden. Er war mir stets ein sympathischer Junge. Ich bedauere sein Unglück aufrichtig.

R.-A. Dr. Sprenger: Als Sie von seiner Aussage hörten, glaubten Sie, er sage die Unwahrheit, oder dachten Sie, Meyer hält für richtig, was er sagt?

Zeuge: Daß er wider besseres Wissen ausgesagt hat, glaube ich nicht. Es liegen ja auch gar keine Motive für ihn vor, die Unwahrheit zu sagen.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß der Angeklagte vielleicht den Minister und den Buchhändler Schmidt verwechselt hat?

Zeuge: Ja, das war mir ganz auffällig, denn auch von Schleppegrell weiß ich, daß er nie „Lustige Sieben“ gespielt hat.

R.-A. Dr. Sprenger: Meinen Sie, daß der Referendar Dr. Christians mit dem Referendar Wilms verwechselt werden könnte, weil beide ein sogenanntes Studentengesicht haben, ein langes Gesicht mit den üblichen Schmissen?

Zeuge: Ich habe allerdings die Herren einmal in Gesellschaft verwechselt.

Der Zeuge bekundete weiter, er halte Pokern für ein Glücksspiel und habe es immer für ein solches gehalten. Er habe es deshalb nicht für richtig gehalten, daß der Minister Ruhstrat in dem Prozesse Ries-Biermann bekundet habe, er habe seit 12 bis 14 Jahren, oder seitdem er Oberstaatsanwalt geworden sei, nicht mehr an einem Glücksspiel teilgenommen.

Vert.: Sie sind also der Ansicht, daß die eigentlichen Zeugenerklärungen des Ministers ein Manko enthalten?

Zeuge: Das will ich nicht sagen. Ich halte es aber für zweifellos, daß die Aussage des Ministers nicht ganz vollständig war.

Vert.: Sie geben also zu, daß der Minister sich eines Verschweigens schuldig gemacht hat?

Zeuge: Das kann ich mit Bestimmtheit nicht sagen.

Staatsanw. Dr. Becker: Ich bin der Meinung, daß dies nicht zur Sache gehört. Es handelt sich doch nicht um ein Verfahren gegen Minister Ruhstrat, sondern lediglich darum, ob der Angeklagte einen Meineid geleistet hat.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Der Minister Ruhstrat ist ein Hauptbelastungszeuge, und deshalb ist die Stellung dieser Frage für die Glaubwürdigkeit des Ministers von größter Bedeutung.

Der Staatsanwalt fragte weiter den Zeugen Becker, ob der Angeklagte bei der vorigen Verhandlung verwirrt gewesen ist.

Zeuge: Ob er verwirrt gewesen ist, weiß ich nicht, aber die ganze Art der Verhandlung war so, daß jemand verwirrt werden konnte. Es war ein so fortwährendes Hin und Her, daß es mir als praktischen Juristen oft schwer war, der Verhandlung zu folgen.

R.-A. Dr. Sprenger: Erinnern Sie sich der Erklärung des Dr. Herz, daß der Angeklagte befangen sei, weil drei der Richter sich am Glücksspiel beteiligt haben? Waren Sie nicht überrascht, daß sogar der damals amtierende Staatsanwalt Dr. Fimmen einer der Spieler war?

Zeuge: Allerdings.

Zeuge R.-A. Dr. Johanns, Delmenhorst hat zwar im Zivilkasino in Oldenburg verkehrt, aber nicht gesehen, daß Minister Ruhstrat „Lustige Sieben“ gespielt hatte. Er habe auch nicht von anderen Herren etwas davon gehört.

Vert. Dr. Jonas: Wurde in diesen Kreisen viel und hoch gespielt?

Zeuge: Ja.

Vors.: Wenn es vorgekommen wäre, daß Minister Ruhstrat in Ihren Kreisen gespielt hätte, wäre das bekannt geworden?

Zeuge: Ja, das wäre aufgefallen, denn der Minister ist für uns eine Respektsperson.

R.-A. Dr. Sprenger: Wurde auch bis zum Morgen gespielt?

Zeuge: Ja, das kam vor.

R.-A. Dr. Sprenger: Es soll auch vorgekommen sein, daß Offiziere vom Spiel direkt nach der Kaserne in Dienst gingen.

Zeuge: Aus eigener Beobachtung weiß ich das nicht. Es kann aber vorgekommen sein.

Am dritten Verhandlungstage eröffnete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Wippermann, die Sitzung mit etwa folgenden Worten: Ich habe die Mitteilung zu machen, daß ich eine ganze Flut von anonymen und pseudonymen Zuschriften erhalten habe, die von den größten Gemeinheiten und Unflätigkeiten gegen den Minister Ruhstrat und das Gericht strotzen. Ich bin der Meinung, daß es das richtigste ist, diese Gemeinheiten mit Nichtachtung zu strafen. Ich nehme an, daß die Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit meinem Vorschlage einverstanden sind.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Die Verteidigung ist mit dem Vorschlage des Herrn Vorsitzenden selbstverständlich einverstanden. Ich will nur mitteilen, daß die Verteidiger ebenfalls mit einer ganzen Flut solcher Zuschriften bedacht worden sind. Wir legen aber auf solche Zuschriften keinerlei Wert, zumal dies in allen größeren Prozessen eine stets übliche Erscheinung ist. Die Verteidigung hat auch während der in Oldenburg geführten Prozesse eine Fülle anonymer Zuschriften erhalten.

Staatsanw. Becker: Ich erkläre mich ebenfalls mit dem Vorschlage des Herrn Vorsitzenden, solche Zuschriften mit Nichtachtung zu strafen, einverstanden. Ich will nur erklären, daß ich auch eine große Anzahl anonymer Zuschriften erhalten habe.

Ein Geschworener stellte die Frage, ob das Plakat, das der Angeklagte den Herren zwecks Spielens der „Lustigen Sieben“ in die Nische gebracht haben wolle, noch vorhanden sei, oder ob Zeugen vorhanden seien, die das Plakat gesehen haben.

Staatsanw. Becker: Die Staatsanwaltschaft war bemüht, das Plakat aufzutreiben, es ist das aber nicht gelungen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Es ist mir die Mitteilung zugegangen, daß ein hier als Zeuge geladener Kellner das Plakat sich als Kuriosum aufgehoben habe. Es ist mir außerdem mitgeteilt worden, daß einige Zeugen geäußert haben, sie befürchteten, wenn sie die Wahrheit sagen, das Schicksal des Angeklagten teilen zu müssen. Dieses geradezu unerhörte Vorkommnis nötigt mich, den Herrn Vorsitzenden zu ersuchen, die Zeugen, insbesondere die Kollegen des Angeklagten, zu ermahnen, alles zu sagen, was sie wissen, ihnen ganz besonders ans Herz zu legen, daß sie hier vor dem Schwurgericht die volle Wahrheit sagen müssen und ihnen hier die Gefahr der Verhaftung nicht droht.

Staatsanw. Becker: Ich halte eine solche Ermahnung für ganz selbstverständlich; eine solche Ermahnung an die Kollegen des Angeklagten ist um so notwendiger, da mir zu Ohren gekommen ist, daß von seiten der Kollegen des Angeklagten die größten Anstrengungen zu dessen Gunsten gemacht werden.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Die Zeugen fürchten ganz besonders deshalb, das Schicksal des Angeklagten teilen zu müssen, da ihnen mehrfach bei ihrer Vernehmung in der Voruntersuchung gesagt worden sei, daß sie sich mit einer Anzahl Zeugen im Widerspruch befinden. Ich habe bereits erklärt, daß ich anonyme Zuschriften mit Nichtachtung behandle, in einem Falle muß ich aber von dieser Praxis abweichen, da ich ein Schreiben erhalten habe, das eine wichtige Mitteilung enthält. Es wird mir nämlich mitgeteilt, daß man Poker auch mit Würfeln spielen kann. Diese Mitteilung macht es doch wohl notwendig, einen Sachverständigen zu hören.

Vors.: Es ist doch aber von den verschiedensten Zeugen bekundet worden, es sei im Oldenburger Kasino nie mit Würfeln Poker gespielt worden. Ich habe sogar eine Zuschrift erhalten, in der mitgeteilt wird, in Südwestafrika werde Poker mit fünf Würfeln gespielt. (Heiterkeit.)

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich habe die Zuschrift aus Berlin bekommen.

Alsdann wurde Oberregierungsrat z.D. Wöbs (Oldenburg) als Zeuge vernommen: Er habe allerdings nicht in der fraglichen Zeit, aber später vielfach mit Minister Ruhstrat, Buchhändler Schmidt u.a. im Kasino Skat, bisweilen, im Anschluß daran, Poker gespielt. „Lustige Sieben“ habe er niemals gespielt, es sei ihm auch nicht bekannt, daß der Minister „Lustige Sieben“ gespielt habe.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger äußerte der Zeuge: Er habe wohl gehört, daß Assessor Hellwarth ein Spielgenosse des Ministers gewesen und Spielschulden halber ausgewandert sei, aus eigener Wissenschaft könne er aber hierüber nichts bekunden.

Regierungs-Assessor Dr. Menzler: Er habe mehrfach im Oldenburger Zivilkasino „Lustige Sieben“ gespielt. Der Minister Ruhstrat habe, seines Wissens nach, niemals mitgespielt. Eines Abends, an Kaisers Geburtstag, sei in einer Nische „Lustige Sieben“ gespielt worden. Minister Ruhstrat habe an der Nische gestanden und zugesehen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Wissen Sie genau, daß Minister Ruhstrat sich an dem Spiel der „Lustigen Sieben“ nicht beteiligt hat?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist es möglich, daß der Minister nach Ihrem Weggange an dem Spiel teilgenommen hat?

Zeuge: Was nach meinem Weggange geschehen ist, kann ich selbstverständlich nicht wissen, ich glaube aber, daß ich bis zum Schluß des Spielens in der Nische geblieben bin.

Staatsanwalt: Wurde während des Spielens „Lustige Sieben“ ein Plakat aufgelegt, auf dem das Spiel aufgezeichnet war?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Welche Größe halte das Plakat ungefähr?

Zeuge: Es war von der Größe eines sogenannten Sauerbrunnen-Plakats.

Rechtsanwalt Lewe (Oldenburg) machte ähnliche Bekundungen wie der Vorzeuge.

Der folgende Zeuge war Staatsanwalt Dr. Fimmen (Oldenburg). Dieser hatte in dem Prozeß Schweynert die Anklage vertreten. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe als Referendar nach Examenskneipen und auch sonst im Oldenburger Zivilkasino oftmals „Lustige Sieben“ gespielt. Minister Ruhstrat habe niemals mitgespielt. Der Minister, der damals Oberstaatsanwalt war, habe in Referendarkreisen überhaupt nicht verkehrt. Der Zeuge schilderte alsdann in eingehender Weise das Verhalten des Angeklagten und die gesamten Vorkommnisse im Prozeß Schweynert. Er (Zeuge) hatte nicht den Eindruck, daß der Angeklagte befangen gewesen sei. Er hatte sich in keiner Weise widersprochen, sondern hielt seine Aussage, trotz gegenteiliger Bekundungen mehrerer anderer Zeugen, vollkommen aufrecht.

Vors.: Herr Staatsanwalt, ist Ihnen erinnerlich, daß dem Angeklagten schon am ersten Tage seiner Vernehmung vor der Strafkammer in Oldenburg mit Verhaftung gedroht wurde? Der Angeklagte behauptet das.

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich, ich glaube auch nicht, daß das auch nur andeutungsweise geschehen ist, denn der Angeklagte wurde vom Vorsitzenden durchaus nicht schroff behandelt.

Zeuge Staatsanwalt Dr. Fimmen bekundete weiter auf Befragen: Die Verhandlung sei in einer so ruhigen Weise geführt worden, daß der Angeklagte wohl mit vollem Verständnis folgen konnte.

Vors.: In der Verteidigungsschrift heißt es: Die Verhandlung wurde in einer Weise geführt, daß man den Eindruck gewann, es wurde darauf abgezielt, den Zeugen Meyer verwirrt zu machen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Das ist eine nicht ganz glückliche Wendung.

Staatsanwalt Becker: Es heißt auch in der Verteidigungsschrift: Die Vernehmung machte den Eindruck, als zielte sie darauf ab, Widersprüche in der Aussage des Zeugen Meyer zu konstruieren, um sie zu seinen Ungunsten verwerten zu können.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Das wird aufrechterhalten.

Vors.: Ich frage Sie deshalb, Herr Zeuge, ob Sie einen solchen Eindruck hatten?

Zeuge: Ich habe bereits gesagt, daß der Angeklagte in durchaus ruhiger Weise behandelt und ihm auch Zeit gelassen wurde, sich seine Aussagen zu überlegen, ich muß also diese Frage aufs bestimmteste verneinen. Allerdings hatte der Herr Vorsitzende und auch ich das Bemühen, den Angeklagten zur Änderung seiner Aussage zu bewegen, ganz besonders ihm klarzumachen, daß seine Aussagen denen anderer Zeugen direkt widersprechen.

Ein Beisitzer: Saß vielleicht auf dem Podium des Richtertisches ein Herr, der dem Referendar Christians ähnlich sah?

Zeuge: Nein.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Herr Staatsanwalt, ist Ihnen bekannt, daß Herr Buchhändler Schmidt zugegeben hat, er habe noch 1902 „Lustige Sieben“ gespielt?

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt.

Vert.: Sie sagten vorhin, Herr Staatsanwalt: die Hauptbeschuldigung gegen Minister Ruhstrat beruhte auf der Aussage des Angeklagten Meyer?

Zeuge: Jawohl, es ging durch die Presse, zwei frühere Kellner des Kasinos wollen beschwören, daß Minister Ruhstrat noch in den letzten Jahren „Lustige Sieben“ gespielt hat, es stellte sich doch aber im Schweynert-Prozeß heraus, daß der Zeuge Laturnus gar nicht in Betracht kam.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß von der Verteidigung der Meineid des Ministers Ruhstrat in folgender Weise konstruiert wurde: 1. der Minister habe beschworen, er habe nur im Kasino gespielt, während er auch vielfach bei Eilers gespielt habe, 2. der Minister habe unter seinem Eide ausgesagt: er habe nicht leidenschaftlicher als andere gespielt, während er in leidenschaftlichster Weise gespielt habe, 3. der Minister habe im Prozeß Ries-Biermann eidlich und auch im Landtage erklärt: er habe seit 12 bis 14 Jahren nicht mehr hasardiert, während er noch in den letzten Jahren hasardiert habe? Ist Ihnen ferner bekannt, daß der Gerichtshof den dafür angebotenen Wahrheitsbeweis sowohl im Prozeß Schweynert als auch in dem letzten Prozeß Biermann mit der Begründung abgelehnt hat: Der Beweis ist unerheblich, da der Minister solche Erklärungen gar nicht abgegeben hat?

Zeuge: Meyer ist doch im Prozeß Schweynert vernommen worden, im übrigen haben schließlich die Verteidiger im Schweynertprozeß erklärt, daß sie alle ihre Beweisanträge zurückziehen. Der Gerichtshof hielt die Sachlage für geklärt, deshalb wurde von einer weiteren Beweiserhebung Abstand genommen.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß der Gerichtshof, der verpflichtet gewesen wäre, die von der Verteidigung benannten Zeugen von Amts wegen zu laden, den Beweisantrag der Verteidigung von vornherein abgelehnt hat?

Zeuge: Das ist möglich, der Gerichtshof erachtete jedenfalls den beantragten Wahrheitsbeweis als überflüssig oder als nicht zur Sache gehörig.

Vert.: Ist Ihnen erinnerlich, daß derselbe Wahrheitsbeweis im letzten Prozeß Biermann von der Verteidigung angeboten, aber mit derselben Begründung abgelehnt wurde?

Zeuge: Jawohl.

Der Zeuge stellte weiter auf Befragen in Abrede, daß der Vorsitzende im Schweynertprozeß den Angeklagten schroff behandelt habe.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich will Ihnen bemerken, daß Herr Rechtsanwalt Becker, der eine 18jährige praktische Rechtsanwaltstätigkeit hinter sich hat, wohl die Empfindung hatte, der Angeklagte müsse durch die vielen Fragen verwirrt werden.

Zeuge: Herr Rechtsanwalt Becker mag diese Auffassung gehabt haben, es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß Rechtsanwalt Becker nicht von Anfang an und nur im Zeugenraum der Verhandlung beigewohnt hat.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Zeuge: Er wolle nicht sagen: der Angeklagte sei vom Vorsitzenden im Prozeß Schweynert liebevoll behandelt worden, man könne aber sagen: er sei nicht gehässig behandelt worden.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Herz bemerkte der Zeuge: Er habe als Referendar mit damaligen Kollegen „Lustige Sieben“ gespielt. Soweit er sich erinnere, habe er einen Kellner niemals angepumpt. Er gebe zu, daß über dasselbe Beweisthema, über das die Kellner Meyer und Laturnus als Zeugen benannt waren, noch 40-50 andere Zeugen von der Verteidigung vorgeschlagen waren, daß diese aber in keiner Verhandlung vernommen wurden, weil der Gerichtshof abweichender Ansicht bezüglich dieses Punktes war.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sie haben bereits gesagt, Herr Staatsanwalt, daß Sie als Referendar im Oldenburger Kasino „Lustige Sieben“ gespielt haben, haben Sie auch später noch gespielt?

Zeuge: Ich habe auch als Auditor und als Regierungsassessor und Gerichtsassessor noch gespielt.

Vert.: Haben Sie auch als richterlicher Beamter gespielt?

Zeuge: Ich erachte es nicht für meine Pflicht als Zeuge, eine Frage zu beantworten, die sich auf meine Privatverhältnisse bezieht und mit der Sache absolut nichts zu tun hat.

Vert.: Ich bin entfernt, Ihnen Verlegenheiten bereiten oder Ihnen Moral predigen zu wollen. Ich halte aber die Beantwortung der Frage für erheblich, um festzustellen, daß richterliche Beamte in dem Prozeß Schweynert nicht unbefangen sein konnten, daß sie sich durch die Behauptungen des Angeklagten Schweynert, insbesondere aber durch die eidliche Aussage des jetzigen Angeklagten Meyer verletzt fühlen mußten und somit pro domo handelten.

Staatsanwalt Becker: Ich muß die Frage des Herrn Verteidigers, die mit dieser Sache durchaus nichts zu tun hat, beanstanden.

Vors.: Ich muß auch erklären, daß die Frage nicht zur Sache gehört.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich will keinen Gerichtsbeschluß beantragen, zur Sache gehört aber meine Frage vollkommen.

Zeuge, Staatsanwalt Dr. Fimmen: Ich will bemerken, daß ich nur deshalb die Frage nicht beantworten will, weil es mein Prinzip ist, eine Frage nicht zu beantworten, die nicht zur Sache gehört.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich muß darauf bemerken, daß Prinzipien billig wie Brombeeren sind.

Zeuge, Staatsanwalt Dr. Fimmen: Ich muß den Herrn Vorsitzenden bitten, mich gegen den Angriff des Herrn Verteidigers in Schutz zu nehmen.

Vors.: Herr Rechtsanwalt, Sie werden zugeben, daß der Ausdruck „Prinzipien sind billig wie Brombeeren“ ungehörig ist, zumal doch der Herr Zeuge nur ausdrücken wollte, er lehne die Beantwortung der Frage ab, da sie nicht zu seiner Zeugenpflicht gehöre.

Vert.: Ich bemerke ausdrücklich, daß der Ausdruck nicht gegen die Person des Herrn Zeugen gerichtet war.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Herr Staatsanwalt, haben Sie in dem Prozeß Schweynert die Anklage nur vertreten, oder waren Sie Dezernent?

Zeuge: Ich war Dezernent und habe die Sache Schweynert ganz selbständig geleitet.

Vert.: Herr Staatsanwalt, ich muß nun eine Frage an Sie stellen und Ihnen anheimgeben, auf Grund des § 53 der Prozeßordnung die Genehmigung Ihrer vorgesetzten Behörde einzuholen. Ich frage Sie: Haben Sie über das Verfahren wider Schweynert Ihrer vorgesetzten Behörde oder sonst einer höheren Instanz Mitteilung gemacht?

Zeuge: Es ist bereits der Vorwurf in der Presse erhoben worden, ich wäre vom Herrn Minister Ruhstrat beeinflußt worden. Ich erkläre, daß ich niemandem eine Mitteilung gemacht und auch von niemandem beeinflußt worden bin.

Vert.: Sie haben auch gegen Biermann das Verfahren geleitet. Haben Sie in diesem Verfahren eine Anweisung erhalten, etwa Biermann verhaften zu lassen, oder haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?

Zeuge: Ich habe auch im Verfahren wider Biermann ohne jede Beeinflussung vollständig selbständig gehandelt und auch selbständig den Entschluß gefaßt, den Angeklagten Biermann in Haft zu nehmen.

Staatsanwalt Becker: Ich muß doch bitten, den Gerichtshof nicht mit Fragen zu belästigen, die mit der gegenwärtigen Sache absolut nichts zu tun haben.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Ich muß gegen die Äußerung des Herrn Staatsanwalts, daß ich den Gerichtshof mit Fragen belästige, ganz entschieden protestieren. Wenn ich eine Frage stelle, so erfülle ich nur meine Pflicht als Verteidiger. Ich stehe der Sache ebenso objektiv gegenüber, wie die Herren Geschworenen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Herr Staatsanwalt Fimmen, Sie sagten vorhin, Sie haben den Angeklagten, als Sie ihn im Schweynert-Prozeß sahen, wiedererkannt. Fühlten Sie sich nicht dadurch befangen?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Oberamtsrichter Dr. Carstens: Er habe, als er noch Staatsanwalt in Oldenburg war, im Kasino einmal gepokert und 64 Mark verloren. Über die Spielertätigkeit des Ministers Ruhstrat könne er nichts bekunden.

Assessor Dr. Thorade (Oldenburg): Er habe im Oldenburger Kasino gepokert und „Lustige Sieben“ gespielt. Minister Ruhstrat habe nicht mitgespielt, wenigstens habe er keine Kenntnis davon. Wenn der Minister mitgespielt hätte, dann wäre ihm das zweifellos mitgeteilt worden.

Gymnasialdirektor Dr. Früstück (Birkenfeld): Er sei früher Gymnasiallehrer in Oldenburg gewesen und habe als Reserveoffizier an den Reserveoffiziersabenden oftmals mit dem Minister Ruhstrat, der auch Reserveoffizier war, u.a. „Lustige Sieben“ gespielt. Seit seiner Ernennung zum Oberstaatsanwalt habe Minister Ruhstrat nicht mehr gespielt.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Hat die Ernennung zum Oberstaatsanwalt den Herrn Minister veranlaßt, nicht mehr zu spielen, oder war der Tod des Hauptmanns v. Pavel der wirkliche Grund hierbei?

Zeuge: Den wirklichen Grund kenne ich nicht, da aber der Minister meiner Erinnerung nach mit dem Spiel „Lustige Sieben“ aufhörte, als er Oberstaatsanwalt wurde, so nehme ich an, daß dies die Ursache war.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß Hauptmann v. Pavel sich Spielschulden halber erschossen hat?

Zeuge: Das habe ich allerdings gehört.

Vert.: Und es ist Ihnen auch bekannt, daß Hauptmann v. Pavel ein Spielgenosse des Ministers war?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Hat nicht Minister Ruhstrat gesagt: „Der Tod des Hauptmanns v. Pavel hat mich stutzig gemacht und mich veranlaßt, nicht mehr zu spielen?“

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt.

Landgerichtsdirektor Erk (Oldenburg): Er habe im Prozeß Schweynert den Vorsitz geführt und den Angeklagten sehr eingehend vernommen. Dieser sei sehr klar und bestimmt gewesen, von einer Verwirrung oder Befangenheit könne keine Rede sein. Die Aussagen des Zeugen wurden schließlich protokolliert und ihm Satz für Satz des Protokolls langsam vorgelesen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sie sind eine Zeitlang spezieller Amtsgenosse des Ministers Ruhstrat gewesen?

Zeuge: Jawohl, wir gehörten Anfang der 1890er Jahre beide eine Zeitlang der Oldenburger Staatsanwaltschaft an.

Vert.: Sie waren mit dem Minister Ruhstrat befreundet?

Zeuge: Es kommt darauf an, was man unter Freundschaft versteht, jedenfalls standen wir gut miteinander.

Vert.: Was können Sie über die intellektuellen Fähigkeiten des Rechtsanwalts Becker sagen?

Zeuge: Herr Rechtsanwalt Becker hat einen sehr guten Ruf, über seine intellektuellen Fähigkeiten kann ich nichts sagen.

Vert.: Herr Rechtsanwalt Becker sagte gestern unter seinem Eide: Er hatte nicht die Empfindung, daß sich der Angeklagte im Schweynert-Prozeß in Widersprüche verwickelt habe, wohl aber, daß infolge der vielen Fragen die Verhandlung schließlich über den Horizont des Angeklagten gegangen sei?

Zeuge: Soweit mir erinnerlich, ist Rechtsanwalt Becker nach dem Angeklagten vernommen worden, er ist also nicht von Anfang an im Saale gewesen und kann deshalb kein klares Urteil gewonnen haben.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Er habe die Empfindung, daß zwischen dem Minister Ruhstrat und Rechtsanwalt Becker „etwas vorgekommen sein müsse“.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ist dem Angeklagten mit Verhaftung gedroht worden?

Zeuge: Ich erinnere mich nicht.

Landrichter Dr. Gerolt (Bremen): Er habe den Angeklagten im Strafverfahren gegen Schweynert vernommen. Der Angeklagte habe sich sehr bestimmt ausgelassen und auf seine (des Zeugen) Frage erklärt, er könne das Spiel „Lustige Sieben“ von anderen Spielen ganz bestimmt unterscheiden.

Gerichtsassessor Dr. Rumpf (Oldenburg): Er sei beisitzender Richter im Prozeß Schweynert gewesen; der Angeklagte sei stets dabei geblieben: Minister Ruhstrat habe mit dem Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell vielfach im Anschluß an ein Skatspiel „Lustige Sieben“ gespielt. Der Angeklagte machte den Eindruck eines Menschen, der wohl nicht fließend und nur auf Fragen antworten konnte, aber ganz klar in seinen Angaben war. Er (Zeuge) sei der Auffassung, daß Widersprüche in der Aussage des Angeklagten bestanden. Der Angeklagte wurde auch wiederholt darauf aufmerksam gemacht, er sei aber bei seiner Bekundung geblieben.

Ein weiterer Zeuge war Hotelier v.d. Heyde (Bremen): Der Angeklagte sei bei ihm in Stellung gewesen. Er sei ein sehr aufmerksamer, fleißiger, anstelliger und ehrlicher junger Mann gewesen, so daß er ihn geschäftlich sehr empfehlen könne.

Vors.: Weshalb haben Sie den Angeklagten entlassen?

Zeuge: Den genauen Grund kann ich nicht angeben. Ich glaube aber, da die Oldenburger Angelegenheit fortwährend in Zeitungen stand, und dabei mein Hotel genannt wurde, sagte ich, es hat keinen Zweck mehr.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Der Angeklagte behauptet, er habe gekündigt?

Zeuge: Das gebe ich zu, es ist eines Tages etwas vorgekommen, deshalb ging der Angeklagte fort. Ich muß aber wiederholen, ich war geschäftlich sehr mit ihm zufrieden, ja ich hätte ihm unter Umständen die Stelle als Oberkellner angeboten.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Halten Sie den Angeklagten für einen wahrheitsliebenden Menschen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sie halten ihn also nicht für fähig, einen Meineid zu leisten?

Zeuge: Keineswegs.

Vert.: Der Kellner Heinz, der später vernommen werden wird, soll sich über den Angeklagten ungünstig äußern. Sind Sie der Meinung, daß Heinz auf den Angeklagten eifersüchtig war, weil der Angeklagte den Gästen sympathischer war als er?

Zeuge: Das glaube ich bestimmt. Das, was Heinz spricht, ist überhaupt nicht maßgebend.

Tivoliwirt Schipker (Bremen): Er sei in den Jahren 1894 und 1895 Kellner im Oldenburger Zivilkasino gewesen, dort sei vielfach „Lustige Sieben“ gespielt worden. Ob Minister Ruhstrat sich an den Spielen beteiligt habe, wisse er nicht. Er habe den Minister nur in der Nische sitzen sehen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Haben Sie an den Spielabenden viel Geld verdient?

Zeuge: Jawohl. Ich verdiente an solchen Abenden 30 bis 50 Mark.

Alsdann wurde der 25jährige Schiffskellner Barth als Zeuge aufgerufen. Dieser war so zaghaft, daß der Vorsitzende ihm sagte: Sie haben durchaus keinen Grund, ängstlich zu sein. Wenn Sie die Wahrheit sagen, dann geschieht Ihnen hier nichts.

Der Zeuge bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei 1899 einige Monate mit dem Angeklagten zusammen im Oldenburger Zivilkasino Kellner gewesen. Dort sei oftmals „Böse Sieben“ gespielt und auch ein Plakat aufgehängt worden, worauf die „Böse Sieben“ aufgemalt war.

Vors.: Sie nennen es „Böse Sieben“, Sie meinen wohl „Lustige Sieben“?

Zeuge: Ja. (Große, allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Wissen Sie, wer gespielt hat?

Zeuge: Nein, ich kannte die Herren nicht.

Vors.: Ein Kellner Riemenschneider soll Ihnen einmal mal etwas erzählt haben.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was hat Ihnen Riemenschneider erzählt?

Zeuge: Er sagte, er sei im Kasino angepumpt worden.

Vors.: Von wem?

Zeuge: Von einem Herrn Ruhstrat. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Bezeichnete Riemenschneider den Herrn Ruhstrat näher, sagte er vielleicht: der Staatsanwalt oder der Rechtsanwalt Ruhstrat?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie wurden, als Sie mit dem Schiff ankamen, sofort auf dem Amtsgericht in Bremen vernommen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Hatten Sie Kenntnis von den Ruhstrat-Prozessen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wodurch?

Zeuge: Wir hatten den „Oldenburger Residenzboten“ an Bord. (Stürmische Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Auf die Vernehmung des in Amerika weilenden Kellners Riemenschneider wurde verzichtet.

Am vierten Verhandlungstage erbat sich nach Eröffnung der Sitzung das Wort Vert. Rechtsanwalt Dr. Sprenger: Ehe wir in die Verhandlung eintreten, muß ich bitten, eine Erklärung abgeben zu dürfen. Ebenso wie bei den diesbezüglichen Prozessen in Oldenburg ist auch hier in Bückeburg der Versuch gemacht worden, das ruhige Zusammenarbeiten der Prozeßbeteiligten in dieser Verhandlung zu stören. Die „Schaumburg-Lippische Landes-Zeitung“, ein in hiesiger Gegend sehr verbreitetes Blatt, das wohl auch von den Herren Geschworenen gelesen wird, bringt in ihrer gestrigen Nummer einen Angriff auf die Verteidiger und sucht die Geschworenen in vollständig unzulässiger Weise zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen. Ich überreiche den Artikel dem Herrn Vorsitzenden und richte an ihn namens der gesamten Verteidigung die Bitte, die Herren Geschworenen zu warnen, sich durch irgendwelche Preßartikel beeinflussen zu lassen.

Vors.: Ich habe den Artikel auch gelesen und ihn bedauert. Ich bemerke den Herren Geschworenen, daß sie das, was über den Prozeß in den Zeitungen geschrieben wird, selbstverständlich gar nichts angeht. Sie, meine Herren Geschworenen, haben lediglich auf Grund der Vorgänge im Gerichtssaale Ihren Wahrspruch abzugeben, von allen äußeren Einflüssen müssen Sie sich vollständig fernhalten.

Staatsanwalt Becker: Ich will bei dieser Gelegenheit erklären, daß die Staatsanwaltschaft den Oldenburger Preßartikeln vollständig fernsteht.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Davon sind die Verteidiger von vornherein überzeugt.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Ich halte es für das beste, alle solche anonymen oder pseudonymen Preßartikel mit Nichtachtung zu strafen, ebenso wie es der Herr Vorsitzende bezüglich der anonymen Schmähbriefe vorgeschlagen hat.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich will mitteilen, daß ich heute wieder eine ganze Flut anonymer Briefe erhalten habe.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger beantragte darauf, außer den protokollarischen Aussagen des Angeklagten auch alle anderen Stellen im gerichtlichen Protokoll, soweit sie sich auf die Vernehmung des Angeklagten beziehen, den Geschworenen zu übergeben.

Der Gerichtshof gab diesem Antrage statt.

Es wurde alsdann Gastwirt Manns (Vegesack) als Zeuge vernommen: Der Angeklagte habe vor etwa drei Jahren neun Monate bei ihm konditioniert. Er sei in jeder Beziehung mit ihm zufrieden gewesen. Der Angeklagte sei ein sehr tüchtiger Kellner und habe einen sehr guten Charakter. Er sei sehr ordentlich, fleißig, zuvorkommend und ehrlich gewesen.

Vors.: Weshalb ist er von Ihnen abgegangen?

Zeuge: Er wollte sich verbessern, ich habe ihn einige Male in Bremen besucht und ihm gesagt: Er könne jederzeit bei mir wieder eintreten.

Vors.: Halten Sie den Angeklagten für wahrheitsliebend?

Zeuge: Jawohl.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Halten Sie den Angeklagten für fähig, wissentlich einen Meineid zu leisten?

Zeuge: Keineswegs.

Landwirt Bunnies: Er sei in den Jahren 1900 und 1901 im Oldenburger Zivilkasino Kellnerlehrling gewesen. Den Minister Ruhstrat habe er oftmals Skat spielen sehen. Er habe auch einige Male gesehen, daß der Angeklagte ein Plakat, auf dem die „Lustige Sieben“ aufgemalt war, in die Nische hineinreichte.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Wer saß in der Nische?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Kellner Theodor Voigt (Hannover): Er sei von Januar bis Mai 1900 im Oldenburger Zivilkasino Kellner gewesen. Minister Ruhstrat, Regierungsrat Becker, Buchhändler Schmidt und andere Herren habe er oftmals Karten spielen sehen, was das für ein Kartenspiel war, wisse er nicht. An den Abenden der Examenskneipen sei von den jüngeren Herren „Lustige Sieben“ gespielt worden.

Vors.: Sie haben vor dem Amtsgericht in Hannover gesagt, der Angeklagte Meyer habe das „Lustige-Sieben“-Plakat in die Nische gereicht, in der Minister Ruhstrat, Buchhändler Schmidt, Regierungsrat Becker, ker, Dr. Schleppegrell usw. saßen?

Zeuge: An diesen Abenden saßen aber die Herren nicht in der Nische.

Vors.: Sie meinen also: Meyer habe das Plakat in die Nische hineingereicht, in der Minister Ruhstrat, Regierungsrat Becker, Buchhändler Schmidt usw. zu sitzen pflegten?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie haben auch Ihre Aussage bei Ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter in Oldenburg in dem heutigen Sinne geändert?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Ist der Vorsitzende des Deutschen Kellnerbundes für den Bezirksverband Bremen, Kellner Hansen, einmal bei Ihnen gewesen, um über diese Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Bei Ihrer Vernehmung vor dem Amtsgericht in Hannover sind Sie wohl mißverstanden worden?

Zeuge: Jawohl.

Der Zeuge bekundete ferner auf Befragen: Er habe an diesen Spielabenden oftmals bis 60 Mark verdient. Er sei auch bisweilen angepumpt worden, habe aber stets die Darlehen zurückerhalten.

Kellner Hampe: Er sei in den Jahren 1900 und 1901 Kellner im Oldenburger Zivilkasino gewesen. Er habe Minister Ruhstrat usw. nur Karten spielen sehen, die jungen Herren spielten nach den Examenskneipen gewöhnlich „Lustige Sieben“.

Vors.: Sie sollen gesagt haben, Sie haben Angst, wenn Sie in dieser Angelegenheit als Zeuge vernommen werden, es könnte Ihnen etwas passieren?

Zeuge: Ich habe nur gesagt: Es ist mir unangenehm, daß ich als Zeuge kommen muß.

Vors.: Weshalb war Ihnen das unangenehm?

Zeuge: Weil ich noch niemals vor Gericht war.

Kellner Herzmann: Er sei vom November 1900 bis April 1901 Kellner im Oldenburger Zivilkasino gewesen. Es sei in den Nischen viel und hoch gespielt worden. Wenn eine Nische überfüllt war, dann wurde eine zweite hinzugenommen.

Vors.: Gehörte Minister Ruhstrat zu der Spielergesellschaft?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen, er saß aber in der Nische.

Vors.: Wie oft saß Minister Ruhstrat an den Abenden, an denen „Lustige Sieben“ gespielt wurde, in der Nische?

Zeuge: Mehrere Male.

Vors.: Wissen Sie es ganz genau?

Zeuge: Ganz genau, ich kannte Herrn Minister Ruhstrat sehr genau.

Vors.: Haben Sie gesehen, daß Minister Ruhstrat sich an dem Spiel beteiligte?

Zeuge: Direkt habe ich das nicht gesehen.

Vors.: Indirekt kann man nichts sehen. Sie können also jedenfalls nicht sagen, daß Minister Ruhstrat sich an dem Spiel beteiligt habe?

Zeuge: Ich habe es nur angenommen.

Vors.: Worauf begründen Sie Ihre Schlußfolgerung?

Zeuge: Weil der Minister mir den Sekt bezahlte und außerdem noch viel Gold und Silbergeld in der Hand hatte.

Vors.: Wer waren die anderen Herren?

Zeuge: Buchhändler Schmidt und andere Herren.

Staatsanwalt: Wodurch wissen Sie, daß „Lustige Sieben“ gespielt wurde?

Zeuge: Weil ich den Würfelbecher mit den Würfeln und das „Lustige-Sieben“-Plakat gesehen habe.

Auf weiteres Befragen sagte der Zeuge: Der Minister habe ihn einige Male, wenn er in die Nische kam, hinausgeworfen.

Vors.: Hat der Herr Minister in der Nische gestanden oder gesessen?

Zeuge: Er hat gestanden.

Vors.: Sie haben früher gesagt: Der Minister habe Ihnen wohl eine Flasche Sekt bezahlt, er habe aber kein weiteres Geld in der Hand gehabt?

Zeuge: Das ist mir erst später wieder eingefallen.

Vors.: Bei Ihrer früheren Vernehmung waren Ihnen doch aber die Vorgänge noch bedeutend besser im Gedächtnis.

Zeuge: Ich habe mich aber erst später darauf erinnert.

Vors.: Haben Sie über diese Angelegenheit mit Kellner Hansen gesprochen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wissen Sie, was Sie Hansen erzählt haben?

Zeuge: Das, was ich hier gesagt habe.

Vors.: Sie haben Hansen ganz andere Dinge erzählt. Ich ermahne Sie, die Wahrheit zu sagen, ich werde Ihnen dann den Kellner Hansen gegenüberstellen.

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Sie sollen zu Hansen gesagt haben: Minister Ruhstrat habe in der Spielernische gesessen, die Bank gehalten, und die blauen Lappen seien nur so geflogen.

Zeuge: Vom Blauen-Lappen-Fliegen habe ich jedenfalls nichts gesagt.

Vors.: Na, das ist eine ganz landläufige Redensart. Haben Sie gesagt, der Minister hat die Bank gehalten?

Zeuge: Das habe ich auch nicht gesagt.

Staatsanwalt Becker: Ich beantrage, im Anschluß hieran Herrn Minister Ruhstrat zu vernehmen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Was haben Sie an solchen chen Spielabenden verdient?

Zeuge: 40-60 Mark.

Vert.: Wie lange wurde an solchen Spielabenden gespielt?

Zeuge: Oftmals bis zum frühen Morgen.

Vert.: Vielleicht so lange, bis die Scheuerfrauen ins Lokal kamen?

Zeuge: Das ist auch vorgekommen.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie sich fürchteten, in dieser Sache als Zeuge vernommen zu werden?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Fürchteten Sie, daß, wenn Sie hier die Wahrheit sagen, Sie das Schicksal des Angeklagten Meyer teilen könnten?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanw.: In welcher Kleidung erschien der Minister?

Zeuge: Im Frack.

Staatsanwalt: Sie kannten von den anderen Herren nur Herrn Buchhändler Schmidt?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Wie kommt es, daß Sie sich gerade so genau auf Herrn Minister Ruhstrat erinnern?

Zeuge: Weil es mir auffiel, daß der Herr Minister sich an dem Spiel der „Lustigen Sieben“ beteiligte.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Waren die in der Spielernische sitzenden Offiziere in Uniform?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Zeuge Hampe, Sie haben gehört, was der Herr Zeuge ausgesagt hat, können Sie das bestätigen?

Zeuge: Nein.

Der Vorsitzende hielt nochmals dem Zeugen Herzmann seine dem Kellner Hansen gemachte Erzählung vor und ermahnte ihn eindringlichst, die Wahrheit zu sagen.

