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Die Ermordung der achtjährigen Lucie Berlin

Ein Beitrag zum Zuhälter- und Dirnenwesen in Berlin

Ende September 1891 gelangte vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I ein Prozeß wegen Ermordung eines Nachtwächters zur Verhandlung, der ein geradezu grauenhaftes Bild von dem Treiben der Zuhälter und Dirnen in Berlin entwarf. Wenn sich die Schatten der Nacht über die Riesenstadt senken und das Geräusch der Weltstadt, das von gewisser Ferne dem Rauschen der Meereswellen gleicht, verstummt ist, dann tobt das Leben und Treiben in den Hauptstraßen unvermindert weiter. Es tauchen alsdann Gestalten auf, die bei Tag zumeist der Ruhe pflegen, weil ihre Beschäftigung in die Nachtstunden fällt und weil sie auch vielfach Ursache haben, das Tageslicht zu scheuen. Wer in der Nacht die Hauptstraßen Berlins, insbesondere die Leipziger- und Friedrichstraße passiert, wird ein Treiben beobachten können, das den Menschenfreund geradezu mit Ekel und Abscheu erfüllt. Scharenweise begegnet man Prostituierten, denen fast immer in einiger Entfernung junge Leute folgen. Es sind das vielfach blutjunge Menschen, oftmals Söhne. achtbarer Eltern, die der Arbeit grundsätzlich sätzlich aus dem Wege gehen und sich von Prostituierten ernähren lassen. Diese Menschen, in denen zumeist jedes Ehrgefühl erstorben ist, die auf der letzten internationalen kriminalistischen Vereinigung von dem Dezernenten für das Gefängniswesen im preußischen Ministerium des Innern, dem Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Dr. Krohne als der „Abschaum der Menschheit“ bezeichnet wurden, bilden eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Sittlichkeit. Oftmals halten die Zuhälter anständige junge Mädchen durch Drohungen und Schläge zur Straßenprostitution an, es kommt aber auch nicht selten vor, daß Prostituierte anständige junge Männer, die ihr Gefallen erregen, zu überreden wissen, die Arbeit niederzulegen, ihre Familie zu verlassen und ihnen als Zuhälter zu dienen. Wenn nach einiger Zeit in solch unerfahrenen, leichtsinnigen Menschen das Bewußtsein dämmert, daß sie Ehre, Glück, Familie und Existenz preisgegeben und ein schimpfliches Gewerbe betreiben, dann ist es zumeist zu spät. Einem solch jungen Mann, der die Dirne verlassen und wieder ein anständiges Leben beginnen will, wird fast immer von der Dirne gedroht, ihn wegen Zuhälterei „alle“ werden zu lassen, d.h. ihn bei der Polizei anzuzeigen, wenn er seine Absicht ausführen sollte. Vor einigen Jahren haben hochachtbare Leute, Vater und Mutter, einer Dirne dreihundert Mark in Gold auf den Tisch gelegt mit der flehentlichen Bitte, ihren neunzehnjährigen Sohn, der der Dirne eine Zeitlang Zuhälterdienste geleistet hatte, freizugeben. Die Dirne, eine schon ältere Person, warf die Goldstücke den Leuten verächtlich vor die Füße mit den Worten: „Ick bin een anständijet Mächen, mir kann Ihr Sohn heiraten. Wenn er nich mehr mein Liebster sein will, dann laß ick ihn sofort ?alle? werden.“ Derartige Zustände beschränken sich keineswegs auf Berlin, sie sind in allen Großstädten zu finden. In der Hohen Straße in Köln, bekanntlich die Hauptverkehrsstraße der rheinischen Metropole, wimmelt es in den Nachtstunden geradezu von Zuhältern und Dirnen. Selbstverständlich sind die Zuhälter mehr zu verachten als die weibliche Halbwelt; die Frauenarbeit wird zumeist so gering bezahlt, daß eine große Anzahl Mädchen gezwungen ist, sich aus Not der Prostitution in die Arme zu werfen. Der eingangs erwähnte Prozeß gegen das Ehepaar Heinze wegen Ermordung des Nachtwächters Braun war die Veranlassung zu der bekannten lex Heinze. Dies Gesetz wurde vom Reichstag nicht in allen Teilen angenommen, es wurden aber scharfe Bestimmungen des Zuhälterwesens in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Die Gerichte pflegen auch die Zuhälter recht scharf zu verurteilen, insbesondere wenn der Nachweis geführt ist, daß die Zuhälter anständige junge Mädchen auf die Bahn des Lasters geführt haben, um sich von dem Sündengeld ernähren zu lassen, und wenn außerdem nachgewiesen ist, daß die Zuhälter die Mädchen geschlagen haben, wenn sie nicht genügend Geld nach Hause brachten. Vielfach wird gegen die Zuhälter auch auf Überweisung an die Landespolizei erkannt, d.h. sie werden nach Verbüßung ihrer Strafe auf längere Zeit ins Arbeitshaus gesteckt. So sehr diese harten Bestrafungen auch zu billigen sind, so sollte man doch bei den Zuhältern eine Ausnahme machen, die infolge jugendlichen Leichtsinns und Verführung sich dem schimpflichen Gewerbe hingegeben haben und den festen Willen, zeigen, wieder ein ordentliches Leben zu beginnen. Ähnlich sollte auch bei den jungen Mädchen verfahren werden, die durch Verführung, Leichtsinn oder Not auf die schiefe Ebene gelangt sind und wieder ordentlich werden wollen. Die Polizeibehörden sollten ihren Beamten einschärfen, bei etwa notwendig werdenden Nachspürungen taktvoll zu Werke zu gehen, damit die jungen Mädchen und jungen Männer in ihren Bestrebungen, ein besseres Leben zu beginnen, nicht gehindert werden.