Der Zeuge erklärte jedoch wiederholt, daß er dies dem Hansen nicht erzählt habe.

Kellner Hansen (Bremen), der alsdann als Zeuge erschien, bekundete: Herzmann habe ihm, ohne daß er ihn gefragt habe, gesagt: Meyer sitze unschuldig. Er habe selbst gesehen, daß Minister Ruhstrat bei dem Spiel „Lustige Sieben“ dabei gewesen sei, der Minister habe die Bank gehalten, die blauen Lappen seien nur so geflogen.

Vors.: Dabei bleiben Sie?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Nun, Herzmann, was sagen Sie dazu? Wollen Sie nicht die Möglichkeit zugeben, daß Sie dies dem Hansen doch erzählt haben?

Herzmann: Die Möglichkeit will ich zugeben. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Weshalb haben Sie das nicht vorher erklärt? Wissen Sie, in welcher Gefahr Sie standen? Danken Sie Gott, daß Sie noch rechtzeitig die Möglichkeit zugegeben gegeben haben.

Auf eingehendes Befragen des Verteidigers gab Zeuge Hansen schließlich zu: er habe vielleicht, als er bei dem Untersuchungsrichter in Oldenburg vernommen wurde, unbeabsichtigt zugunsten des Angeklagten etwas übertrieben.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Wir sahen uns genötigt, nachzuforschen, ob vielleicht Zeuge Hansen unbeabsichtigt eine Übertreibung zugunsten des Angeklagten begangen hat, denn wir hatten die Empfindung, daß wir wieder vor der Erhebung einer neuen Meineidsanklage stehen.

Vors.: Ich konnte nicht wissen, daß Zeuge Hansen seine sehr bestimmte Aussage schließlich abschwächen wird. Hätte ich das geahnt, dann würde ich selbstverständlich nicht die Bemerkung gemacht haben: Herzmann kann Gott danken, daß er noch rechtzeitig die Möglichkeit eines Irrtums zugegeben hat.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Die Verteidigung ist entfernt, die Leitung der Verhandlung zu kritisieren. Ich erlaube mir aber im Namen der Verteidigung an den Herrn Vorsitzenden die Bitte zu richten, frühere Aussagen den Zeugen nur in dringendsten Fällen vorzuhalten. Laut Strafprozeßordnung sollen Zeugen ihre früheren Aussagen nur dann vorgehalten werden, wenn dies zur Unterstützung des Gedächtnisses oder zur Aufklärung eines Widerspruches notwendig ist. Ich halte es gerade in dieser Verhandlung für bedenklich, den Zeugen ihre früheren Aussagen ohne zwingenden Grund vorzuhalten, da wohl in keinem Prozeß die Zeugen der Verteidigung so eingeschüchtert sind wie in diesem. Der Umstand, daß über dem Zeugen Herzmann das Damoklesschwert der Verhaftung geschwebt, hat, wie wir uns in der Pause überzeugt haben, auf die Zeugen der Verteidigung wie ein kaltes Sturzbad gewirkt. Die Verteidigung macht sich anheischig, sämtlichen Belastungszeugen Widersprüche in ihren Aussagen nachzuweisen. Es ist bekannt, daß in allen Zivil- und Kriminalprozessen Widersprüche in den Zeugenaussagen vorkommen. Das liegt in der Natur der Sache. Deshalb wird aber noch keineswegs den Zeugen mit Verhaftung gedroht.

Vors.: Ich habe bereits gesagt, weshalb ich dem Zeugen Herzmann bedeutet habe: Er könne Gott danken, daß er rechtzeitig die Möglichkeit eines Irrtums zugegeben hat. Im übrigen habe ich es für erforderlich gehalten, den beiden letzten Zeugen ihre Widersprüche aus den gerichtlichen Protokollen vorzuhalten. Ich bin auch dazu berechtigt.

Es wurde alsdann mit der Vernehmung des Zeugen Hansen fortgefahren. Dieser bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Deutsche Kellnerbund ist eine 1878 in Erfurt begründete Genossenschaft, deren Sitz Leipzig ist. Der Zweck des Bundes ist: gegenseitige Unterstützung der Kollegen, Errichtung von Klubhäusern im In- und Auslande, damit die Kollegen wissen, wenn sie in eine fremde Stadt kommen, wohin sie sich wenden können. Politik ist ausgeschlossen. Der Angeklagte Meyer ist seit zwei Jahren Mitglied des Bundes. Als Meyer in Oldenburg verhaftet wurde, haben wir uns verpflichtet gehalten, uns, soweit angängig, des Kollegen anzunehmen. Wir haben einen Aufruf in unserem Fachorgan erlassen, es möchten sich alle melden, die in dieser Angelegenheit etwas bekunden können. Es haben sich auch eine Anzahl Kollegen gemeldet. Wir haben außerdem Herrn Rechtsanwalt Dr. Sprenger ersucht, die Verteidigung für Meyer zu übernehmen. Wir haben ferner die Mutter des Meyer unterstützt und dafür gesorgt, daß Meyer aus einem Oldenburger Hotel Essen bekam.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: War Ihnen bekannt, daß das Sparkassenbuch des Angeklagten gerichtlich beschlagnahmt war?

Zeuge: Das habe ich später gehört.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger sagte der Zeuge noch: Polizeikommissar Böning, von dem er zunächst vernommen wurde, habe ihm gesagt: Er müsse ihm bedeuten, daß er verpflichtet sei, ebenso die Wahrheit zu sagen, als wenn er von einem Richter vernommen werde. Im weiteren bemerkte der Polizeikommissar: kommissar: Er sei auch von der Unschuld des Meyer überzeugt. In den hohen Gesellschaftskreisen passiert viel, aber mit hohen Herren ist nicht gut Kirschen essen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sagte er auch, Meyer hätte bedenken sollen, daß mit hohen Herren nicht gut Kirschen zu essen sei?

Zeuge: Ja. (Lautes Lachen im Zuhörerraum.)

Der Vorsitzende ermahnte das Publikum zur Ruhe und drohte, im Wiederholungsfalle den Zuhörerraum räumen zu lassen.

Der Zeuge Hansen bekundete ferner auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Einige Zeit darauf sei er und zwei andere Kollegen von dem Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe in Oldenburg vernommen worden. Sie seien von einem Schutzmann ins Verhörzimmer geführt und hinausbegleitet worden, der Schutzmann habe sie auch auf die Toilette begleitet. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Bei dem Untersuchungsrichter sei ihnen während der langen Vernehmung kein Stuhl angeboten worden. Der Untersuchungsrichter habe zu ihm gesagt: „Bedenken Sie, daß Sie Ihre Aussagen beschwören müssen, und Sie wissen ja, was darauf kommt!“

Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe: Er habe den Schutzmann hinzugezogen, um eine Verständigung zwischen den vernommenen und den zu vernehmenden den Zeugen zu verhindern. Er habe allerdings zu dem Zeugen Hansen gesagt: Wenn der Widerspruch nicht anders aufzuklären ist, so werde ich von den gesetzlichen Mitteln der Vereidigung Gebrauch machen, ich habe aber nicht gesagt: Sie wissen ja, was darauf kommt.

Protokollführer Stälken (Oldenburg) schilderte in eingehender Weise die Vernehmungen des Angeklagten bei dem Untersuchungsrichter und bei dem Rechtsanwalt Dr. Herz. Letzterer habe den Angeklagten in seiner (des Zeugen) Anwesenheit eingehend vernommen. Der Angeklagte habe dabei seine bekannten Beschwerden bezüglich seiner Behandlung bei dem Kriminalkommissar Böning zu Protokoll gegeben und sein diesem gemachtes Geständnis widerrufen. Er (Zeuge) hatte die Empfindung, daß diese Erklärung des Angeklagten eine vollständig freiwillige war.

Auf Befragen des Staatsanwalts sagte der Zeuge: Landgerichtsrat Meyer-Holzgraefe trete keinem Angeklagten oder Zeugen zu nahe.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich muß gegen diese Fragestellung des Herrn Staatsanwalts protestieren. Mit demselben Recht könnte die Verteidigung einen Referendar über die Geschäftsführung eines Landgerichtsdirektors fragen.

Auf ferneres Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Er habe sich gewundert, daß die Verteidiger niemals den Angeklagten gefragt haben: Ob er sich vielleicht doch versehen habe.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Wir betrachten es nicht als die Aufgabe der Verteidigung, den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen, weil seine Angaben von mehreren Zeugen nicht bestätigt worden sind.

Hotelier Werner (Hann. Münden): Er sei längere Zeit Wirt des Oldenburger Zivilkasinos gewesen. Es sei viel gespielt worden, er wisse aber weder wer gespielt habe, noch welche Spiele gespielt wurden. Er habe von den Kellnern gehört, daß auch gepokert und „Lustige Sieben“ gespielt wurde. Er habe sich aber nicht darum bekümmert. Er könne daher auch nicht sagen, ob und inwieweit Minister Ruhstrat an den Spielen teilgenommen habe. Er konnte sich auch nicht um die Spieler bekümmern, da er nicht die ganze Nacht aufbleiben konnte.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sie sagten, Sie konnten nicht so lange aufbleiben, da die Herren zu lange spielten. Ist es richtig, daß die Herren bis zum andern Morgen spielten?

Zeuge: Immer nicht, aber es ist bisweilen vorgekommen.

Vert.: Ist es richtig, daß die Mädchen bisweilen am Reinemachen des Lokals verhindert waren, weil die Spieler noch dasaßen?

Zeuge: Jawohl.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: In einer Reihe anonymer Zuschriften ist mir wiederum mitgeteilt worden, daß Pokern auch mit Würfeln gespielt werden könne. Ich lege darauf keinen Wert. Ich habe aber von einem Dr. Meckel aus Schadewitz einen Brief erhalten, in dem mir dieser mitteilt: Auf den Schiffen des Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie sei das Pokerspiel verboten. Ich stelle anheim, darüber Beweis zu erheben.

Gymnasialprofessor Dr. Frerichs (Oldenburg): Er sei eines Abends im Jahre 1900 zufällig im Oldenburger Zivilkasino in ein Privatzimmer des damaligen Kasinowirts Werner getreten. Da habe er zu seiner Überraschung Minister Ruhstrat, Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell beim Kartenspiel getroffen. Die Herren waren offenbar auch ganz überrascht, daß sie gestört wurden. Was die Herren spielten, wisse er nicht. Er habe es für sehr eigentümlich gefunden, daß die Herren sich zum Zweck des Spielens in ein Privatzimmer zurückgezogen hatten.

Kellner Machlack: Er sei vor etwa vier Jahren Kellner im Oldenburger Zivilkasino gewesen. Er wisse nicht, ob Minister Ruhstrat gespielt habe, er habe aber einmal in der Nische des Ministers Ruhstrat einen sogenannten Bieruntersatz gefunden, auf dem das Spiel „Lustige Sieben“ aufgezeichnet war.

Vors.: Inwiefern war das die Ruhstrat-Nische?

Zeuge: Die Nische wurde „Ruhstrat-Nische“ genannt, weil Minister Ruhstrat fast allabendlich in dieser Nische saß.

Darauf wurde Minister Ruhstrat als Zeuge aufgerufen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Die Angaben des Zeugen Herzmann seien unwahr. Es sei richtig, daß er einmal mit Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell in einem Privatzimmer des Kasinowirts gespielt habe. An jenem Abend seien einer Festlichkeit wegen alle Zimmer besetzt gewesen, deshalb habe ihnen der Kasinowirt ein Privatzimmer zugewiesen.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Herr Minister, Sie haben Ihren Freunden gegenüber zugegeben, daß Sie noch bis in die letzte Zeit Poker gespielt haben, geben Sie nun zu, daß Sie in Ihrer Zeugenaussage in dem Prozeß Ries-Biermann eine Tatsache unterdrückt haben?

Zeuge (sehr erregt): Ich bin leider nicht in der Lage, mich gegen diese Beleidigungen zu schützen.

Vert.: Ich muß mich ganz entschieden dagegen verwahren, daß ich den Minister beleidigt habe. Ich bin der Meinung, der Herr Zeuge müßte so viel Jurist sein, daß ihm bekannt sein müßte, ich stelle die Fragen nicht aus persönlicher Ranküne oder gehässigen Beweggründen, sondern weil ich es für meine Pflicht als Verteidiger im Interesse des Angeklagten halte. Ich muß also auf Beantwortung der Frage bestehen.

Minister Ruhstrat: Ich habe in dem Prozeß Ries-Biermann gesagt: Ich habe seit Anfang der 1890er Jahre nicht mehr „Lustige Sieben“ gespielt. Ich hatte gar keine Veranlassung, die Zeit anzugeben, seit welcher ich nicht mehr gepokert oder gemauschelt habe. Es ist durch gerichtliche Entscheidung festgestellt, daß ich mich einer Verletzung meiner Eidespflicht niemals schuldig gemacht habe.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Sie müssen doch aber Bedenken gehabt haben, ob Ihre Aussagen korrekt waren, sonst hätten Sie wohl nicht durch Ihren Rechtsbeistand, Herrn Rechtsanwalt Dr. Wisser, in einer öffentlichen Gerichtssitzung erklären lassen, daß Sie seit 12 bis 14 Jahren nicht mehr hasardiert haben?

Zeuge: Als in dem Prozeß gegen einen Austräger des „Oldenburger Residenzboten“, namens Kruse, der wegen Beleidigung meiner Person angeklagt war, das berüchtigte Protokoll zur Verlesung kam.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger (erregt aufspringend): Herr Vorsitzender, ich beantrage, den Zeugen zur Ordnung zu rufen und eventuell deshalb einen Gerichtsbeschluß herbeizuführen. Ich kann mir unmöglich eine solche Beleidigung gefallen lassen. Mir persönlich ist es ja gleichgültig, aber da dies dem Angeklagten schaden könnte, so muß ich bitten, den Zeugen in die Schranken zu verweisen.

Vors.: Ich muß allerdings sagen, daß diese Bemerkung ungehörig war.

Minister Ruhstrat: Also ich sage, nachdem mir bekannt wurde, ein Kellner Meyer habe bei Dr. Sprenger zu Protokoll erklärt: Ich hätte noch 1899 und 1900 „Lustige Sieben“ gespielt, die Bank gehalten usw., hielt ich es für nötig, Herrn Rechtsanwalt Wisser zu der erwähnten Erklärung zu veranlassen, ganz besonders zu erklären, daß die Aussage des Kellners Meyer vollständig unwahr sei.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Ich halte damit die Angelegenheit für erledigt, und zwar ganz besonders deshalb, um eine Wiederholung solch peinlicher Szenen zu vermeiden, die der Sache nur schaden könnten.

Minister Ruhstrat: Ich finde es sehr eigentümlich, daß, nachdem diese Frage von den Herren Verteidigern angeschnitten ist, sie sie plötzlich wieder fallen lassen. Ich halte es doch für erforderlich, zum mindesten noch Herrn Rechtsanwalt Wisser als Zeugen zu vernehmen.

Vors.: Ich bin der Meinung, wenn die Herren Verteidiger die Sache für erledigt ansehen, dann halten sie sie für aufgeklärt.

Minister Ruhstrat: Ich will nur noch meinem Bedauern Ausdruck geben, daß die Beschuldigung des Meineidsverdachts gegen mich erhoben wurde, ohne daß es mir möglich ist, diese Beleidigung zurückzuweisen. weisen.

Vors.: Das ist in dieser Verhandlung nicht geschehen.

Minister Ruhstrat: Relata refero, es ist mir mitgeteilt worden, daß es geschehen ist.

Vert. R.-A. Dr. Herz: Die Verteidigung hat lediglich die Aussetzung der Vereidigung des Zeugen beantragt.

Minister Ruhstrat wurde darauf entlassen.

Frau Hotelier Bade schilderte den Angeklagten als einen sehr ordentlichen, wahrheitsliebenden Menschen.

Lohndiener Laturnus: Er habe dem Rechtsanwalt Dr. Sprenger mitgeteilt, daß der Angeklagte über die Spielvorgänge in dem Oldenburger Zivilkasino etwas wisse. Der Angeklagte habe ihm die Vorgänge in so glaubwürdiger Weise erzählt, daß er (Zeuge) die Wahrheit nicht bezweifelte. Der Angeklagte sei von dem Rechtsanwalt Dr. Sprenger viele Stunden vernommen und mehrfach zur größten Vorsicht ermahnt worden. Dr. Sprenger sagte wiederholt zu dem Angeklagten: Sie dürfen nicht außer acht lassen, daß Sie sich im Widerspruch mit einer Anzahl Leuten von hoher gesellschaftlicher Stellung befinden. Der Angeklagte blieb aber bei seiner Erklärung.

Dienstmann Lohr (Bremen): Er habe einige Male mit dem Angeklagten über seine bei Rechtsanwalt Dr. Sprenger abgegebene Erklärung gesprochen, die Angaben des Angeklagten haben einen vollständig glaubwürdigen Eindruck gemacht.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Sie sollen bei Ihrer Vernehmung vor dem Polizeikommissar Böning den Angeklagten als einen Menschen bezeichnet haben, der gern von sich reden mache?

Zeuge: Das ist unwahr.

Vert.: Dann ist es mir unerklärlich, wie diese Behauptung in die Anklageschrift kommen konnte.

Ein fernerer Zeuge ist Redakteur Markwald (Forst): Er habe dem Prozeß Schweynert in Oldenburg als Zeitungsberichterstatter beigewohnt. Er habe eine höhere Schule besucht und sei oftmals bei Gerichtsverhandlungen gewesen. Er müsse aber sagen, wenn er so behandelt worden wäre, wie dieser junge unerfahrene Mensch, der vielleicht zum ersten Male in einem Gerichtssaale war, dann wäre er auch verwirrt geworden. Staatsanwalt Fimmen habe im letzten Augenblicke zu dem Angeklagten gesagt: „Wollen Sie nicht noch Ihre Aussage etwas abändern oder einschränken.“ Darauf versetzte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Erk: Ach was, so etwas gibt’s ja gar nicht. Er (Zeuge) hatte den Eindruck, daß, wenn der Angeklagte richtig behandelt worden wäre, eine Verhaftung und Erhebung dieser Anklage nicht erfolgt wäre. Diese Auffassung war am Berichterstattertische allgemein. Er (Zeuge) müsse sagen: er habe es noch niemals erlebt, daß ein Zeuge von einem Gerichtsvorsitzenden derartig behandelt worden sei, wie der Angeklagte Meyer im Prozeß Schweynert.

Redakteur Carl Fr. Ehrnhorst (Berlin): Er sei Redakteur der „Berliner Morgenpost“ und habe im Auftrage dieser Zeitung dem Prozeß Schweynert beigewohnt, um einen Stimmungsbericht zu schreiben. Die „Berliner Morgenpost“ sei keineswegs dem Minister Ruhstrat feindlich gesinnt. Er müsse aber sagen, die Behandlung des Angeklagten im Prozeß Schweynert habe auf ihn einen geradezu peinlichen Eindruck gemacht, dagegen habe der Angeklagte auf ihn den denkbar günstigsten Eindruck gemacht. Dies habe er auch in der „Morgenpost“ hervorgehoben. Die Behandlung des Angeklagten von seiten des damaligen Vorsitzenden war derartig, daß der Angeklagte verwirrt werden mußte. Er habe auch geschrieben: Es müsse Herrn Staatsanwalt Dr. Fimmen zum größten Verdienst angerechnet werden, daß er bemüht war, den Angeklagten noch im letzten Augenblick vor der Verhaftung zu bewahren, indem er sagte: Meyer, wollen Sie nicht noch Ihre Aussage abändern oder einschränken. Der Vorsitzende fiel aber mit seiner alles überdröhnenden Stimme sofort dazwischen und sagte: „Ach was, so etwas gibt es ja gar nicht.“ Er hatte und habe die Überzeugung, wenn der Angeklagte in liebevoller voller Weise behandelt worden wäre, dann wäre die Verhaftung und Erhebung der Anklage vermieden worden. Er hatte aber die Empfindung, als erachtete es der Vorsitzende für einen Triumph, daß er den Angeklagten endlich in der Grube hatte. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Gefangenaufseher Kühling (Oldenburg): Der Angeklagte habe einmal im Untersuchungsgefängnis über Kopfschmerzen geklagt. Er sagte: dies scheine von den vielen Vernehmungen zu kommen. Weiter sagte der Angeklagte: Ich bin in eine förmliche Räuberhöhle geraten.

Vors.: Was meinte der Angeklagte wohl damit?

Zeuge: Ich nahm an, daß er dies auf seine Verteidiger bezog, denn er schimpfte auf sie und sagte: Durch meine Verteidiger werde ich schließlich 10 Jahre ins Zuchthaus kommen.

Gefangenaufseher Gode (Oldenburg) schloß sich im wesentlichen dieser Aussage an.

Schuhmacher Zweibarth (Bremen) schilderte den Angeklagten als einen sehr ordentlichen und wahrheitsliebenden Menschen.

Kellner Heinz (Bremen): Er sei im Hotel „Stadt München“ in Bremen mit dem Angeklagten zusammen in Stellung gewesen. Meyer sei ein sehr liebenswürdiger, ordentlicher und sparsamer Mensch und in seinem Fache sehr tüchtig gewesen; er sei auch allgemein mein beliebt gewesen. Er und andere Kollegen haben, als der Angeklagte als Zeuge nach Oldenburg geladen wurde, ihm geraten, recht vorsichtig zu sein. Meyer habe versetzt: „Was ich bestimmt weiß, kann ich sagen.“

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden äußerte der Zeuge: Als er in Oldenburg vor den Untersuchungsrichter kam, sei er von Kollegen gefragt worden, weshalb er zuungunsten Meyers ausgesagt habe.

Vors.: Sind Sie von diesen Kollegen belästigt worden?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie sollen deshalb Veranlassung genommen haben, aus dem Deutschen Kellnerbunde auszuscheiden?

Zeuge: Ich wollte sowieso ausscheiden.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Sie haben in der Tat vor dem Untersuchungsrichter in Oldenburg zuungunsten des Angeklagten ausgesagt; der Herr Vorsitzende hat Ihnen schon gesagt, daß es nur darauf ankomme, was Sie hier sagen. Nun frage ich Sie, haben Sie deshalb ungünstig über Meyer ausgesagt, weil Sie befürchteten, wenn Sie zu seinen Gunsten aussagen, wegen Verdachts des Meineids verhaftet zu werden?

Zeuge: Ja.

Vert.: Ist es richtig, daß die Kollegen in Oldenburg Ihnen aus dem Wege gegangen sind, daß Sie sie aber angesprochen haben?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist es ferner richtig, daß die Kollegen Sie schließlich deshalb betreffs Ihrer Vernehmung befragten, weil ihnen Ihr verstörtes Wesen auffiel?

Zeuge: Ja.

Vert.: Sie empfanden Gewissensbisse bezüglich Ihrer vor dem Untersuchungsrichter gemachten Aussage?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie deshalb schlaflose Nächte hatten und sich sogar einen Revolver kauften, um sich zu erschießen?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert.: Ist es ferner richtig, daß Sie den Versuch machten, mich Ihrer Aussage wegen zu sprechen, daß ich das aber abgelehnt habe?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie waren, als Sie in Oldenburg vernommen wurden, wohl sehr aufgeregt?

Zeuge: Jawohl, ich hatte kurz vorher eine Krankheit überstanden.

Kellner Hansen, der auf Antrag des Vert. R.-A. Dr. Sprenger nochmals vernommen wurde, bestätigte, daß der Zeuge Heinz aus Anlaß seiner Aussage in Oldenburg sehr niedergeschlagen war, arge Gewissensbisse empfand und sich schließlich in der Absicht einen Revolver volver kaufte, um sich zu erschießen.

Vert.: Ist es richtig, daß ich Ihnen riet, nicht mit Heinz über seine Aussage zu sprechen, da das als Zeugenbeeinflussung ausgelegt werden könnte?

Zeuge: Jawohl.

Der folgende Zeuge ist Journalist Paul Schweder (Berlin): Er sei bei dem Prozeß Schweynert als Berichterstatter tätig gewesen. Er müsse zunächst vorausschicken, daß er nicht für Minister Ruhstrat Partei genommen habe, aber er habe es als seine Pflicht gehalten, die Angelegenheit streng unparteiisch zu behandeln, zumal er als Nicht-Oldenburger die Verhältnisse nicht genau beurteilen konnte. Er sei seit 11 Jahren Berichterstatter und habe sehr vielen Sensationsprozessen beigewohnt. Er sei auch bei mehreren Verhandlungen zugegen gewesen, in denen Zeugen wegen Verdachts des Meineids im Gerichtssaale verhaftet worden seien, eine Behandlung, wie sie dem Angeklagten von seiten des damaligen Vorsitzenden zuteil geworden, sei ihm aber noch niemals vorgekommen. Der Vorsitzende leitete die Verhandlung in einer Weise, daß die Berichterstatter kaum noch zu folgen vermochten; er hatte die Überzeugung, daß der Angeklagte durch die Art, wie er vom Vorsitzenden befragt wurde, vollständig verwirrt geworden sei, so daß er wohl kaum wußte, was er zu Protokoll gegeben habe. Als der Angeklagte das Protokoll unterschreiben ben wollte, hatte er (Zeuge) das Gefühl, es wäre geraten, den Angeklagten beiseite zu rufen und ihm zu sagen: „Mensch, sind Sie denn verrückt, Sie rennen ja ins Verderben!“ Er habe bereits gesagt, er habe schon vielen Verhaftungen, die wegen Verdachts des Meineids im Gerichtssaale erfolgten, beigewohnt. Oftmals habe er sich gesagt, die Verhaftung ist mit Recht geschehen, in diesem Falle habe er aber die Verhaftung für vollkommen ungerecht gehalten. Es habe ihn geradezu frappiert, als Staatsanwalt Dr. Fimmen im letzten Augenblick den Versuch machte, den Angeklagten zu bewegen, sein Zeugnis einzuschränken, zu sagen: „ich glaube, oder es ist möglich“, der Vorsitzende bemerkte: „Ach was, die Aussage ist doch ganz klar.“ Er kenne den Angeklagten nicht, aber er und alle seine Kollegen, die am Berichterstattertisch saßen, hatten die Überzeugung, wenn der Angeklagte in liebevoller Weise behandelt worden wäre, dann wäre die Verhaftung unterblieben.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sprenger sagte der Zeuge: Er stehe auch dem Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Erk, vollständig fern, ja, er habe diesen in früheren und späteren Verhandlungen als sehr liebenswürdigen Herrn kennengelernt, aber der Ton, der in dieser Verhandlung herrschte, sei ihm noch niemals vorgekommen.

Vert.: Sie haben auch dem letzten Prozeß wider Biermann in Oldenburg, beigewohnt, stach nicht dieser ganz wesentlich von dem Schweynert-Prozeß ab?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: In dem Prozeß Schweynert kam es infolge mehrerer Ablehnungsanträge der Verteidiger, zwischen diesen und dem Vorsitzenden zu heftigen Zusammenstößen?

Zeuge: Allerdings.

Staatsanwalt: War das vielleicht die Ursache, daß der Ton ein etwas gereizter wurde?

Zeuge: Das mag sein.

Vors.: Herr Zeuge, das Beweisthema war doch ein sehr einfaches, und nach dem Protokoll hat der Vorsitzende den Angeklagten deshalb gefragt, ob er sein Zeugnis abändern wolle. Der damalige Zeuge Meyer erklärte aber ganz bestimmt: Ich halte meine Aussage aufrecht?

Zeuge: Das ist richtig, trotzdem hatte ich und fast alle meine Kollegen die Auffassung, der Angeklagte sei infolge der Art der Behandlung und der vielen an ihn gerichteten Fragen verwirrt, zum mindesten sich nicht klar gewesen, was er unterschrieben habe.

Landgerichtsdirektor Erk, der alsdann als Zeuge vernommen wurde, bestritt, daß er den Angeklagten schroff behandelt und ihm nicht Gelegenheit gegeben habe, seine Aussage abzuändern oder einzuschränken. Der Angeklagte habe seine Aussage in vollständig klarer Weise abgegeben und auf wiederholtes Befragen und eingehende Ermahnung erklärt: Er halte seine Aussage vollkommen aufrecht.

Vors.: Herr Staatsanwalt Fimmen soll dem Angeklagten gesagt haben: Meyer, wollen Sie vielleicht sagen: „ich glaube, oder es ist möglich“. Darauf sollen Sie gesagt haben: Ach was, da gibt es keine Einschränkung, die Aussage steht fest?

Zeuge: Das ist nicht wahr, wenn ich eine solche Äußerung getan hätte, würde ich ja meine Aufgabe als Vorsitzender vollständig verkannt haben.

Staatsanwalt Dr. Fimmen schloß sich im wesentlichen der Bekundung des Vorzeugen an. Wenn er den Antrag gestellt hätte, dem Zeugen eine solche Frage vorzulegen, dann hätte sie doch gestellt oder der Antrag abgelehnt werden müssen.

Vert. R.-A. Dr. Jonas: Herr Staatsanwalt, Sie sollen Ihre Frage nicht in die Form eines Antrages gekleidet, sondern den Angeklagten direkt gefragt haben, ob er nicht sagen wolle: ich glaube, es ist möglich. Darauf soll der Vorsitzende gesagt haben: Ach was, das nützt ja nichts, die Aussage steht doch fest, es gibt jetzt kein Zurück.

Zeuge: Ich erinnere mich jetzt, eine solche Frage an den damaligen Zeugen Meyer gestellt zu haben, der Herr Vorsitzende versetzte darauf: „Das nützt doch nichts“, er hat aber die Frage dem Angeklagten vorgelegt. legt.

Gerichtsassessor Dr. Rumpf bezeichnete es als unwahr, daß der Angeklagte durch den Vorsitzenden im Prozeß Schweynert verwirrt gemacht worden sei; der Zeuge schloß sich im weiteren der Bekundung des Vorzeugen an.

Hotelbesitzer Mechler (Remscheid): Er sei früher in Oldenburg Pächter des Theater-Restaurants gewesen. Es wurde dort „Lustige Sieben“ mit bedeutenden Umsätzen gespielt.

R.-A. Dr. Sprenger: Ist es richtig, daß Sie mich baten, mich dafür zu verwenden, daß Sie nicht nach Oldenburg zur Vernehmung zu kommen brauchten?

Zeuge: Ja.

R.-A. Dr. Sprenger: Schwebte Ihre Frau nicht in großer Angst, und hatten Sie nicht die Befürchtung, daß Sie verhaftet werden würden?

Zeuge: Das ist richtig.

Auf weiteres Befragen bekundete Mechler: Eines Tages kam ein Schutzmann in mein Lokal und sagte, es sei gegen mich eine Strafanzeige eingegangen, daß ich Hasardspiele in meinem Lokale dulde, die Strafe werde nicht gelinde ausfallen, die Herren seien alle bekannt. Ich solle aber die Herren lieber nicht nennen. Ich erhielt sehr bald eine Vorladung vor das Schöffengericht. Die Verhandlung fand lange vor der angesetzten Zeit statt und spielte sich innerhalb kurzer Zeit ab. Ich wurde zu 25 Mark verurteilt. Von den Spielern war in der Verhandlung keine Rede. Ich erklärte, daß ich auf jedes Rechtsmittel verzichte. Ich hatte den Eindruck, als wollte man die Verhandlung ohne lästige Zuhörer führen.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Wußten Sie denn nicht, daß die Herren ein verbotenes Spiel spielten?

Zeuge: Jawohl; eines Tages kam ein Herr von der Spielergesellschaft und übergab mir eine größere Summe, sog. Pinkegeld. Ich wollte es zunächst nicht annehmen, der Herr redete mir aber zu und sagte: Wenn einmal eine Nachfrage kommen sollte, solle ich keine Namen nennen. Ich erzählte das Vorkommnis meinem Vorgänger mit dem Bemerken, die Herren scheinen ein sehr gefährliches Spiel zu spielen. Da versetzte mein Vorgänger Hempke: Die Herren spielen „Lustige Sieben“; hängen Sie einfach das Plakat auf und kümmern Sie sich nicht weiter darum. Die Herren machen jedenfalls eine sehr hohe Zeche. Ich leistete diesem Rate auch Folge, schickte, sobald das Spiel begann, meinen Kellner zu Bett und bediente selbst. Ich wurde nach Einleitung des Strafverfahrens gegen mich auf Polizeistunde gesetzt, d.h. ich erhielt die Verfügung, mein Hotel um 11 Uhr zu schließen. Da aber mein Geschäft erst um 11 Uhr abends begann, so mußte ich selbstverständlich das Geschäft aufgeben.

Staatsanwalt: Wie kam es, daß Sie bedeutend früher im Gerichtsgebäude waren, als Sie laut Ladung nötig hatten?

Zeuge: Ich wurde von einem Gerichtsdiener geholt.

Vert. R.-A. Dr. Sprenger: Um welche Beträge wurde gespielt?

Zeuge: Es wurden Umsätze von 500 bis 800 M. gemacht.

Polizeikommissar Böning (Bremen) äußerte auf die Frage, weshalb er keine Zeugen zu der Vernehmung des Angeklagten hinzugezogen habe, auch nicht den doch leicht zu erreichenden Gefängniswärter: Er habe kein Vertrauen zu dem Gefängniswärter gehabt.

R.-A. Dr. Sprenger: Die beiden Oldenburger Gefängnisbeamten Kühling und Gode sind von Polizeikommissar Böning des Verdachts der Päderastie und des groben Amtsverbrechens beschuldigt worden. Ich beantrage ihre telegraphische Ladung, damit sie sich unter ihrem Eide erklären.

Vors. (zu Böning): Sie sollen auch gesagt haben, wenn große Herren Kirschen essen, soll man sich nicht hineinmischen. Dem Zeugen Zweibarth gegenüber sollen Sie erklärt haben, Sie glaubten nicht an Meyers Schuld.

Zeuge: Die letzte Äußerung bestreite ich ganz entschieden. Böning und Zweibarth wurden einander gegenübergestellt. Zweibarth schilderte genau die Einzelheiten zelheiten des Gesprächs. Böning erklärte auf wiederholtes Befragen, daß er sich nicht erinnern könne.

R.-A. Dr. Sprenger (zu Böning): Haben Sie nicht zu Dritten die Äußerungen getan, die darauf schließen lassen sollten, daß Sie zugunsten Meyers tätig sein wollten?

Zeuge: Das ist mir auch nicht erinnerlich.

R.-A. Dr. Sprenger: Halten Sie es nicht für falsch von einem Beamten, das Vertrauen jemandes zu suchen und dann gegen ihn zu handeln?

Zeuge: Ich erkläre, daß ich nie etwas getan oder gesagt habe, was den Eindruck erwecken konnte, als ob ich befangen oder freundschaftlich für Meyer tätig sei.

R.-A. Dr. Sprenger: Wollen Sie nicht lieber sagen: ich glaube! (Heiterkeit.)

Zeuge: Ich sage, ich erinnere mich nicht.

Agent Juhl: Er habe den Angeklagten im Jahre 1903 in Bremen kennengelernt. Er könne ihm nur das beste Zeugnis ausstellen. Meyer habe ihm auch von den Spielvorgängen erzählt und dabei den Namen des Ministers Ruhstrat erwähnt. Der Zeuge berichtete alsdann über den tiefen Eindruck, den die Verhaftung Meyers in Bremen gemacht habe, und bekundete, Polizeikommissar Böning habe gesagt: „daß Meyer unschuldig ist, wissen wir ja alle“. (Große Bewegung im Zuhörerraum. Der Vorsitzende droht, diesen räumen zu lassen.)

Vors.: Aus welchem Grunde mag wohl der Angeklagte zu seiner Aussage gekommen sein?

Zeuge: Meines Erachtens aus Menschenliebe und Wahrheitsliebe. Er hat sich gemeldet, weil ihm der verurteilte Redakteur Biermann leid tat.

Vors. (zu Böning): Nun, Herr Polizeikommissar, was sagen Sie dazu, daß der Zeuge Juhl hier erklärt hat, Sie hätten ihm gegenüber bemerkt: „daß Meyer unschuldig ist, wissen wir alle“?

Zeuge Böning: Ich erkläre positiv, daß ich dem Zeugen das nicht gesagt habe. (Bewegung.)

Zeuge Juhl (erregt): Jawohl, genau so haben Sie es gesagt.

R.-A. Dr. Sprenger: Es ist doch sehr sonderbar, daß der Zeuge Böning zuerst dem Zeugen Zweibarth gegenüber ganz positive Behauptungen aufstellt und sie dann einschränkt. Jetzt sagt der Zeuge Juhl dasselbe wie Zweibarth. Wollen Sie da nicht wieder lieber die Worte: ich erinnere mich nicht, einschieben?

Zeuge Böning: Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe.

Es wurde alsdann in der Vernehmung des Zeugen Juhl fortgefahren. Der Zeuge erklärte, daß er mit dem Gefühl der Furcht zur Vernehmung nach Oldenburg gefahren sei. Vor der Abreise habe er seine Papiere geordnet und sie dem Kellner Hansen übergeben mit den Worten: Hier, nimm das, falls mir in Oldenburg das Schicksal Meyers blühen sollte. Auf eine Frage des Vorsitzenden wies Rechtsanwalt Dr. Sprenger darauf hin, daß alle Zeugen sehr erregt seien, er bitte den Herrn Vorsitzenden um eine möglichst milde Behandlung.

Hierauf wurde Gerichtskanzleigehilfe Adolf Meyer-Bremen, Bruder des Angeklagten, als Zeuge vernommen. Er erklärte, daß er aussagen wolle. Als er die Berichte über den Prozeß Ries- Biermann in den Zeitungen las, habe er, da ihm sein Bruder über die Vorgänge im Oldenburger Zivilkasino viel erzählt habe, mit diesem Rücksprache genommen. Sein Bruder sagte ihm, er wisse genau, daß Minister Ruhstrat Lustige Sieben gespielt habe. Daraufhin habe er seinem Bruder den Rat gegeben, sich im Interesse der Menschlichkeit als Zeuge zu melden. Diese Unterredung dürfte die Ursache gewesen sein, daß sein Bruder sich schließlich beim Rechtsanwalt Sprenger meldete. Er, sein Bruder Richard und seine Mutter seien von dem Polizeikommissar Böning vernommen worden. Letzterer habe zu erkennen gegeben, daß er seinem Bruder günstig gestimmt war. Er habe aber einmal die Wahrnehmung gemacht, daß Kommissar Böning die Vernehmung falsch zu Protokoll genommen habe. Sein Bruder sei ein sehr ordentlicher, sparsamer und in seinem Fache tüchtiger Mensch. Seine Prinzipale waren sämtlich sehr zufrieden mit ihm. Als sein Bruder als Zeuge geladen wurde, habe er ihm gesagt, er solle bei seinen Aussagen recht vorsichtig sein.

Vors.: Halten Sie Ihren Bruder für fähig, daß er vor Gericht die Unwahrheit sagen werde?

Zeuge: Keineswegs.

Handlungsgehilfe Richard Meyer-Bremen, zweiter Bruder des Angeklagten: Sein Bruder habe ihm erzählt, daß im Oldenburger Zivilkasino sehr hoch gespielt werde. Ein Offizier habe in einer Nacht so viel verloren, daß er sich das Leben genommen habe. Er habe seinen Bruder gewarnt, sich als Zeuge zu melden. Sein Bruder habe aber gesagt: „Was ich weiß, kann ich sagen.“ Daß sein Bruder einen Meineid leisten werde, halte er für vollständig ausgeschlossen.

Alsdann betrat die Mutter des Angeklagten, eine ärmlich, aber sauber gekleidete Frau mit sympathischen Gesichtszügen, den Gerichtssaal. Als sie ihren Sohn sitzen sah, begann sie bitterlich zu weinen. Auch der Angeklagte beugte sein Gesicht ins Taschentuch und schluchzte heftig. Es dauerte lange, ehe die alle Frau imstande war, auf die Fragen des Vorsitzenden Antwort zu geben. Sie bekundete, der Angeklagte sei ein sehr guter Sohn gewesen, der ihr große Freude gemacht habe. Er habe ihr all sein Geld mit dem Auftrage gegeben, es auf die Sparkasse zu bringen. Sie hatte das Recht, sich jederzeit einen Betrag von der Sparkasse zu holen. Sie sei daher niemals wegen der Miete in Verlegenheit gekommen.

R.-A. Dr. Sprenger: Das Sparkassenbuch Ihres Sohnes war eine Zeitlang gerichtlich beschlagnahmt, gerieten Sie dadurch in Not?

Zeugin: In gewisser Beziehung allerdings. Die Zeugin bekundete ferner: Die Prinzipale seien sämtlich mit ihrem Sohne und letzterer mit seinen Prinzipalen zufrieden gewesen. Ihr Sohn sei sehr sparsam und ordentlich gewesen. Als ihr Sohn als Zeuge nach Oldenburg geladen wurde, habe sie zu ihm gesagt, er solle nur ja recht vorsichtig sein. Ihr Sohn habe darauf versetzt: Ich kenne ja die Herren nicht weiter, ich habe also keine Ursache, die Unwahrheit zu sagen.

Hierauf wurde Frau Biermann-Oldenburg, Gattin des „Residenzboten“-Redakteurs, die schon seit einigen Tagen am Berichterstattertische saß, als Zeugin aufgerufen. Sie bekundete: Bei dem Prozeß Schweynert habe sie auf dem Korridor des Gerichtsgebäudes gestanden, da sie auch als Zeugin geladen war. Als der Angeklagte festgenommen und bei ihr vorübergeführt wurde, sagte er: „Sehen Sie, Frau Biermann, das kommt davon, wenn man in Oldenburg die Wahrheit sagt.“

Vors.: Angeklagter, ist das richtig?

Angekl.: Es ist möglich, ich erinnere mich aber nicht.

Es folgte eine dreistündige Vernehmung des Rechtsanwalts Dr. Sprenger, der sowohl jetzt wie in den früheren Prozessen als Verteidiger tätig war. Er schilderte ausführlich den Verlauf der ganzen Ruhstrat-Affäre, beginnend mit den „Residenzboten“-Prozessen, bis zum heutigen Tage. Der Zeuge verbreitete sich insbesondere über die Entstehung des bei ihm aufgenommenen Protokolls der Meyerschen Aussage, die den Anstoß zu dem letzten Biermann-Prozeß gab, in dem Biermann zu 1 Jahre 3 Monaten Gefängnis wegen Beleidigung des Ministers verurteilt wurde. Die Aussagen des Meyer und des Laturnus haben naturgemäß viel Aufsehen erregt, weil der Minister noch kurz vorher im oldenburgischen Landtage auf eine Anfrage des sozialdemokratischen Abgeordneten Hug erklärt hatte, die Spielvorgänge lägen 12 bis 14 Jahre zurück, und da verjährten ja selbst Verbrechen. Er (Zeuge) habe die Aussage des Meyer langsam und ruhig zu Protokoll genommen und wiederholt die Mahnung ausgesprochen, die reine Wahrheit zu sagen. Er habe alsdann das Protokoll nebst dem des Laturnus in dem Prozeß gegen den „Residenzboten“-Redakteur Kruse verwertet. Das Protokoll wurde damals verlesen; darauf habe er es Biermann zur Veröffentlichung im „Residenzboten“ übergeben. Von hier ging es in die übrige deutsche Presse, wo es naturgemäß großes Aufsehen erregte. Ein Druckfehler verschuldete, daß es nicht hieß, der Minister habe bis 1890, sondern er habe bis 1895 gespielt. Dieser Druckfehler wurde geradezu verhängnisvoll, weil die ganze deutsche Presse die Behauptung aufstellte, der Minister müßte einen Meineid geschworen haben. Über diesen Irrtum wurde die Presse erst später in dem Biermann-Prozeß aufgeklärt. Die Presse säumte nicht, ihre Beschuldigung zurückzunehmen, nur der „Residenzbote“ blieb fest bei seinen Behauptungen und forderte den Minister auf, Strafantrag zu stellen. Es gingen trotzdem mehrere Monate ins Land, ehe der Minister sich dazu entschloß. Der Minister habe also selbst schuld, daß die Meinung entstand, er habe etwas in seiner Aussage verschwiegen. Dr. Sprenger kam auf den Schweynert-Prozeß zu sprechen. Der Vorsitzende in diesem Prozeß, Landgerichtsdirektor Erk, habe von vornherein sehr erregt gesprochen. Er gebe zu, daß auch die Verteidigung nicht sehr milde aufgetreten sei. Der Vorsitzende suchte fortwährend Widersprüche aufzuklären, wo gar keine vorhanden waren. Es machte überhaupt den Eindruck, als ob es dem Vorsitzenden weniger an der Aufklärung gelegen war, als daran, den Zeugen Meyer festzunageln. Er (Zeuge) habe sich zunächst, als Meyer bei seinen Aussagen blieb, gesagt: Donnerwetter, das ist ein schneidiger Kerl, der läßt sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Später sei ihm Meyer sehr apathisch vorgekommen, er sprach wie in einem Traumzustande oder besser in einem Zustande, wie man ihn bei Leuten anzutreffen pflegt, die vor der Hinrichtung stehen. (Bewegung.) Er war so erschöpft, daß Dr. Herz sich veranlaßt sah, ihm einen Stuhl hinzustellen. Schon vorher hatte Meyer die Erklärung abgegeben, daß drei Herren vom Richtertisch ebenfalls zu den Spielern gehört hätten. Der Verteidigung kam diese Angabe sehr überraschend, ebenso die, daß Meyer sofort den Staatsanwalt Fimmen bezeichnete, und daß letzterer ohne weiteres zugab, zu den Spielern gehört zu haben. Das charakterisierte den Meyer als einen glaubwürdigen Zeugen. Die spätere Nennung des Referendars Christians beruhte anscheinend auf einem Mißverständnis des Meyer; daß er dabei blieb, ließ die Verteidigung erst recht zu der Überzeugung kommen, daß Meyer hier nicht etwa die Unwahrheit sage, sondern sich irre. Stundenlang wurde auf dem Fall Christians herumgeritten. Ich mußte einige Stunden lang an dem guten Glauben des Gerichts zweifeln. Ich sagte schließlich zu meinem Mitverteidiger: Das Gericht hat die Macht, wir haben hier nichts mehr zu tun. Wir beschlossen, die Verteidigung niederzulegen. Allerdings gaben wir diesen Grund nicht an, um das Gericht nicht zu kränken. Wir hatten aber schon beschlossen, Meyer nicht im Stich zu lassen. Ich erkläre auf Ehre und Gewissen, als Zeuge und Jurist, daß ich der festen Überzeugung bin, Meyer hat nur das wiedergegeben, dergegeben, was in seinem Kopfe als wahr sich darstellte. Wenn in Oldenburg gehandelt worden wäre wie hier vor dem Bückeburger Schwurgericht, dann hätte es nie einen Fall Meyer gegeben.

Ein Beisitzer: Wenn bei der Verhandlung keine Silbenstechereien vorgekommen wären, wenn die Stimmung nicht so erregt gewesen wäre, wenn man nicht das Beweisthema vollständig verschoben hätte, glauben Sie, daß dann der Angeklagte gesagt hätte: es ist möglich, daß der Minister Ruhstrat gespielt hat?

Zeuge Dr. Sprenger: Das glaube ich wohl, es war schon mehr eine höchst bewegte Volksversammlung, an der das Publikum teilnahm. Ich habe eine solche Gerichtssitzung noch nicht mitgemacht.

Damit war die Vernehmung des R.-A. Dr. Sprenger beendet, und er trat wieder als Verteidiger ein. Die Beweisaufnahme wurde hierauf geschlossen.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte der Angeklagte: Er bleibe bei seiner Aussage.

Der Vorsitzende verlas darauf die den Geschworenen vorzulegenden Schuldfragen: Ist der Angeklagte schuldig, am 1. und 2. Dezember 1904 in Oldenburg wissentlich durch ein falsches Zeugnis seinen Eid verletzt zu haben? Im Falle der Verneinung dieser Frage: Ist der Angeklagte schuldig, den von ihm geleisteten Eid aus Fahrlässigkeit durch ein falsches Zeugnis verletzt zu haben?

Es nahm darauf das Wort Staatsanwalt Dr. Becker: Es kommt bei Beurteilung dieses Falles vor allem darauf an, festzustellen, was hat der Angeklagte gesagt? Hat er wissentlich oder fahrlässig die Unwahrheit gesagt? Die Staatsanwaltschaft legt auf den Fall Christians kein Gewicht. Für sie handelt es sich nur darum: Ist von Minister Ruhstrat, Buchhändler Schmidt und Dr. Schleppegrell „Lustige Sieben“ gespielt worden? Der Angeklagte behauptet, daß das Spiel der „Lustigen Sieben“ stattfand. Er will wiederholt den Minister Ruhstrat haben spielen sehen. Er will sogar das Plakat für die „Lustige Sieben“ in die Nische gebracht und die Gäste stets bedient haben. Diesen Aussagen stehen aber die Bekundungen der drei glaubwürdigen Zeugen Ruhstrat, Schmidt und Schleppegrell entgegen. Alle drei sind Männer im reifen Lebensalter. Der Angeklagte hat also die Unwahrheit gesagt. Nun handelt es sich darum: hat er das wissentlich getan? Ich halte eine Sinnestäuschung für ausgeschlossen, denn eine Verwechselung konnte nicht vorkommen. Es ist charakteristisch, daß er viele Einzelheiten, die er in bezug auf Ruhstrat behauptet hatte, später hat fallen lassen. Aus falscher Scham, aus Eitelkeit hat Meyer in Oldenburg dasselbe gesagt wie in Bremen. Später hat er seine Aussage eingeschränkt und bei seinem Geständnisse angegeben, Minister Ruhstrat habe gespielt, er wisse aber nicht, mit wem, er glaube nur, daß Schmidt und Dr. Schleppegrell dabei gewesen sind, weil sie mit dem Minister verkehrten. Dann behauptete er, das Geständnis wäre ihm abgepreßt worden. Er will nicht mehr wissen, wie das gekommen ist. Ich beantrage also, die erste Frage wegen wissentlichen Meineids zu bejahen; aber auch die Frage ist zu bejahen, ob Meyer sich dadurch einer Strafe entzog, daß er die unwahre Aussage machte. Denn von Dr. Schleppegrell wäre sonst gegen ihn Strafantrag wegen Beleidigung gestellt worden. Zwar ist Meyer ein Opfer der Verhältnisse; deshalb wird ihn das Gericht wohl nicht in das Zuchthaus stecken, sondern er wird mit einer Gefängnisstrafe davonkommen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Herz (Altona): Bei den ersten Ruhstratprozessen schon hatte alle Welt die Empfindung, daß in Oldenburg eine große Spielleidenschaft herrschte, und daß Ruhstrat in der Spielergesellschaft eine hervorragende Rolle einnahm. Der erste Prozeß ließ es so scheinen, als wenn die Spielaffären des Ministers Ruhstrat alle weit zurücklägen, als ob es Jugendsünden wären. Der Angeklagte hat von Bremen aus die Vorgänge verfolgt. Welches Erstaunen mag ihn erfüllt haben, als er dieses schiefe Bild der Verhältnisse las. Durch diesen Prozeß wurden alle jene Erinnerungen in ihm wachgerufen, wie sie sich ihm als 16jährigen Kellnerjungen eingeprägt hatten. Er sah den Minister beim Skat, die jungen Herren bei der „Lustigen Sieben“. Für ihn ging alles durcheinander, er konnte das nicht auseinanderhalten. Das alles ging ihm durch den Kopf, als er den Bericht über die Oldenburger Prozesse las. Er sagte sich, das müsse er anders bekunden. Vielleicht wäre er in die ganze Sache nicht hineingekommen, wenn er nicht mit Laturnus gesprochen hätte. Im Vordergrund stand der Minister Ruhstrat, und die Hauptfrage mußte lauten: Hat der Minister gespielt? Die Aussage des Zeugen Herzmann ist doch nicht wegzuwischen. Ruhstrat war früher leidenschaftlicher Spieler, und wenn er in der Nische war, wo gespielt wurde, so konnte der Kellner wohl annehmen, er habe mitgespielt. Man hat einen Bieruntersatz mit der Zeichnung für die „Lustige Sieben“ in der Nische gefunden, in der der Minister zu sitzen pflegte. Nun hat ja der Minister unter seinem Eide gesagt, er habe seit 1895 nicht gespielt. Der Minister Ruhstrat mag uns mit Bitterkeit gegenüberstehen, aber wir können ihn nicht schonen. Wir haben das Recht, Kritik an jeder Zeugenaussage zu üben. Sein Verhalten als Zeuge in allen Prozessen war nicht einwandfrei. Die Aussagen des Ministers haben ferner stets bedenklich geschwankt, besonders sind die Angaben sehr verschieden, wann er mit dem Hasardspielen aufgehört hat. Erst hieß es, es sei am Ende der achtziger Jahre gewesen. Dann hieß es, Ende der neunziger, und jetzt heißt es plötzlich im Jahre 1895. Der Minister behauptet, die Beförderung zum Oberstaatsanwalt im Jahre 1895 habe ihn zum Aufgeben des Spiels veranlaßt. Ja, wußte er denn das nicht, als er die erste Erklärung abgab, und diesen Zeitpunkt auf Ende der achtziger Jahre verlegte? In objektiver Hinsicht ist also der Tatbestand nicht geklärt, und was nicht geklärt ist, muß zugunsten des Angeklagten gelten. Der Staatsanwalt sagt, der Angeklagte hat wissentlich die Unwahrheit beschworen. Welcher Beweggrund soll den Angeklagten dazu veranlaßt haben? Die „Residenzboten“-Redakteure haben ihn nicht beeinflußt. Selten ist ein Zeuge so gewarnt worden, wie Meyer. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, seine Behauptungen einzuschränken. Trotzdem blieb er bei seinen Behauptungen. Nachdem der Verteidiger noch einen Rückblick auf das Leben des Angeklagten geworfen und seinen guten Leumund hervorgehoben, wendete er sich an die Geschworenen mit der Bitte, den Angeklagten freizusprechen.

Nach noch kurzen Verteidigungsreden der Rechtsanwälte Dr. Sprenger (Bremen) und Dr. Jonas (Altona) gab der Vorsitzende den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung. Alsdann zogen sich die Geschworenen ins Beratungszimmer zurück. Nachts 2 Uhr, nach anderthalbstündiger Beratung, erschienen sie wieder. Unter atemloser Spannung des Publikums verkündete der Obmann, Malermeister Hüting-Bückeburg: Die Geschworenen haben die Schuldfragen verneint. (Halblautes Bravo! im Zuhörerraum.) Von der Straße, wo ein sehr zahlreiches Publikum Posto gefaßt hatte, ertönten zum Fenster hinauf stürmische Bravorufe.

Vert. R.-A. Dr. Jonas beantragte, die Kosten eines Wahlverteidigers auf die Staatskasse zu übernehmen und dem Angeklagten die Kosten für die unschuldig erlittene Untersuchungshaft zu gewähren.

Vert. R.-A. Dr. Herz beantragte noch, die Kosten für die von der Verteidigung unmittelbar geladenen Zeugen auf die Staatskasse zu übernehmen.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Wippermann: Der Gerichtshof hat, dem Wahrspruch der Geschworenen entsprechend, den Angeklagten freigesprochen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt. Die Kosten für einen Wahlverteidiger und für die von der Verteidigung unmittelbar geladenen Zeugen werden ebenfalls der Staatskasse auferlegt. Die Entscheidung betreffs des Antrages, dem Angeklagten die Entschädigungskosten für die Untersuchungshaft zu gewähren, wird in acht Tagen gefällt werden.

Als die Verteidiger und der Angeklagte das Gerichtsgebäude verließen, wurden sie, trotz später Nachtstunde, von dem zahlreichen Publikum mit nicht endenwollenden stürmischen Hurra- und Hochrufen begrüßt. Die vor Freude weinende Mutter des Angeklagten umarmte und küßte ihren Sohn.

Justizirrtümer

Stiftsoberin Elise von Heusler wegen Verbrechens im Sinne des § 229 des Straf-Gesetzbuches vor den Geschworenen

Die öffentliche Meinung fordert mit Recht, daß Verbrechen die entsprechende Sühne finden. Diese Forderung ist um so gerechtfertigter, wenn es sich um Mord oder um ein ähnliches Verbrechen handelt. Ein ungesühntes Verbrechen verletzt nicht nur das öffentliche Rechtsempfinden, es trägt auch ganz wesentlich dazu bei, die öffentliche Sicherheit zu gefährden. Es ist daher ungemein bedauerlich, daß, insbesondere in den Großstädten, vornehmlich in der Weltstadt Berlin, eine große Anzahl Kapitalverbrechen, trotz der größten Bemühungen der Kriminalpolizei, unentdeckt geblieben sind. Es will mir kaum scheinen, daß mit Hilfe von Polizeihunden auf diesem Gebiete große Fortschritte gemacht werden können, zumal die Witterung dieser schätzbaren Tiere doch unmöglich als gerichtliches Beweismittel anzusehen ist. Jedenfalls haben die Verhandlungen gegen die Stiftsoberin v. Heusler vor dem Schwurgericht zu München im März 1903 und auch im Wiederaufnahmeverfahren (Oktober 1906) von neuem den Beweis geliefert, daß unser Gerichtsverfahren noch immer sehr unvollkommen ist. Ganz besonders ist das Gebiet der Zeugenbewertung noch in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Es ist höchst betrübend, daß im Herzen Deutschlands, in der Metropole des Königreichs Bayern, eine unbescholtene ältere, den besseren Gesellschaftsklassen angehörende Dame von Volksrichtern abgeurteilt, länger denn zweieinhalb Jahre unschuldig im Zuchthause schmachten mußte. Dieser furchtbare Vorgang sollte nicht in Vergessenheit geraten, sondern Gelehrten und Volksrichtern eine ernste Mahnung sein, Zeugenaussagen aufs genaueste zu prüfen und einen Angeklagten nicht zu verurteilen, wenn bloß der Schein für seine Schuld spricht. Aber auch die medizinischen Sachverständigen sollten mit der größten Sorgfalt verfahren. „Allah weiß es besser“ fügt gewöhnlich der mohammedanische Richter seinen Urteilsbegründungen hinzu. Auch Richter sollten nicht vergessen, daß alles Menschenwerk unvollkommen ist, und deshalb stets den Grund beherzigen: In dubio pro reo. (Im zweifelhaften Falle zugunsten des Angeklagten.) Lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen. Alle Beweise sind kein Beweis. Im achtzehnten Jahrhundert soll man einen Mann bei einem Ermordeten mit blutbespritzten Kleidern und einem blutigen Messer in der Hand betroffen haben. Dieser Mann wurde selbstverständlich zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele Jahre später hatte ein Mann auf dem Sterbebett gestanden, daß er den Mord begangen habe. Der Hingerichtete war vollständig unschuldig; er war kurze Zeit nach der Tat, nachdem der Mörder schon in Sicherheit war, an die Stätte des Verbrechens gekommen und dort in der geschilderten Weise überrascht worden. In einer kleinen Stadt Oberschlesiens ersuchte vor vielen Jahren ein Holzhauer, der sein Handwerkszeug, eine Holzaxt, auf der Schulter trug, einen bemittelten Viehhändler, der eine sogenannte „Geldkatze“, d.h. einen ledernen Geldbeutel um den Leib geschnallt trug, ihm ein Darlehn zu geben. Der Viehhändler lehnte das ab. „Du wirst meiner gedenken,“ rief der Holzhauer so laut, daß es von Leuten, die in der Nähe waren, gehört werden konnte. Nach etwa vierzehn Tagen wurde der Viehhändler erschlagen im Walde aufgefunden. Sein gefüllter Geldbeutel war geraubt. Etwa zehn Schritte von der Leiche lag eine mit Blut besudelte Axt. Es wurde festgestellt, daß es die Axt des Holzhauers war, dem der Ermordete die Bitte um ein Darlehn abgeschlagen hatte. Ebenso wurde festgestellt, daß dem Ermordeten mit dieser Axt der Schädel eingeschlagen worden war. Der Holzhauer wurde selbstverständlich sofort verhaftet, trotz aller Unschuldsbeteuerungen zum Tode verurteilt und glücklicherweise, da er fortgesetzt seine Unschuld beteuerte, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Nach vielen Jahren hatte wiederum ein Mann auf dem Sterbebett das Geständnis abgelegt: Er habe gehört, wie der Holzhauer den Viehhändler auf offener Straße um ein Darlehn ersucht und als letzterer es ablehnte, laut gesagt habe: „Du wirst meiner gedenken.“ Diesen Vorgang habe er (der Sterbende) sich zunutze gemacht. Er habe dem Holzhauer die Axt, die er bei Gelegenheit der Darlehnsbitte auf der Schulter trug, entwendet, den Viehhändler alsdann im Walde abgelauert und mit der Axt erschlagen.

In einer kleinen Stadt Böhmens weilte vor vielen Jahren zur Zeit der Ferien ein Student. Er besuchte fast allabendlich eine Verwandte, eine alte, alleinstehende reiche Dame, der er, da die alte Dame schwache Augen hatte, die Zeitung und auch Bücher vorlas. Eines Abends wurde der Student, ein noch sehr junger Mann, von heftigem Nasenbluten befallen. Die alte Dame lieh ihrem Neffen einige Taschentücher, zumal das einzige Taschentuch des Studenten sehr bald voller Blut wurde. Als das Nasenbluten nachgelassen hatte, steckte der Student die ihm geliehenen Taschentücher ebenfalls in die Tasche, um sie waschen zu lassen. Als er nach Hause gehen wollte, gab ihm die alte Dame eine goldene Damenuhr mit der Bitte, diese einem neben dem Studenten wohnenden Uhrmacher zur Reparatur zu übergeben. Am folgenden Morgen, als der Student noch schlief, wurde heftig an seine Tür geklopft. Der Student öffnete und sah sich mehreren Polizeibeamten gegenüber. Diese sagten ihm: In voriger Nacht sei die alte Dame, die er allabendlich besucht habe, ermordet und beraubt worden. Da er noch gestern abend bei der Ermordeten geweilt habe, stehe er in dringendem Verdacht, den Mord begangen zu haben. Der Student war wie vom Schlage getroffen. Aber was halfen ihm alle Unschuldsbeteuerungen. Die blutigen Taschentücher und die der Ermordeten gehörende goldene Damenuhr reichten ja zur Schuldüberführung vollständig aus. Der Student wurde gefesselt und ins Untersuchungsgefängnis abgeführt. Trotz aller Unschuldsbeteuerungen wurde er vor die Geschworenen gestellt und wegen Mordes zum Tode verurteilt. Da aber der Student fortgesetzt seine Unschuld beteuerte und sich des besten Leumunds erfreute, wurde er vom Kaiser von Österreich zu lebenslänglichem schwerem Kerker „begnadigt“. Nach Verlauf von zwei Jahren kam an einem schönen Sommerabend ein Kriminalbeamter in der Kleidung eines Handwerksburschen in ein böhmisches Dorf. Der Beamte war auf der Suche nach einem flüchtigen Verbrecher. Er kehrte im „Dorfkrug“ ein. Nachdem er sein Ränzel, das in der Handwerksburschensprache „Berliner“ genannt wird, abgelegt und sich ein Nachtlogis gesichert hatte, begab er sich auf die Dorfstraße. Da erblickte er einen großen Menschenauflauf. Er eilte hinzu und sah, daß zwei Strolche sich prügelten. Als eine Anzahl Bauernburschen die Kämpfenden getrennt hatte, rief einer der Strolche dem anderen zu: „Du verfluchter Hund, jetzt werde ich dich anzeigen. Du hast vor 2 1/2 Jahren die alte Dame ermordet, der arme Student muß unschuldig im Kerker sitzen.“ „Und du hast dabei Schmiere gestanden“, rief der andere. Der Kriminalbeamte eilte zum Ortsgendarm und veranlaßte die sofortige Verhaftung der kämpfenden Strolche. Diese gestanden sehr bald, die alte Dame in jener Nacht ermordet und beraubt zu haben. Der Student wurde selbstverständlich sofort in Freiheit gesetzt und im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

In dem im Kreise Halberstadt belegenen Städtchen Kroppenstedt arbeitete eines Nachts, im Oktober 1869, der fünfzehnjährige Müllerlehrling Ernst Günther in der außerhalb der Stadt belegenen Windmühle seines Meisters. Der Meister befand sich mit seiner Gattin bei einer Hochzeitsfeier. Plötzlich wurden die Bewohner Kroppenstedts durch Feuersignale aus dem Schlaf geweckt. Die Mühle stand in Flammen. Als die Feuerwehr heranrückte, sah sie einen dunkeln größeren Gegenstand aus der brennenden Mühle zur Erde fallen. Dieser Gegenstand war der erwähnte Müllerlehrling. Er lag mit einem Knebel im Munde und die Hände auf den Rücken gebunden, bewußtlos auf der Erde. Er wurde sogleich in die Wohnung seines Meisters getragen. Es wurde schleunigst ein Arzt herbeigerufen. Aber erst am folgenden Morgen kam der junge Mann so weit zum Bewußtsein, daß er vernommen werden konnte. Er erzählte dem Bürgermeister: Er habe, da es Wind war, des Nachts allein in der Mühle gearbeitet. Da plötzlich habe es an der Mühlentür geklopft und eine barsche Stimme habe gerufen: „Na mag man upp.“ Er habe sich geweigert, zu öffnen. Die Tür sei jedoch sogleich mit Gewalt aufgebrochen worden, und zwei vermummte Männer, die Gesichter mit Ruß geschwärzt, haben vor ihm gestanden. Sie haben ihm gedroht, ihn sofort niederzustechen, wenn er auch nur einen Laut von sich gebe. Schreien hätte ihm auch nichts genützt, denn die Mühle stand, entfernt von der Stadt, einsam auf freiem Felde. Die Männer haben Getreide zusammengerafft, in Säcke geschüttet, alsdann ihn gefesselt, einen Knebel in den Mund gesteckt und darauf die Mühle in Brand gesetzt. Er habe sich, obwohl gefesselt und geknebelt, an die von den Räubern offengelassene Tür geschleift und sich zur Erde fallen lassen, um dem Feuertode zu entgehen. Und in der Tat, die Kleider des jungen Mannes fingen, als ihn die Feuerwehr auffand, schon an zu brennen. Auf die Frage des Bürgermeisters, ob er die vermummten Männer erkannt habe, sagte der junge Mann: Den Kleineren habe er genau erkannt, das war der Mühlknappe Schrader. Dieser trug eine rotweißkarierte Barchentjacke; den Größeren konnte er nicht erkennen. Der Bürgermeister eilte mit zwei Polizeibeamten in die Wohnung des Schrader. Dieser, vom Bürgermeister nach der rotweißkarierten Barchentjacke gefragt, leugnete in der ersten Bestürzung, eine solche Jacke zu besitzen. Eine sofort vorgenommene Haussuchung ergab jedoch den Besitz einer rotweißkarierten Barchentjacke. Schrader wurde sofort gefesselt und verhaftet. Es ergab sich auch, daß Schrader bei dem Müllermeister vor einiger Zeit beschäftigt und wegen einer Lohndifferenz entlassen worden war. Schrader, ein vollständig unbescholtener Mann, der sich in Kroppenstedt des besten Leumunds erfreute, beteuerte seine Unschuld. Da aber der Müllerlehrling ihn fortgesetzt mit vollster Bestimmtheit als einen der Männer bezeichnete, der ihn an jenem Abend in der Mühle geknebelt und gefesselt und alsdann die Mühle in Brand gesteckt hatte, so ließ der damalige Erste Staatsanwalt des Halberstädter Kreisgerichts den „verstockten Verbrecher“ dreizehn volle Wochen in doppelte Eisen legen. Schrader, dessen Frau und fünf kleine Kinder buchstäblich Hunger litten, da ihnen der Ernährer fehlte, war jedoch trotz der erwähnten Folter zu einem Geständnis nicht zu bewegen. Es wurde die Anklage wegen versuchten Mordes, Einbruchsdiebstahls und vorsätzlicher Brandstiftung gegen ihn erhoben. Die Geschworenen sprachen ihn in vollem Umfange der Anklage schuldig, der Gerichtshof verurteilte ihn darauf zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Stellung unter Polizeiaufsicht.

Nach etwa 7 Jahren, an einem kalten Wintertage des 1. Dezember 1876 trat am Breiten Weg in Magdeburg ein junger Mann an einen Schutzmann mit den Worten heran: „Herr Wachtmeister, verhaften Sie mich.“ Der Schutzmann glaubte, einen Irrsinnigen vor sich zu haben. „Bitte, verhaften Sie mich, Herr Wachtmeister,“ wiederholte der junge Mann, da der Schutzmann zögerte, „ich bin der ehemalige Müllerlehrling Ernst Günther aus Kroppenstedt. Im Oktober 1869 habe ich meinem Meister zwei Metzen Getreide entwendet und verkauft. Aus Angst, bestraft zu werden, habe ich mich selbst geknebelt und gefesselt und vorher die Mühle in Brand gesteckt. Die Geschichte mit den zwei vermummten Männern habe ich erfunden. Den Mühlknappen Schrader habe ich fälschlich beschuldigt, er ist vollständig unschuldig. Ich bin inzwischen Geselle und 22 Jahre alt geworden. Ich habe fast ganz Deutschland durchwandert, ich kann aber nirgends Ruhe finden. Das grinsende Gesicht des armen Mühlknappen Schrader, der schon seit sieben Jahren infolge meiner Aussage unschuldig im Zuchthause hause sitzt, verfolgt mich Tag und Nacht. Ich will, daß der arme Schrader sofort freigelassen und ich bestraft werde.“ Bei dieser Erzählung weinte der junge Mann heftig. Der Schutzmann führte den jungen Menschen zur nächsten Polizeiwache. Dort wiederholte Günther vor dem Polizeileutnant das Geständnis. Günther wurde nach Halberstadt transportiert. Dem noch amtierenden Ersten Staatsanwalt war diese Nachricht begreiflicherweise sehr fatal. Er sagte: „Der Müllergeselle hat jedenfalls keine Arbeit und möchte gern für den Winter ein unentgeltliches Unterkommen haben. Wir werden den Kerl sitzen lassen, bis ihm die Frühlingssonne in die Zelle scheinen wird, dann wird er seine Aussage schon widerrufen.“ Der Vorgang rief begreiflicherweise in der ganzen Kulturwelt eine furchtbare Erregung hervor. Schrader wurde aus dem Zuchthause entlassen, er war aber ein an Geist und Körper vollständig gebrochener Mann. In ganz Deutschland wurden zu seinen Gunsten Wohltätigkeitsvorstellungen veranstaltet, so daß ihm einige tausend Mark gegeben werden konnten. Günther hielt trotz aller Vorhaltungen sein Geständnis voll aufrecht. Es wurde deshalb wegen vorsätzlicher Brandstiftung und wissentlich falscher Anschuldigung die Anklage gegen ihn erhoben. Er hatte sich Ende Mai 1877 vor der Kriminaldeputation des Halberstädter Kreisgerichts zu verantworten. Da er zur Zeit der Tat erst 15 Jahre alt war, konnte er vor ein Schwurgericht nicht gestellt werden. Er erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Ein Mann habe ihn an jenem Abend verleitet, seinem Meister zwei Metzen Getreide zu stehlen und ihm zu verkaufen. Nachdem der Mann sich entfernt hatte, habe er Furcht gehabt, der Meister könnte den Diebstahl merken und ihn bestrafen lassen. Deshalb habe er die Mühle in Brand gesetzt, sich alsdann einen Knebel in den Mund gesteckt und selbst gefesselt. Er habe, ehe er Müller wurde, ein halbes Jahr Posamentier gelernt, er verstehe es daher, sich selbst zu fesseln. Um nun dem Feuertode zu entgehen, habe er sich an die Tür der Mühle geschleift, diese mit dem Fuß geöffnet und sich hinabfallen lassen. Als am anderen Morgen der Bürgermeister ihn vernahm, habe er die diesem gemachte Erzählung erfunden, und als der Bürgermeister ihn fragte, ob er einen der Männer erkannt habe, da sei ihm gerade Schrader, von dem er wußte, daß er oftmals eine rotweißkarierte Barchentjacke getragen habe, eingefallen.

Als Schrader als Zeuge den Gerichtssaal betrat, begann Günther laut zu weinen. Er fiel auf die Knie und rief: „Guter Herr Schrader, Sie haben durch meine Schuld sieben Jahre unschuldig im Zuchthause gesessen, ich bitte tausendmal um Verzeihung.“ Schrader, ein kleiner, ganz gebückt gehender Mann, mit durchfurchtem, furchtem, gramerfülltem Gesicht, weinte ebenfalls bitterlich. Günther wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, Schrader bald darauf im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

Ich habe der Verhandlung gegen Günther zur Zeit als Berichterstatter beigewohnt und nahm hierbei Veranlassung, mit Schrader zu sprechen. Dieser sagte zu mir: „Sie können sich keinen Begriff machen, wie einem Menschen zumute ist, der unschuldig auf 15 Jahre ins Zuchthaus gesperrt wird, ohne die geringste Aussicht zu haben, daß seine Unschuld jemals an den Tag kommen wird.“ Wenige Monate darauf ist Schrader gestorben. Seine Frau war, während er im Zuchthause saß, aus Gram gestorben. Die Kinder waren im Waisenhause untergebracht.

Im Juni 1895 fand eines Sonntags in Baukau bei Herne eine vom christlichen Bergarbeiterverband einberufene öffentliche Bergarbeiterversammlung statt, in der der jetzige Landtagsabgeordnete Brust (Zentrum) den Vorsitz führte. In dieser Versammlung erschienen auch einige sozialdemokratische Bergarbeiter, unter diesen die „Kaiserdelegierten“ Schröder, Bunte und Siegel. Diese drei wurden im Sommer 1889 aus Anlaß eines sehr umfangreichen Bergarbeiterausstandes im rheinisch-westfälischen Industriebezirk vom Kaiser im Königlichen Schloß zu Berlin empfangen. In der Baukauer Versammlung meldete sich Schröder zum Wort. Brust verweigerte die Worterteilung an Schröder und forderte letzteren auf, den Saal zu verlassen. Da Schröder zögerte – es war eine öffentliche Bergarbeiterversammlung – so wurde er auf Veranlassung Brusts von dem Gendarmen Münter zum Verlassen des Lokals aufgefordert. Nunmehr leistete Schröder Folge, er verlangte aber an der Kasse das Eintrittsgeld von zehn Pfennigen zurück. Daraufhin soll er von dem Gendarmen Münter derartig aus dem Saale gestoßen worden sein, daß er zur Erde gefallen sei. Die „Deutsche Bergarbeiterzeitung“ berichtete über diesen Vorgang. Aus Anlaß dieses Berichtes stellte Gendarm Münter gegen den Redakteur der „Deutschen Bergarbeiterzeitung“, Margraf, Strafantrag wegen Beleidigung. Margraf hatte sich vor der Strafkammer in Essen zu verantworten. Mehrere Bergarbeiter beschworen, der Vorgang sei in der „Deutschen Bergarbeiterzeitung“ wahrheitsgemäß geschildert worden. Gendarm Münter beschwor aber das Gegenteil. Margraf wurde daraufhin wegen Beleidigung des Münter zu einem Monat Gefängnis verurteilt und gegen die Zeugen Schröder und Genossen wegen wissentlichen Meineids Anklage erhoben. Im August 1895 hatten sich Schröder und Genossen vor dem Schwurgericht des Landgerichts Essen – es war eine außerordentliche Schwurgerichtssitzung anberaumt – zu verantworten. Fast sämtliche vernommenen nen Zeugen, auch die dem christlichen und Hirsch-Dunkerschen Verbande angehörenden, bekundeten: der Vorgang sei in der „Deutschen Bergarbeiterzeitung“ wahrheitsgemäß geschildert. Gendarm Münter trat jedoch – ich war in der Verhandlung als Berichterstatter tätig – in einer Weise als Zeuge auf, die die Würde des Gerichts in hohem Maße verletzte. Dies Auftreten wurde eigentümlicherweise mit keinem Worte gerügt. Münter hielt selbstverständlich mit größter Entschiedenheit seine frühere Bekundung vollständig aufrecht. Trotzdem haben die Angehörigen aller politischen Parteien den Freispruch mit vollster Sicherheit erwartet. Man glaubte allgemein, die Geschworenen werden kaum länger als zwanzig Minuten beraten. Sie hatten sich gegen 7 3/4 Uhr abends zurückgezogen und traten erst nach Mitternacht wieder in den Saal. Sie bejahten alle Schuldfragen, die Angeklagten wurden daher sämtlich zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Die gegen das Urteil eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen. Von verschiedenen Seiten wurde den Angeklagten geraten, Gnadengesuche einzureichen. Sie lehnten aber sämtlich dies Ansinnen mit dem Bemerken ab: Sie wollten keine Gnade, sondern Recht. Die Angeklagten haben sämtlich die Zuchthausstrafen verbüßt.

Rechtsanwalt Dr. Victor Niemeyer (Essen, Ruhr), ein damals noch sehr junger Anwalt, der einige Wochen chen vorher mit großem Geschick vor dem Landgericht zu Aachen in Gemeinschaft mit dem verstorbenen Reichstagsabgeordneten Justizrat Lenzmann (Lennep) Mellage und Genossen wegen Beleidigung der Brüder des Aachener Alexianerklosters verteidigt hatte (siehe erster Band „Die Geheimnisse des Alexianer-Klosters Mariaberg [Bruder Heinrich]“), war Verteidiger des Redakteurs Margraf und auch in dem Meineidsprozeß Schröder und Genossen vor dem Schwurgericht. Dieser glänzende Verteidiger, der schon damals in ganz Rheinland-Westfalen in allen Gesellschaftskreisen sich der größten Hochachtung erfreute und daher zweifellos selbst auf die Essener Geschworenen einen großen Eindruck gemacht hätte, wurde unbegreiflicherweise von den anderen Verteidigern als Zeuge in Anspruch genommen und somit von der Verteidigungsbank gedrängt, obwohl sein Zeugnis ganz belanglos war und obwohl ein Geschworener erklärte: Es ist durchaus nicht nötig, daß Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer die Verteidigung niederlegt und als Zeuge auftritt. Wenn Herr Dr. Niemeyer etwas versichert, dann wird es von den Geschworenen geglaubt, ohne daß er es beschwört. Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer gab sich die größte Mühe, das Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen. Endlich, nach fast vollen fünfzehn Jahren, im Frühjahr 1910, gelang es Herrn Rechtsanwalt Dr. Niemeyer, den Nachweis zu führen, daß der inzwischen verstorbene Gendarm Münter dem Alkohol ungemein gefrönt und in seiner Amtseigenschaft die ärgsten Ausschreitungen gegen harmlose, friedliche Bürger begangen habe. Es waren so viele Klagen über diesen gewaltigen „Hüter der staatlichen Ordnung“ eingegangen, daß das Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet und auf Dienstentlassung erkannt wurde. Er war alsdann bei einer Gemeindebehörde in der Nähe von Berlin als Bureauarbeiter tätig. Es wurde auch der Nachweis geführt, daß der Mann sich mehrfach des wissentlichen Meineids schuldig gemacht hatte. Wenn er nicht vorzeitig gestorben wäre, dann wäre er wegen wissentlichen Meineids angeklagt und wohl auch verurteilt worden. Diese Vorgänge gaben endlich dem Oberlandesgericht zu Hamm Veranlassung, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Schröder und Genossen zu beschließen.

Ende Januar bzw. in den ersten Tagen des Februar 1911 wurde vor dem Essener Schwurgericht der Meineidsprozeß Schröder und Genossen noch einmal verhandelt. In dieser Verhandlung ergab es sich, daß einige Angeklagte bereits verstorben waren, einer, der Bureaubeamte Johann Meyer, infolge der erlittenen Zuchthausstrafe in dauerndes Siechtum verfallen war. Die anwesenden Angeklagten waren sämtlich an Geist und Körper gebrochen. Die Verhandlung ergab die erschütternde schütternde Tatsache, daß die Angeklagten im August 1895 auf Grund der Aussagen eines gewalttätigen, verbrecherischen, ja meineidigen Beamten, der in kaltblütigster Weise vor Gericht wissentlich die Unwahrheit beschworen hatte, zu langjährigem Zuchthaus verurteilt worden sind. Unbegreiflich ist es, daß der damalige Gerichtshof den Wahrspruch der Geschworenen, die sich doch zweifellos zuungunsten der Angeklagten geirrt hatten, nicht aufgehoben und die Sache vor ein anderes Schwurgericht verwiesen hat. Ein solcher Gerichtsbeschluß ist mir im übrigen in meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter nur ein einziges Mal, und zwar im Februar 1909 in dem Grünauer Mordprozeß vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin II vorgekommen. In diesem Prozeß wurde der Angeklagte von den Geschworenen des Mordes für schuldig befunden. Der Gerichtshof hob nach sehr langer Beratung den Wahrspruch der Geschworenen auf und beschloß, die Sache an ein anderes Schwurgericht zu verweisen, weil der Gerichtshof einstimmig der Überzeugung war, daß die Geschworenen sich zuungunsten des Angeklagten geirrt hatten. In der zweiten Verhandlung sprachen die Geschworenen den Angeklagten nach einer meisterhaften Verteidigungsrede des Justizrats Dr. Sello nur des Totschlags schuldig. Der Angeklagte wurde darauf zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht verurteilt.