Das forensische Drama, das sich im Dezember 1904 aus Anlaß der Schändung und Ermordung der kleinen Lucie Berlin vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I unter größter Spannung der Bewohner der Reichshauptstadt entrollte, warf nicht minder als der Heinzeprozeß ein grelles Schlaglicht auf das Treiben der Zuhälter und Dirnen in der deutschen Reichshauptstadt. Auf die Anklagebank wurde der Händler Theodor Berger unter der Beschuldigung geführt, die am 8. Juli 1895 geborene Lucie, Berlin, Tochter des in der Ackerstraße 130 wohnenden Zigarrenmachers Berlin geschändet, alsdann ermordet, den Leichnam zerstückelt und die einzelnen Teile in die Spree geworfen zu haben. Die Ackerstraße, im Norden Berlins, mitten im Arbeiterviertel belegen, ist eine unendlich lange, dicht bevölkerte Straße, in der fast nur Arbeiter wohnen, in der aber auch vielfach das Verbrecher-, Zuhälter- und Dirnentum seine Wohnstätte aufgeschlagen hat. Eine große Anzahl „Kaschemmen“, das heißt Restaurationslokale niedersten Ranges, in denen fast ausschließlich Verbrecher, Zuhälter und Dirnen verkehren, gibt es in jener Gegend; sie erfreut sich deshalb nicht des besten Rufes. Der bessere Bürger meidet, soviel als möglich, des Nachts die Ackerstraße zu passieren, da es dort nicht ganz geheuer sein soll. Berüchtigt sind in der Ackerstraße die sogenannten Mietskasernen, in denen viele Hunderte von Menschen der verschiedensten Berufe wohnen. Ein solches Haus war auch das Ackerstraße 130, in dem der Zigarrenmacher Berlin, ein sehr anständiger; Mann, wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein sehr glückliches Familienleben geführt. Er hatte einen Sohn von 21 und einen von 15 Jahren, beide sehr nette, anständige Menschen. Die Freude der ganzen Familie war das achtjährige Töchterchen Lucie, ein hübsches, munteres Kind, das gewöhnlich dem Vater schon von weitem entgegeneilte, wenn er mittags und abends von der Arbeit kam. Am 9. Juni 1904, gegen 1 Uhr, saß die kleine Lucie neben ihrer Mutter am Mittagstisch. Plötzlich bat sie um den Klosettschlüssel. „Bleibe aber nicht lange,“ sagte die besorgte Mutter. Lucie entfernte sich mit dem Schlüssel, sie ist aber lebend nicht mehr zum Vorschein gekommen. Alles Suchen nach dem Kinde war vergeblich. Am 11. Juni wurde in der Spree am Reichstagsufer ein menschlicher Rumpf gefunden. Es wurde sehr bald festgestellt, daß es der Rumpf eines etwa achtjährigen Mädchens war. Zwei Tage später wurde in der Spree der zu dem Rumpf gehörende Kopf und die Arme, am 17. Juni das rechte Bein, einige Stunden später das linke Bein gefunden. Die Gerichtsärzte stellten die Leichenteile zusammen. Daraus ergab sich, daß das Ganze der Leichnam der kleinen Lucie Berlin war. Die Gerichtsärzte stellten ferner fest, daß das Kind zunächst gemißbraucht und alsdann getötet worden sei. Nach geschehener Tötung hatte der Mörder sein Opfer augenscheinlich zerstückelt und die Leichenteile an verschiedene Stellen geschafft, in der Annahme, dadurch die Spuren des Verbrechens am besten beseitigen tigen zu können. Der Verdacht der Täterschaft fiel sehr bald auf den Händler Theodor Berger, einen unverheirateten 35jährigen Mann, einen Zuhälter, der mit seiner Dirne, der unverehelichten Johanna Liebetruth, Tür an Tür mit der Familie Berlin wohnte. Außer verschiedenen anderen Umständen verdächtigte diesen Mann ein Korb, der am 11. Juni oberhalb der Kronprinzenbrücke mit geöffnetem Deckel in der Spree gefunden wurde. In diesem Korb wurden Spuren von Menschenblut und Wollhärchen von dem Unterrock des ermordeten Kindes entdeckt. Der Mörder hatte den Korb wahrscheinlich zur Wegschaffung der Leichenteile, benutzt und ihn alsdann in die Spree geworfen. Es wurde festgestellt, daß der Korb der Liebetruth gehörte. Letztere war zur Zeit im Gefängnis, so daß Berger allein in der Liebetruthschen Wohnung schaltete. Auch mehrere andere Dinge deuteten darauf hin, daß der Mord in der Liebetruthschen Wohnung begangen worden sei. Berger wurde deshalb in Haft genommen, und obwohl er beharrlich die Tat in Abrede stellte, wurde die Anklage wegen Mordes und Sittlichkeitsverbrechens gegen ihn erhoben. Der Andrang des Publikums zu dieser Verhandlung, die im Dezember 1904 volle zehn Tage im großen Schwurgerichtssaale des alten Moabiter Gerichtsgebäudes stattfand, war geradezu beängstigend.

Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat rat v. Pochhammer. Die Königliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Lindow, die Verteidigung führte Rechtsanwalt Walter Bahn.

Berger, ein mittelgroßer, etwas untersetzter Mann mit einem dicken, dunkelblonden Schnurrbart und ebensolchem kurzgeschnittenem Haupthaar, war am 26. Mai 1869 in Quedlinburg geboren, evangelischer Konfession. Er war wegen Sachbeschädigung, groben Unfugs, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Vergehens gegen die Sittlichkeit, Kuppelei, Widerstands gegen die Staatsgewalt, gefährlicher Körperverletzung, Diebstahls, Unterschlagung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung bestraft. Acht Tage vor dem Mordprozeß wurde er wegen Zuhälterei zu sechs Monaten Gefängnis, Ehrverlust, Stellung unter Polizeiaufsicht und Überweisung an die Landespolizei verurteilt. Als Berger noch nicht achtzehn Jahre alt war, hatte er ein nicht näher zu bezeichnendes Sittlichkeitsattentat auf eine Dame begangen. Er soll zu einer Bande halbwüchsiger Bengels gehört haben, die für Frauen und Kinder eine geradezu öffentliche sittliche Gefahr bildeten. Auch gegen die Liebetruth soll er sich, als diese 15 Jahre alt war, in ähnlicher Weise sittlich vergangen haben. Er wurde deshalb vom Vater der Liebetruth energisch zur Rede gestellt. Er trat aber sehr bald zu dem Mädchen in nähere Beziehungen und soll seit 1887 dessen Zuhälter gewesen sein. Letzteres stellte der Angeklagte in Abrede; er habe wohl zu der Liebetruth intime Beziehungen unterhalten, aber fast immer gearbeitet und sich von der Liebetruth nicht ernähren lassen.

Der Staatsanwalt teilte mit, der Angeklagte sei auch in Hamburg wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt mit 1 Jahre 3 Monaten Gefängnis bestraft worden. Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Angeklagte: Sein Vater sei Bürstenbinder gewesen. Er habe bei dem Vater das Bürstenbinderhandwerk gelernt. 1886 sei er mit seinen Eltern dauernd nach Berlin übergesiedelt. 1887 habe er die Liebetruth kennengelernt und mit dieser ein intimes Liebesverhältnis unterhalten. Er sei aber keineswegs deren Zuhälter gewesen. Er habe als Maler bzw. Anstreicher in der Brunnenstraße gearbeitet und bei seinen Eltern gewohnt.

Vors.: Sie haben selbst zugegeben, daß die Liebetruth einen unheilvollen Einfluß auf Sie ausgeübt hat.

Angekl.: Jawohl, die Liebetruth konnte sich schwer von mir und ich auch schwer von ihr trennen, deshalb zog ich schließlich mit ihr zusammen und arbeitete nicht mehr. Das war aber nur etwa 9 Monate. Dann begann ich einen Handel.

Vors.: Womit handelten Sie?