In einer der vornehmsten Straßen der bayerischen Residenz liegt das Maximilianstift, in dem alte Damen der besseren Gesellschaftskreise Aufnahme und Verpflegung finden. Leiterin dieses vornehmen Stifts war etwa zehn Jahre lang das schon an Jahren etwas vorgerückte Fräulein Elise v. Heusler. Diese Dame stand in dem Ruf, zu Klatsch- und Zanksucht zu neigen. Sie soll rachsüchtig und gehässig gewesen sein. Das Hauspersonal und auch die alten Stiftsdamen klagten vielfach über die Oberin. Am 1. Juli 1901 wurde die 25jährige Krankenpflegerin Minna Wagner von der Oberin als Helferin für das Maximilianstift engagiert. Sie war von der Oberin des „Krankenhauses rechts der Isar“, wo sie vier Jahre bedienstet war, empfohlen. Anfänglich erfreute sich die Wagner des größten Wohlwollens und Vertrauens des Fräuleins v. Heusler. Sehr bald soll sich aber das Wohlwollen in tödlichen Haß verwandelt haben. Die Oberin soll versucht haben, der Wagner den Aufenthalt im Maximilianstift in jeder Weise zu verleiden, um sie zu einer Kündigung zu veranlassen. Sie selbst wollte der Wagner nicht kündigen, weil letztere bei den Stiftsdamen als geschickte Pflegerin beliebt war. Es soll sehr oft zu heftigen Auftritten zwischen Fräulein v. Heusler und der Wagner gekommen sein, die Wagner kündigte aber nicht. Am 19. Juli 1902, einem Sonnabend, gab es wieder im Maximilianstift einen großen Krach. Es fehlten drei Flaschen Bier. Fräulein v. Heusler beschuldigte sofort die Wagner, die drei Flaschen „gestohlen und ausgesoffen“ zu haben. Die Wagner erklärte darauf voller Entrüstung, sie werde sich im Ministerium über die Oberin beschweren. Diese Drohung soll die Oberin in große Bestürzung versetzt haben. Am folgenden Tage, Sonntag nachmittags gegen 2 Uhr, war der größte Teil des Hauspersonals ausgegangen. Um diese Zeit erhielt die Wagner von der Oberin Kaffee. Sie hatte die Gewohnheit, den Kaffee nur zur Hälfte zu trinken, den Rest in ihrer Kaffeetasse sich an einer bestimmten Stelle bis Abend aufzubewahren. Das tat sie auch an jenem Sonntag. Als sie gegen 6 Uhr abends den Rest des Kaffees trinken wollte, verspürte sie sofort nach dem ersten Schluck ein heftiges Brennen. Es traten Vergiftungserscheinungen ein. Am folgenden Tage wurde die Wagner auf Anordnung des Arztes nach dem „Krankenhaus rechts der Isar“ geschafft. Die Wagner hatte, da ihr die Sache verdächtig schien, am Sonntag abend den Rest des Kaffees in eine Flasche gefüllt, die Flasche aufbewahrt und letztere auch nicht herausgegeben, obwohl Fräulein v. Heusler mehrfach den Versuch unternahm, ihr die Flasche zu entreißen. Im Krankenhause wurde der Inhalt der Flasche untersucht. Es wurde festgestellt, daß der Kaffee eine elfprozentige prozentige Salzsäurebeimengung enthielt. Die Wagner bezichtigte sofort Fräulein v. Heusler der Täterschaft und wies den von letzterer ausgesprochenen Verdacht, sie habe sich das Gift selbst in den Kaffee getan, mit großer Entschiedenheit zurück. Für einen Selbstvermordversuch der Wagner ergaben sich auch keinerlei Anhaltspunkte. Dagegen sollte sich die Oberin durch verschiedene Äußerungen verdächtig gemacht haben. Sie hatte sich deshalb Anfang März 1903 auf Grund des §229 des Strafgesetzbuches vor dem Schwurgericht des Landgerichts München I zu verantworten. Der Paragraph lautet: „Wer vorsätzlich einem anderen, um dessen Gesundheit zu schädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter fünf Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden, auf Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder auf lebenslängliches Zuchthaus zu erkennen.“ Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Oberlandesgerichtsrat Ott. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Aull. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz (München). Der Andrang des Publikums war ganz furchtbar. Die reservierten Plätze wurden fast ausschließlich von Damen in hocheleganten Toiletten besetzt. Die Angeklagte klagte war ganz in Schwarz gekleidet. Sie machte einen sehr würdigen Eindruck. Als sie sich von allen Seiten mit neugierigen Blicken gemustert sah, begann sie zu weinen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab sie an: Sie sei am 18. Januar 1848 als Tochter des verstorbenen Oberförsters v. Heusler geboren. Es habe im Stift vielfach Bier gefehlt. Als ihr das wieder am 19. Juli 1902 gemeldet wurde, habe sie nach dem Täter forschen lassen. Es wurde ihr gemeldet: die Wagner lasse sich täglich drei bis sechs, auch bisweilen acht Flaschen Bier holen. Sie habe deshalb die Wagner zur Rede gestellt und ihr gesagt: „Die Biersauferei habe ich jetzt satt.“ Die Wagner habe erwidert: „Gott soll mich strafen, wenn ich das Bier getrunken habe.“ Darauf sei der Wagner von den Mädchen gesagt worden: „Sag’ so etwas nicht, sonst könnte dich Gott wirklich strafen.“ Im weiteren äußerte die Angeklagte: Am Nachmittag, den 20. Juli 1902, bin ich, wie an jedem Sonntag, in die Kirche gegangen. Beim Weggehen habe ich die Küche abgeschlossen und den Schlüssel an den gewohnten Platz gehängt. Gleichzeitig habe ich das Klosett abgeschlossen, und zwar vorsichtshalber, weil die Wagner es schon einmal beschmutzt hatte und es am Tage vorher frisch gestrichen worden war. Als ich etwa gegen 6 Uhr abends aus der Kirche kam, öffnete mir die Wagner, ohne etwas zu sagen. Erst am folgenden Tage wurde mir mitgeteilt, daß die Wagner erkrankt sei. Der sofort herbeigerufene Dr. Eisenberg sagte mir: Es scheint ein Darmkatarrh zu sein, das beste wäre, wenn die Wagner sofort ins Krankenhaus käme. Inzwischen wurde mir gemeldet: die Wagner habe den Rest ihres gestrigen Kaffees in eine Flasche geschüttet und wolle die Flasche ins Krankenhaus mitnehmen. Ich ließ die Kaffeetasse holen, es war nur noch ein ganz kleiner Rest Kaffee in der Tasse. Ich sprach die Vermutung aus, die Wagner wolle den Kaffee unterwegs beseitigen. Einer der Herren versetzte darauf: er werde schon aufpassen. Ich reichte der Wagner zum Abschied die Hand und sagte ihr: ich werde Sie im Krankenhause besuchen. Ich ging auch am Nachmittag desselben Tages zur Wagner ins Krankenhaus. Man sagte mir dort: Es hat den Anschein, als wolle sich die Wagner berühmt machen. Vom Krankenhaus ging ich ins Ministerium, um den Vorfall zu melden.

Vors.: Die Vorgänge werden von den Zeugen in manchen Punkten wesentlich anders dargestellt. Auf wen haben Sie denn Verdacht?

Angekl.: Auf niemand anders als auf die Wagner selbst.

Vors.: Welchen Anlaß sollte die Wagner gehabt haben, sich Salzsäure in ihren Kaffee zu schütten?

Angekl.: Ich habe mir gedacht, daß sie es aus Rachsucht getan hat.

Vors.: Es wäre doch aber ganz merkwürdig, aus Rachsucht Salzsäure zu trinken.

Angekl.: Um mir einen Possen zu spielen.

Vors.: Es wird doch aber niemand seine Gesundheit selbst schädigen. Die Wagner hat doch zweifellos aus ihrer früheren Tätigkeit im Krankenhause die Wirkung der Salzsäure gekannt. Sie hat sich im übrigen unmittelbar vor der Vergiftung mit ihren Kolleginnen in unbefangenster Weise unterhalten. Dieser Umstand berechtigt doch kaum zu der Annahme, die Wagner habe aus Rachsucht gegen Sie Salzsäure zu sich genommen. Wie sollte sie auch zu der Salzsäure gekommen sein, da Sie, wie Sie selbst sagen, den Abort, in dem die Salzsäure aufbewahrt war, verschlossen hatten?

Angekl.: Das wohl, ich habe den Abort aber erst gegen 2 1/2 Uhr nachmittags abgeschlossen. Die Wagner kann sich also die Salzsäure vorher oder abends nach 6 Uhr, als der Abort wieder aufgeschlossen war, herausgeholt haben.

Vors.: Haben Sie nicht oft geäußert, die Wagner müsse aus dem Hause?

Angekl.: Das mag sein, weil sie so verlogen war.

Vors.: Anfänglich sollen Sie aber sehr vertraut zu ihr gewesen sein und ihr Dinge über die Stiftsdamen und andere Personen erzählt haben, die man gewöhnlich nicht einem Dienstboten anvertraut.

Angekl.: Das bestreite ich.

Vors.: Sie sollen wiederholt gesagt haben: „Die Wagner wird gar nicht krank“, „Ehe die nicht krank wird, bekommt man sie nicht aus dem Hause“, „Eh die hinauskommt, gibt es noch was“.

Angekl.: Ja, weil sie so verlogen war.

Vors.: Im Vorverfahren haben Sie auch das bestritten. Wenn man nicht bei der Wahrheit bleibt, muß man wenigstens ein gutes Gedächtnis haben. Sie bestreiten, der Wagner vorgeworfen zu haben, daß sie drei Flaschen Bier gestohlen habe?

Angeklagte: Das habe ich nicht gesagt.

Vors.: Die Zeugen bekunden es aber; die Wagner soll daraufhin auch gedroht haben, sich beim Ministerium beschweren zu wollen. Das soll Sie so sehr erregt haben.

Angekl.: Keine Idee; das hätte ihr doch wohl wenig genützt beim Minister.

Vors.: Da sind Sie doch wohl im Irrtum. Ich glaube nicht, daß all das, was dieses Verfahren aufgedeckt hat, so ohne Eindruck geblieben wäre.

Der Vorsitzende hielt der Angeklagten alsdann verschiedene Äußerungen namentlich über Stiftsdamen vor. So soll sie gesagt haben: Die zwei (Stiftsdamen) soll der Teufel holen und verrecken sollen sie. (Heiterkeit.)

Angekl.: Solche Ausdrücke habe ich nicht gebraucht. braucht.

Vors.: Einer Stiftsdame sollen Sie Salz in den Franzbranntwein, der zum Einreiben verordnet war, geschüttet haben.

Angekl.: Ja, die Dame trank alles, selbst Spiritus, ich wollte es deshalb verhindern, daß sie den Franzbranntwein, statt ihn zum Einreiben zu benutzen, austrinkt. (Stürm. Heiterkeit.)

Vors.: Den Stiftsdamen sollen Sie viel Schlechtes nachgesagt und sie untereinander aufgehetzt haben?

Angekl.: Davon ist mir nichts bewußt.

Vors.: So sollen Sie gesagt haben: Der Herr Hofrat halte es mit einer der Damen, auch zu Ihnen sei er gekommen, Sie hätten ihn aber ablaufen lassen.

Angekl.: Das ist vollständig unwahr.

Vors.: Weiter sollen Sie gesagt haben: Exzellenz Minister v. Feilitzsch habe auch eine von den Stiftsdamen gehabt. (Heiterkeit.)

Angekl.: Nein.

Vors.: Auch über Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin sollen Sie sich ehrenrührig geäußert haben.

Angekl.: Niemals.

Vors.: Haben Sie nicht einmal die Wagner zu einer älteren Dame hinaufgeschickt mit den Worten: Die hat wieder einen Rausch, schauen S' nach, ob sie noch nicht verreckt ist.

Angekl.: Nein. Ob etwas passiert sei, sollte sie nachsehen.

Vors.: Eine Reihe Zeugen wird bekunden, daß solche Äußerungen bei Ihnen gang und gäbe waren.

Angekl.: Das ist auch unwahr.

Vors.: In Gegenwart des Herrn Hofrats sollen Sie von der Stiftsdame Arendts, Ihrer Vorgängerin als Stiftsvorsteherin, gesagt haben: Wenn der Teufel mal die Arendts holt, dann hat er wenigstens einen guten Brocken. (Heiterkeit.)

Angekl.: Das habe ich nicht gesagt.

Vors.: Dann sollen Sie die Wagner beauftragt haben, eine der Stiftsdamen zu fragen, ob sie noch Jungfrau sei, weil der Arzt soviel an ihr herumkuriere. (Heiterkeit.)

Angekl.: Nein, die Wagner hat da gelogen.

Vors.: Und eine Stiftsdame sollen Sie als alte Offiziersh ... bezeichnet haben.

Angekl.: Das ist auch nicht wahr. Alles, was die Minna Wagner sagt, ist unwahr.

Vors.: Einmal sollen Sie auch gesagt haben, als eine der Damen sich beschweren wollte: den Referenten im Ministerium geht das einen Dreck an, und der Minister kann mir

sonst was. (Stürmische Heiterkeit.)

Angekl.: Das ist frech gelogen.

Staatsanw.: Es werde ihm gemeldet, daß draußen, nachdem die Zeugen abgetreten waren, zwei Zeugen, die Baumeisterschen Eheleute, über die Wagner hergefallen seien und sie bearbeitet hätten. Er bitte, anordnen zu wollen, daß die drei Zeugen isoliert werden. Der Vorsitzende traf eine diesbezügliche Verfügung.

Der Vorsitzende fragte darauf die Angeklagte, ob sie auch bestreite, am Montag früh gesagt zu haben: „Ist noch keine von den alten Luders verreckt, hat noch keine der Teufel geholt?“

Angekl.: Ich habe mich wohl erkundigt, ob alle Damen wohl sind oder dergleichen.

Vors.: Sie sollen auch wiederholt gesagt haben: „wir dürfen die alten Laster und Schachteln hier drinnen halten, wenn sie draußen genug herumgeh ... haben.“

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Sie sollen die alten Damen überhaupt sehr schlecht behandelt und sie am Essen verkürzt haben.

Angekl.: Das ist unwahr.

Vors.: Sie werden überhaupt als gemütsroh, boshaft, gehässig und zanksüchtig geschildert.

Angekl.: Ja, von allen denen, die mich vernichten wollen.

Vors.: Wer soll denn ein Interesse haben, Sie zu vernichten? Ist es richtig, daß Sie auch geäußert haben: „Es ist Zeit, daß eine verreckt und Platz macht, damit meine Schwester hereinkann?“

Angekl.: Meine Schwester sehnt sich noch gar nicht nach dem Stift, vielleicht wenn sie älter ist, aber jetzt noch nicht.

Vors.: Sie haben behauptet, daß die Wagner immer betrunken war. Das soll unwahr sein. Wenn sie immer betrunken gewesen wäre, hätte sie nicht eine so gute Krankenpflegerin sein können.

Angekl.: Sie hatte ja die alten Damen nur zu pflegen, zu Bett zu bringen und zu reinigen. Die Wagner soll schon in der Frühe Bier statt Kaffee aus der Kaffeetasse getrunken haben.

Vors.: Davon ist nichts bekannt.

Angekl.: Die Wagner will Sonntag abend gemerkt haben, daß sie Gift genossen habe, es sollen Vergiftungserscheinungen bei ihr aufgetreten sein. Weshalb hat sie alsdann erst am folgenden Tage ärztliche Hilfe gesucht.

Vors.: Sie wußte doch nicht, daß sie Salzsäure genossen hat. Sie fühlte sich unwohl und hatte gemerkt, daß etwas im Kaffee war. Haben Sie am Sonntag abend schon gewußt, daß die Wagner unpäßlich war?

Angekl.: Nein.

Vors.: Trotzdem wunderten Sie sich, als Sie am nächsten Morgen hörten, daß die Wagner auf sei und den Dienst verrichtete. Und als dann die Wagner umfiel und der Arzt kam, sagten Sie: „Die hat gewiß Salzsäure in den Kaffee getan, es ist schon so eingerichtet, richtet, daß sie wegkommt.“ Niemand wußte etwas von Salzsäure, und nur Sie konnten es wissen, wenn Sie die Salzsäure hineingetan hatten.

Angekl.: Bitte, ich bin unschuldig, ich habe das nicht gesagt.

Vors.: Ich halte es Ihnen ja nur vor. Wenn das aber wahr ist, was die Zeugin behauptet, dann haben Sie sich damit verraten.

Angekl.: Die Zeugin irrt sich.

Auf Vorhalten ihres Verteidigers erklärte die Angeklagte am Schluß ihres Verhörs: Sie gebe zu, Ausdrücke, wie: Die Stiftsdamen und das Stift möge der Teufel holen, die alten Luder mögen verrecken u.a. gebraucht zu haben. Sie habe es im Vorverfahren mit Rücksicht auf das Stift und, weil sie die Stellung zu verlieren fürchtete, geleugnet.

Vors.: Ich habe Ihnen viele Ausdrücke vorgehalten, geben Sie die jetzt alle zu?

Angekl.: Ja.

Vert. Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Auch die Äußerungen zur Wagner über die Prinzessin und den Minister?

Angekl.: Diese nicht.

Es begann hierauf die Zeugenvernehmung. Köchin Anna Schwarz stand dabei, als die Wagner einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse nahm. Sie setzte sofort ab und sagte: „Pfui, da ist etwas drin.“ Von den Stiftsfräulein könne keine als Täterin in Betracht kommen.

Vors.: Wie war das mit den drei Bierflaschen am Sonntag?

Zeugin: Es fehlten drei Flaschen Bier, am Tage vorher hatten Maler die Kellertür angestrichen. Ich äußerte zur Vorsteherin den Verdacht, daß die Maler das Bier getrunken hätten. Als die Vorsteherin trotzdem die Wagner beschuldigte, hat letztere mit der Beschwerde beim Ministerium gedroht. Am nächsten Tage hat die Vorsteherin gesagt: Die Wagner will zum Ministerium gehen, weil „wir“ sie verdächtigt, die Flaschen ausgetrunken zu haben.

Vors.: Sie hatten den Verdacht aber gar nicht ausgesprochen?

Zeugin: Nein.

Vors.: War die Wagner imstande, die drei halben Flaschen auszutrinken?

Zeugin: Sie hat schon ganz gern mal Bier getrunken. Die Oberin war sehr aufgeregt und wurde ganz bleich, als die Wagner sagte, sie wolle ins Ministerium gehen. Dem anderen Dienstmädchen, der Magdalena Sgoff, war es aufgefallen, daß die Vorsteherin schon zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, von Salzsäure gesprochen habe.

Vors.: Sie sollen auch etwas wissen davon, daß die Wagner Halluzinationen hatte. Es soll ihr einmal ein Hund im Traum erschienen sein.

Zeugin: Jawohl, die Wagner hatte geträumt, ein Hund habe sie zerrissen, den Traum hatte sie uns erzählt. Die Zeugin gab weiter an, daß die Vorsteherin sich öfter geäußert habe, die Wagner müsse hinausgebracht werden; ehe sie nicht krank werde, bekomme man sie nicht hinaus.

Vert.: Ich muß noch einmal auf den Traum mit dem Hunde zurückkommen. Hat die Wagner diesen Traum nicht dreimal gehabt?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vert.: Die Wagner soll fortwährend davon gesprochen haben, so daß sich die Beier, die mit ihr in der Kammer zusammenschlief, fürchtete. Einmal soll die Wagner diese Vision auch bei wachem Zustand gehabt haben; die beiden Mädchen sollen vor Angst so geschwitzt haben, daß sie die Wäsche wechseln mußten. (Heiterkeit.)

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vert.: Hat die Wagner nicht erzählt, daß ihr Onkel auf sie geschossen habe, weil sie zum Katholizismus übergetreten war.

Zeugin: Ich weiß nicht mehr, ob er schießen wollte oder geschossen habe.

Vert.: Erzählte die Wagner nicht auch, daß ihr Großvater am Tage ihres Übertritts gelähmt worden sei?

Zeugin: An ihrem Firmungstage, so erzählte sie, habe den Großvater der Schlag getroffen. Ihre Mutter sei gelähmt worden.

Vert.: Alles an demselben Tage?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vert.: Erzählte sie nicht auch, daß sie vordem in einem protestantischen Hause gedient habe und daß dort die Tochter einmal einen Hasen mit dem Fell gebraten habe. (Stürm. Heiterkeit.)

Zeugin: Ja, das hat sie erzählt.

Die zweite Zeugin, Dienstmädchen Magdalena Sgoff, bekundete ebenfalls, daß die Vorsteherin mehrfach geäußert habe, sie möchte die Wagner los werden; ehe sie nicht krank werde, bekomme man sie aber nicht hinaus. Sie habe mit der Zunge den Kaffee auch gekostet und sich sofort erbrechen müssen. Sie habe der Vorsteherin nichts gesagt, denn sie habe sich sogleich gedacht, daß es niemand anders gewesen sein könne wie die Vorsteherin. Aufgefallen sei ihr am nächsten Morgen, als die Vorsteherin sagte: „So, die Minna ist auf, ich habe gedacht, sie ist im Bett.“ Ebenso sei ihr aufgefallen, daß die Vorsteherin von Salzsäure sprach, als es noch niemand wußte. Als wir am Montag vormittag Dr. Eisenberg holen ließen, war die Vorsteherin in der Kirche. Bei der Rückkehr sagte sie zu mir: „Ich war in der Kirche und habe andächtig gebetet: Herr Gott, wie Du willst. Jetzt haben wir’s g’schafft, jetzt hab’n wir sie draußen.“

Vors.: Wie war der Charakter der Angeklagten?

Zeugin: Sie war boshaft und verdrehte einem das Wort im Munde. Sie sei ebenfalls der Meinung, daß das fehlende Bier von den Malern getrunken worden sei.

Staatsanwalt: Glauben Sie, daß die Wilhelmine Wagner täglich 6 bis 8 Flaschen Bier, das wären 4 Maß, getrunken hat?

Zeugin: Nein.

Eine weitere Zeugin war Bierbrauersfrau Babette Adam. Sie war früher Dienstmädchen im Stift: Die Vorsteherin habe sie, die Wagner und die anderen Mädchen oftmals beschuldigt, Bier gestohlen zu haben. Die Wagner stand zuerst bei der Oberin in hoher Gunst, später wollte diese sie aber aus dem Hause haben. Die Wagner sei ein gutes, ehrliches Mädchen gewesen. Die Angeklagte dagegen war lügnerisch, boshaft, rachsüchtig und mißtrauisch. Die Stiftsfräulein nannte sie „alte Laster“; nur mit der Neudegg stand sie sich gut. Wenn es Punsch oder Grog gab, bekam diese immer das meiste ab. (Stürm. Heiterkeit.)

Vors.: Trauen Sie der Angeklagten die Tat zu?

Zeugin: Das schon. Auch dieser Zeugin hatte die Wagner erzählt, daß ihr Onkel auf sie geschossen habe, weil sie zum katholischen Glauben übergetreten sei; ihr Großvater sei an ihrem Firmungstage vom Schlage gerührt und die Mutter gelähmt worden.

Unter allgemeiner Spannung wurde die 1877 geborene Krankenpflegerin Wilhelmine Wagner aufgerufen. Sie litt anscheinend noch immer an den Folgen der Vergiftung vom 20. Juli 1902 und mußte in den Saal hineingeführt werden. Sie nahm auf einem Sessel vor dem Richtertisch Platz. Sie schilderte auf Befragen des Vorsitzenden die einzelnen Vorgänge, mit dem Zwist wegen der drei Bierflaschen und ihrer Drohung, eine Beschwerde beim Ministerium zu machen.

Vors.: Sie haben Ihre bestimmte Tasse gehabt?

Zeugin: Ja.

Vors.: Kannte die Vorsteherin die Tasse?

Zeugin: Ja, ganz genau. Die Zeugin bestätigte auch sämtliche der Angeklagten vorgehaltenen häßlichen Äußerungen über die Stiftsdamen, die Medizinalräte, den Staatsminister v. Feilitzsch und die Prinzessin Ludwig Ferdinand. Wenn die Vorsteherin morgens herunterkam, war oft ihre erste Frage: „Na, ist noch keine von den ?alten Lastern? verreckt?“ Einer 90jährigen Stiftsdame habe die Angeklagte einmal die Suppe verweigert, obwohl solche vorhanden war und der Arzt sie verordnet hatte. Sie habe auch sofort den Eindruck gehabt, daß die Vorsteherin ihr das mit dem Kaffee angetan habe. Als sie (Zeugin) am anderen Morgen krank war, sei die Oberin zu ihr ins Zimmer gekommen und habe gefragt, wo der Kaffee vom vorhergehenden Tage geblieben sei. Sie habe erwidert, daß sie ihn in einem Fläschchen aufbewahrt hätte und mit nach dem Krankenhaus nehmen werde. Die Oberin habe darauf dringend die Herausgabe verlangt und sogar versucht, ihr die Flasche aus der Hand zu reißen.

Vors.: Sie sind zum Katholizismus übergetreten?

Zeugin: Ja, als ich Krankenpflegerin im Josephsspital war. Ich fühlte mich dazu hingezogen und wollte barmherzige Schwester werden.

Vors.: Haben Sie den anderen Mädchen erzählt, daß Sie Gespenster gesehen haben, und daß Ihr Onkel auf Sie geschossen habe, weil Sie übergetreten sind?

Zeugin: Das mit den Gespenstern waren Träume; ich habe allerdings darüber mit den Mädchen gesprochen.

Stiftsfräulein Julie Lotz stellte der Wagner ein gutes Zeugnis aus. Über den Charakter der Angeklagten sprach sich die Zeugin sehr abfällig aus.

Vert. Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Um zu erklären, wie es kam, daß die Angeklagte über die Stiftsdamen manche häßlichen Ausdrücke gebrauchte, muß ich an die Zeugin einige Fragen stellen. Ist der Zeugin bekannt, daß unanständige Tischgespräche von anderen Damen geführt wurden, über die sich die Vorsteherin ärgerte und die sie deshalb zurückwies?

Zeugin: Unanständige Redensarten? Davon ist mir nichts bekannt.

Vert.: Hat nicht einmal eine der Damen bei Tisch gesagt: „Ich bin nicht Jungfer, ich würde mich auch schämen, wenn ich als Jungfer ins Stift gekommen wäre, denn dann hätte mich niemand mögen wollen!“?

Zeugin: Ach so, ja, das war aber nur Scherz. (Heiterkeit und große Bewegung im Publikum.)

Vert.: Sie selbst sollen einmal gesagt haben: „Die hat ein schönes Vorgebirge!“

Zeugin: Das soll ich gesagt haben?

Vert.: Ja.

Zeugin: Davon weiß ich nichts.

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: In einem anderen Falle wurde davon gesprochen, daß eine Dame einen alten Herrn gepflegt habe, und dabei soll die Situation des Pflegers in unanständiger Weise geschildert worden sein.

Zeugin: Davon ist kein Wort wahr.

Wäscherin Butzmann, die im Stift früher diente, bezeichnete die Angeklagte als lügenhaft, jähzornig, aufgeregt.

Vors.: Auch boshaft?

Zeugin: Das ist gleich alles mit inbegriffen. (Heiterkeit.)

Vors.: Wie war das Verhältnis zu den Damen?

Zeugin: Zank und Streit gab es alleweg. Sie sprach meist von den „Lastern“, „Ludern“ und vom „Verrecken“.

Vert.: Hat die Angeklagte nur schlechte Eigenschaften, hat sie nie etwas Gutes getan?

Zeugin: Ja, sie hat schon auch Gutes getan.

Vert.: Bis jetzt haben Sie aber nichts Gutes von ihr erzählt.

Stiftsdame Fräulein Arendts, 77 Jahre alt, war von 1860 bis 1883 Stiftsvorsteherin. Sie bezog für die 23jährige Dienstleistung ein Anerkennungsgehalt. Das sei der Angeklagten ein Dorn im Auge gewesen; sie habe ihr fortgesetzt Vorwürfe gemacht, sie Intrigantin, Simulantin usw. genannt. Sie habe nur klopfenden Herzens das Zimmer der Angeklagten betreten. Alle Damen seufzten unter der Herrschsucht der Oberin.

Stiftsdame Sophie Neudegger stand im 60. Jahre. Die Zeugin war mit der Angeklagten befreundet und hielt sie nicht für schuldig. Sie glaube, daß die Wagner es selbst getan habe, ohne die Folgen zu bedenken. Die Zeugin bestätigte, daß die unanständigen Tischgespräche stattgefunden haben. Die Wagner habe ihr erzählt, daß ihr Onkel bei ihrem Übertritt zum Katholizismus auf sie, als sie aus der Kirche kam, geschossen habe.

Medizinalrat Dr. Stumpf war Anstaltsarzt von 1875 bis 1898. Fräulein von Heusler habe die Krankheit der Wagner als selbstverschuldetes Übel betrachtet. Wer krank wurde, war von vornherein eines Verweises sicher. Der Arzt mußte die Krankheiten übertreiben, wenn er auch nur die geringste Fürsorge durchsetzen wollte. In der brutalsten Weise schleuderte die Angeklagte den Kranken Krankheiten ins Gesicht, die gar nicht vorhanden waren. Er müsse sagen, daß die Zeit, in der er Anstaltsarzt war, zu den trübsten Erfahrungen seines Lebens gehörte. Das schlimmste war, daß jeder Krankheit, selbst der harmlosesten, ein unanständiger Charakter untergelegt wurde. Klagen hatten keinen Erfolg. Im Ministerium hieß es immer nur: „Ach, die da drin, die können sagen, was sie wollen.“ Nie habe er in seinem Leben eine größere Verlogenheit kennengelernt, als bei Fräulein v. Heusler. Sie war eine Meisterin der Kunst, die harmlosesten Worte im Munde zu verdrehen. Die Damen glaubten fest, daß für sie ankommende Briefe Gefahr laufen, eröffnet und unterschlagen zu werden, besonders wenn die Adressen von Männerhand geschrieben schienen. In der leichtesten Weise wurde Leuten die Ehre abgeschnitten. Ihm selbst sei es passiert, daß er unlauterer Beziehungen zu einem Stiftsfräulein bezichtigt wurde; auf seinen Eid aber könne er erklären, daß ihm nie etwas ferner gelegen habe. (Stürm. Heiterkeit.) Er habe schließlich seine Entlassung sung aus dem Dienst beim Stift nach 23jähriger Dienstzeit nachsuchen müssen.

Vors.: Halten Sie die Angeklagte der Tat für fähig?

Zeuge: Aus innerster Überzeugung muß ich sagen: Ja. Weiter bekundete der Zeuge: Die Oberin habe gewünscht, daß der zum Einreiben verordnete Franzbranntwein mit Salz versetzt werde, weil die Damen ihn sonst austrinken. (Große Heiterkeit.) Als er seinen Abschied nahm, haben die Stiftsfräulein ihm geklagt, daß sie nun ihren Beschützer verlieren; er habe sie aber mit dem Hinweis beruhigt, daß die Charaktereigenschaften der Vorsteherin ohnehin bald eine Katastrophe heraufbeschwören würden.

Darauf erschien als Zeuge der Oheim der Wagner, Ludwig Fetzer, Gerichtsdiener am Münchener Oberlandesgericht: Als er hörte, seine Nichte sei zur katholischen Kirche übergetreten, habe er gesagt: Dann sollte man sie lieber gleich erschießen, das sei aber nur eine so hingeworfene Redensart gewesen.

Vors.: Sie hatten nicht die Absicht, Ihre Nichte zu erschießen?

Zeuge: Gott bewahre. (Heiterkeit.)

Hofrat Dr. med Schroeder: Er sei seit dem Ausscheiden des Medizinalrats Dr. Stumpf Arzt im Maximiliansstift. Die Angeklagte sei als Vorsteherin die allerungeeignetste Person gewesen, zumal sie eine Abneigung gegen alle Krankheiten und gegen das Alter mit seinen Gebrechen hatte.

Vert.: Sie sollen selbst die Klagen der Stiftsdamen über das Essen für unberechtigt gehalten und wiederholt höhnisch gesagt haben: „Ja, die Damen müssen Austern, Fasanen, Forellen und Sekt bekommen?“

Zeuge: Herr Rechtsanwalt, in dieser Weise habe ich mich jedenfalls nie geäußert, das muß mißverstanden worden sein.

Angekl.: Das haben Sie bestimmt in der vom Herrn Rechtsanwalt vorgetragenen Weise mehrfach gesagt.

Zeuge: Ich bestreite das.

Eine Zeugin, die vor längerer Zeit im Stift bedienstet war, bekundete: Sie könne über die Angeklagte nur Gutes berichten. Sie war gut zu dem Dienstpersonal und gab den Armen viel. Auch sie (Zeugin) habe Geschenke von der Oberin erhalten.

Hafnergehilfe Georg Wagner, Bruder der Minna Wagner: Seine Schwester habe ihm geklagt, die Oberin habe ihr vorgehalten, daß sie, seitdem sie bei ihm (Zeugen) verkehre, ein „schlechtes Mensch“ geworden sei, und bei ihm mit einem „Kerl“ verkehre. Er habe davon nichts gemerkt, seine Schwester habe sich bei ihm gut aufgeführt. Später wurde von der Angeklagten auch behauptet, daß seine Schwester die Salzsäure selbst genommen habe, weil sie guter Hoffnung war.

Vors.: Und das hielten Sie auch für unberechtigt?

Zeuge: Jawohl, sie hat ja nie mit einem „Mannsbild“ was zu tun gehabt. (Heiterkeit.) Im weiteren bestätigte der Zeuge, daß sein Großvater vom Schlage getroffen worden sei, wann das war, ob am Firmungstage seiner Schwester, wisse er nicht.

Angekl.: Ich habe der Minna niemals nachgesagt, daß sie unmoralisch war.

Frau Wagner bestätigte die Angaben ihres Mannes.

Kammerfrau Maier hatte eine Reihe von Jahren im Stift gedient und war im allgemeinen mit der Angeklagten gut ausgekommen.

Vors.: Wie war es mit deren Wahrheitsliebe?

Zeugin: Gelogen hat sie wohl auch manchmal. Man hatte ja manchen Verdruß mit ihr. Mit den Stiftsdamen war aber auch schlecht auszukommen. Die eine hatte keine Zähne, die andere hatte noch einige, einer war das Fleisch zu hart, der anderen zu weich, der einen zu gesalzen, der anderen zuwenig, eine aß lieber Weißwürste, die andere wollte Filetbeefsteaks haben. (Heiterkeit.) Auf Befragen des Verteidigers gab die Zeugin noch an, daß manche der Damen aus Bequemlichkeit sehr üble Gewohnheiten hatten, die sich nicht näher wiedergeben lassen. Eine der Damen war eine große Katzenliebhaberin. Sie ließ die Fenster nie öffnen, weil sie fürchtete, die Katzen könnten sich erkälten. (Heiterkeit.)

Vert.: Ließ die Dame ihre Lieblingskatze nicht mit einem seidenen Sonnenschirm spazieren führen? (Heiterkeit.)

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vert.: Diese Katze soll, als sie gestorben war, feierlich beerdigt worden sein. (Heiterkeit.)

Zeugin: Das weiß ich auch nicht.

Vert.: Wissen Sie etwas von den unpassenden Tischgesprächen der Stiftsfräuleins, über die sich die Vorsteherin ärgerte?

Zeugin: Ich war nicht im Zimmer.

Vert.: Ein Fräulein soll gesagt haben: Gott sei Dank, ich bin nicht als Jungfer ins Stift gekommen.

Zeugin: Das hat uns die Vorsteherin erzählt.

Magistratsbeamtengattin Karl hatte den Namen der Minna Wagner in der Zeitung gelesen und sich erinnert, daß sie vor acht Jahren ein Dienstmädchen dieses Namens hatte. Sie habe sich darauf bei Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz gemeldet. Die Wagner sei lügenhaft und bösartig gewesen und habe ihr viel Verdruß in ihrer Ehe gemacht, so daß sie sie nach einigen Monaten aus dem Hause geschafft habe. Vorher habe sie den Onkel der Wagner, Herrn Fetzer, kommen lassen. Dieser habe das Mädchen „durchgehauen“ und ihr erzählt, daß die Minna eine Liebesaffäre am Südbahnhof hatte.

Gerichtsdiener Fetzer: Daß ich die Minna geschlagen habe, ist richtig. Sie war damals ein junges Mädchen chen und machte mir viel Verdruß, weil sie oft ihre Stellen wechselte. Den Angaben der Frau, die eifersüchtig war, habe ich ja nicht ganz geglaubt, ich gab der Minna aber ein paar, damit sie mal irgendwo länger bleibe. Von einer Liebesaffäre ist kein Wort über meine Lippen gekommen, ich weiß davon gar nichts.

Zeugin: Jawohl, das haben Sie gesagt.

Vors.: In welcher Art waren die Lügen der Wagner, waren es Notlügen oder Lügen bösartiger Natur?

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Verzeihung, ich habe in der Religionsstunde immer gelernt, daß jede Lüge verwerflich ist.

Vors. (zur Zeugin Karl): Können Sie uns sagen, welcher Art die Lügen waren?

Zeugin (sehr erregt): Nein, ich kann nur sagen: sie verstand, mich zu ärgern.

Staatsanwalt: Welche Anhaltspunkte haben Sie für den Umgang Ihres Mannes mit der Wagner?

Zeugin: Was mir die Leute gesagt haben.

Staatsanwalt: Sonst nichts?

Zeugin: Ja, sie hat es mir selbst gesagt. Als sie schon aus dem Hause war, kam sie wieder einmal zu mir und wollte von mir wieder in den Dienst genommen werden. Ich lehnte es aber ab, und da sagte sie mir, sie sei von meinem Mann schwanger. Ich verbot ihr die Schwelle.

Staatsanwalt: Hat Ihr Mann Ihnen auch mit anderen ren Frauen Verdruß bereitet?

Zeugin: Nein, nur mit der Minna.

Vert.: Das mit der Schwangerschaft ist also eine offenbare Unwahrheit gewesen.

Staatsanwalt: Das werden wir erst sehen. Bis jetzt ist der Vorfall noch nicht aufgeklärt.

Vert.: Vielleicht kann Herr Fetzer Auskunft geben, wo die Wagner noch in Stellung war, damit wir das mysteriöse Dunkel über das verlorengegangene Dienstbuch der Wagner lüften können. Mir stehen ja keine Schutzmannschaften zwecks Recherchen zur Verfügung.

Staatsanwalt: Nun, der Herr Verteidiger hat ja in Bernwied sehr wohl zu recherchieren gewußt.

Vert.: Das war auch danach. (Heiterkeit.) Sie sehen, wie mich das Publikum deswegen auslacht.

Vors.: Ich bemerke, daß allen Anträgen der Verteidigung von mir stattgegeben wurde.

Vert.: Das mußte ja geschehen. Aber im Vorverfahren wurde im Interesse der Verteidigung keine Ermittelung gemacht.

Die Zeugin Karl nannte sodann einige Adressen früherer Dienstherrschaften der Wagner. Das Gericht beschloß die Ladung der Zeugen, ebenso des Ehemanns Karl und einiger Eisenbahnbeamten, die der Minna Wagner gegenübergestellt werden sollen. Die Zeugin Karl wünschte entlassen zu werden.

Vors.: Nein, Sie müssen noch hierbleiben.

Zeugin: Ich muß doch aber nach Hause zu Mittag kochen. (Große Heiterkeit.)

Vors.: Das hilft nichts, Sie müssen noch bleiben. (Heiterkeit.)

Zeugin Lina Seitz: Ihr habe die Vorsteherin nachgesagt, daß sie sich mit Soldaten abgebe. Als sie sie deshalb zur Rede stellte, habe sie es abgeleugnet. Wenn man mit dem Ministerium drohte, bekam es Fräulein v. Heusler mit der Angst, und es war eine Weile besser. (Heiterkeit.) Von den Stiftsdamen habe die Angeklagte gesagt: „Die ganze Zeit lamentieren die ?alten Laster? über Krankheit, aber beim Fressen und Saufen merkt man nichts davon!“ (Heiterkeit.)

Kriminalschutzmann Anton Jailner bekundete, daß ihm bei seinen Ermittelungen berichtet wurde, es sei im Stift geäußert worden: „Der Minna Wagner werde man doch nichts glauben, denn sie sei Konvertitin.“ Wer das gesagt, ließ sich nicht feststellen.

Es folgte eine Reihe von der Verteidigung geladener Leumundszeugen. Diese bekundeten: Die Angeklagte habe sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen betätigt, für Arme Handarbeiten gemacht und das Bestreben gehabt, ihren Stiftsdamen eine Freude zu machen. Mehrere Ministerialräte aus dem Ministerium des Innern bezeichneten die Rechnungsführung der Angeklagten als musterhaft; einige Freundinnen hielten ten die Angeklagte für energisch, aber gutmütig.

Kapuzinerpater Coelestin aus Altötting sollte bekunden, daß Fräulein v. Heusler ihm nach einer Beichte erzählt habe, eines ihrer Mädchen sehe immer einen Hund mit feurigen Augen, und daß er erwidert habe, so etwas gebe es nicht.