Angekl.: Ich handelte mit allen möglichen alten Sachen. Ich kaufte die Sachen billig ein und verkaufte sie in den Kneipen.

Vors.: Wieviel verdienten Sie?

Angekl.: Ich verdiente täglich 5-6 Mark.

Vors.: Reinen Verdienst?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie unterhielten aber weiter Ihre Beziehungen zu der Liebetruth?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie lange dauerten diese Beziehungen?

Angekl.: Bis ich verhaftet wurde.

Vors.: Sie erhielten von der Liebetruth auch Geld?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Liebetruth gab Ihnen Geld, damit Sie sie auf ihren Gängen begleiten sollten?

Angekl.: Deshalb nicht.

Vors.: Wofür gab Ihnen die Liebetruth Geld?

Angekl.: Damit ich ihr Liebhaber bleiben und sie heiraten sollte.

Vors.: Nun, Angeklagter, es ist Ihnen bekannt, daß Sie beschuldigt werden, die achtjährige Lucie Berlin mißbraucht und alsdann getötet zu haben.

Angekl.: Herr Vorsitzender, das bestreite ich ganz entschieden!

Vors.: Sie kannten die kleine Lucie?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Wohnung der Liebetruth und die Wohnung der Familie Berlin stoßen dicht aneinander?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Lucie ist einige Male in der Wohnung der Liebetruth gewesen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Lucie soll auch bisweilen mit dem Hund der Liebetruth gespielt haben?

Angekl.: Der Hund gehört mir. (Der Hund, ein hübscher, großer, schwarzer Pudel, war beim Zeugenaufruf von der Liebetruth in den Saal mitgebracht worden.)

Vors.: Vom 8.-12. Juni war die Liebetruth in Haft, und Sie befanden sich allein in der Liebetruthschen Wohnung?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie bestreiten, den Mord begangen zu haben, und behaupten, ein Mann, namens Lenz, habe die Tat begangen?

Angekl.: Das kann ich nicht direkt behaupten. Jedenfalls habe ich das Mädchen nicht getötet, ich bin kein Mörder.

Vors.: Sie behaupten aber, Lenz war Zuhälter der Prostituierten Seiler, die in demselben Hause wohnte, und die kleine Lucie hat auch in der Wohnung der Seiler verkehrt?

Angekl.: Die kleine Lucie verkehrte vorwiegend in der Wohnung der Seiler. Außerdem ist Lenz mit der Lucie am fraglichen Nachmittag am Gartenplatz und anderen Orten vielfach gesehen worden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte der Angeklagte: Er sei am 6. Juni abends in dem in der Elsässer Straße belegenen Lokal „Zur schwarzen Kugel“, in dem zumeist Zuhälter verkehren, gewesen. Er habe alsdann noch mehrere andere Kneipen besucht und sei schließlich in eine Schlägerei geraten. Am 9. Juni, vormittags gegen 11 Uhr, sei er nach Hause gekommen. Er habe mit seiner Schwester und mit mehreren anderen Leuten gesprochen und sich alsdann schlafen gelegt. Gegen 4 Uhr nachmittags sei er aufgewacht. Als er die Tür öffnete, sah er mehrere Frauen, die sich über das Verschwinden der kleinen Lucie unterhielten. „Ich kochte mir etwas zu essen und legte mich dann wieder schlafen. Abends gegen acht Uhr ging ich aus, um frische Luft zu schöpfen. Eine Kneipe besuchte ich nicht, da ich keinen Pfennig Geld bei mir hatte. In der Brunnenstraße traf ich ein Mädchen, dies forderte ich auf, zu mir zu kommen. Ich traf mit dem Mädchen gegen neun Uhr abends in der Liebetruthschen Wohnung ein. Das Mädchen blieb die ganze Nacht bei mir. Es wollte von mir Geld haben; es klagte, daß es in großer Not sei. Da ich aber keinen Pfennig Geld besaß, schenkte ich dem Mädchen einen kleinen, der Liebetruth gehörigen Korb.

Vors.: Kannten Sie das Mädchen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Wissen Sie nichts von dem Verbleib des Mädchens?

Angekl.: Nein.

Vors.: Es würde vielleicht sehr wesentlich zu Ihrer Entlastung beitragen, wenn Sie das Mädchen namhaft machen könnten, Sie wissen“ der Herr Staatsanwalt legt einen sehr großen Wert auf den Korb?

Angekl.: Ich kannte das Mädchen nicht.