Zeuge: Er erinnere sich dessen nicht, solche Sachen treten zu oft an ihn heran. Er müsse überhaupt sein Erstaunen aussprechen, daß man einen Priester wegen solcher Lappalie vor Gericht rufe.

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz (sehr heftig): Ich verbitte mir entschieden von einem Zeugen Vorhaltungen, was zur Würde der Justiz gehört und was nicht.

Vors.: Ich bitte, daß der Herr Verteidiger sich ruhig verhält; Sie haben den Zeugen nicht die Meinung zu sagen.

Ein älteres adliges Fräulein von 66 Jahren, eine Freundin der Angeklagten, bekundete als Zeugin: Sie halte die Angeklagte für zu brav und fromm, um eine solche Tat zu begehen.

Eine sehr große Anzahl weiterer Zeugen bekundete auf Befragen des Verteidigers, daß sie die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat nicht für fähig hielten. Eine Zeugin sagte: Die Oberin habe ihr einmal verboten, die Stiftsdamen zu bedienen. Die Oberin habe gesagt: „Die alten Laster können sich selbst die Stube aufwischen und heizen.“

Der jetzt 54jährige Magistratsbeamte Ludwig Karl bekundete als Zeuge: Seine vor ihm hier vernommene Gattin sei zehn Jahre älter als er. Die Wagner habe sich geneigt gezeigt, mit ihm ein Liebesverhältnis einzugehen, es sei aber nicht zum Ehebruch gekommen.

Die Wagner, die während der Verhandlung wiederholt Brechanfälle bekam, erzählte: Herr Karl, ihr Dienstherr, habe ihr nachgestellt, er habe sie aber nie erwischt.

Vors.: Minna Wagner, ist nicht Ihr Onkel zu Frau Karl gekommen und hat Ihnen ein paar Ohrfeigen gegeben?

Zeugin Wagner: Nein.

Vors.: Aber Ihr Onkel hat es selbst hier zugestanden.

Zeugin: Ich erinnere mich nicht.

Zeuge Fetzer: Erinnerst du dich denn nicht? Du hast ja bitterlich geweint und noch nach zwei Jahren zu meiner Frau gesagt, daß ich dich ungerecht geschlagen habe. Das kannst du doch nicht vergessen haben.

Zeugin Wagner: Es kann ja möglich sein, ich erinnere mich aber nicht mehr.

Es folgten darauf die Sachverständigengutachten. Professor Dr. med. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München): Die Minna Wagner machte einen normalen, wenn auch einen etwas zarten Eindruck mit vielleicht leicht etwas leichterer, nervöser Erschütterung. Sie hatte bereits vorher eine Magenerkrankung, so daß schon eine geringere Schädlichkeit eine erhebliche Störung verursachen konnte. In dem Kaffee waren 2 Gramm reine Salzsäure enthalten, die 0,7 Gramm Chlorwasserstoffsäure erzeugen. Beim Genuß von 12 Gramm tritt der Tod ein; 2 Gramm Salzsäure sind die Maximaldosis für Arzneien. Die genossene Menge überschreitet zwar nicht die ärztliche Dosis, aber die Menge wird dann nicht auf einmal genossen. Ein vollständig normaler Magen würde die Schädlichkeit des Giftes in schnellerer Zeit überwunden haben. Das unstillbare Brechen kann durch psychische Vorgänge beeinflußt werden. Es ist bekannt, daß das Brechzentrum von Vorstellungen leicht berührt werden kann. Ein eminent psychischer Choc und traumatische Erscheinungen haben dazu beigetragen, die Leiden zu steigern und einen Zustand zu schaffen, welcher die Heilung aufhält.

Bei der Angeklagten ist ein auffallender Mangel in den ethischen Funktionen vorhanden. Es ist erstaunlich, daß eine Dame ihres Standes und ihrer Erziehung sich fortwährend so roher Ausdrücke bedient hat. Es ist bei der Angeklagten ein so niedriger Grad von Intellekt vorhanden, wie er nicht gerade ihrem Stande entspricht. Ob der Mangel an Begabung schon an Schwachsinn grenzt, läßt sich so nicht beurteilen. Was die Frage anlangt, ob die Angeklagte boshaft ist, so muß ich zunächst eine auffallende Affekterregbarkeit feststellen. Die Hemmungen, welche bei normalen, wohlerzogenen Personen einzutreten pflegen, fehlen bei ihr. Festgestellt wurde in der Verhandlung eine Freude am Schaden anderer. Ich habe sehr wohl den Eindruck, daß die Angeklagte imstande war, einer anderen einen Possen zu spielen. Für ihren Mangel an Intelligenz spricht schon die Art ihrer Verteidigung: wenn eine Person, die unter so furchtbarer Anklage steht, sich so ungeschickt verteidigt.

Der zweite Sachverständige, Oberarzt im Kreis-Irrenhaus, Dr. Holterbach, stellte bei Fräulein v. Heusler auch einen geringen Grad von Intelligenz fest; dagegen fehle es an jedem Anhaltspunkt für die Annahme von Schwachsinn.

Landgerichtsarzt Medizinalrat Dr. Hoffmann: Er könne die Wagner weder für geisteskrank, noch für hysterisch, noch für trunksüchtig halten.

Die einzige Schuldfrage, die den Geschworenen vorgelegt wurde, lautete: „Ist die Angeklagte Elise v. Heusler schuldig, am 20. Juli 1902 der Krankenpflegerin Wilhelmine Wagner vorsätzlich, um sie an ihrer Gesundheit zu schädigen, Gift beigebracht zu haben?“

Es nahm alsdann am letzten Verhandlungstage das Wort Staatsanwalt Aull: Volle sieben Monate sind seit dem Tage der Vergiftung verflossen, und seitdem bis heute hat die Minna Wagner schwer zu leiden gehabt unter den Folgen der teuflischen Tat, die so freventlich in ihr Leben eingegriffen hat. Sie haben gehört, was die Wilhelmine Wagner für eine Person vordem gewesen ist: ein junges blühendes Mädchen, das den schweren Beruf der Krankenpflegerin gewählt hatte; ein Mädchen, das gespart und gesorgt hat für ihre alte, gichtbrüchige Mutter. Das Mädchen ist jetzt siech, und es liegt die Gefahr vor, daß sie dem Hungertode anheimfällt. Das arme Mädchen siecht nun seit sieben Monaten dahin, sie ist ohne Erwerb, den sie für ihre armen, alten Eltern so nötig hätte. Der Täter ist nur im Stift zu suchen. Die Stiftsdamen können nicht in Betracht kommen. Welchen Beweggrund sollten die alten Damen auch haben, einem so fleißigen, willigen, so überaus beliebten Mädchen Salzsäure in den Kaffee zu schütten. In Frage können nur zwei Personen kommen: entweder hat die Wilhelmine Wagner die Salzsäure sich selbst in den Kaffee getan, oder die Stiftsvorsteherin Elise v. Heusler war die Täterin. Wir wollen uns beide Persönlichkeiten näher ansehen, um zu betrachten, ob einer von ihnen eine solche Tat zuzutrauen ist. Wilhelmine Wagner kam als 13jähriges Mädchen zu Frau Düreck nach München in den Dienst. In der vierjährigen Dienstzeit hat sie sich dort das Zeugnis eines sehr braven, anhänglichen, chen, fleißigen, soliden Mädchens erworben. Und von dieser Dame, die ihr ein so vorzügliches Zeugnis ausgestellt hat, ist sie zu den Eheleuten Karl gekommen. Sie haben gehört, was Frau Karl über die Wilhelmine Wagner, von der wir bisher nur Gutes gehört haben, erzählt hat. Sie sagte: Die Wagner war boshaft, lügnerisch, unsittlich. Aber Frau Karl war nicht imstande, diese Behauptungen zu beweisen, nur allgemeine Verdächtigungen konnte sie vorbringen. Ich tue doch schon recht lange mit, aber ich muß sagen: Ein frivoleres Zeugnis, ein frivoleres Auftreten, wie das dieser Frau Karl, habe ich noch nie gesehen. Wort für Wort ihrer Aussage, behaupte ich, ist erlogen. Und darum habe ich Ihnen auch den Ehemann vorgeführt. Ich weiß nicht, welchen Eindruck dieser auf Sie, meine Herren Geschworenen, gemacht hat: auf mich den allerschlechtesten. Der Mann hat das Mädchen, das bisher in sittlicher Beziehung keinen Makel hatte, in gewöhnlichster Weise verleumdet. Ich habe darum, die Wilhelmine Wagner Ihnen nochmals vorgeführt. Sie hat in offener, ehrlicher Weise Auskunft gegeben. Und da sage ich: Der Ehemann Karl hat an dem 17jährigen Mädchen nichts weiter als einen ganz gemeinen Notzuchtsversuch unternommen. Von Karl kam die Wagner auf eine andere Stelle. Dort blieb sie ein Jahr und wurde wieder als brav und gut geschildert. Glauben Sie, daß ein Mädchen, das vorher unsittlich war, so schnell sich wieder im Charakter ändert? Aus dieser Stelle entließ man sie ungern. Auch auf ihrer nächsten Stelle im Josephspital war man mit ihr zufrieden. Sie konnte dort nicht bleiben, weil sie selbst krank war, aber die Oberin empfahl sie weiter, und so kam sie ins Stift. Hier war sie auch bei allen bis auf eine beliebt. Ich glaube, das genügt. Wenn wir alles zusammennehmen, so müssen wir sagen: Minna Wagner war ein ruhiges, braves, solides Mädchen. Sie verdient, daß man ihr Glauben schenkt. Die andere Person, die in Frage kommt, ist die Elise v. Heusler. Von deren Vergangenheit wissen wir nicht viel, es interessiert uns auch wenig. Wir wissen nur von ihr, daß sie vorher Haushälterin im adeligen Stift war und dort hinausgetan wurde wegen ihres bösen Mundes, wegen dessen sie in der ganzen Ludwigstraße bekannt war. Dann kam sie ins Maximilianstift. Dieses soll alten unversorgten Damen Versorgung gewähren, beitragen, deren Lebensabend zu verschönern. Als Zweck heißt es in den Statuten: es solle den Damen ein friedliches Dasein gewähren, und die Damen sollen die Pflicht haben, in friedlicher Nachsicht und christlicher Geduld dahinzuleben. Die Angeklagte hat alle anderen als die dafür geeigneten Eigenschaften zur Leitung des Stiftes mitgebracht. Mit demselben Augenblick zog dort Verdruß ein. Sie wird von allen Seiten als boshaft, herrschsüchtig, gefühls- und gemütsroh, mütsroh, jähzornig, leidenschaftlich geschildert. Diese Person mit solchen Eigenschaften steht an der Spitze eines Versorgungsheims! Wie diese Versorgung war, haben wir ja gehört. Statt Frieden fanden die alten Damen eine Hölle. Sie werden schon alle die Erfahrung gemacht haben, daß solche Personen dazu neigen, nach außen den Anschein eines gottesfürchtigen, opferwilligen Lebens zu erwecken, um diejenigen, die mit ihnen nur oberflächlich in Berührung kommen, über ihren wahren Charakter zu täuschen. Die Angeklagte ging fleißig in die Kirche und hielt die Dienstboten dazu an. Aber innerhalb der vier Mauern des Stifts! Wo war da die christliche Nächstenliebe, die liebevolle Nachsicht, die christliche Geduld? Wie hat sie die Schwächen der alten Damen behandelt? Meisterhaft war sie in der Kunst des Ehrabschneidens. Allen Stiftsdamen sagte sie etwas nach. Die Protektorin des Stiftes ist eine königliche Hoheit – ich nenne den Namen nicht, er ist ja schon wiederholt erwähnt worden. Diese hohe Protektorin hat von der Angeklagten viel gehalten, auch noch, nachdem sie unter dem dringenden Verdacht, einen Giftmordversuch begangen zu haben, verhaftet war, hat sie ihr zum Zeichen des Vertrauens einen Brief und Eßwaren ins Gefängnis geschickt. Und dieser hohen Dame sagte die Angeklagte nach: „Die kümmert sich ja nicht um das Stift, die hat ja dazu keine Zeit, denn sie hält es mit ihrem Hausarzt.“ Ich enthalte mich jeden Urteils. Mich ekelt der Charakter der Angeklagten an. Nach allem, was wir über die Angeklagte gehört haben, können wir sagen: Wenn je ein Indizienbeweis schlüssig gewesen ist, so ist es dieser. Es reiht sich Kette an Kette, es besteht keine Lücke. „Beten Sie nur für mich recht fleißig, damit’s schön ausgeht, und wir wallfahrten nach Altötting,“ sagte die Angeklagte zur Butzmann. Sie hatte das Beten auch sehr nötig. Aber wir haben hier nicht zu fragen, wie die Angeklagte vor Gott ihr Gewissen entlastet. Hier haben wir abzuurteilen über den frevelhaften Eingriff in das Leben eines armen Dienstmädchens, das der Angeklagten treu gedient hatte. Es ist ein ganz verfehlter Versuch, die Angeklagte als „saudumme“ Person hinzustellen. In ihrer Verteidigung hat sie sich als ganz raffinierte Person erwiesen. Ihre Taktik war, alles abzuleugnen. Wenn sie schließlich die rohen Äußerungen zugab, so hat sie das nicht aus eigenem Antrieb getan, sie ist erst dazu gekommen nach vorhergegangener Belehrung von einer bestimmten Seite (Bewegung). Der Staatsanwalt schloß, indem er die Erwartung aussprach, daß die Geschworenen die Angeklagte der schweren Körperverletzung, begangen durch Vergiftung, schuldig sprechen werden.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Meine Herren Geschworenen! Die Anklage baut sich auf Indizien dizien auf und benutzt die Psychologie in einer Weise zur Stütze, wie ich es noch nicht erlebt habe. Die Anklage führt als wichtigstes Indizium in erster Reihe an, daß die Angeklagte den Abort abschloß, bevor sie zur Kirche ging. Ich halte das gerade für ein entlastendes Moment. Die Salzsäure war wochenlang schon im Abort aufbewahrt. Wenn die Angeklagte nach der Tat schnell noch vor dem Weggang den Abort zuschloß, so lenkte sie ja den Verdacht auf sich. Also aus diesem Umstand des Abschließens kann bei einem normalen Menschen nichts Verdächtiges gefolgert werden. Ein weiteres Indizium ist das Motiv. Gewöhnlich ist man bei uns froh, wenn man ein Motiv hat. Die Anklage hat gleich drei, und der Staatsanwalt präsentiert sie uns zur Auswahl. Da kann man auf die Vermutung kommen, daß sie alle drei nichts taugen. Ich halte es für absurd, daß ein normaler Mensch, bloß um die Oberin des Krankenhauses, die die Wagner empfohlen hatte, nicht zu verletzen, ein Dienstmädchen vergiftet. Das zweite Motiv soll darin liegen, daß sie Verdruß bei den Damen gefürchtet habe, wenn sie die Wagner durch Kündigung aus dem Hause schaffte. Damit kommt die Anklage mit sich selbst in Widerspruch. Denn wie ein roter Faden zieht sich durch die Anklage, daß die Angeklagte herrschsüchtig, rücksichtslos sei. Und da soll sie sich mit einem Male vor den alten Damen gefürchtet haben. Ich bin auch der Meinung, daß die Angeklagte böse, herrschsüchtig ist. Darum aber auch trifft dieses Motiv nicht zu. Als drittes Motiv wird angenommen, die Angeklagte habe sich gefürchtet, daß die Wagner ins Ministerium gehen und angeben werde, was die Angeklagte über die Liebschaften der Stiftsdamen usw. ihr erzählt habe. Ich gebe zu, daß dies Indizium ausreichend wäre, wenn die Anklage auf Mord lautete. Um zu verhindern, daß jemand etwas anzeige, muß man ihn aus der Welt schaffen. Dazu reichte aber die Dosis Gift nicht aus, und das nimmt ja auch die Anklage nicht an. Darum ist auch das dritte Motiv unlogisch. Die Indizien können weder im einzelnen noch zusammen die Anklage stützen. Sie machen knapp die Möglichkeit aus, daß die Angeklagte die Tat begangen haben könne. Diese Möglichkeit liegt aber auch für alle anderen Hausbewohner vor. Da diese Indizien gar nichts ausmachen, hat man die Psychologie angezogen, wie noch in keinem Falle. Weil der Stoff für einen Rock nicht ausreichte, hat man ein Paar Hosen daraus angefertigt. In den Lehrbüchern der Kriminalpsychologie nennt man das ein Verrennen auf einen Seitenweg. Nach der Schilderung des Staatsanwalts ist die Angeklagte ein Satan in Menschengestalt, wie er nicht scheußlicher gedacht werden kann. Ich glaube, daß sie ein Mensch war mit großen, sehr großen Schwächen, aber auch großen Tugenden. Der ganze Entlastungsbeweis ist spurlos an dem Ohr des Herrn Staatsanwalts verhallt. Ich finde es unbegreiflich vom Herrn Staatsanwalt, daß er gegen diese so gut beleumundeten Eheleute Karl die schweren Vorwürfe erhoben und abwesende Zeugen, die sich nicht verteidigen können, beleidigt hat. Hier steht Eid gegen Eid. Wer hat denn ein größeres Interesse an dem Prozeß? Die Karls oder die Wagner? Aus dem ganzen Gang der Untersuchung habe ich den Eindruck gewonnen, daß es mit der Wahrheitsliebe der Wagner nicht so einwandfrei bestellt ist, wie sie der Staatsanwalt hingestellt hat. Die Aussagen der Karls werden durch andere Aussagen unterstützt. Aber der Herr Staatsanwalt mißt mit zweierlei Maß. In dem Leben der Wagner zeigen sich so viele merkwürdige Vorkommnisse wie da ist, die Erzählung über das verschwundene Dienstbuch mit den angeblich guten Dienstzeugnissen, die Geschichte mit dem Hund, der ihr einmal erschienen, ist usw. Sie hat Geistererscheinungen, immer Erzählungen mit mystisch-religiösem Beigeschmack erwähnt, bloß um Aufsehen zu erregen und sich interessant zu machen. Nehmen wir an, das Mädchen habe die Salzsäure getrunken, um sich interessant zu machen. Ist das etwas anderes, als alle die anderen Geschichten? Sie kannte die Wirkung der Salzsäure. Das Quantum kann ein gesunder Mann ohne Nachteile mit zwei Schluck einnehmen. Sie hatte nur nicht mit ihrem schwachen Magen gerechnet. Wenn Sie die Angeklagte schuldig sprechen, trifft sie eine furchtbare Strafe, dieser Paragraph kennt keine mildernden Umstände. Mit einem Schuldspruch vernichten Sie die Existenz dieser Frau, die in Ehren grau geworden und im Leben schwer gearbeitet hat. Ich halte eine Verurteilung bei dem mangelhaften Beweismaterial für unmöglich. Wenn Sie aber der Meinung sein sollten, daß die Angeklagte es getan hat, so kommt es auf das „um“ an. Sie mögen ja annehmen, daß die Angeklagte der Wagner einen Possen habe spielen wollen; wenn Sie aber verneinen, daß es in der Absicht geschehen, sie an der Gesundheit zu schädigen, so erfolgt zwar Freisprechung, die Wagner hat aber einen zivilrechtlichen Anspruch an die Angeklagte. Sie verliert damit ihr kleines Vermögen und Heim, das würde doch schon eine sehr große Sühne sein – wenn sie es wirklich getan haben sollte. (Die Angeklagte rief: Doch nicht, ich bin unschuldig, bei Gott im Himmel!)

Die Geschworenen traten nach Mitternacht in Beratung. Nach einer halben Stunde traten die Geschworenen wieder in den Saal. Der Obmann verkündete: Die Geschworenen haben die Schuldfrage bejaht.

Staatsanwalt Aull beantragte eine Zuchthausstrafe von 7 Jahren und 10 Jahre Ehrverlust.

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz bat um eine mildere Strafe.

Angekl. v. Heusler: I' bitt’ Sie, i’ bin unschuldig.

Der Gerichtshof verurteilte die Angeklagte zu 6 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust. Händeringend beteuerte die Angeklagte nochmals, unschuldig zu sein. Mehrere alte Damen drückten ihr zum Abschied die Hand, als sie, stolz aufgerichtet, sich abführen ließ. Die Sitzung schloß um 1/22 Uhr nachts. Vor dem Justizpalast hatten sich große Menschenmassen angesammelt, die begierig auf das Urteil warteten, das vielfach große Befriedigung erregte.

Als die Angeklagte im verschlossenen Gefangenenwagen nach dem vom Justizpalast entfernt gelegenen Untersuchungsgefängnis transportiert wurde, johlte und pfiff die Menge und bewarf den Gefangenenwagen mit Steinen.

Die gegen das Urteil eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen.

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz, betrieb unablässig und schließlich auch mit Erfolg das Wiederaufnahmeverfahren. Elise v. Heusler war außerdem vom Zivilgericht verurteilt worden, an Minna Wagner 3000 Mark Entschädigung zu zahlen. Das Urteil ist aber nicht rechtskräftig geworden. Inzwischen war Minna Wagner gestorben. Auf Antrag des R.-A. Dr. v. Pannwitz wurde die Leiche der Wagner seziert. Die Sektion ergab, daß in der Leiche eine Salzsäurevergiftung nicht gefunden wurde. Die Brechanfälle, so erklärten die Ärzte, müsse die Wagner simuliert haben; von Salzsäure sei im Körper keine Spur vorhanden gewesen.

Auf Beschluß des Bayerischen Oberlandesgerichts wurde das Wiederaufnahmeverfahren beschlossen und Elise v. Heusler im November 1905 aus dem Zuchthause entlassen. Sie hatte also 7 Monate in Untersuchungshaft und 2 1/2 Jahre im Zuchthause zugebracht. Am 25. Oktober 1906 hatte sich Elise v. Heusler im Wiederaufnahmeverfahren nochmals vor dem Schwurgericht des Landgerichts München I zu verantworten.

Die Angeklagte war inzwischen 58 Jahre alt geworden. Sie sah stark gealtert aus. Die Spuren des zweieinhalbjährigen Aufenthalts im Zuchthause waren auf ihrem Gesicht unverkennbar. Sie war schlicht gekleidet und brach auf der Anklagebank wiederholt in Tränen aus, während sie in der ersten Verhandlung eine große Ruhe zeigte. Die Angeklagte versicherte auf Befragen des Vorsitzenden unter heftigem Weinen, daß sie unschuldig sei. Sodann äußerte sich die Angeklagte über die Minna Wagner. Die Wagner habe getrunken, obwohl sie nach ihrer eigenen Angabe einen schlechten Magen gehabt habe. Wiederholt seien viele Flaschen Bier leer gewesen, und da sie die Wagner im Verdacht hatte, die Flaschen schen ausgetrunken zu haben, machte sie ihr Vorhaltungen. Daß die Wagner daraufhin gedroht habe, sich im Ministerium über die Angeklagte zu beschweren, sei unwahr. Sie könne sich nicht mehr an lieblose Äußerungen erinnern, die sie über die Wagner sowie über Stiftsdamen getan haben solle. Des weiteren äußerte die Angeklagte den Verdacht, daß die Wagner im Komplott mit der Stiftsdame Lotz gehandelt habe, mit der sie (Angeklagte) verfeindet war, weil sie der Lotz verboten hatte, unanständige Gespräche bei Tisch zu führen.

Köchin Marie Holzapfel bekundete als Zeugin: Sie war bei dem Ingenieur Lippmann bedienstet, als die Minna Wagner von diesem aus Mitleid als Dienstmädchen aufgenommen wurde. Die Wagner zeigte sich bald sehr naschhaft und verlogen. Eines Tages hatte sie einen Streit mit ihr. Nachts darauf wurde sie (Zeugin) von ihrem Dienstherrn geweckt, sie solle die Gashähne schließen, die von der Wagner geöffnet worden seien. Ein anderes Mal soll die Wagner eine Suppenschüssel mit Petroleum beschmiert haben.

Die Feststellung des Verteidigers, daß drei Wochen vor dem kritischen Tage im Stift auf Rechnung von drei Stiftsfräuleins 241 Flaschen Bier getrunken worden seien, erregte allgemeine Heiterkeit.

Alsdann wurde die 64 Jahre alte, sehr gebrechliche Stiftsdame Neudegger vernommen, die an das bayerische sche Ministerium eine Eingabe zugunsten der Angeklagten gerichtet hatte. Es hieß in der Eingabe: Es sei unerhört, daß man annehmen könne, die Oberin v. Heusler hätte die Tat begangen.

Die Angeklagte erklärte zu der Eingabe, sie selbst habe die Zeugin gebeten, dem Ministerium alles mitzuteilen, weil sie selbst doch nicht in eigener Sache schreiben konnte. Was die Zeugin zu schreiben hatte, habe sie ihr nicht gesagt.

Eine weitere Zeugin bekundete: Eine Stiftsdame habe mit Vorliebe ihren eigenen Kot in die Hand genommen, im Zimmer herumgetragen und anderen Damen unter die Nase gehalten. Ferner soll eine Dame bei Tisch zu einer anderen gesagt haben: „Sie haben aber heute ein mächtiges Vorgebirge!“ Eine andere Zeugin erklärte: Ein Stiftsfräulein sei als große Freundin von Likören und Schnaps bekannt gewesen; auch sei davon gesprochen worden, daß die Stiftsdamen gern Bier tranken. Es seien auch wiederholt Reibereien zwischen der Angeklagten und den anderen Damen vorgekommen. Eine von den Stiftsdamen habe ein Tagebuch über ihre Streitigkeiten mit der v. Heusler geführt.

Der Referent im Ministerium des Innern, Regierungsrat Dr. Castor, bekundete: Die Angeklagte sei nicht liebevoll im Sinne christlicher Nachsicht und Geduld, wie es den Grundsätzen des Maximilianstiftes tes entspreche, mit den meist hochbetagten Damen verfahren, sondern roh, unfreundlich, heftig und hart zu ihnen gewesen. Das Verhalten der Angeklagten habe Anlaß gegeben, sie mehrfach zu verwarnen.

Fräulein Lotz, die, da sie krankheitshalber nicht erscheinen konnte, kommissarisch vernommen war, hatte bestätigt, daß sie der v. Heusler sofort am selben Abend von der Erkrankung der Wagner Mitteilung gemacht und dabei den Verdacht geäußert hatte, jemand müsse der Wagner etwas in den Kaffee getan haben. Die Anklage hatte es nämlich als auffallend bezeichnet, daß die Angeklagte zuerst und von selbst von Kaffee und Salzsäure gesprochen habe, ohne daß zu ihr jemand vorher von dem Kaffee der Wagner gesprochen hätte.

Der Arzt, der die Wagner zuerst behandelt hatte, bekundete: Er habe nur festgestellt, daß eine Vergiftung vorliege; er habe aber nicht konstatiert, daß es sich um eine Salzsäurevergiftung handle.

Der Krankenhausarzt bekundete: Er habe nicht den Eindruck einer schweren akuten Vergiftung gehabt; er nahm an, daß es sich zum großen Teil um nervöse Erscheinungen handelte.

Apotheker Dr. Rapp: Er habe den von der Wagner ins Krankenhaus mitgebrachten Kaffeerest untersucht; dieser habe zwanzigmal soviel Salzsäure enthalten, wie man vertragen könne.

Eine Zeugin erklärte: Die Wagner sei eines Meineids fähig gewesen. Einige Zeugen schilderten die Angeklagte als fleißig und zuverlässig, andere als klatschsüchtig, zänkisch und verlogen.

Medizinalrat Dr. Stampf, ehemaliger Hausarzt des Stifts, bekundete: Er hatte den Eindruck, daß die Angeklagte eine sinnliche Person mit perverser Veranlagung sei, Einzelheiten, auf die sich diese Annahme stützte, vermag er nicht anzugeben.

Hofrat Dr. med. Schröder hatte die Angeklagte in einem Berichte als leidenschaftlich, herrschsüchtig, lügenhaft und unzuverlässig bezeichnet. Er halte dieses Urteil, obwohl er es im einzelnen nicht mehr zu begründen vermag, aufrecht.

Es folgte sodann die Vernehmung der medizinischen Sachverständigen. Universitätsprofessor Dr. Schmidt-München: Er habe Minna Wagner operiert, und zwar 1903 kurz nach der ersten Gerichtsverhandlung. Es wurde eine deutliche Verengerung des Magenausgangs festgestellt; aber es fiel gleich auf, daß keine Spur von einer Verätzung vorhanden war. Auffallend war ferner, daß die Wagner erbrach, ohne über Magenbeschwerden zu klagen. Bei einer späteren Bauchöffnung wurde eine Verschiebung im Dickdarm gefunden. Nach Beseitigung dieses Übelstandes erholte sich die Wagner sehr schnell. Verletzungen an der hinteren Magenwand waren nicht vorhanden; das spreche dafür, daß der angeblich vergiftete Kaffee nicht geschluckt worden sei. Wenn die Wagner die Salzsäure heruntergeschluckt hätte, würde sie unmöglich bis zum nächsten Morgen auf den Arzt gewartet haben, weil die Salzsäure unsägliche Schmerzen verursache.

Als Todesursache der Wagner gab Prof. Dr. Meyer-München eine große Eiterung der Bauchhöhle an, die bis zu den unteren Extremitäten gegangen sei. Erscheinungen von Vergiftungen wurden nicht festgestellt, nur eine schwere Infektion infolge eines Magenleidens.

Dr. med. Müller schilderte Minna Wagner ebenfalls als wenig wahrheitsliebend. Einmal sei sie betrunken heimgekommen.

In der Hand hatte sie eine Puppe, die in der einen Hand einen Rosenkranz, in der anderen eine Giftflasche mit einem Totenkopf hatte. „Das ist die Heusler“, sagte sie, auf die Puppe weisend.

Das Dienstmädchen Sommer bekundete, daß die Wagner oft Blutspucken simuliert habe. Auch habe sie sich Heftpflaster auf das Gesicht geklebt und behauptet, sie hätte die Gesichtsrose.

Schwester Frosch-Feuchtwangen: Mehrere Kranke haben ihr erzählt, die Wagner habe sie mit Ohrfeigen bedroht für den Fall, daß sie verraten würde, wenn sie heimlich Speisen zu sich nehme.

Kaufmann Gmöhling (Feuchtwangen): Die Wagner habe sich, nachdem sie von der ersten Verhandlung zurückgekehrt war, ein Faß Wein und später noch ein Faß Äpfelmost aus München kommen lassen. Beide Fässer seien auffallend schnell leer geworden. Die Wagner habe oftmals Krampfanfälle gehabt.

Zeugin Butzmann war in der ersten Verhandlung eine der Hauptbelastungszeuginnen. Sie war über 18 Jahre lang Wäscherin im Stift.

Vors.: Die Angeklagte soll öfter gefragt haben, ob der Wagner denn gar nichts fehle, daß sie herauskommen könne. Haben Sie das der Wagner wiedererzählt?

Zeugin: Ja. Ich sagte ihr auch, sie solle gehen; sie antwortete: Weshalb denn? Es sei ja kein Anlaß dazu da. Einmal sagte ich zur Angeklagten: „Das war doch eine teuflische Rache.“ Darauf erwiderte die Angeklagte: „Sie glauben wohl, ich bin es gewesen?“ Im Garten sagte die Angeklagte einige Tage später zu mir: „Beten Sie nur recht tüchtig, daß die Geschichte gut ausgeht.“ Sie bekommen etwas Schönes, wir gehen dann nach Altöttingen wallfahrten.

Ingenieur Lippmann, früher in München, später Lehrer an der Kgl. Maschinenbauanstalt in Köln, bekundete: Ich habe unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung Mitleid mit der Wagner empfunden und sie in meinen Haushalt genommen, wo sie mit leichter Hausarbeit und der Beaufsichtigung meines damals zweijährigen Kindes beschäftigt wurde. Sie machte zunächst einen sehr bescheidenen Eindruck und bedankte sich herzlich. Statt aber am 16. den Dienst anzutreten, kamen ihre Sachen erst acht Tage später, und es hieß, sie selbst habe eine falsche Bahn benutzt. Endlich erschien sie am 27. und sagte, sie hätte an einem Magenübel gelitten, während Justizrat Feust mir geschrieben hatte, sie sei vor Freude krank. Schon am Tage, nachdem sie eintrat, wurde das Fehlen von Lebensmitteln bemerkt, obwohl sie erklärt hatte, sie dürfe gar nichts essen. Eines Tages kam sie vom Dr. Decker zurück und erklärte, sie dürfe jetzt wieder alles essen, solle viel Bier trinken und Saures essen. Dabei war sie sechs Stunden weggewesen und roch nach Schnaps. Als Entschuldigung gab sie an, der Doktor habe ihr etwas eingegeben, was so sauer gerochen habe. Auf der Straße habe sie sich übergeben müssen; da sei ein Schutzmann zu ihr herangetreten und habe gesagt: „Fräulein, führen Sie sich doch anständig auf!“ Sie habe geantwortet: „Ich bin ja die Minna Wagner,“ da habe der Schutzmann nichts weiter gesagt. Meine Frau telephonierte dann an den Doktor Decker und erfuhr, daß alles nicht wahr sei. An demselben Tage hatten wir eine Gesellschaft. Schon bei der Zubereitung der Speisen bemerkte meine Frau im Spinat und im Gelee Fingerspuren. Die Wagner wurde deshalb früh zu Bett geschickt, hatte aber vorher noch Streit mit der Köchin. Nach der Gesellschaft schloß ich alle Gashähne und untersuchte selbst noch einmal überall, ob das Gas auch wirklich abgedreht sei. Als ich schon halb im Schlaf lag, nach etwa einer halben Stunde, weckte mich meine Frau mit dem Bemerken, daß es stark nach Gas rieche. Als ich in die Küche trat, roch ich nicht nur das Gas, sondern hörte es auch ausströmen. Ich weckte die Köchin. Den Gasometerschlüssel mußte ich erst lange suchen, so daß ich den Eindruck hatte, als ob er versteckt sei. Am nächsten Morgen, als ich die Gashähne wieder öffnete, leuchtete, wie ich durch eine Glasscheibe sofort bemerkte, die Flamme im Zimmer der Wagner, die einen Selbstzünder hatte, hell auf. Meine Frau und ich beschlossen deshalb schon nach einer Woche und einem Tage, uns der Minna Wagner ohne Aufsehen zu entledigen.

Vors.: Wurden der Wagner nicht Vorhaltungen gemacht?

Zeuge: Von uns nicht, aber von der Köchin. Die Wagner entgegnete, dergleichen könne wohl auch von selbst vorkommen und sei auch im Krankenhause vorgekommen. Sie könne einen Eid leisten, daß sie nichts angerührt habe. Die Köchin, die schon jahrlang bei uns ist, ist außerordentlich zuverlässig.

Vert.: Wie charakterisieren Sie die Wagner?

Zeuge: Ich hielt die Wagner für eine boshafte Närrin. rin. Ich traute ihr nach meinen Erfahrungen durchaus zu, daß sie selbst die Salzsäure in den Kaffee getan hatte.

Der praktische Arzt Dr. Decker, München, bekundete als Zeuge: Er habe Minna Wagner nach der ersten Schwurgerichtsverhandlung 23 Monate lang behandelt. Das fortwährende Erbrechen habe schließlich in ihm den Verdacht erweckt, als ob die Wagner vor den anderen Kranken mit ihrer Krankheit paradieren wollte. Durch die Magenausspülungen sei mehrfach festgestellt worden, daß sie Speisen entgegen den ärztlichen Verordnungen genossen habe; trotzdem leugnete sie es. Am 31. Januar 1905 ist sie an einer Eiterung im Unterleib gestorben. Was meine Beobachtungen über den Charakter der Minna Wagner anbetrifft, so war mir von Anfang an ihr scheuer Blick, ihr hinterlistiges und tückisches Wesen durchaus unsympathisch. Aber ich war damals viel zu fest davon überzeugt, daß sie das unschuldige Opfer einer verbrecherischen Tat war, als daß ich diesem ersten äußeren Eindruck besonderen Wert beigelegt hätte. Erst die Kenntnis des wahren Charakters der Wagner zwang mich zu einer anderen Annahme. Im Krankenhaus gab sie in der ersten Zeit zu Klagen keinen Anlaß. Erst später lernte ich ihre große Lügenhaftigkeit kennen. Ich merkte, daß sie Alkoholikerin war, die Verordnungen nicht beachtete und es ihr darauf ankam, nicht gesund zu werden. Als sie mir die Geschichte erzählte, daß ein Schutzmann sie auf der Straße wegen ihres Brechens angehalten hätte, wandte ich mich an den Polizeipräsidenten und ließ durch ihn die gesamte Schutzmannschaft befragen – keinem Beamten war von einem solchen Vorfalle etwas bekannt. Mit dem Nachweis ihrer Lügenhaftigkeit tauchte in mir der Gedanke auf, ob sie nicht auch vor Gericht einen Meineid geleistet hätte. Als ich nun die Vorfälle bei Lippmann erfuhr, das Öffnen der Gashähne und die Petroleumaffäre, da war mir das letzte Glied der Beweiskette geschlossen, daß Minna Wagner eine ganz andere sei, als sie in der vorigen Verhandlung erschienen war. Deshalb habe ich am 19. Dezember 1904 unter Darstellung aller dieser Umstände dem Staatsanwalt persönlich den Antrag auf Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens unterbreitet.

Als nächster Zeuge erschien Pater Burckardt. Über das, was die Wagner ihm in der Beichte gesagt habe, verweigere er unter Berufung auf den Schutz des Beichtgeheimnisses die Aussage. Aber auch alles andere, was er mit der Verstorbenen, gesprochen habe, falle in den Rahmen des Vertrauens. Er sei nach einer Gerichtsentscheidung nicht gezwungen, darüber nähere Bekundungen zu machen.

Staatsanwalt und Verteidiger verzichteten hierauf auf die weitere Vernehmung des Zeugen.

Oberinspektor Georg Zapf (Pasing bei München): Er kenne die Angeklagte seit 40 Jahren. Sie sei stets gutmütig, wohltätig und opferwillig gewesen.

Eine weitere Zeugin war Dienstmädchen Maier: Sie sei Dienstmädchen im Maximilianstift gewesen: An dem vielen Verdruß, den es im Stift gegeben, haben die Stiftsdamen selbst Schuld gehabt. Die Stiftsdamen haben alle Bemühungen der Oberin mit Undank gelohnt.

Vors.: Wie kommt es, daß Sie das in der vorigen Verhandlung nicht gesagt haben?

Zeugin: Als ich bei dem Herrn Untersuchungsrichter vernommen wurde, sagte mir dieser: Sie können der Heusler als Zeugin doch nicht helfen, die ist so gut wie überführt. Ich habe deshalb nicht erst viel in der vorigen Verhandlung gesagt. (Große anhaltende Bewegung und Ausrufe des Erstaunens im Zuhörerraum.)

Im ferneren Verlauf der Verhandlung kam zur Sprache, daß das Maximilianstift „Drachenburg“, auch „Eulenburg“ im Volksmunde hieß.

Sodann bekundeten mehrere Zeugen, daß die Wagner viel getrunken habe; ein halbes Maß habe sie in ein bis zwei Zügen geleert. Auf Vorhaltungen, die ihr wegen des reichlichen Alkoholgenusses gemacht wurden, habe sie erwidert, sie könne alles vertragen, denn Dr. Decker habe ihr bei der Operation eine Schweinsschwarte schwarte in den Magen genäht. Ferner wurden einzelne Vorfälle erzählt, aus denen hervorging, daß die Wagner andere Leute ohne Grund ins Gerede brachte, es aber bestritt, wenn sie deswegen zur Rede gestellt wurde. Wegen ihrer Neugier und Klatschsucht gab man ihr in Schönau bei Berchtesgaden, wo sie nach dem ersten Prozeß in dem Hotel von Zeller beschäftigt war, die Beinamen „Spitzel“ und „Hausreporter“.

Eine Zeugin, die kommissarisch vernommen worden war, hatte bekundet: Die Wagner habe ihr einmal erzählt, im Krankenhaus habe sie bemerkt, daß der Arzt mit einer Schwester nähere Beziehungen habe. Sie habe deshalb lauschen wollen, ob die beiden geschlechtlich miteinander verkehren. Sie habe den Kopf zwischen zwei Latten gesteckt, dann aber beim Lauschen den Kopf nicht mehr herausbekommen, so daß man ihr zu Hilfe kommen mußte.

Alsdann wurde erwähnt, daß die Wagner sich in einen Burschen, den „Loisl“, verliebt und versucht habe, ihn einem anderen Mädchen abspenstig zu machen.

Gerichtsdiener Ludwig Fetzer, Oheim der Minna Wagner, bekundete: Seine Nichte sei ein fleißiges, tüchtiges und ordentliches Mädchen gewesen. Es kamen zwar hie und da Klagen von einer Dienstherrschaft, aber das sei ja immer so bei jungen Mädchen. Dagegen habe er sich über seine Nichte geärgert, als sie zum Katholizismus übertrat.

Vors.: Sie sollen davon gar nichts gewußt haben.

Zeuge: Ich habe keine Silbe davon gewußt. Ich kam eines Tages ins Franz-Joseph-Stift; da sagte mir die Oberin: Der Übertritt sei schon vollzogen, meine Nichte eigne sich wie kaum eine andere für eine Schwester, und Gott habe es so gewollt. Auf dem Korridor kam mir meine Nichte entgegen und rief mir zu: Onkel, ich bin schon katholisch geworden. Ich antwortete ganz bestürzt: „Mädel, dann schieße ich dich tot.“

Vors.: Ihre Nichte hat verschiedenen Leuten erzählt, Sie hätten vor der Bonifaziuskirche auf sie geschossen und wären deshalb zu 200 Mark Geldstrafe verurteilt worden.

Zeuge: Das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Ich weiß natürlich nichts davon, denn auf eine solche Schießerei stehen doch ganz andere Strafen wie 200 Mark Geldstrafe. Über die Heusler hat mir meine Nichte mehrfach geklagt. Als ich sie im Krankenhaus besuchte, äußerte sie den bestimmten Verdacht, daß die Heusler ihr Salzsäure in den Kaffee getan habe. Über die Behandlung im Krankenhause führte meine Nichte ebenfalls lebhafte Klage. Sie sei wie eine Selbstmörderin behandelt worden; der Medizinalrat habe ihr gesagt, wie sie nur annehmen könne, daß eine Oberin so etwas tun werde. Dagegen war sie über die Behandlung bei Dr. Decker voll des Lobes. Vor der Operation ging ich zu Dr. Decker und fragte, ob er Gewähr dafür bieten könne, daß die Operation gelingen werde. Dr. Decker wies mich barsch ab. Ich habe deshalb meiner Nichte geraten, sich nicht operieren zu lassen. Bei der Rückkehr von Berchtesgaden war meine Nichte bis ins Herz hinein verdorben. Sie trank von da ab und äußerte sich despektierlich auch über mich. Sie sprach von Heiratsabsichten auf einen gewissen Loisl, in den sie verliebt war. Sie klagte in der letzten Zeit über brennendes Durstgefühl, sie habe Hunger wie ein Wolf, und wenn sie gegessen habe, müsse sie sich sofort erbrechen.

Dr. Decker: Fetzer ist mir in höchst arroganter Weise gegenübergetreten. Sein Auftreten war höchst ungezogen, er roch auch nach Schnaps, das veranlaßte mich, ihm die Tür zu weisen.

Fetzer: Ich habe noch nie Schnaps getrunken, wenn ich auch früher bei der Gendarmerie war.

Frau Fetzer, Ehefrau des Vorzeugen: Meine Nichte kam schon vor dem Vorfall zu mir und klagte weinend, die Heusler sei so böse zu ihr, sie könne es bei ihr nicht aushalten.

Staatsanwalt: War das lange vor dem Vorfall?

Zeugin: Mindestens drei Monate früher. Als ich daran nach dem Krankenhaus kam, sagte die Wagner: „Tante, glaubst mir nun, daß die Heusler so bös ist? Hätte ich den Kaffee ganz ausgetrunken, so wäre ich gestorben. Es würde dann heißen: Die hat sich gewiß wegen einer Liebschaft das Leben genommen. Aber wer weiß, ob man mir glaubt, ich bin ja nur ein Dienstbote.“ Die Minna war immer ein braves und ordentliches Mädchen und schickte ihrer Mutter Geld, wenn sie etwas gespart hatte.

Dienstmädchen Sgoff: Sie wisse bestimmt, daß sie selbst den Kaffee in das leere Fläschchen hineingeschüttet habe. Die Schwarz sei heraufgekommen und habe im Namen der Oberin den Kaffee gefordert, die Wagner habe ihn aber nicht hergegeben.

Vors.: Wie lange waren Sie noch oben?

Zeugin: Etwa eine Viertelstunde.

Vors.: Ist in dieser Zeit die Angeklagte hinaufgekommen?

Zeugin: Nein, in der Zeit nicht, das muß später gewesen sein.

Als letzter Zeuge wurde Buchhalter Hofmeister, der beim Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz in Stellung war, vernommen. Er bekundete, daß die Angeklagte, nachdem sie aus dem Zuchthause entlassen sei, bei ihm wohne. Sie benehme sich durchaus ruhig, sei wahrheitsliebend und zuverlässig.

Angeklagte v. Heusler (weinend): Durch die große Güte des Herrn ...

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Bitte, lassen Sie das, das gehört nicht hierher.

Es wurde darauf zur Vernehmung der Sachverständigen geschritten. Landgerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Hoffmann (München): Aus dem Umstande, daß die hintere Magenwand bei der Wagner keine Verätzung gezeigt habe, könne nicht der Schluß gezogen werden, daß sie keine Salzsäure geschluckt habe. Es sei auch Blut in dem Erbrochenen gewesen, das sei ein Charakteristikum der Salzsäurevergiftung. Im ganzen habe die Wagner 2 Gramm Salzsäure eingenommen, die in 20 Gramm Milchkaffee enthalten waren. Bei einem gesunden Menschen könnte das höchstens Leibschmerzen verursachen. Die Wagner habe die Wirkung aber schärfer verspürt, weil sie schon vorher magenkrank war.

Dr. med. Decker (München): 2 Gramm Salzsäure sind verschwindend gegenüber den Speisemengen im Magen. Die Obduktion hat hierfür gar keinen Anhalt gegeben.

Prof. Dr. Hoffmann bezeichnete es als möglich, daß bei der Operation Entzündungsstoffe in die Bauchhöhle gelangt seien.

Sodann folgte das Gutachten des Sachverständigen Professors. Dr. Kraepelin, Direktors der psychiatrischen Universitätsklinik in München. Dieser betonte ganz besonders den Mangel an Wahrheitsliebe der Wagner. In Verbindung mit ihrer Unwahrhaftigkeit wird man auch eine Neigung zur Übertreibung ihrer Krankheitserscheinungen annehmen müssen. Die Wagner war nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes geisteskrank, sondern sie gehörte dem großen Zwischengebiet zwischen geistiger Gesundheit und geistiger Krankheit an, das unter den Begriff „Minderwertigkeit“ fällt. Man kann bei Beantwortung der Frage, ob die Wagner fähig war, auch subjektiv Unwahres auszusagen, also einen wissentlichen Meineid zu leisten, zu einer Bejahung kommen, wenn man ihre psychopathische Minderwertigkeit in Betracht zieht, die ihr ein Zurück von dem einmal betretenen Wege wohl unmöglich machte.

Professor Dr. Aschaffenburg (Köln) trat dem Gutachten des Professors Dr. Kraepelin vollständig bei.

Professor Dr. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München): Er könne die Frage, ob Hysterische die Neigung haben, aus Rachsucht sich selbst Schaden zuzufügen, um andere zu belasten, ebenfalls bejahen. Er könne eine ganze Reihe derartiger. Fälle aus seiner Praxis anführen.

In ähnlicher Weise äußerte sich Professor Dr. Gudden (München).

Professor Dr. Hoffmann suchte hierauf das Gutachten zu rechtfertigen, das die Ärzte in der ersten Verhandlung erstattet haben, auf Grund dessen die Wagner damals durchaus glaubwürdig befunden wurde. Ich und Dr. Holterbach haben die Wagner während der vorigen Schwurgerichtsverhandlung beobachtet und nach jeder Sitzung ihren Geisteszustand untersucht. Ich sagte, ich hätte nicht eine Spur von Geistesstörung gefunden. Auf Grund der Zeugenvernehmung, der Nachforschungen nach ihrem Vorleben, der Gutachten und des Fehlens erblicher Belastung habe ich das Vorliegen von Hysterie verneint. Ich schloß damals: Meiner Ansicht nach liege kein Grund vor, an der geistigen Integrität der Wagner zu zweifeln. Ich bemerke, daß ich heute mein früheres Gutachten nicht im vollen Umfange aufrechterhalten kann. Denn in dieser Verhandlung sind neue Tatsachen hervorgetreten, die mich nötigen, mein Gutachten an einzelnem Punkten zu ändern. Der Sachverständige ging alsdann auf die einzelnen Momente der Hysterie ein. Bezüglich des Erbrechens bestritt er, daß es simuliert oder hysterischen Ursprungs gewesen sei.

Es entspann sich eine längere Auseinandersetzung zwischen den Sachverständigen, in der die anderen Sachverständigen, entgegen dem Gutachten Dr. Hoffmanns, entschieden daran festhielten, daß die Wagner stark hysterisch gewesen sei.

Nach Verlesung derselben Schuldfrage wie in voriger Verhandlung wurde noch die Unterfrage zugefügt, ob ein Versuch vorliegt.

Es begannen darauf die Plädoyers. Staatsanwalt Dr. Held I gelangte zu dem Ergebnis, daß die Anklage nicht aufrechterhalten werden könne. Zwar habe sich ein Urteil als richtig erwiesen: die Angeklagte war jähzornig, rücksichtslos und gefühllos. Es lag also im Charakter der Angeklagten, ihr die Tat zuzutrauen. Indessen einige der gravierendsten Punkte des Indizienbeweises seien erschüttert. Namentlich sei erwiesen, daß die Wagner schwer hysterisch war. Wenn er (Staatsanwalt) nach alledem die Anklage auch nicht mehr aufrechterhalten könne, so sei er andererseits doch nicht gerade von der Unschuld der Angeklagten überzeugt. Er stelle die Entscheidung den Geschworenen anheim.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz trat mit großer Entschiedenheit für die Freisprechung ein. Ganz besonders griff der Verteidiger die Gutachten an, die von den medizinischen Sachverständigen in der ersten Verhandlung erstattet worden seien. Diese haben in der Hauptsache die ungerechte Verurteilung der Angeklagten verursacht.

Die Angeklagte beteuerte nochmals unter Tränen, daß sie vollständig unschuldig sei.

Nach nur kurzer Beratung verneinten die Geschworenen die Schuldfragen. Der Vorsitzende verkündete darauf: Im Namen des Königs von Bayern hat der Gerichtshof, entsprechend dem Wahrspruch der Geschworenen, dahin erkannt, daß die Angeklagte, te, Stiftsoberin Elisc v. Heusler freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien.

Das Urteil wurde vom Publikum mit lautem Beifall aufgenommen. Die Angeklagte wurde von allen Seiten beglückwünscht und bei ihrem Austritt aus dem Justizpalast von der dort postierten zahlreichen Menschenmenge mit stürmischen Hochrufen empfangen.

Der Zweikampf zwischen Landrat v. Bennigsen und Domänenpächter Falkenhagen

Seit den letzten 50 Jahren ist ein ganz gewaltiger Fortschritt auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu verzeichnen. Vor 50 Jahren gab es noch weite Gebiete in Deutschland, in denen man das Dampfroß, diese großartige Erfindung, nur dem Namen nach kannte. Zu dieser Zeit, auch noch vor etwa 30 Jahren, vermittelte in vielen Gegenden Deutschlands die Postkutsche und anderes Fuhrwerk den Verkehr. Die Telegraphie war vor 50 Jahren in den ersten Anfängen, vom Fernsprechwesen war noch keine Spur vorhanden. Bereits beginnt nunmehr die Elektrizität den Dampf abzulösen, unser Zeitalter wird das der Elektrizität genannt. Ähnliche Fortschritte wie in der Technik sind auf allen anderen Gebieten zu verzeichnen. Die Anschauungen der Menschheit haben jedoch leider mit dem Vordringen der Wissenschaft und Technik keineswegs Schritt gehalten. Die Verständnislosigkeit des großen Publikums für Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit ist geradezu betrübend. Ganz besonders herrscht im großen Publikum noch vielfach Verständnislosigkeit für die Notwendigkeit guter Luft. Es ist noch lange nicht genugsam bekannt, daß ein mehrfaches tägliches Zimmerlüften, selbst bei großer Kälte, zwecks Erhaltung der Gesundheit unerläßlich ist, und daß ein gut gelüftetes Zimmer sich bedeutend schneller erwärmt und selbstverständlich alsdann viel mehr Behaglichkeit bietet, als ein schlecht oder gar nicht gelüftetes. Dringend notwendig wäre es, Gesundheitslehre als Lehrgegenstand in den Schulen aufzunehmen. Ein weiteres Erfordernis ist es, endlich mit dem gesamten mittelalterlichen Unrat aufzuräumen, der wie ein Alb noch auf der Neuzeit lastet. Zu diesem mittelalterlichen Unrat gehört in erster Linie der Zweikampf. Über die Widersinnigkeit des Zweikampfes ist kaum noch ein Wort zu verlieren. Jeder gesittete Mensch wird mir beistimmen, daß der Zweikampf allen göttlichen und menschlichen Gesetzen geradezu Hohn spricht. Ein anständiger Mensch sollte absichtlich niemanden beleidigen. Da diese Ansicht aber noch lange ein frommer Wunsch bleiben dürfte, so sind doch die ordentlichen Gerichte berufen, Beleidigungen durch entsprechende Strafen zu sühnen oder durch Vergleich aus der Welt zu schaffen. Die Zahl der Beleidigungsprozesse, die täglich zur gerichtlichen Verhandlung kommen, ist geradezu Legion. Welch ein Hohn liegt aber in der Tatsache, daß im Zweikampf vielfach nicht der Beleidiger, sondern der Beleidigte verwundet oder gar getötet wird. Es ist geradezu ein Hohn auf die staatlichen Gesetze, daß sogenannte Ehrengerichtshöfe entscheiden, der Zweikampf kampf müsse vorgenommen werden. Im Weigerungsfalle der Beteiligten erfolgt gesellschaftliche Ächtung und beim Militär der schlichte Abschied. Welch unendliches Herzeleid diese mittelalterliche, widersinnige Einrichtung über anständige Familien schon gebracht hat, läßt sich auch nicht annähernd feststellen. Wieviel Mühe und Opfer kostet es Eltern, den Sohn die Universität besuchen oder die Offizierslaufbahn einschlagen zu lassen. Und wegen irgendeiner, bisweilen aus frivolem Übermut vom Zaun gebrochenen Lappalie ist der junge Mann oftmals „aus Standesrücksichten“ genötigt, sich dem mörderischen Blei seines Beleidigers gegenüberzustellen und das Lebensglück, ja die ganze Hoffnung seiner Familie für immer zu vernichten. Vor etwa zehn Jahren hat sich aus notabeln Herren der verschiedensten politischen Parteien eine sogenannte Antiduell-Liga gebildet. Es haben auch öffentliche Zusammenkünfte dieser Liga in verschiedenen Gegenden des Reiches stattgefunden, irgendeinen Erfolg hat jedoch die Liga wohl kaum zu verzeichnen. Dieser Krebsschaden der menschlichen Gesellschaft, als den man wohl mit vollem Recht die Einrichtung des Zweikampfs bezeichnen kann, kann meines Erachtens nur ausgerottet werden, wenn die Tötung im Zweikampf gleich dem Totschlag bestraft wird. Der Zweikampf, der im Januar 1902 zwischen dem Landrat Adolf v. Bennigsen und dem Domänenpächter Falkenhagen stattfand, ist ein Schulbeispiel für meine Auffassung. Der am 23. November 1873 geborene Falkenhagen, Sohn des Abgeordneten Amtsrats Falkenhagen (Northeim), war seit 1899 Pächter der Königlichen Domäne Springe in Hannover. Das Wohnhaus Falkenhagens war durch einen Hof von der Wohnung des Landrats v. Bennigsen, einem Sohne des früheren Führers der nationalliberalen Partei, Reichstags- und Landtagsabgeordneten, Oberpräsidenten Rudolf v. Bennigsen, getrennt. Der unverheiratete Falkenhagen war ständiger Gast im Hause des Landrats. Dies sollte letzterem zum Verhängnis werden. Bereits seit langer Zeit war es in Springe offenes Geheimnis, daß zwischen Falkenhagen und Frau v. Bennigsen intime Beziehungen bestanden. Diese Gerüchte drangen schließlich zu den Ohren des Landrats. Dieser wollte zunächst nicht glauben, daß ihn seine Frau, mit der er 12 Jahre in glücklichster Ehe lebte, und die ihm fünf Kinder geschenkt hatte, hintergehe. Da die Gerüchte aber schließlich zur Gewißheit wurden, so wurde in dem Klub der Honoratioren zu Springe, dem auch Herr v. Bennigsen als Mitglied angehörte, beschlossen: letzterem die Sache zu unterbreiten. Daraufhin brach v. Bennigsen sofort den Verkehr mit Falkenhagen ab. Außerdem soll ein peinlicher Auftritt zwischen v. Bennigsen und seiner Gattin stattgefunden haben, der zur Folge hatte, daß Frau v. Bennigsen sofort zu ihrer Schwester nach Leipzig abreiste. Gleich darauf sandte Landrat v. Bennigsen durch den Oberförster Limmer an Falkenhagen eine Herausforderung zum Zweikampf auf Pistolen. Die Bedingungen lauteten: Kugelwechsel auf 15 Sprungschritt; Distanz ohne Avancieren bis zur Kampfunfähigkeit eines der Kämpfenden. Unter Kampfunfähigkeit wurde nicht der Tod oder die tödliche Verwundung eines der Kämpfenden, sondern bereits eine Verwundung verstanden, welche die Unfähigkeit zum Weiterschießen zur Folge hätte. Die vereinbarten Bedingungen entsprachen dem Willen des Herrn v. Bennigsen. Die Sekundanten waren bemüht, dem Zweikampf eine mildere Form durch Festsetzung einer bestimmten Kugelzahl, etwa 10 Stück, zu geben, Herr v. Bennigsen lehnte jedoch diesen Vorschlag ab. Am 16. Januar 1902, vormittags, fand der Zweikampf im Saupark bei Springe, und zwar in voller Wahrung der hergebrachten Zweikampfsregeln, statt. Der Unparteiische, Referendar Freiherr von Langwerth-Simmern, zählte mit Zwischenpausen von einigen Sekunden: 1, 2, 3 halt! Zwischen 1 und halt waren die Schüsse abzugeben. Die beiden ersten Gänge, in welchen von beiden Seiten, und zwar immer zuerst von Falkenhagen, geschossen wurde, waren ohne Ergebnis. Beim dritten Kugelwechsel erhielt v. Bennigsen einen Schuß in den Unterleib, terleib, der ihn sofort zu Boden streckte. Der Zweikampf war damit beendet. Der hinzugezogene Arzt leistete Herrn v. Bennigsen die erste Hilfe. Der Schwerverwundete wurde sogleich in einem bereitstehenden Wagen nach Springe und von dort per Bahn nach dem Krankenhause „Henriettenstift“ in Hannover übergeführt. Obwohl ihm hier die sorgsamste Pflege und beste ärztliche Behandlung zuteil wurde, erlag er am 17. Januar nachmittags der erlittenen Schußverletzung. Die im Körper vorgefundene Kugel soll den Dünndarm und das am Dickdarm sitzende Gekröse an mehreren Stellen durchschlagen und dadurch eine große Blutung in der Bauchhöhle verursacht haben. Diese Blutung hatte eine eitrige Bauchfellentzündung zur Folge, die den Tod herbeiführte. Landrat v. Bennigsen hinterließ 5 Kinder im Alter von 4 bis 11 Jahren. Falkenhagen soll den Versuch unternommen haben, die Verzeihung seines Gegners zu erlangen. Der Bruder des Getöteten, Gouverneur von Neu-Guinea Rudolf v. Bennigsen, dessen Vermittelung Falkenhagen nachsuchte, hatte jedoch diese Vermittlerrolle abgelehnt. Falkenhagen gab zu, mit Frau von Bennigsen schon seit dem Sommer 1900 sträflichen Verkehr unterhalten zu haben. Frau v. Bennigsen, eine üppige, schöne Erscheinung, 31 Jahre alt, war die Tochter des früheren Domänenpächters in Springe, v. Schnehen. Falkenhagen ist nach dem Zweikampf zunächst zu Frau von Bennigsen nach Leipzig und von dort nach Berlin gereist, um die Verzeihung seines Vaters, der in seiner Eigenschaft als Landtagsabgeordneter in Berlin weilte, nachzusuchen. Am Sonntag, den 19. Januar 1902, wurde Falkenhagen in aller Frühe im Zentralhotel in Berlin auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu Hannover wegen Fluchtverdachts verhaftet und nach Hannover transportiert. Falkenhagen hatte sich am 17. Februar 1902 vor dem Schwurgericht zu Hannover wegen Tötung im Zweikampf auf Grund des § 206 des Strafgesetzbuches zu verantworten. In dieser Verhandlung war der Andrang des Publikums aus den besseren Ständen, insbesondere der Damenwelt, geradezu ungeheuer. Nach erfolgter Auslosung und Vereidigung der Geschworenen stellte der Vorsitzende an den Ersten Staatsanwalt Dr. Kitz die Frage, wie er sich zu einem etwaigen Ausschluß der Öffentlichkeit stelle.

Erster Staatsanwalt: Ich stehe auf dem Standpunkte, daß angesichts des großen Aufsehens, das die Angelegenheit in der Öffentlichkeit verursacht hat, die Öffentlichkeit nur insoweit ausgeschlossen wird, als die Beziehungen des Angeklagten zur Frau v. Bennigsen zur Erörterung kommen.

Vert. R.-A. Dr. Stehmann: Ich beantrage, die Öffentlichkeit vollständig auszuschließen. Ich halte es für unvermeidlich, bei Erörterung der Angelegenheit die Beziehungen des Angeklagten zur Frau v. Bennigsen zu streifen. Der Angeklagte schloß sich auf Befragen dem Antrage seines Verteidigers an.

Der Gerichtshof beschloß nach kurzer Beratung, die Öffentlichkeit vorläufig nicht auszuschließen, sich aber den Beschluß hierüber vorzubehalten.

Der Angeklagte, ein großer, hagerer Mann mit blassem Gesicht und kleinem, hellblondem Schnurrbart, äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er heiße mit Vornamen Oswald, er sei am 23. November 1874 in Northeim geboren, evangelischer Konfession. Seit Sommer 1899 sei er Pächter der Königlichen Domäne in Springe. Am 15. Januar habe ihm Landrat v. Bennigsen eine Herausforderung zum Zweikampf auf gezogene Pistolen gesandt. Die Bedingungen lauteten: Kugelwechsel auf 15 Sprungschritt Distanz bis zur Kampfunfähigkeit eines der Kämpfenden. Unter Kampfunfähigkeit wurde nicht der Tod oder die tödliche Verwundung eines der Kämpfenden, sondern bereits eine Verwundung verstanden, welche die Unfähigkeit zum Weiterschießen zur Folge hatte.

Vors.: Wer sollte diese Kampfunfähigkeit feststellen?

Angekl.: Der Arzt.

Vors.: Sie hatten sich den praktischen Arzt Dr. Herrmann mitgenommen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wann fand der Zweikampf statt?

Angekl.: Am 16. Januar früh 8 1/2 Uhr.

Vors.: Beabsichtigten Sie, auf Ihren Gegner zu schießen?

Angekl.: Nein, ich wollte in den Sand schießen.

Vors.: Wohin richteten Sie Ihre Pistole?

Angekl.: Auf meinen Gegner.

Vors.: Sie behaupten aber, Sie hatten nicht die Absicht, auf Ihren Gegner zu schießen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Wer war Ihr Sekundant?

Angekl.: Referendar Wunnenberg.

Vors.: Sie haben zunächst Ihren Schwager ersucht, Ihr Sekundant zu sein, dieser hat aber abgelehnt, deshalb wandten Sie sich an Herrn Referendar Wunnenberg?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wer war Unparteiischer?

Angekl.: Freiherr von Langwerth-Simmern.

Vors.: Dieser war in Springe Referendar?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die beiden ersten Gänge waren ergebnislos?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Haben Versöhnungsversuche stattgefunden?

Angekl.: Nach den ersten zwei Gängen regte ich eine Versöhnung an, es wurde mir aber von meinem Sekundanten gesagt, daß dies zwecklos sei.

Erster Staatsanwalt: Bei der Aussage des Angeklagten ist ein Widerspruch vorhanden; er sagte einmal, er wollte seinen Gegner nicht treffen, und andererseits wieder, er habe die Pistole auf seinen Gegner gerichtet.

Angekl.: Da der Gegner die Pistole auf mich gerichtet hielt, so tat ich das ebenfalls, ich habe aber trotzdem vorbeischießen wollen. Der Angeklagte erzählte alsdann im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden, er habe nachdem Herr v. Bennigsen gefallen war, durch dessen Bruder die Verzeihung des Gegners nachgesucht. Der Bruder des Herrn v. Bennigsen, der Gouverneur von Neu-Guinea Rudolf v. Bennigsen, habe aber die Vermittlerrolle abgelehnt. Er sei noch am Vormittag des 16. Januar nach Hameln und von dort nach Leipzig gefahren, woselbst sich Frau v. Bennigsen bei ihren Verwandten aufhielt. Abends gegen 7 Uhr sei er in Leipzig angekommen und habe dort Frau v. Bennigsen das Vorgefallene mitgeteilt. Er habe in Leipzig in einem Hotel übernachtet und sei am folgenden Morgen nach Berlin gefahren, um den Rat seines dort als Abgeordneten weilenden Vaters einzuholen. Er sei in Berlin im Zentralhotel abgestiegen. Sein Vater wohnte im Hotel de Magdeburg. Dieser habe ihn aufgefordert, sich zu dem Bürgermeister a.D. Schmidt zu begeben und diesen zu fragen, was er machen solle. Letzterer, der in der Pritzwalkerstraße in Berlin wohnte, habe ihm gesagt, die Sache sei durch die Presse bereits bekannt, er solle sich daher der Staatsanwaltschaft zu Hannover zur Verfügung stellen. Es seien nämlich alle Beteiligten durch Handschlag verpflichtet worden, den Zweikampf geheim zu halten, so lange er nicht durch die Presse bekannt werde. Er (Angeklagter) habe daher sofort in einem eingeschriebenen Brief sich der Staatsanwaltschaft zu Hannover zur Verfügung gestellt. Daraufhin habe er mit Bürgermeister Schmidt in Berlin mehrere Bierlokale besucht. Abends sei er mit Schmidt in der Weinhandlung von Kempinski gewesen. Dort habe ihm Bürgermeister Schmidt einen Herrn namens Mandus und dessen Gattin vorgestellt.

Vors.: Es hat sich nachträglich herausgestellt, daß dies nicht Frau Mandus war?

Angekl.: Das habe ich später gehört. Ich sagte Herrn Mandus, daß ich ihm meinen Namen nicht nennen könne.

Vors.: Später haben Sie sich aber dennoch dem Herrn vorgestellt.

Angekl.: Jawohl, der Mann sagte, wenn Sie Ihre Tat bereuen, dann können Sie Ihren Namen ganz ruhig nennen. Ich blieb in Gesellschaft des Bürgermeisters Schmidt bis etwa 1 Uhr nachts. Alsdann ging ich ins Hotel, am folgenden Morgen wurde ich verhaftet.

Vors.: Nun ist die Vernehmung des Angeklagten bis zu seinen Beziehungen zur Frau v. Bennigsen gediehen. Der Gerichtshof beschließt, während dieses Teils der Vernehmung die Öffentlichkeit auszuschließen. Der Zuhörerraum ist zu räumen, auch die Vertreter der Presse haben den Saal zu verlassen.

Es wurde in nichtöffentlicher Sitzung Frau v. Bennigsen als Zeugin vernommen. Sie war in tiefe Trauer gekleidet und augenscheinlich sehr niedergeschlagen. Die Vernehmung, von der nichts in die Öffentlichkeit drang, dauerte etwa dreiviertel Stunden. Nach Beendigung dieser Vernehmung wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt und Oberförster Zimmer als Zeuge aufgerufen. Dieser bekundete: Er war Sekundant des Herrn v. Bennigsen. Die Pistolen wurden von Herrn v. Bennigsen geliefert. Die Schüsse seien stets gleichzeitig von beiden Seiten abgegeben worden. Der Unparteiische, Freiherr v. Langwerth-Simmern, zählte 1, 2, 3, halt. Zwischen 2 und 3 fielen die Schüsse. Er hatte die Auffassung, daß der Angeklagte, der die Pistole direkt auf seinen Gegner gerichtet hielt, diesen töten wollte.

Erster Staatsanwalt: Verstand denn der Angeklagte, mit der Pistole umzugehen?

Zeuge: Sehr gut.

Der zweite Zeuge, Referendar Freiherr v. Langwerth-Simmern, der, wie bereits erwähnt, Unparteiischer ischer beim Zweikampfe war, bekundete: Er sei mit Herrn v. Bennigsen befreundet gewesen; dieser habe ihn ersucht, als Unparteiischer zu fungieren. Nachdem er von der Sachlage Kenntnis erhalten, habe er die Anrufung eines Schiedsgerichtes für zwecklos gehalten und die Bedingungen festgestellt. Die Beteiligten wurden sämtlich auf Handschlag verpflichtet, den Zweikampf so lange geheim zu halten, bis ein Beteiligter eine amtliche Vorladung erhalten habe oder die Sache durch die Presse bekannt geworden sei. Der Zweikampf verlief ganz kommentmäßig. Nur beim zweiten Gange, als er „Spannen“ kommandierte, habe er beobachtet, daß Falkenhagen die Pistole nicht in der vorgeschriebenen Weise senkte. Er habe auch den Angeklagten sofort darauf aufmerksam gemacht.

Referendar Wunnenberg: Er kenne den Angeklagten von Northeim her und habe auf dessen Ersuchen sich bereit erklärt, sein Sekundant zu sein. Er sei bemüht gewesen, die Bedingungen zu mildern, habe aber damit keinen Erfolg gehabt, da dies von beiden Seiten abgelehnt wurde.

Vors.: Der Angeklagte soll den Vorschlag gemacht haben, die Distanz auf 10 Schritt herabzusetzen?

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich; ich habe allerdings dem Angeklagten gesagt, ich finde die Distanz von 15 Schritt etwas weit.

Vert.: Hat der Angeklagte nicht gesagt, er befürchte, te, einen dreimaligen Kugelwechsel nicht aushalten zu können, deshalb wäre es ihm angenehm, wenn 10 Schritt Distanz gewählt würden.

Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich.

Der folgende Zeuge war der praktische Arzt Dr. Seebohm. Dieser hatte auf Ersuchen des Herrn v. Bennigsen dem Zweikampf als Arzt beigewohnt. Er habe wahrgenommen, daß der Angeklagte die Pistole auf die Brust seines Gegners gerichtet habe. Er könne sich nicht denken, daß der Angeklagte vorbeischießen wollte. Sowohl v. Bennigsen, als auch der Angeklagte waren sehr aufgeregt.

Dr. med. Herrmann, der von dem Angeklagten zum Zweikampf hinzugezogen war, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Es sei ihm nicht erinnerlich, in welcher Weise der Angeklagte gezielt habe.

Gerichtsassessor Jahn (Hameln): Er sei mit der Schwester des Angeklagten verlobt. Der Angeklagte habe ihn ersucht, im Zweikampf sein Sekundant zu sein. Er habe dies abgelehnt, ganz besonders, weil ihm die Bedingungen zu schwer schienen. Der Angeklagte habe gesagt: Die schweren Bedingungen müssen nicht den Tod eines der Kämpfenden zur Folge haben. Er werde, wenn möglich vorbeischießen, oder den Gegner durch Schießen in die unteren Extremitäten kampfunfähig machen. Der Angeklagte habe die Absicht geäußert, sein Testament zu machen, er (Zeuge) habe ihm dies auch geraten. Der Angeklagte sei bei dem Zweikampf, dem er beigewohnt habe, sehr aufgeregt gewesen. In welcher Weise der Angeklagte gezielt habe, sei ihm nicht erinnerlich. Nach beendigtem Zweikampf sei der Angeklagte zunächst planlos in den Wald gelaufen, alsdann mit ihm nach Hameln gefahren. Der Angeklagte habe alsdann den Wunsch geäußert, nach Leipzig zu fahren und den Ausgang des Zweikampfes der Frau v. Bennigsen mitzuteilen. Er habe darauf dem Angeklagten gesagt, er dürfe auf keinen Fall länger in Leipzig verweilen, als unbedingt erforderlich sei. Ob der Angeklagte dies getan habe, wisse er nicht.

Bürgermeister a.D. Schmidt (Berlin): Ich bin ein langjähriger Freund des Vaters des Angeklagten. Am Vormittag des 18. Januar kam der Angeklagte zu mir und machte mir von dem Vorgefallenen Mitteilung. Ich sagte ihm, daß ich bereits durch die Zeitungen Kenntnis davon habe, und daß ich auch gehört habe, Herr v. Bennigsen sei inzwischen gestorben. Der Angeklagte brach bei dieser Mitteilung vollständig zusammen. Nach einiger Zeit bat er mich, ihm Papier, Tinte und Feder zu geben, damit er sein Testament machen könne, außerdem fragte der Angeklagte, was er machen solle. Ich riet ihm, sich sofort der Staatsanwaltschaft zu Hannover zu stellen, er solle aber vorerst noch den Rat des Herrn Justizrats Krause in Berlin lin (Vizepräsident des Abgeordnetenhauses und ebenfalls langjähriger Freund des alten Falkenhagen) einholen. Ich lud den Angeklagten ein, bei mir Mittag zu essen. Nachmittags gingen wir zu Herrn Justizrat Krause. Dieser riet dem Angeklagten ebenfalls, sich sofort der Staatsanwaltschaft in Hannover zu stellen. Der Angeklagte sandte darauf einen eingeschriebenen Brief an die Staatsanwaltschaft zu Hannover. Ich ging alsdann mit dem Angeklagten in das Lokal von Siechen und von dort in die Weinhandlung von Kempinski. Der Angeklagte war ungemein niedergeschlagen. Da mir bekannt ist, daß die Zustände in der Friedrichstraße in Berlin geradezu toll sind (Heiterkeit), so begleitete ich den Angeklagten in sein Hotel. Wir wurden, es war in später Nacht, von einer ganzen Anzahl Dirnen angerempelt, der Angeklagte hat aber alle diese Zudringlichkeiten sehr energisch zurückgewiesen. Am folgenden Tage hörte ich, daß der Angeklagte verhaftet sei.

Gerichtsarzt Dr. Schwabe begutachtete: Die Kugel habe den Darm durchschlagen und so tief gesessen, daß er sie nur mit Mühe mit dem Meißel herausstemmen konnte. Der Tod sei durch Verblutung in der Bauchhöhle eingetreten.

Der Vorsitzende verlas darauf die den Geschworenen vorzulegenden Schuldfragen: 1. Ist der Angeklagte schuldig, einen Zweikampf mit dem Landrat v. Bennigsen bestanden und 2. in diesem seinen Gegner getötet zu haben?

Es nahm alsdann das Wort Erster Staatsanwalt Dr. Kitz: Es haben in der letzten Zeit mehrfach Zweikämpfe mit tödlichem Ausgange stattgefunden. Aus diesem Anlaß hat sich die Presse eingehend mit der Frage wegen der Berechtigung des Zweikampfes beschäftigt. Von der einen Seite wird der Zweikampf als ein notwendiges Übel, von der anderen Seite als Unsitte bezeichnet, die allen göttlichen und menschlichen Gesetzen und aller Logik widerspricht. Es ist von dieser Stelle nicht meine Aufgabe, über die Berechtigung des Zweikampfes ein Urteil abzugeben. Ich bin aber der Meinung, eine seit Jahrhunderten im deutschen Volke eingebürgerte Sitte ist nicht so ohne weiteres aus der Welt zu schaffen. Es ist von gewissen Zeitungen verlangt worden, die Tötung im Zweikampfe als Mord zu bestrafen. Das ist selbstverständlich ein vollständiges Verkennen der Sachlage. Eine hiesige Zeitung schrieb: Herr Landrat v. Bennigsen hat in leichtfertiger Weise sein Leben aufs Spiel gesetzt und dabei den Kürzeren gezogen. Das entspricht selbstverständlich in keiner Weise dem Ernst der Sachlage. Herr v. Bennigsen, der sein ganzes Lebensglück und das seiner Kinder zerstört sah, konnte nicht anders als in dieser Weise als Rächer seiner Ehre auftreten. Selbstverständlich soll auch den Duellanten eine möglichst hohe Strafe treffen. Das Gesetz hat gegen Duellanten eine Strafe bis 15 Jahre Festung vorgesehen. Ich habe die Überzeugung, der Gerichtshof wird bei der Strafzuerkennung die gesamten Umstände in Betracht ziehen und auf eine hohe Strafe erkennen Wenn ein Mann im Alter des Angeklagten auf eine Reihe von Jahren seiner Freiheit beraubt wird dann ist das immer eine erhebliche Strafe. Eine entehrende Strafe ist in dem gegenwärtigen Falle nicht möglich. Es muß aber auf eine möglichst hohe Strafe erkannt werden, schon um dadurch eine Verminderung der Duelle herbeizuführen. Es steht fest, daß der Angeklagte seinen Gegner im Zweikampfe töten wollte und auch, daß er der frivole Beleidiger ist. Er hat sich als Freund in das Haus des Herrn v. Bennigsen eingeführt und ist pflichtvergessen genug gewesen, diese ihm gewährte Gastfreundschaft in schmählichster Weise zu mißbrauchen. Er hat dadurch nicht bloß das Familienglück des Herrn v. Bennigsen zerstört, sondern auch durch sein Verhalten im Zweikampfe die fünf Kinder ihres Vaters beraubt. Es ist das um so schlimmer, da die Kinder von der Mutter für immer getrennt sein dürften. Strafmildernd kann hier höchstens in Betracht kommen, daß Frau v. Bennigsen um mehrere Jahre älter als der Angeklagte ist, und daß mithin die Schuld mehr auf seiten der Frau v. Bennigsen liegt. Ich ersuche Sie, meine Herren Geschworenen, nen, die Schuldfragen zu bejahen.

Vert. R.-A. Dr. Stehmann: Ich kann mich den Ausführungen des Herrn Ersten Staatsanwalts im allgemeinen anschließen, ich weiche nur bezüglich der Ausführungen über das Strafmaß von dem Herrn Ersten Staatsanwalt ab. Ich behalte mir die Ausführung hierüber vor.

Der Angeklagte erklärte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er nichts mehr zu sagen habe. Der Vorsitzende erteilte den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung. Darauf zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Nach kaum 20 Minuten traten die Geschworenen wieder ein. Der Obmann verkündete, daß die Geschworenen beide Schuldfragen bejaht haben. Der Erste Staatsanwalt beantragte, den Angeklagten zu acht Jahren Festung zu verurteilen.

Vert. R.-A. Dr. Stehmann: Ich muß diesen Strafantrag als einen außergewöhnlich hohen bezeichnen. Es muß doch berücksichtigt werden, daß der Angeklagte offenbar in den Zweikampf ging, um seine Schuld zu sühnen. Ich verkenne nicht, daß der Angeklagte frivol gehandelt hat, allein es darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Angeklagte um mehrere Jahre jünger als Frau v. Bennigsen ist, und daß wohl kaum ein anderer unverheirateter Mann der Verführung dieser Frau widerstanden hätte.

Erster Staatsanwalt: Diesen Umstand habe ich bereits reits als Milderungsgrund angeführt und dies auch beim Strafantrage berücksichtigt. Die Festungsstrafe ist verhältnismäßig eine milde, deshalb muß sie aber wenigstens eine hohe sein.

Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor v. Lütcken: Der Gerichtshof hat den Angeklagten wegen Tötung seines Gegners im Zweikampf zu sechs Jahren Festung verurteilt und ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Gerichtshof hat bei der Strafzumessung erwogen, daß der Angeklagte die ihm von dem Landrat v. Bennigsen gewährte Gastfreundschaft in schmählichster Weise mißbraucht und sich somit der Lüge und Heuchelei schuldig gemacht hat. Der Angeklagte hat nicht bedacht, daß er durch seine niedere Handlungsweise das Lebensglück der Familie Bennigsen zerstöre und die Zukunft der Kinder vernichte. Er ist augenscheinlich in den Zweikampf gegangen, um seinen Gegner zu töten. Strafmildernd kann nur in Betracht kommen, daß der Angeklagte von der um mehrere Jahre älteren Frau v. Bennigsen verführt worden ist. Deshalb ist, wie geschehen, erkannt worden.

Der Erste Staatsanwalt und der Angeklagte erklärten, daß sie auf Einlegung eines Rechtsmittels verzichten. Der Angeklagte, der furchtbar niedergeschlagen aussah und unaufhörlich die Augen zu Boden senkte, wurde hierauf von zwei Gefangenaufsehern wieder abgeführt.

Ein Nachspiel zu der Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz

Die Erregung über den furchtbaren Mord des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz – über welchen Prozeß ich im dritten Bande S. 76-131 ausführlich berichtet habe – hielt in dieser Gegend begreiflicherweise auch noch lange, nachdem alle diesbezüglichen Prozesse erledigt waren, an. Im Jahre 1903 wurde in jener Gegend ein Verbrechen verübt, das auf die dortigen Kulturzustände ein häßliches Schlaglicht warf. Im Kreise Schlochau liegt, vom großen Weltgetriebe vollständig entfernt, das zum Landgerichtsbezirk Konitz gehörende Dorf Stegers. Am Abende des 28. September 1903 kehrte in der Gastwirtschaft von Albert Schülke in Stegers der jüdische, etwa sechzigjährige Schriftsetzer Abraham Lewy aus Warschau ein. Gegen 8 Uhr abends erschien ein Briefträger, um an die in der Gastwirtschaft anwesenden Personen Briefe auszuteilen. Lewy soll diese Tätigkeit des Briefträgers gemißbilligt und ohne jede Veranlassung geäußert haben: „Ich bin Postdirektor und werde das Verfahren des Briefträgers zur Anzeige bringen. Nach 8 Uhr abends dürfen Postsachen nicht mehr ausgehändigt werden.“ Diese Bemerkung erregte den Unwillen der übrigen Gäste. Es begann infolgedessen ein Streit. Nach dessen Beendigung legte sich Lewy auf eine Bank, anscheinend um zu schlafen. Tischlermeister Stutzke warf die Füße des Lewy von der Bank herunter mit den Worten: „Hier wollen noch mehr Leute sitzen.“ Stutzke setzte sich darauf neben Lewy und begann mit ihm Streit. Schließlich versetzte er dem Lewy zwei Schläge mit der flachen Hand auf den Kopf. Darauf soll Lewy von der Bank aufgesprungen sein und die Anwesenden gefragt haben, ob sie evangelischer oder katholischer Konfession seien. Als ihm gesagt wurde: beides, soll Lewy einen lateinischen Gesang angestimmt haben. Die anwesenden Katholiken hielten es für das „pater noster“. Dies Benehmen erregte Ärger. Schlossermeister Hahn schlug Lewy auf den Kopf, faßte ihn alsdann an die Brust und sagte zu ihm: „Jude, nun bekenne, brauchen die Juden Christenblut? Wer hat Ernst Winter geschlachtet?“ Lewy antwortete hierauf nicht. Als ihn aber Hahn noch einmal an die Brust faßte und heftig schüttelte, soll Lewy gesagt haben: „Die Juden brauchen Christenblut, aber nur die vom Stamme Abraham, die vom Stamme Lewy brauchen Rotwein.“ Ferner soll Lewy gesagt haben: „Wenn ein Jude vor Gericht einen falschen Eid leistet, dann ist das keine Sünde, nur in der Synagoge dürfen die Juden nicht falsch schwören.“ Inzwischen hatte Gastwirt Schülke Feierabend geboten. Die Gäste entfernten sich, nur Hahn, Lewy und ein fremder Fleischergeselle, namens Emil Müller, blieben zurück. Bald darauf kam auch Nachtwächter Vergin in die Gastwirtschaft. Schülke, Hahn und Vergin setzten sich zusammen, um gemeinschaftlich Schnaps zu trinken. Lewy soll hierbei ohne Veranlassung geäußert haben: „Wenn Christus heute wieder auf die Welt käme, dann würde er nochmals gekreuzigt werden.“ Daraufhin faßten Hahn und Vergin den Lewy am Kragen, warfen ihn zur Erde und schlugen heftig auf ihn ein. Hahn soll dem Lewy mit einem fingerdicken Stock mehrere kräftige Hiebe versetzt haben. Nachdem sich Lewy erhoben, haben ihn Hahn und Vergin wiederholt zur Erde geworfen, ihn nochmals mit dicken Stöcken heftig geschlagen, gestoßen und ganz besonders mit den Füßen heftig von rechts und links in die Hüften getreten. Darauf forderte Gastwirt Schülke den Lewy auf, das Vaterunser zu beten. Lewy faltete die Hände und sprach in deutscher Sprache das Vaterunser. Bald darauf klagte Lewy über große Schmerzen. Er zog sich in seine Kammer zurück. Dort ist er am folgenden Tage gestorben. Aus Anlaß dieses Vorganges wurden Hahn und Vergin verhaftet und die Anklage wegen gemeinschaftlich begangener vorsätzlicher Körperverletzung mittels das Leben gefährdender Werkzeuge, wodurch der Tod des Verletzten erfolgt ist, gegen sie erhoben. Sie hatten sich deshalb am 18. Januar 1904 vor dem Schwurgericht richt zu Konitz zu verantworten. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Mensching. Die Anklage vertrat der Erste Staatsanwalt Dr. Schweigger. Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Hasse und Gebauer (Konitz). Der Angeklagte Hahn gab an: Er sei seit Jahren dem Trunk ergeben, so daß er oftmals, selbst in nüchternem Zustande „Geister“ sehe. Seine Frau habe ihn seiner Trunksucht wegen vor zwei Jahren verlassen. Am 28. September 1903 habe er bereits am Vormittag drei große Flaschen Schnaps getrunken.

Kreisarzt Dr. König (Konitz) erklärte: Hahn sei verhandlungsfähig und habe sich bei Begehung der Tat nicht in einem Zustande befunden, in dem seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

Zur Sache äußerte sich Hahn auf Befragen des Vorsitzenden: Er hatte sich den ganzen Abend über die Redensarten des Juden geärgert. Er hatte auch den Eindruck, als wollte der Jude eine christliche gottesdienstliche Handlung vorführen. Nachdem Schülke Feierabend geboten hatte, sei er, Schülke, ein fremder Fleischergeselle und der Jude im Lokal geblieben. Sehr bald sei auch Nachtwächter Vergin in die Gastwirtschaft gekommen. Es sei Schnaps getrunken worden, der Jude habe aber keinen Schnaps bekommen.

Vors.: Woher wußten Sie, daß es ein Jude war?

Angekl.: Das wurde gesagt.

Vors.: Sah er denn aus wie ein Jude?

Angekl.: Jüdisch sah er aus.

Vors.: Es ist bei dem Getöteten eine Alters- und Invalidenversicherungskarte gefunden worden, die in Hannover ausgestellt ist. Danach hieß der Getötete: Abraham Lewy. Er war am 22. Februar 1845 zu Warschau geboren und Schriftsetzergehilfe.

Der Angeklagte Hahn erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Der Jude sagte: „Wenn heute Christus auf die Welt käme, dann würde er wieder verdammt und gesteinigt werden.“ Darüber ärgerten wir uns. Vergin ergriff den Juden an der Brust, wirbelte ihn ein paarmal umher, so daß der Jude zur Erde fiel. Alsdann versetzte Vergin dem Juden mit seinem Stock ein paar Schläge. Er nahm den Stock des Fleischergesellen und versetzte damit dem Juden noch etwa sechs Schläge. Der Jude wollte sich darauf erheben, das konnte er aber nicht; erst nach einer Weile stand er auf und ging in seine Kammer.

Vors.: Haben Sie nicht den Juden auch mit Füßen getreten und ihn „geschuppst“?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie sollen sich am folgenden Tage, als Sie hörten, daß der Jude tot sei, geäußert haben, daß Sie ihn heftig mit einem dicken Stock geschlagen haben, und zwar ohne zu sehen, wo Sie hinschlugen?

Angekl.: Davon weiß ich nichts.

Der Angeklagte Vergin äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Der Jude habe sich gerühmt, die Gesänge und gottesdienstlichen Handlungen aller Konfessionen nachahmen zu können. Darüber und über andere gotteslästerliche Redensarten des Juden habe er sich geärgert, deshalb habe er ihn am Halse gefaßt, ihn ein paarmal in der Luft herumgewirbelt, auf die Erde geworfen und ihm mit seinem Stock einige Schläge versetzt. Alsdann habe auch Hahn mit einem dicken Stock auf den Juden geschlagen.

Vors.: Wohin wurde der Jude geschlagen?

Vergin: Das weiß ich nicht mehr.

Vors.: Wurde der Jude nicht auch mit Füßen getreten?

Vergin: Nein.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte noch der Angeklagte Hahn: Aus Anlaß eines von dem Juden angestimmten Gesanges habe ich den Juden an die Brust gefaßt und gesagt: „Jude, bekenne, brauchen die Juden Christenblut und wer hat Ernst Winter geschlachtet?“ Der Jude antwortete zunächst nicht. Als ich die Frage wiederholte, sagte der Jude: „Die Juden brauchen Christenblut, aber nur die vom Stamme Abraham.“ Weiter sagte der Jude: „Wenn ein Jude vor Gericht einen Eid leistet, so gilt dieser wohl vor Gericht, aber nicht vor Gott. Nur der Eid, der von den Juden in der Synagoge geschworen wird, ist gültig; dafür müssen aber an den Rabbiner 1 Mark 50 Pfennig gezahlt werden.“

Gemeindevorsteher Mausolf: Der Angeklagte Vergin sei Nachtwächter und Ortsdiener in Stegers und als solcher vereidet. Er sei stets ein nüchterner Mann und pflichttreuer Beamter gewesen. Vergin sei verheiratet und habe acht Kinder, von denen das älteste 15, das jüngste ein halbes Jahr alt sei.

Vergin fügte hinzu: Seine Frau sei wieder in guter Hoffnung.

Gemeindevorsteher Mausolf: Vergin sei ganz arm; wenn er verurteilt würde, dann müßte die Gemeinde die ganze Familie ernähren.

Vors.: Darüber sind Sie nicht gefragt worden. Wenn Vergin schuldig ist, dann muß er verurteilt werden.

Weitere Zeugen bekundeten: Der Jude sei auch von anderen Leuten heftig geschlagen worden, weil er nicht sagen wollte, wer Ernst Winter geschlachtet hat und wo das Blut von Winter hingekommen ist.

Gastwirt Schülke: Soweit ihm erinnerlich, habe Tischlermeister Stutzke den Juden gefragt: ob die Juden Christenblut brauchen. Der Jude habe geantwortet: Die vom Stamm Lewy brauchen nur Rotwein, die vom Stamm Abraham brauchen aber Christenblut.

Vors.: Wenn in Ihrer Wirtschaft Gäste geschlagen werden, schreiten Sie alsdann nicht ein?

Zeuge: Ich habe den Leuten gesagt, Sie sollten den Juden nicht schlagen.

Auf Antrag eines Geschworenen wurde festgestellt, daß der Zeuge Lietz bekundet hat: Schuhmachermeister Graeber habe den Juden etwa zehnmal heftig auf den Kopf geschlagen.

Schülke: Das ist möglich; ich hatte in meiner Wirtschaft zu tun und konnte nicht alles beobachten.

Auf Befragen des Vorsitzenden bekundete Gastwirt Schülke noch: Am folgenden Morgen habe er den Juden geweckt und ihm gesagt: er solle aufstehen, da er doch weiterreisen wolle. Der Jude erhob sich aber nur, stöhnte und klagte über heftige Schmerzen. Er habe daher den Mann liegen lassen. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Abends gegen 9 Uhr sei er wieder in die Kammer gegangen, da sah er, daß der Jude tot war.

Kätner Lietz bekundete: Stutzke hat Lewy von hinten gepackt, geschüttelt, zur Erde geworfen. Alsdann haben Stutzke und Graeber heftig auf Lewy eingeschlagen. Graeber habe Lewy mindestens zehn heftige Schläge auf den Kopf versetzt.

Graeber bestritt das.

Lietz bemerkte jedoch auf eindringlichen Vorhalt des Vorsitzenden: Er halte seine Aussage in vollem Umfange aufrecht; er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Hahn habe ihm erzählt: Er und Vergin haben den Juden zur Erde geworfen und von 10 bis 12 Uhr unaufhörlich mit Stöcken geschlagen und mit Füßen getreten.

Angeklagter Hahn: So lange hat es nicht gedauert, um halb 11 Uhr war alles zu Ende.

Vergin sagte: Der Jude hat von mir noch lange nicht genug bekommen, du mußt ihm auch noch ein paar versetzen. Daraufhin nahm ich den Stock vom Fleischergesellen und versetzte ihm einige Schläge.

Arbeiter Michael Schulz: Hahn habe ihm erzählt: Er habe den Juden mit einem „Bullenpeser“ (Stock mit Bleiknopf, sogenannter Totschläger) geschlagen. Vergin habe dem Juden die Rippen entlang geschlagen.

Kreisarzt Dr. Baunick (Schlochau): Der Tod des Lewy, dessen Leichnam bei der Obduktion bereits in Verwesung übergegangen war, sei durch Bluterguß in die Schädelhöhle erfolgt. Die Ursache dieses Blutergusses sei durch Zerreißung der Blutgefäße, die durch äußere Gewalt hervorgerufen war, geschehen. Das Gehirn war unverletzt. Auf der Lunge und am Rücken waren blutrünstige Stellen, die ebenfalls von äußerer Gewalt herbeigeführt waren.

Auf Befragen der Verteidiger bemerkte der Kreisarzt: daß die Schläge, die Lewy von Stutzke und Graeber erhalten, den Tod verursacht haben, halte er für ausgeschlossen.

Auf Befragen des. Beisitzers, Landrichters Schröder, äußerte der Kreisarzt noch: Die Schläge müssen mit großer Heftigkeit geführt worden sein. Lewy müsse mit einem sehr dicken Stock, und zwar mit voller Manneskraft geschlagen und auch in sehr brutaler Weise mit Füßen getreten worden sein.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Kreisarzt, daß die Mißhandlung in einer das Leben gefährdenden Weise geschehen sei.

Die anderen medizinischen Sachverständigen schlossen sich diesem Gutachten vollständig an.

Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger beantragte gegen beide Angeklagte das Schuldig der gemeinschaftlich begangenen vorsätzlichen Körperverletzung mit tödlichem Ausgange, und zwar mittels eines das Leben gefährdenden Werkzeuges. Der Erste Staatsanwalt ersuchte die Geschworenen, den Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen, da sie beide unbestraft und von dem Gemißhandelten augenscheinlich gereizt worden seien.

Verteidiger Rechtsanwalt Hasse bestritt, daß eine gemeinschaftliche Mißhandlung vorliege. Es sei auch nicht erwiesen, daß durch die von Hahn geschehene Mißhandlung der Tod des Lewy erfolgt sei: Er ersuche daher die Geschworenen, betreffs Hahn die Gemeinschaftlichkeit und die Frage betreffs des Todeserfolges zu verneinen.

Verteidiger R.-A. Gebauer suchte in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß sein Klient, der Angeklagte Vergin, sich in keiner Weise strafbar gemacht habe. Ein Beweis sei jedenfalls hierfür nicht erbracht. Der Verstorbene habe mit einem fremden Fleischergesellen in einer Kammer zusammen geschlafen. Letzterer habe geäußert: er wolle mit Lewy nicht weiter zusammen wandern, denn dieser habe bereits die Leute in der Herberge zu Hammerstein und auf dem Wege auch ihn durch Redensarten geärgert. Nun sei der Fleischergeselle spurlos verschwunden. Was zwischen dem verstorbenen Lewy und dem Fleischergesellen vorgegangen sei, wisse man nicht. Man wisse auch nicht, ob sich nicht Lewy in der Nacht selbst eine Verletzung am Kopfe zugezogen habe. Es sei auch möglich, daß die Schläge, die Stutzke und Graeber dem Lewy versetzt, den Tod herbeigeführt haben. Jedenfalls sei nicht erwiesen, ob Vergin den Lewy überhaupt auf den Kopf geschlagen habe. Er ersuche daher, die Schuldfragen betreffs Vergin sämtlich zu verneinen.

Gastwirt Schülke, der noch einmal vorgerufen wurde, bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Vergin habe nur auf Lewy geschlagen, um ihn zum Aufstehen zu veranlassen. Hahn sei Antisemit, d.h. ein Judenfeind durch und durch.

Erster Staatsanwalt: Schülke suche nunmehr sein Zeugnis zu drehen. Es sei kein Zweifel, daß eine gemeinschaftliche Mißhandlung begangen worden, wodurch der Tod des Gemißhandelten erfolgt sei. Die Angeklagten haben selbstverständlich nicht den Willen gehabt, den Tod herbeizuführen, das war ein unglücklicher Zufall.

Die Geschworenen bejahten nur die Schuldfrage bezüglich Hahn, verneinten aber die Frage, daß dadurch der Tod herbeigeführt worden sei und billigten Hahn mildernde Umstände zu. Betreffs Vergin verneinten die Geschworenen alle Schuldfragen.

Der Erste Staatsanwalt beantragte gegen Hahn 1 Jahr 6 Monate Gefängnis, gegen Vergin Freisprechung.

Der Gerichtshof verurteilte Hahn wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahre Gefängnis und sprach Vergin frei. Der Vorsitzende führte aus: Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof das offene Geständnis des Angeklagten Hahn, seine bisherige Unbescholtenheit sowie seinen geistigen Zustand in Erwägung gezogen. Andererseits hat der Gerichtshof erwogen, daß die Tat eine außergewöhnlich rohe ist, die in dem Verhalten des Verletzten keinerlei Begründung findet. Die Mißhandlung ist geschehen nach 10 Uhr abends, nachdem sich die meisten Personen aus dem Schülkeschen Lokale entfernt hatten und längst wieder Ruhe eingetreten war. Es lag somit keine Veranlassung anlassung zu einer solch rohen Mißhandlung vor.

Die falsche Hofdame und der falsche Kammerherr

Eine Gerichtsverhandlung in Potsdam

Die Zahl der anormal veranlagten Menschen ist größer als die Leute, die mit der Kriminaljustiz keine Berührung haben, ahnen mögen. Daß die gleichgeschlechtliche Liebe unter dem männlichen und noch bedeutend mehr unter dem weiblichen Geschlecht, und zwar in jedem geschlechtsreifen Alter und unter allen Gesellschaftsklassen ungemein verbreitet ist, habe ich im elften Bande der „Interessanten Kriminalprozesse“ in dem Beleidigungsprozeß Moltke-Harden eingehend nachgewiesen. Die häßlichste und gefährlichste Abart, die Sadisten oder Masochisten, die das Verlangen haben, ihre Nebenmenschen körperlich zu peinigen, oder auch, sich peinigen zu lassen, scheint glücklicherweise in der Abnahme begriffen zu sein. Es gibt aber bezüglich der geschlechtlichen Veranlagung noch so viele Abarten, daß man der gütigen Mutter Natur den Vorwurf nicht ersparen kann: sie weiche bei der Schaffung der Menschen vielfach von der Norm ab. Man kann keineswegs behaupten: die Natur hat zwei verschiedene Geschlechter (männlich und weiblich) geschaffen und alles, was von der Norm abweicht, ist unnatürlich oder „widernatürlich“, wie es im Strafgesetzbuch heißt. Der Gerichtsberichterstatter, der tagtäglich jahraus, jahrein Gelegenheit hat, die menschlichen Schwächen vor den Schranken der Justiz zu beobachten, kann sich über den mittelalterlichen Ausdruck „widernatürlich“ eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Der Gesetzgeber, der das Wort „widernatürlich“ geprägt, hat damit eine Weltfremdheit sondergleichen der menschlichen Veranlagung gegenüber bekundet. Möge man doch endlich einsehen, daß mit noch so harten Bestrafungen und Ächtunden, wie Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, eine geschlechtliche Veranlagung nicht ausgerottet, auch nicht einmal eingedämmt werden kann. Wenn mit harten Strafen etwas zu erreichen wäre, dann wäre es bereits im Mittelalter gelungen, ein sittliches Eldorado zu schaffen. Wer einmal Gelegenheit hatte, im Preußerschen Museum die in Spiritus aufbewahrten Embryonen in Augenschein zu nehmen, der wird unmöglich feststellen können, ob sich die fünf oder sechs Monate alten Embryonen nach der männlichen oder weiblichen Seite entwickeln werden. Da die Natur bisweilen bei Schaffung der Menschen sehr unregelmäßig zu Werke geht, so entstehen männliche Wesen mit weiblichen Neigungen und weibliche Wesen mit männlichen Neigungen. Wer, wie das häufig von Unwissenden geschieht, darüber lächelnd die Nase rümpft, bezeugt, daß ihm für anormale menschliche Beschaffenheit das Verständnis fehlt. Mit demselben Recht, wie Leute über anormale Veranlagung lächeln, kann man auch Leute bespötteln, die mit einer sogenannten Hasenscharte oder einem anderen Gebrechen behaftet sind. Leute, die nicht mehr in der mittelalterlichen Anschauung befangen sind, werden Gebrechen oder anormale Veranlagung nicht als Ausgeburten der Übersättigung oder der Zügellosigkeit halten. Daß vielfach Leute erst im reiferen Alter ihr richtiges Geschlecht erkennen, zeigen treffend folgende Beispiele. Vor vielen Jahren erschien auf dem Berliner Kriminalgericht, als die Justitia in Berlin noch im Hause Molkenmarkt 3 thronte, ein hübscher, bartloser junger Mann von 22 Jahren mit schön frisiertem, goldblondem Haupthaar. Er überreichte dem Gerichtsdiener seine Vorladung. Der Gerichtsdiener warf einen Blick auf die Vorladung und sagte zu dem jungen Mann: „Sie kommen wohl für Ihre Schwester, es gibt aber bei Gericht keine Vertretung.“ Nein, ich komme nicht für meine Schwester, antwortete der junge Mann, ich bin angeklagt. Na, hier steht doch unverehelichte Martha Hirschmann, versetzte der Gerichtsdiener. Das bin ich, fiel der junge Mann ein. Ich habe bis vor vierzehn Tagen Martha geheißen, weil ich Weib war. Seit vierzehn Tagen bin ich Mann und heiße Martin Hirschmann. Ich habe mir auch schon eine weibliche Braut angeschafft. „Nu schlag aber eener lang,“ versetzte unwirsch der Gerichtsdiener. „So wat is mir doch noch nicht vorgekommen. Wenn Sie Weib waren, da müssen Sie doch Weib bleiben.“ Ich habe keine Schuld, daß ich so spät mein wahres Geschlecht erkannt habe, versetzte der junge Mann. Ich werde es jedenfalls dem Staatsanwalt melden, sagte der Gerichtsdiener mit einem lächelnden Blick auf den hübschen jungen Mann, den man allerdings für ein verkleidetes Mädchen halten konnte. In demselben Augenblick rief ein anderer Gerichtsdiener mit Stentorstimme: „Sache Hirschmann, Angeklagte und Zeugen eintreten.“ Der junge Mann, der wegen Hundediebstahls angeklagt war, von Beruf Kellner, betrat die Anklagebank der fünften Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, wie es früher hieß. Der Vorsitzende, Stadtgerichtsrat Herzbruch, seine zwei Beisitzenden sowie der Staatsanwalt und der Gerichtsschreiber sahen sich verwundert den Angeklagten an. Das ist wohl eine Verwechselung, herrschte der Vorsitzende den Gerichtsdiener an. Sie sollten doch die Sache Hirschmann aufrufen. Gerichtsdiener: Herr Gerichtsrat, der junge Mann sagt: er ist die Kellnerin Martha Hirschmann. Jawohl, das stimmt, rief der Angeklagte.

Vors.: Wenn Sie glauben, Sie können sich mit dem Gerichtshof einen Scherz erlauben, dann irren Sie sich gewaltig. Wie können Sie sich erdreisten, hier als Mann zu erscheinen?

Angekl. (ein großes Dokument aus der Tasche ziehend): Hier, Herr Gerichtsrat, ist die Bescheinigung des Ministers, wonach ich berechtigt bin, als Mann zu leben und männliche Kleidung zu tragen. Der Gerichtsrat las das Schriftstück; er zeigte es seinen Beisitzenden und dem Staatsanwalt. Es war kein Zweifel, die Erzählung des jungen Mannes war durch das ministerielle Schreiben vollständig bestätigt. Die Anklage richtete sich infolgedessen gegen den Kellner Martin Hirschmann. Er behauptete, er habe den Hund nicht gestohlen, der Hund sei ihm nachgelaufen. Da das Tier herrenlos war und Hunger hatte, habe er es aus Erbarmen mitgenommen. Die Zeugen vermochten diese Behauptung nicht zu widerlegen, der junge Mann wurde infolgedessen freigesprochen. „Lassen Sie sich aber nicht einfallen, nochmals derartige Sachen zu machen, das nächstemal könnte es Ihnen doch übel ergehen,“ rief dem neugebackenen Jüngling der Vorsitzende zu. Mit einer vornehmen Verbeugung verließ der Angeklagte den Gerichtssaal.

Zur selben Zeit las man in einer medizinischen Zeitschrift: Bei einem Arzt im Westen Berlins erschien eine ältere Dame mit ihrer 19jährigen bildschönen Tochter. Die Mutter bat den Arzt, die Tochter zu untersuchen, da sie über Schmerzen klage. Der Arzt bat die Mutter, sich ins Wartezimmer zu begeben. Nach eingehender Untersuchung erklärte der Arzt der Mutter: Er müsse ihr eröffnen, daß die junge Dame in Wahrheit – ein Sohn – sei. Er wundere sich, daß, da die junge Dame doch schon ärztlich behandelt worden, dies nicht schon früher festgestellt worden sei. Die Mama, Gattin eines Berliner Großbankiers, traute ihren Ohren kaum. Der Arzt, ein alter Sanitätsrat, äußerte sich aber derartig bestimmt, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war. Was der Papa zu der Metamorphose seines Sprößlings gesagt hat, vermochte man nicht zu erfahren.

Der bekannte Nervenarzt Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin) stellte vor einigen Jahren in der Gesellschaft für soziale Medizin und Hygiene, die im Hörsaale der Lassarschen Klinik unter dem Vorsitz des Geheimen Regierungsrats Professors Dr. Mayet tagte, drei Leute vor. Der erste war ein 23jähriger Schriftsteller. Er, richtiger sie – denn sie erschien wohl in männlicher Kleidung, trug aber noch keine Hosen, sondern ein Frauenkleid – hatte ein goldenes Pincenez und rauchte sehr kokett eine Zigarette. Diese junge, sehr hübsche Dame war in heißer Liebe zu einem jungen weiblichen Wesen entbrannt. Sie war bereits „glücklicher Bräutigam“ und sollte, wie Dr. Hirschfeld mitteilte, zehn Tage später als Mann erklärt werden, so daß nach weiteren vier Wochen die Hochzeit stattfinden den sollte. Alsdann führte Dr. Hirschfeld – ich war in dieser Versammlung als Berichterstatter anwesend – einen kleinen, sehr stark gebauten Mann mit hellblondem, wohlgepflegtem Schnurrbart im Alter von 45 Jahren vor. Dieser Mann war bis zum 26. Lebensjahre eine Frau. Der Mann nahm, mit Erlaubnis des Vorsitzenden, selbst das Wort und erzählte: Er sei bis zum 26. Lebensjahre Anlegemädchen in einer Druckerei gewesen. Nachdem er als Mann erklärt worden war, habe er drucken gelernt und sei schon seit einer Reihe von Jahren bei einer großen Berliner Druckerei Maschinenmeister. Er sei seit 15 Jahren glücklich verheiratet. Er führe eine sehr gute Ehe und habe fünf Kinder, drei Knaben und zwei Mädchen, die, wie die Ärzte erklären, sämtlich vollständig normal sind. Das dritte, von Dr. Hirschfeld vorgestellte Individuum war eine 28jährige Wäschezuschneiderin. Es war unverkennbar, daß das Individuum männlichen Geschlechts war. Es war ihm auch gestattet, als Mann zu leben und sich männlich zu kleiden, der Mensch wollte aber von diesem Recht aus wirtschaftlichen Gründen keinen Gebrauch machen, da er alsdann genötigt gewesen wäre, sich einen neuen Erwerbszweig zu suchen.

Anfang Juni 1908 hatte sich vor der Strafkammer zu Dessau ein etwa 45 Jahre alter Eisenbahnbeamter, verheiratet und Vater von fünf Kindern, wegen Einbruchsdiebstahls zu verantworten. Der Angeklagte, ein vollständig unbescholtener Mann, der sich des besten Leumunds erfreute, unternahm des Nachts Einbruchsdiebstähle. Er stahl aber ausschließlich gebrauchte Frauenwäsche. Bei einem Einbruch, den er in der Wohnung des Dessauer Polizeidirektors unternahm, wurde er schließlich ertappt und festgenommen. Er behauptete: Eine unwiderstehliche Gewalt zwinge ihn, getragene Frauenwäsche zu stehlen und diese sich auf seinen Körper zu ziehen. Er empfinde dadurch ein großes Wohlbehagen. Es sei ihm unmöglich, das Anlegen von getragener Frauenwäsche längere Zeit zu entbehren. Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin) war zu dieser Verhandlung als Sachverständiger geladen. Am Tage vor der Verhandlung sprach Dr. Hirschfeld mit Erlaubnis des Untersuchungsrichters den Angeklagten im Gefängnis. Auf die Frage des Dr. Hirschfeld: weshalb er sich die Frauenwäsche nicht gekauft habe, er hätte doch alsdann nicht nötig gehabt, Einbrüche zu begehen und im Gefängnis zu sitzen, erwiderte der Angeklagte: Neue Frauenwäsche nützt mir nichts, nur getragene Frauenwäsche verursacht mir Wohlbehagen. Dr. Hirschfeld erklärte den Mann für einen Fetischisten, der für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden könne. Die anderen Sachverständigen erklärten aber: Der Mann sei wohl geistig minderwertig, seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 des Strafgesetzbuches sei aber nicht ausgeschlossen. Daraufhin verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten zu 5 Jahren Gefängnis.

Dem Vernehmen nach verfiel der Angeklagte nach einiger Zeit vollständig in Geisteskrankheit. Er mußte in eine Irrenanstalt übergeführt werden; in dieser soll er vor einiger Zeit gestorben sein.

Im März 1907 saß ein 21jähriger Berliner Student auf der Anklagebank einer Berliner Strafkammer. Der junge Mann gehörte einer Studentenverbindung an, in der sich die Mitglieder verpflichten müssen, jeden außerehelichen Verkehr streng zu meiden. Der junge Mann versicherte auch, daß er noch niemals mit einem weiblichen Wesen intim verkehrt habe, er sei auch nicht homosexuell, er habe aber den unwiderstehlichen Drang, Mädchen die Zöpfe abzuschneiden. Er sei nicht in Mädchen, aber in deren Zöpfe, wenn sie blond sind, geradezu sterblich verliebt. Zöpfe aus schwarzen Haaren verschmähe er. Dieser unwiderstehliche Drang habe ihn veranlaßt, mit einer scharfen Schere durch die belebtesten Straßen Berlins zu gehen und jungen Mädchen mit blonden Haaren in unbeobachteten Augenblicken die Zöpfe abzuschneiden. Eines Tages befand sich der Angeklagte in der Leipziger Straße. Vor ihm ging ein junges Mädchen mit prachtvollen hellblonden Zöpfen. Die noch sehr jugendliche Dame, Tochter eines aktiven Gardeobersten blieb mit ihren Eltern vor einem Schaufenster stehen. Der Augenblick ist günstig, dachte der Student. Ein Ruck mit der Schere, und die prächtigen Zöpfe des jungen Mädchens waren in der Hand des Studenten. In demselben Augenblick hatte aber der Oberst den kühnen Zopfabschneider am Kragen. Der junge Mann, der einige Entschuldigungsworte stammelte, wurde einem Schutzmann übergeben, das junge Mädchen aber erlitt einen Nervenchok. In der Wohnung des Zopfabschneiders fand man eine ganze Kollektion abgeschnittener blonder Zöpfe. „Wollten Sie die Zöpfe veräußern?“ fragte in der Strafkammerverhandlung der Vorsitzende den Angeklagten. „Keineswegs,“ antwortete der junge Mann. „Ich empfand ein wollüstiges Behagen durch den bloßen Anblick, noch mehr aber durch die Berührung der Zöpfe.“ Der Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Leppmann, der den Angeklagten beobachtet hatte, teilte mit: Es gebe Zopfabschneider, die ausschließlich schwarze, aber auch solche, die nur alten Frauen weiße Zöpfe abschneiden. Obwohl gerade weiße Zöpfe wegen ihrer Seltenheit sehr teuer seien, pflegen die Zopfabschneider die Zöpfe nicht zu veräußern, sondern sie zwecks Wollusterregung aufzubewahren. Medizinalrat Dr. Leppmann erklärte: Der Angeklagte befinde sich in einer Geistesverfassung, daß er die Überzeugung gewonnen habe, der Angeklagte habe in einem unwiderstehlichen chen Drange gehandelt und sei für seine Taten nicht verantwortlich zu machen. Der Gerichtshof sprach infolgedessen den Angeklagten frei, zumal Familienangehörige – der junge Mann stammte aus sehr guter Familie – dem Gerichtshof die Versicherung gaben, sie würden den Angeklagten sogleich einer Heilanstalt zuführen1.

Vor langer Zeit hatte sich vor einer Berliner Strafkammer ein junger Mann zu verantworten, weil er in einem Lokal einem anderen jungen Mann den Hut, in den er sich angeblich verliebt, gestohlen hatte. Der Angeklagte wurde ebenfalls freigesprochen, weil die Gerichtsärzte erklärt hatten, der junge Mann habe unter einem unwiderstehlichen Drange gehandelt.

In seinem Werke: „Die Transvestiten“ schildert Dr. M. Hirschfeld eine große Anzahl Fälle, in denen Männer den unwiderstehlichen Drang empfunden haben, in weiblicher Kleidung, aber auch Frauen in männlicher Kleidung einherzugehen. Deserteure und Verbrecher legen vielfach Frauenkleidung an. Die 17jährige Tochter einer Beamtenfamilie, so erzählt Dr. Hirschfeld in seinem interessanten Buche, machte auf einem Balle die Bekanntschaft eines jungen Seemanns, der durch seine schmucke Uniform und seine angenehmen Manieren sofort ihr Herz gewann. Der hübsche Matrose war, wie er erzählte, auf längere Zeit beurlaubt. Nach einigen Wochen willigten die Eltern in eine Verlobung, die auch regelrecht bei Musik und Tanz gefeiert wurde. Eines Tages war der Seemann verschwunden. Als sich die verlassene Braut an Verwandte wendete, von denen der Bräutigam früher gelegentlich gesprochen hatte, erfuhr sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung, daß der Auserwählte ihres Herzens – kein Mann, sondern weiblichen Geschlechts sei. Da das junge Mädchen das trotzdem nicht glauben wollte, wurde ein Zusammentreffen mit dem Bräutigam, der Berlin noch gar nicht verlassen hatte, ermöglicht. Hier erschien der Bräutigam, der keine Ahnung hatte, wer ihn erwartete, in weiblicher Kleidung. Der Verlobte war, wie sich nachträglich herausstellte, derselbe weibliche Matrose, der einen Schneidermeister im Norden Berlins mit zwei Matrosenanzügen geprellt hatte. Der Person sah man allerdings kaum an, daß sie zu Evas Geschlecht gehörte. Sie hatte männliche Gesichtszüge und kurzgeschnittenes Haar.

Der 19jährige Kellner Franz W. aus Berlin liebte es, des Abends stets in Frauenkleidern auszugehen. In dieser Verkleidung lockte er Männer an, um Diebstähle, Erpressungen und dergleichen auszuführen. Eines Abends fiel er der Kriminalpolizei in die Hände. Im Polizeipalast am Alexanderplatz wurde er zwar als männliches Individuum erkannt, da es dort aber keine besondere Garderobe für Untersuchungsgefangene fangene gibt, wurde er in seinen Frauenkleidern in das Moabiter Untersuchungsgefängnis übergeführt, woselbst er sein Kostüm natürlich sofort mit einem Gefangenenanzuge vertauschen mußte.

Ein junger Bursche in Mainz, Sohn eines Weinwirts, verschaffte sich nach seiner Entlassung aus der Schule Frauenkleider. Er hatte eine weibliche Stimme, und seine Erscheinung stand der Verkleidung nicht im Wege. Als Frau ging der noch blutjunge Mensch auf Abenteuer aus. Er richtete die überschwenglichsten Liebesbriefe an Persönlichkeiten, die er nur dem Namen nach kannte, hauptsächlich an Offiziere. Als er älter geworden war, machte er die Bekanntschaft eines sehr reichen Barons von E. Diesem stellte er sich als eine verarmte Komtesse v.S. vor. Er beherrschte den Baron vollständig. Allen Annäherungen des Barons wußte er geschickt aus dem Wege zu gehen; er sei ein „anständiges Mädchen“, pflegte er zu sagen. Der Baron erfuhr schließlich, daß das „anständige Mädchen“ ein verkleideter junger Mann war. Der junge Mann verschwand. Einige Wochen darauf wurde in Darmstadt eine Kellnerin wegen Diebstahls verhaftet. Es war der junge Mann, der die ganze Zeit in der Wirtschaft bedienstet war und mit einem Unteroffizier angebandelt hatte. Der Unteroffizier mußte sich versetzen lassen, weil der Spott seiner Kameraden zu groß war. Eine weitere Rolle spielte der junge Mann in einem Prozeß, dessen Schauplatz die Husarenkaserne war. Auch damals stand der junge Mann mit Offizieren auf sehr gutem Fuß. Einem Offizier, dem sich der junge Mann als adlige Dame vorgestellt hatte, stahl er eine wertvolle Brieftasche. Keiner der Offiziere wollte glauben, daß die Dame, die so glühende Liebesbriefe schreiben konnte und sich wie eine Weltdame bewegte, ein gewöhnlicher Schwindler und Dieb sei!

In einer Familie im Westen Berlins hatte sich ein hübsches Hausmädchen, das sich Rosa nannte, vermietet. Sie hatte sich das volle Vertrauen und die volle Zufriedenheit ihrer Herrschaft erworben. Eines Tages erschienen zwei Herren. Sie riefen dem Mädchen, das ihnen die Salontür geöffnet hatte, zu: „Perücke herunter“. Da Rosa zögerte, rissen ihr die Herren – es waren zwei Kriminalbeamte – die Perücke mit Gewalt vom Kopfe und – ein junger Mann mit kurzen Haaren stand vor ihnen. Der junge Mann, der wegen verschiedener Straftaten von der Polizei gesucht wurde, mußte den Beamten sofort nach dem Alexanderplatz folgen.

Am 8. September 1910 kam vor dem Laden des Hofjuweliers Baertges in Potsdam, Nauener Straße, eine hochelegante Equipage mit zwei feurigen Rappen angerollt. Der Equipage entstieg eine aufs nobelste gekleidete hübsche junge Dame. Sie trat in den Laden und stellte sich vor als „Manuela Gräfin v. Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin-Königin“. Sie habe von Ihrer Majestät den Auftrag erhalten, zu dem Geburtstage der Prinzessin Viktoria Luise eine Anzahl Schmuckgegenstände auszusuchen. Herr Baertges war über die ihm erwiesene hohe Ehre ungemein überrascht, zumal nur die kronprinzlichen Herrschaften zu seinen Kunden zählten. Er konnte keinerlei Mißtrauen haben, da ihm der Besuch der Hofdame vom Königlichen Hofmarschallamt kurz vorher telephonisch angezeigt war. Der telephonierende Kammerherr hatte bemerkt: Ihre Majestät habe den Wunsch geäußert, die Gräfin solle noch einige Ketten und Armbänder mitbringen. Nachdem die Hofdame Schmucksachen im Betrage von etwa 1500 Mark ausgesucht hatte, fragte Herr Baertges, ob er die Sachen ins Palais schicken solle. Die Hofdame erklärte jedoch, daß sie die ausgesuchten Gegenstände mitnehmen müsse. Sie bitte, die Sachen in die Equipage zu bringen. In diesem Augenblick betrat der Potsdamer Kriminalschutzmann Plack den Juwelierladen und forderte die Hofdame auf, sich zu legitimieren. „Das habe ich nicht nötig,“ versetzte die Gräfin mit einem verächtlichen Seitenblick. „Aber wenn Sie durchaus Ihre große Neugier befriedigen wollen, dann will ich Ihnen meine Visitenkarte verabfolgen.“ Mit einer verächtlichen Gebärde überreichte die Hofdame dem Beamten amten die Visitenkarte. Auf dieser stand „Manuela Gräfin v. Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin-Königin.“ Über dem Ganzen prangte eine Grafenkrone. Kriminalschutzmann Plack las die Karte. Dann sagte er: „Das ist alles recht nett und schön, geehrte Gräfin, die Visitenkarte befriedigt mich aber noch nicht. Ich habe Zweifel, daß Sie das sind, wofür Sie sich ausgeben, ich muß Sie deshalb auffordern, mir zur nächsten Polizeiwache zu folgen.“ „Das ist ja aber eine Frechheit sondergleichen,“ versetzte die junge Gräfin, die leichenblaß geworden war. „Sie scheinen nicht zu wissen, wie Sie sich einer Dame gegenüber von hohem Rang und Stand zu benehmen haben.“ „Ihr Auftreten kann mir nicht imponieren,“ antwortete der Schutzmann, „ich fordere Sie zum zweiten Male auf, mir zur nächsten Polizeiwache zu folgen.“ „Das will ich tun, versetzte die Hofdame, aber nur in meiner Equipage. Ich warne Sie jedoch vorher. Sie werden sich überzeugen, daß Sie sich geirrt haben. Ich werde alsdann Ihre Bestrafung beantragen.“ „Das mögen Sie tun,“ antwortete der Beamte, „ich muß aber auf meiner Aufforderung beharren, mir zur Wache zu folgen.“ Die Hofdame kam schließlich, wenn auch zögernd, der Aufforderung des Beamten nach. Auf der Polizeiwache angekommen, erregte die elegant gekleidete, hübsche junge Dame kein geringes Aufsehen. Kriminalschutzmann Plack begab sich mit der Dame in ein besonderes Zimmer und forderte sie auf, sich zu entkleiden. Zögernd entsprach die Dame dem Verlangen des Schutzmanns. Und – nachdem die Dame sich ihrer Kleider entledigt hatte, stand – ein junger Mann vor dem Beamten. Er gab an: er heiße Franz Eichbaum und wohne in Groß- Lichterfelde. Er habe eine betrügerische Absicht nicht gehabt, er wollte lediglich einen Streich ausführen; ganz besonders war es ihm darum zu tun, die Rolle möglichst durchzuführen. Auf weiteres Befragen gab Eichbaum an: Nicht das Königliche Hofmarschallamt, sondern sein Freund, der Kaufmann Paul Klemmt aus Charlottenburg, habe bei Baertges angeklingelt. Eichbaum wurde zunächst in Haft genommen, und da sich Zweifel bezüglich seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit ergaben, wurde er zwecks Beobachtung der Berliner Charité überwiesen. Die Charitéärzte erklärten: Eichbaum sei für seine Taten voll verantwortlich. Es wurde deshalb Anklage wegen versuchten Betruges, gegen Paul Klemmt wegen Beihilfe hierzu erhoben.

Am 31. März 1911 mußten Eichbaum und Klemmt auf der Anklagebank des Potsdamer Schöffengerichts erscheinen. Eichbaum, ein mittelgroßer, brünetter, hübscher junger Mann war am 12. Juli 1891 zu Schloppe in Westpreußen geboren und evangelischer Konfession. Paul Klemmt, ein großer, rotblonder, bartloser hübscher Mensch, war am 23. September 1890 in Berlin geboren, evangelischer Konfession. Es hatte sich zu der Verhandlung ein ungemein zahlreiches Damen- und Herrenpublikum aus den ersten Kreisen Potsdams eingefunden. Der Referendar Dr. jur. Prinz August Wilhelm von Preußen, der vierte Sohn des Kaisers, der dem Potsdamer Landgericht zur Ausbildung überwiesen war, hatte hinter dem Richtertisch Platz genommen. Den Vorsitz des Schöffengerichts führte Amtsgerichtsrat Dr. v. Normann. Die Anklage vertrat Referendar Dr. Weinhold. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg (Berlin) für den Angeklagten Franz Eichbaum und Rechtsanwalt Dr. Werthauer (Berlin) für Paul Klemmt.

Eichbaum äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Sein verstorbener Vater sei Kanzleirat am Potsdamer Landgericht gewesen. Er habe in Potsdam das Viktoria-Gymnasium bis zur Obertertia besucht, sei alsdann in Berlin auf einer Fähnrichschule bis zur Oberprima gewesen, aber nicht in die Armee eingetreten. Vor einiger Zeit sei er mit einem Freunde nach Texas gegangen. Er habe seiner Mutter geschrieben, sie solle nachkommen und sich dort eine Orangenplantage kaufen. Die Mutter habe dies tun wollen und hatte sich auch bereits ein Billett nach Texas gekauft, im letzten Augenblick hatte sich aber die Sache zerschlagen.

Vors.: Was sollte die Plantage kosten?

Angekl.: 40000 Mark.

Vors.: Sind Sie pervers?

Angekl.: Nein.

Vors.: Aber Sie haben eine Neigung, in Frauenkleidern zu gehen?

Angekl.: Jawohl, ich habe diese Neigung seit meiner frühesten Jugend.

Der Angeklagte erzählte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Am 7. September 1910 sei er des Abends mit seinem Freunde Klemmt in einem Weinrestaurant in der Leipziger Straße in Berlin zusammengetroffen. Er habe diesem den Vorschlag gemacht, wieder einmal einen Streich auszuführen. Der Plan sei beraten worden. Sie haben in Berlin in einem Hotel übernachtet. Am folgenden Morgen habe er sich seidene Frauenkleider, einen eleganten Damenhut usw. besorgt, habe mit seinem Freunde im Esplanade-Hotel in Berlin zu Mittag gespeist, alsdann seien sie in einem Automobil nach Potsdam gefahren. Das Automobil habe 60 Mark gekostet. In Potsdam sei sein Freund nach dem Café Weiß und er in einer gemieteten Privatequipage nach dem hiesigen Landgericht gefahren.

Vors.: Was wollten Sie auf dem Landgericht?

Angekl.: Ich erkundigte mich nach der Adresse eines Staatsanwalts.

Vors.: Was wollten Sie von dem Staatsanwalt?

Angekl.: Nichts, ich wollte nur meine Rolle als Dame so gut als möglich durchführen und dies gewissermaßen als Probe benutzen. Vom Landgericht fuhr ich nach dem Marmorpalais. Ich ließ die Equipage warten und stellte mich einem mir begegnenden Herrn als Manuela Gräfin von Arnim, Hofdame der Kaiserin, vor. Von dort fuhr ich nach dem Café Weiß. Ich beschloß nun, mit Klemmt verschiedene Verkaufslokale aufzusuchen, in diesen alle möglichen Gegenstände zu bestellen und mich als Hofdame usw. auszugeben. Es kam uns darauf an, daß ich die Rolle der Hofdame unerkannt durchführte. Klemmt sollte vorher in den Verkaufslokalen, die ich besuchen wollte, antelephonieren und sagen, er sei Hofmarschall, die Gräfin Arnim werde zwecks Einkäufe im Auftrage Ihrer Majestät erscheinen. Ich fuhr zunächst in der gemieteten Equipage zu dem Hofjuwelier Baertges nach der Nauener Straße. Ich ließ die Equipage warten, betrat den Laden, stellte mich vor und ließ mir Schmuckgegenstände für die Prinzessin Viktoria Luise, deren Geburtstag bevorstand, vorlegen. Herr Baertges sagte mir sogleich nach meinem Eintritt: Das Hofmarschallamt habe bereits antelephoniert und ersucht, noch einige Ketten und Armbänder mitzubringen. Ich wußte, daß ich von einem Kriminalbeamten verfolgt werde und daß dieser Mann draußen stand. Der Beamte trat auch sehr bald in den Laden und forderte mich auf, ihm zur Polizeiwache zu folgen. Ich bemerke ausdrücklich, wir hatten keine betrügerische Absicht, wir wollten lediglich einen Streich ausführen.

Der Angeklagte Klemmt sagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in Charlottenburg die Oberrealschule bis zur Obersekunda besucht, alsdann sei er eine Zeitlang auf der Handelsschule gewesen und sei darauf in Berlin in ein Modewarengeschäft eingetreten. Er gebe zu, daß er den Hofjuwelier Baertges von einem Restaurant aus antelephoniert und sich dabei als Hofmarschall ausgegeben habe. Eine betrügerische Absicht habe ihm ebenfalls vollständig ferngelegen, sie wollten sich nur einen Scherz machen.

Schutzmann Plack bekundete darauf als Zeuge: Er habe bereits Verdacht geschöpft, als die Dame nach dem Marmorpalais fuhr. An der Stimme und an den großen Füßen habe er wahrgenommen, daß die Dame ein verkleideter Mann sei. Er sei deshalb der Dame in Zivil auf einem Zweirade gefolgt. Als er den Juwelierladen betrat und den Angeklagten Eichbaum aufforderte, sich zu legitimieren, habe dieser ihm eine Visitenkarte vorgezeigt, auf der stand: „Gräfin Manuela von Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin.“ Eichbaum sagte sehr entrüstet: „Sie wissen wohl nicht, wie Sie sich einer Königlichen Hofdame gegenüber zu benehmen haben?“ Er habe sich aber nicht verblüffen lassen, sondern die angebliche Dame aufgefordert, ihm zur Polizeiwache zu folgen.

Juwelier Baertges bekundete: Kurz nachdem vom Hofmarschallamt bei ihm antelephoniert worden war, sei eine Equipage vor seinem Laden vorgefahren. Eine sehr elegant gekleidete Dame in seidener Robe, sehr schickem Hut und tief verschleiert sei in den Laden getreten, habe sich als Gräfin von Arnim, Hofdame der Kaiserin, vorgestellt und gesagt, daß sie im Auftrage der Kaiserin Schmuckgegenstände für die Prinzessin Viktoria Luise kaufen solle. Er habe die ausgesuchten Gegenstände ins Palais schicken wollen, die Dame habe aber sofort eingewendet: Ich muß die Sachen sogleich mitnehmen.

Angekl. Eichbaum: Das ist nicht wahr, ich wollte die Sachen nicht mitnehmen.

Zeuge: Ich weiß ganz genau, daß Eichbaum sagte: Ich muß die Sachen sofort mitnehmen; ich wollte sie auch gerade in die Equipage tragen, als der Kriminalbeamte eintrat.

Oberarzt der Charité, Stabsarzt Dr. Noack (Berlin) erstattete darauf ein längeres Gutachten: Ich habe den Angeklagten Eichbaum sechs Wochen in der Königlichen Charité zu Berlin beobachtet. Nach Aussage der Mutter ist Eichbaum weibisch. Er spielte mit 13 Jahren noch mit Puppen, trug die Kleider seiner Schwester, soll immer sehr nervös und stets voll toller Streiche che gewesen sein. Er hat das Gymnasium in Potsdam und das Johannisstift bis Untertertia besucht. Alsdann wurde er, da er sich einem weiteren Schulbesuch abgeneigt zeigte, als Lehrling in das Geschäft eines Kaufmanns gegeben. Nach einiger Zeit bekam er angeblich wieder Lust zum Studium und wollte sich das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis erwerben. Er besuchte die Lehranstalt des Dr. Sonneck in Berlin, hat aber den Unterricht vielfach geschwänzt. Im Juli 1907 bat die Mutter, da sie befürchtete, der Sohn werde vollständig einem liederlichen Lebenswandel verfallen, um Bestellung eines ganz energischen Beistandes. Anfang Oktober 1907 ist Eichbaum aus einem Eisenwarengeschäft in Warmbrunn in Schlesien, wo er als Lehrling beschäftigt war, entlaufen. Er wurde alsdann in einer Versicherungsanstalt als Schreiber beschäftigt. Im April 1900 wurde er von einer Theatergesellschaft als Schauspieler engagiert. Während seines Aufenthalts in Warmbrunn soll Eichbaum mehrere Diebstähle begangen haben, wofür er vom Landgericht in Hirschberg, Schlesien, mit Gefängnis bestraft worden ist. Er wurde außerdem wegen versuchten Betruges zu 10 Mark Geldstrafe und wegen vollendeten Betruges in zwei Fällen zu 20 Mark Geldstrafe verurteilt. Im März 1910 hatte er einen Freund in Texas besucht und den Entschluß gefaßt, sich dort eine Apfelsinenfarm zu kaufen. Die Mutter schickte 2000 Mark, um den Kauf der Farm in die Wege zu leiten. Der Angeklagte hat erzählt: Er habe schon einmal vor 6 Jahren, als er etwa 12 Jahre alt war, als Dienstmädchen verkleidet, in einem Hutgeschäft Hüte für eine Dame bestellt. Als die Hüte zu der bezeichneten Wohnung gebracht waren, sei er unterwegs weggelaufen, aber eingeholt und nach der Polizeiwache gebracht worden, wo ihn sein Vater abgeholt habe. Die in seinem Besitz gefundenen Visitenkarten, die auf den Namen der Gräfin Arnim lauten, habe er drei Tage vor dem Potsdamer Streich in Berlin drucken lassen. Schon als kleines Kind habe er den unwiderstehlichen Drang nach weiblicher Kleidung gehabt. Er glaube, es sei ein angeborener Trieb, den er wohl nie verlieren werde. Er fühle sich in weiblicher Kleidung wohler. Er habe sich von Verwandten ganze Toiletten verschafft, wie Damenstrümpfe, Jupons, Korsetts usw. Er habe keine Neigung zum weiblichen Geschlecht und weder Bälle noch Tanzstunden jemals mitgemacht. Als Gymnasiast habe er nicht wie die anderen die üblichen Liebeleien geübt, sondern sich zu Freunden hingezogen gefühlt. Er bekomme oftmals einen phantastischen Gedanken, den er sofort ausführe, ohne sich die Folgen zu überlegen. Er habe im Dresdener Kasino in Berlin Bälle von Homosexuellen mitgemacht. Bei seinem Schwager, einem Pastor bei Danzig, tat er immer, was er nicht sollte, nicht aus Trotz. Aber die Aufregung, die er deshalb hatte, machte ihm Spaß. Er bekam ein halbes Jahr lang täglich Prügel, das Angstgefühl machte ihm Spaß. Als er eines Tages aus der Schule kam, habe er in einem Laden auf den Namen einer Dame Bilder bestellt. Am folgenden Tage habe er die Bilder in der Schule verschenkt. In Warmbrunn habe es ihm Spaß gemacht, Glas auf die Erde fallen zu lassen. Er kaufte Gläser und schlug sie entzwei. Da habe er, ohne zu bezahlen, eine Vase mitgenommen und sie einem Freunde geschenkt. Auf die Idee, daß das Diebstahl war, kam er gar nicht. Ferner erzählte der Angeklagte: In demselben Geschäft in Warmbrunn, wo ich die Gläser nahm, sah ich die offene Ladenkasse mit vielen Geldstücken. Ich entnahm davon mehrere und warf sie ins Wasser. Im Kurpark zu Warmbrunn stahl ich einen Geldbeutel, lediglich um zu sehen, ob es gemerkt werden wird. Ich habe am folgenden Tage den Geldbeutel unversehrt zurückgebracht. Inzwischen war aber Anzeige bei der Polizei erstattet worden. Der Gutachter kam zu dem Schluß: Eichbaum, der auch erblich belastet ist, ist zweifellos eine geistig abnorme Persönlichkeit, deren Verkleidungstrieb zum Teil auf eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit zurückzuführen ist. Für Handlungen, die aus diesem Triebe hervorgehen, ist die Willensbestimmung nicht ausgeschlossen, aber doch in nicht unerheblichem Grade vermindert. Für die innerhalb des Verkleidungstriebes liegenden Strafhandlungen ist dagegen die freie Willensbestimmung nicht in erheblichem Maße beeinflußt.

Nervenarzt Dr. med. Magnus Hirschfeld (Berlin) bekundete darauf: Er habe den Angeklagten auf Veranlassung seiner Mutter längere Zeit beobachtet und behandelt. Der Angeklagte gehört zu den sogenannten Transvestiten, einer bestimmten Gruppe mannweiblicher Geschlechtsübergänge, deren hervorstechendstes Kennzeichen es ist, sich seelisch mehr oder weniger dem anderen Geschlecht zugehörig zu empfinden. Diesem seelischen Zwittertum suchen die Betreffenden durch die Verkleidung Ausdruck zu geben. Es gehören demnach zu den Transvestiten Männer, die zeitweise als Frauen auftreten, und weibliche Personen, die als Männer leben. Solche Personen hat es zu allen Zeiten gegeben. Hinsichtlich ihres Körperbaues in der Richtung ihres Geschlechtstriebes sind die Transvestiten vielfach von normaler Beschaffenheit. Wie die drei übrigen Hauptgruppen der sexuellen Zwischenstufen: die Hermaphroditen, die Androgynen und Homosexuellen, so entwickeln sich auch die Transvestiten stets auf ererbter Grundlage. Sie scheinen ein Mittel zu sein, deren sich die Natur bedient, der Entartung vorzubeugen. Die Sucht, sich als Weib zu verkleiden, machte sich bei dem Angeklagten schon in sehr frühem Alter bemerkbar. Nach den Aussagen der Mutter sträubte er sich heftig, als er als Kind die ersten Hosen bekommen sollte. Schon bevor er in die Schule ging, band er sich mit Vorliebe Schürzen vor, zog sich die Kleider der Schwester an, die er nachschleppen ließ, und setzte sich deren Hüte auf. Der Sachverständige führte noch eine Anzahl weiblicher Eigenschaften des Angeklagten an, die auf sein seelisches Zwittertum hindeuten. Auf die Frage des Arztes, welchen Beruf er ergreifen möchte, erwiderte der Angekl.: „Ich möchte eine Dame sein und geheiratet werden.“ Inwieweit die transvestitischen Neigungen im Einzelfall beherrscht werden können, hängt vor allem von dem Grade der neuropathischen Konstitution der Betreffenden ab, der damit zusammenhängenden Stärke der Hemmungen, die sehr verschieden ist. Im vorliegenden Falle ist die erbliche Belastung eine sehr beträchtliche. Mit ihr hängt die exzentrische Abenteuersucht des Angeklagten zusammen. Trotz seiner großen Jugend hat er bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich. So war er vor einem Jahre vier Monate in Texas, wo er sich u.a. als Serpentintänzerin produzierte; einmal war er von einem Konzert so entzückt, daß er dem Musiker 5 Tage nach Rußland nachreiste, um ihn nochmals zu hören. Auch Verkleidungskomödien, ähnlich dem Potsdamer Fall, hat er wiederholt ausgeführt. Vor allem reizte es ihn bei diesen sen Abenteuern, für eine wirkliche Dame gehalten zu werden. Das ist für die Transvestiten bezeichnend, bei denen sich die merkwürdigsten Lebensschicksale vorfinden. Der Sachverständige führte einige Fälle aus seiner Erfahrung an. So wurde vor einigen Jahren in Berlin auf einem Bau ein Anstreicher sistiert, der in Wirklichkeit eine Frau war. Diese Person war jahrelang unerkannt als Mann auf einem norwegischen Walfischfänger gefahren. Vor wenigen Tagen erhielt er (Dr. Hirschfeld) die Photographie eines Transvestiten, der den größten Teil seines Lebens als Dienstmädchen verbracht hatte. In Berlin wurde vor längerer Zeit ein Polizeibeamter pensioniert, der seinen Ferienurlaub mit Vorliebe im Gebirge als Frau verlebte. Von Transvestiten aus Kriegszeiten erwähnte der Sachverständige der Tochter eines Potsdamer Gastwirtes, Eleonore Prohaska, die unter dem Namen August Renz als freiwilliger Jäger in das Lützower Freikorps trat. Ihr Geschlecht wurde erst entdeckt, als sie im Gefecht bei Göhrde tödlich verwundet wurde. Der Gutachter folgerte aus den bizarren, höchst phantastischen Streichen vieler Transvestiten, der Vorgeschichte des Angeklagten und der grotesken Art und Weise, wie er die Hofdamengeschichte in Szene setzte, daß seine Behauptung, er habe lediglich eine Verkleidungsszene ohne betrügerische Absichten aufführen wollen, in der Tat Glauben verdiene. Der Sachverständige verständige schloß: „Mir scheint diese Seite der Begutachtung auf Grund der Psychologie des Angeklagten und des vorliegenden Falles das wesentliche. Wenn ich mich aber noch kurz zu der Frage äußern soll, ob und inwieweit bei dem Angeklagten die Bedingungen des § 51 zutreffen, gleichviel ob es sich um einen schlechten Scherz oder ein betrügerisches Komplott handelt, so bin ich zunächst der Meinung, daß die sexuellen Zwischenstufen an sich ebenso für ihre Handlungen verantwortlich zu machen sind, wie die übrigen Menschen. Im vorliegenden Fall besteht aber neben dem transvestitischen Triebe eine so hochgradige Schwächung der Intelligenz und der Hemmungen, daß die Frage nach der vorhandenen Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit bejaht werden kann. Namentlich ist in dieser Hinsicht auch seine Jugend sowie der periodische impulsive Charakter zu berücksichtigen, der bei seinen Streichen unverkennbar ist.“

Kriminalkommissar Dr. Kopp (Berlin) bekundete als Zeuge und Sachverständiger: Der Angeklagte Eichbaum sei bei der Berliner Kriminalpolizei als Homosexueller bekannt. Er (Dr. Kopp) habe in seiner Praxis eine Reihe von Leuten, insbesondere Schauspieler kennengelernt, die angeblich den unwiderstehlichen Trieb hatten, sich als Frauen zu verkleiden. Er habe einen Schauspieler gekannt, der zur Hundstagszeit mit dem Ränzel auf dem Rücken, in schäbigem Rock und ausgefranzten Beinkleidern durch die Lande zog und wie ein richtiger „armer Reisender“ von Haus zu Haus, Tür zu Tür um eine Gabe bettelte. Ein anderer Schauspieler empfange seine ausschließlich männlichen Gäste als Dienstmädchen verkleidet, mit einem weißen Häubchen auf dem Kopfe. In dieser Tracht wirkte er auch selbst am Kochherde und bereitete allerhand leckere Gerichte.

Kriminalpolizeiinspektor Hans v. Tresckow (Berlin): Er habe seit vielen Jahren bei der Berliner Kriminalpolizei das Dezernat für das Erpressertum. Da dies zumeist auf homosexuellem Gebiet liege, habe er von dem Leben und Treiben der Homosexuellen in Berlin volle Kenntnis. Als er den Angeklagten Eichbaum sah und ihn nur drei Worte sprechen hörte, habe er sofort die Überzeugung gewonnen, daß Eichbaum ein Homosexueller, oder wie es im Berliner Volksmunde heißt, „eine Tante“ sei. Diese Art Leute haben oftmals einen unwiderstehlichen Trieb, Frauenkleider anzulegen, und geben sich die erdenklichste Mühe, die Rolle als Frauen unerkannt durchzuführen. Es sei sehr wohl möglich, daß Eichbaum unter dieser unwiderstehlichen Gewalt gehandelt habe, ohne die Absicht des Betruges gehabt zu haben.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Referendar Dr. Weinhold, hielt trotzdem die betrügerische Absicht bei beiden Angeklagten für erwiesen und beantragte je sechs Monate Gefängnis, gegen Eichbaum außerdem wegen Anmaßung des Adels 14 Tage Haft.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Alsberg (Berlin) hob zu Eingang seiner Ausführungen hervor, daß die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen im vorliegenden Falle eine ganz eigenartige sei. Im allgemeinen sei es die Aufgabe des Sachverständigen, ein wesentliches Moment der Schuldfrage zu entscheiden: die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit. Vorliegend sei es die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, eine ganz andere Frage zu entscheiden, nämlich, ob der Angeklagte seelisch so geartet sei, daß man das von ihm zu seiner Verteidigung behauptete Motiv seiner Handlungsweise für gegeben erachten könne. Dies sei zweifellos nach den Ausführungen der Sachverständigen zu bejahen. Der Zweck des Handelns des Angeklagten sei es gewesen, in der Rolle einer Dame Aufsehen zu erregen. Daraus dürfe man entnehmen, daß es ihm nicht darauf angekommen sei, sich in den Besitz der Sachen zu setzen. Die Art, wie er in Potsdam aufgetreten sei, sein Besuch bei dem Kastellan des Gerichts und im Schloß bewiesen die Richtigkeit der Behauptung des Angeklagten. Wenn er wirklich beim Juwelier davon gesprochen habe, man solle ihm die Sachen in den Wagen bringen, so sei dies aus der Verlegenheit zu erklären, in die der Angeklagte bei dem Erscheinen des Schutzmanns geraten sei. Ein Betrüger würde anders gehandelt haben und nicht die Aufmerksamkeit dadurch auf sich gelenkt haben, daß er vorher die Besuche machte. Aber selbst wenn der Angeklagte die Juwelen habe mitnehmen wollen, so folge doch daraus nicht, daß seine Absicht darauf gerichtet gewesen sei, sie zu behalten. Der von ihm in Szene gesetzte Plan wäre doch nur dann völlig gelungen, wenn der Angeklagte die Juwelen erhielt und sie dann mit Spott zurückschicken konnte. In den Fällen, in denen der Angeklagte früher gleiche Manöver in Szene gesetzt, habe er ja auch die Gegenstände, die er erhielt, zurückgesandt. Diese früheren Taten seien ein wichtiges Interpretationsmittel, um das jetzige Tun des Angeklagten zu deuten. Nach Zusammenfassung der sämtlichen, in der Verhandlung erörterten Momente kam der Verteidiger zu der Ansicht, daß zum mindesten erhebliche Zweifel an der dem Angeklagten zur Last gelegten Betrugsabsicht begründet seien.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Werthauer (Berlin) schloß sich für den Angeklagten Klemmt diesen Ausführungen an, wobei er insbesondere auch noch betonte, es sei gar kein Beweis dafür erbracht, daß Klemmt von einer etwaigen betrügerischen Absicht seines Partners Kenntnis gehabt habe.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete te der Vorsitzende: Der Gerichtshof hält den Angeklagten Eichbaum für vollständig zurechnungsfähig und ist auch der Meinung, daß beide Angeklagten eine betrügerische Absicht hatten. Allein mit Rücksicht auf die gesamte Sachlage und die große Jugend beider Angeklagten hat der Gerichtshof die Sache milde angesehen und gegen Eichbaum wegen versuchten Betruges auf einen Monat Gefängnis erkannt. Wegen der Adelsanmaßung hat der Gerichtshof den Angeklagten freigesprochen, da die einmalige Vorstellung als Gräfin Arnim und Hofdame nicht als Anmaßung des Adelsprädikats zu betrachten ist. Der Angeklagte Klemmt mußte wegen Beihilfe zum versuchten Betruge bestraft werden. In Berücksichtigung des Umstandes, daß Klemmt noch nicht vorbestraft ist, hat der Gerichtshof es bei einer Geldstrafe von 200 Mark belassen, wofür im Nichtbeitreibungsfalle 40 Tage Gefängnis zu substituieren sind. Den Angeklagten sind außerdem die Kosten des Verfahrens auferlegt worden.

Gegen dieses Urteil legten die Verteidiger Berufung ein. Infolgedessen kam die Angelegenheit am 24. Juni 1911 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Potsdam zur nochmaligen Verhandlung. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Geh. Justizrat Barchewitz. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Boettger. Die Verteidigung für beide Angeklagte führte Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg (Berlin). Außer den beiden bisherigen Sachverständigen, Stabsarzt Dr. Noack und Dr. med. Magnus Hirschfeld (Berlin) war auf Antrag der Verteidigung noch der bekannte Psychiater Professor Dr. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München) erschienen. Referendar Dr. juris Prinz August Wilhelm von Preußen war auch in dieser Verhandlung anwesend. Die Vernehmung Eichhorns gestaltete sich ungefähr folgendermaßen:

Vors.: Wie sind Sie denn nun eigentlich zu der ganzen Geschichte gekommen?

Angekl. Eichbaum: Das kann ich heute eigentlich nicht mehr sagen. Ich war mit Klemmt eng befreundet, und da kamen wir auf diese Sache zu sprechen. Ich hatte erzählt, daß ich mich schon in meiner frühesten Jugend häufig als Mädchen verkleidet hätte und machte ihm den Vorschlag, so etwas noch einmal zu machen. Die Einzelheiten, vor allem die Verkleidung als Hofdame und die Reise nach Potsdam wurden erst später besprochen. Zunächst fuhren wir zusammen ins Hotel „Monopol“, wo ich mich umzog. Von dort begab ich mich nach dem Hotel „Esplanade“, wo ich den Tee einnahm. Inzwischen hatte Klemmt eine Equipage nach dem Hotel „Esplanade“ bestellt, die mich abholte und nach Potsdam brachte. In Potsdam hatten wir uns in eine Konditorei verabredet. Wir trafen fen uns etwas verspätet, aber ich merkte schon, daß ein Beamter mir auf den Fersen war. Ich verzichtete deshalb darauf, mich mit Klemmt, der inzwischen auch in die Konditorei gekommen war, an einen Tisch zu setzen, wir verständigten uns durch Zettel. Wir verabredeten, daß wir bei verschiedenen Geschäften Bestellungen für den Hof machen wollten. Wir suchten das Juweliergeschäft Baertges deshalb gerade heraus, weil es das einzige Geschäft mit Telephonanschluß war. Klemmt sollte meinen Besuch dort anmelden.

Vors.: Geld, um größere Bestellungen in einem Juweliergeschäft zu machen, hatten Sie nicht bei sich?

Angekl.: Nein, ich wollte die Sachen gar nicht behalten. Ich sah nun, daß der Beamte aus der Konditorei mir auch bis in dieses Geschäft nachgefolgt war, hinter den Ladentisch trat und dem Inhaber etwas sagte. Ich sah deshalb, daß mein Spiel wohl bald zu Ende war. Jedenfalls hatte ich nicht die Absicht, mir die Sachen anzueignen.

Vors.: Dann konnten Sie doch hinausgehen, ohne etwas mitzunehmen. Statt dessen haben Sie aber die Goldsachen im Werte von über 1400 Mark einpacken lassen und hätten sie mitgenommen, wenn der Beamte nicht dazwischengetreten wäre.

Angeklagter: Ich war in dem Moment sehr nervös und dachte, daß der Beamte jeden Augenblick sagen würde, ich sei gar keine Hofdame.

Vors.: Aber Sie sind mit dem Juwelier, der die eingepackten Sachen in der Hand hatte, bis zur Tür der Equipage gegangen?

Angekl.: Das konnte ich nicht hindern.

Vors.: Und als Sie in den Wagen einsteigen wollten, sistierte Sie der Beamte. Wenn er Sie nicht sistiert hätte, würden Sie die Sachen mitgenommen haben?

Angekl.: Jawohl, aber ich hätte sie zurückgeschickt. Ursprünglich sollten die Sachen ins Neue Palais geschickt werden. Ich wollte das auch sagen, aber ich wurde durch die Anwesenheit des Beamten nervös.

Der Angeklagte wurde nunmehr ausführlich über seine feminine Veranlagung vernommen. Er äußerte, daß er schon von Jugend auf zu gewissen Zeiten einen unwiderstehlichen Drang gehabt habe, zuerst Mädchen- und später Damenkleider anzuziehen. Diese Manie sei von Zeit zu Zeit aufgetreten, und er habe dann oft gegen seinen Willen ihr Folge leisten müssen.

Vors.: Müssen Sie sich nun nicht selbst sagen, daß in diesem Falle der Schein gegen Sie spricht, d.h. daß Sie sich die Sachen aneignen wollten?

Angekl.: Das mag sein, ich habe mir aber oft vorgenommen, es nicht wieder zu tun. Wenn jedoch die Manie kam, dann konnte ich es nicht lassen.

Der Angeklagte Klemmt bestätigte im allgemeinen die Angaben seines Freundes. Es sei nie die Rede gewesen, daß die Sachen veruntreut werden sollten. Es habe sich lediglich um einen Ulk gehandelt.

Ein Beisitzer: Wenn Eichbaum sich schon in der Konditorei beobachtet glaubte, warum hat er dann nicht von dem Besuch bei dem Juwelier Abstand genommen? Das Nächstliegende war doch dann, nach Berlin zurückzufahren.

Angekl. Eichbaum: Das hätte gar keinen Reiz gehabt. Eine Bestellung als Hofdame auszuführen, hat einen ganz anderen Reiz.

Der als Zeuge vernommene Hofjuwelier Baertges bekundete, daß vom Hofmarschallamt telephonisch eine Gräfin Arnim angekündigt wurde; die Gräfin wolle die besten und teuersten Sachen aussuchen, da Ihre Majestät die Kaiserin sie zu einem Geburtstagsgeschenk für die Prinzessin Viktoria Luise verwenden wolle.

Vors.: Ist Ihnen nicht die tiefe Stimme des Angeklagten aufgefallen?

Zeuge: Das erste, was die Hofdame sagte, war, daß sie auf ihre belegte Stimme hinwies und äußerte, sie sei sehr stark erkältet. Ich wollte die Sachen am liebsten ins Neue Palais schicken, auch deshalb, weil ich nicht so teure Brillanten und kostbare Ketten auf Lager hatte, wie sie sich für die Prinzessin als Geburtstagsgeschenk eigneten. Die Hofdame sagte aber, Ihre Majestät wolle die Geschenke selbst zum Aussuchen haben.

Die Mutter des Angeklagten Eichbaum bestätigte, daß sie von jeher an ihm den Verkleidungstrieb beobachtet habe.

Ebenso bekundete eine Frau Schuhmachermeister Ernst, daß der Angeklagte eines Tages in Frauenkleidern zu ihr kam und vier Paar Damenstiefel bestellte, die zu einer Gräfin geschickt werden sollten.

Stabsarzt Dr. Noack und Dr. Magnus Hirschfeld äußerten sich wie in der schöffengerichtlichen Verhandlung.

Professor Dr. Freiherr von Schrenck-Notzing (München): Ich habe den Angeklagten Eichbaum ebenfalls eine Zeitlang beobachtet. Der Angeklagte erzählte mir: Er habe noch in einem Alter mit Puppen gespielt, in dem sonst Knaben damit nicht mehr zu spielen pflegen. Auch habe er oft weibliche Handarbeiten gemacht. Er ist ein erblich belasteter abnormer Mensch von psychisch labilem Zustande, der die Folgen seiner Handlung in keiner Weise sich überlegt. Intellektuell ist er auch nicht sehr begabt. Talente entwickelt er auf Gebieten, auf denen sonst nur Frauen sich besonders hervortun, so auf dem Gebiete des Tanzes und der Musik. Seine Lieblingsschriftsteller sind Platen und Novalis. Seiner sexuellen Veranlagung nach kann er höchstens als Psychohomosexueller bezeichnet werden. Er leidet an einer gewissen Abenteuerlust, hat eine Vorliebe fürs Schauspielern und ist sehr eitel und putzsüchtig. Seine Handlungen führt er ohne viel Vorbereitungen aus, es fehlt ihm jedes logische Weiterdenken, er sieht nur das Nächstliegende; das ist ein Begabungsmangel eines Schwachsinnigen. Er ist nicht imstande, den momentan auftauchenden Impulsen zu widerstehen. Er wußte gar nicht, was er in Potsdam tat. Er war so eingenommen von dem Gedanken, Frau zu sein, daß er keine Bedenken gegen seine Handlungsweise hatte. Er mußte seinen Trieb befriedigen, auch als er sich von dem Schutzmann beobachtet glaubte. Eine derartige sexuelle Triebbefriedigung schließt aber die freie Willensbestimmung nicht aus. Beim Angeklagten war das Leitmotiv seines Handelns nicht der Gedanke, einen raffinierten Juwelendiebstahl zu begehen, sondern er erlag der Autosuggestion, ein Weib zu sein. Wenn er auch bestraft wird, dieser Trieb ist bei ihm nicht zu beseitigen. Er ist nicht ausgesprochen geisteskrank, aber vermindert zurechnungsfähig. Es ist ihm schon zu glauben, daß er nur die Absicht hatte, einen Streich auszuführen.

Staatsanwaltschaftsrat Boettger beantragte, die Berufung beider Angeklagten zu verwerfen. Der Umstand, stand, daß der Angeklagte Eichbaum schon wiederholt wegen Eigentumsvergehens vorbestraft ist und die ausgesuchten Gegenstände mitnehmen wollte, lassen kaum noch einen Zweifel, daß es sich um einen versuchten Betrug handelte. Dafür spricht auch die telephonische Ankündigung des Angeklagten Klemmt: Die Gräfin v. Arnim soll noch goldene Uhren, Ketten und Armbänder mitbringen.

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Alsberg suchte den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte Eichbaum es lediglich auf einen Ulk abgesehen hatte. Der Verteidiger beantragte, beide Angeklagte freizusprechen.

Der Gerichtshof erkannte nach längerer Beratung auf Verwerfung der Berufung beider Angeklagten, so daß es also bei der vom Schöffengericht erkannten Strafe verblieb. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Barchewitz, führte in der Urteilsbegründung aus: Würden die Angeklagten lediglich den von ihnen behaupteten törichten, aber nicht zur Bestrafung führenden Zweck verfolgt haben, so würden sie damit aufgehört haben, als sie bemerkten, daß man Eichbaum beobachte. Daß sie ihren Plan nicht, wie sie behaupten, deshalb weiter auszuführen suchten, weil sie immer noch sehen wollten, ob nicht trotz allem Eichbaum das Narren der Leute weitergelingen würde, daß sie vielmehr einen anderen Zweck verfolgten, ergibt sich aus ihrem ferneren Verhalten. Sie suchten sich als weiteres Operationsfeld einen Juwelierladen aus. Sie geben nun zwar an, sie hätten ebenso gern z.B. einen Blumenladen gewählt. Sie hätten dies aber deshalb nicht getan, weil der Laden ein Telephon hätte haben müssen, damit die „Hofdame“ durch das Telephon angemeldet werden konnte. Einen Blumenladen mit Telephon gebe es aber in Potsdam nicht. Das ist gerichtsnotorisch unrichtig. Der Angeklagte Eichbaum erwiderte auf die Frage des Juweliers, ob die Sachen nach dem Neuen Palais geschickt werden sollen, nein, er nehme sie mit. Das erstere hätte vollständig genügt, wenn es Eichbaum lediglich um das Narren des Juweliers zu tun war. Daraus, daß er erklärte: Er wolle die Sachen mitnehmen, sie sich zu diesem Zweck einpacken und zum Wagen bringen ließ, erhellt seine Absicht, die Sachen für sich zu behalten. Daß er, wie er behauptet, die Absicht hatte, die Sachen wieder zurückzuschicken, hat ihm das Gericht nicht geglaubt. Es ist unverständlich, wozu er sie mitnahm, wenn er sie nicht behalten wollte. Zu seinem angeblichen alleinigen Zweck, den Juwelier zu narren, war das unnötig. Es kann nur angenommen werden, daß Eichbaum die von dem Juwelier zu erlangenden Gegenstände entweder verwerten wollte, um sich eine Einnahme zu verschaffen, oder daß er sie bei seiner Verkleidung als Frau als Schmuck verwenden wollte. Der Angeklagte Klemmt wußte das. Der Angeklagte Eichbaum ist nach den übereinstimmenden Gutachten der drei Sachverständigen erblich neuropathisch belastet und Transvestit. Nur Dr. Hirschfeld zweifelt infolgedessen an der Zurechnungsfähigkeit Eichbaums. Die beiden anderen Sachverständigen halten den Angeklagten zwar für geistig minderwertig, sind aber der Ansicht, daß seine freie Willensbestimmung nicht ausgeschlossen war. Der Gerichtshof hat sich dem Gutachten dieser beiden Sachverständigen angeschlossen. Die Angeklagten mußten deshalb wegen versuchten Betruges verurteilt werden. Bei der Strafzumessung ist dem Angeklagten Eichbaum seine geminderte Zurechnungsfähgkeit zugute gehalten worden. Strafschärfend fielen aber seine Vorstrafen und die Raffiniertheit seines Vorgehens ins Gewicht. Es muß in der Tat versucht werden, durch eine empfindliche Strafe seine geistige und sittliche Widerstandskraft zu stärken. Auch für den bloßen Betrugsversuch erschien daher die vom Schöffengericht erkannte Strafe von einem Monat Gefängnis als angemessene Sühne. Das gleiche gilt bezüglich der Strafe des Angeklagten Klemmt, bei dem lediglich mit Rücksicht auf seine bisherige Unbescholtenheit das Vorhandensein mildernden Umstandes angenommen worden ist.

Die Verteidiger legten gegen dies Urteil Revision ein. Der erste Strafsenat des Kammergerichts erkannte jedoch auf Verwerfung der Revision. Das Urteil wurde infolgedessen rechtskräftig. Ob Eichbaum die Strafe von einem Monat Gefängnis verbüßt hat, ist nicht bekannt geworden. Vor einigen Wochen wurde gemeldet: Eichbaum habe bei einem Juwelier in Wien, unter dem Vorgeben: Er sei preußischer Offizier und Königlich Preußischer Kammerherr, dasselbe Betrugsmanöver wie in Potsdam versucht. Der Wiener Juwelier habe aber den Schwindel sehr bald durchschaut und Eichbaum festnehmen lassen. Eichbaum habe sich deshalb, ehe man es verhindern konnte, mit einem Revolver eine Kugel in den Kopf geschossen. Er wurde in bedenklichem Zustande als Polizeigefangener in ein Krankenhaus gebracht. Etwas weiteres ist bisher nicht zu erfahren gewesen.

Fußnote

1 Wer sich für diese Materie speziell interessiert, den verweise ich auf das umfangreiche wissenschaftliche Werk: „Die sexuelle Osphresiologie“. Die Beziehungen des Geruchsinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechtstätigkeit. Von Dr. Alb. Hagen (Eug. Dühren). 2. Aufl. Ferner auf „Taruffi, Hermaphrodismus und Zeugungsunfähigkeit.“ Mit 40 interess. Abbild. 417 Seiten. Verlag von Herm. Barsdorf in Berlin W 30. Der Verfasser.