Der Angeklagte erzählte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Am Freitag, den 10. Juni, sei ihm mitgeteilt worden, daß die Lucie Berlin verschwunden sei. Er habe seine verheiratete Schwester, alsdann mehrere Kneipen besucht. Er sei abends zeitig nach Hause gekommen und habe die ganze Nacht geschlafen. Am folgenden Morgen, Sonnabend, den 11. Juni, sei die Liebetruth aus dem Gefängnis nach Hause gekommen. Sehr bald darauf kam die Prostituierte Seiler weinend in das Zimmer der Liebetruth und erzählte, die Lucie Berlin sei ermordet im Wasser aufgefunden worden. Alsdann kam auch Frau Berlin und noch mehrere andere Frauen in die Liebetruthsche Wohnung.

Vors.: Wie kam es, daß all die Frauen gerade in die Liebetruthsche Wohnung kamen?

Angekl.: Weil die Liebetruthsche Wohnung dicht neben der von der Familie Berlin liegt.

Vors.: Das war doch aber kein Grund?

Angekl.: Die Liebetruth war mit allen Leuten im Hause befreundet.

Vors.: Nun, was sagte die Liebetruth, als sie ihren Korb vermißte?

Angekl.: Ich sagte, ich hätte ein Mädchen in der Wohnung gehabt, und dies habe den Korb gestohlen. Die Liebetruth schrie aber sofort, das ist eine Lüge, du hast dir den Korb nicht stehlen lassen, sondern ihn einem Mädchen, mit dem du Verkehr unterhalten, geschenkt. Die Liebetruth machte solch’ furchtbaren Skandal, daß ich die Fenster schloß, damit die Leute nicht alles hörten. Ich suchte die Liebetruth zu beruhigen, indem ich ihr versprach, sie zu heiraten. Die Liebetruth versetzte: Dann kommst du Montag mit mir zum Standesbeamten. Tust du das nicht, dann sollst du sehen, was ich machen werde.

Vors.: Was wollte die Liebetruth machen?

Angekl.: Ich glaube, sie wollte mich wegen Zuhälterei denunzieren.

Vors.: Es ist jedenfalls sehr auffallend, Sie waren seit 1887 Zuhälter bei der Liebetruth oder haben zum mindesten ein Liebesverhältnis mit der Liebetruth unterhalten und plötzlich nach vollen 17 Jahren entschließen Sie sich, die Liebetruth zu heiraten.

Angekl.: Die Liebetruth wollte schon seit 17 Jahren haben, daß ich sie heiraten solle.

Vors.: Aber Sie hatten eine solche Absicht nicht.

Angekl.: Ich konnte die Liebetruth nicht heiraten.

Vors.: Weshalb nicht?

Angekl.: Weil es alsdann herausgekommen wäre, daß ich Zuhälter bei der Liebetruth war, ich hätte also zunächst ins Gefängnis gehen müssen. Ich wollte auch mehrere Male mit der Liebetruth brechen, ich habe mich aber auf ihr Bitten immer wieder mit ihr vertragen.

Vors.: Nun, Angeklagter, es ist Ihnen bekannt, daß am 11. Juni vormittags ein Korb in der Spree oberhalb der Kronprinzenbrücke gefunden wurde. In diesem Korbe, der allerdings erst später zum Vorschein kam, sind Spuren von menschlichem Blut und Wollhärchen, die zu dem Unterrock der Lucie Berlin passen, gefunden worden; dieser Korb, ist als derjenige erkannt worden, den die Liebetruth vermißt hat.

Angekl.: Das kann der Korb der Liebetruth nicht sein, jedenfalls bin ich kein Mörder, ich habe die Lucie Berlin nicht ermordet.

Vors.: Am Morgen des 11. Juni will eine Frau einen Mann mit einem Paket in der Nähe der Spree am Reichstagsufer gesehen und in diesem Mann mit Bestimmtheit Sie wiedererkannt haben.

Angekl.: Ich bin es jedenfalls nicht gewesen.

Staatsanwalt: Der Angeklagte hat angegeben, er habe mit der Liebetruth verschiedene Großstädte, wie Breslau, Hamburg, Magdeburg, Dresden, Hannover, Köln usw., besucht, hat er in diesen Städten auch Handel getrieben oder hat ihm die Liebetruth den Unterhalt gewährt?

Angekl.: Ich habe Handel getrieben, aber auch von der Liebetruth Geld erhalten.

Vors.: Es ist ferner festgestellt, daß am 9. Juni gegen 1 Uhr mittags, als die kleine Lucie verschwand, Sie der einzige Mann waren, der sich in dem Hause Ackerstraße 130 befunden habe?

Angekl.: Darüber kann ich nichts sagen, ich bin es jedenfalls nicht gewesen.

Auf Befragen des Med.-Rats Dr. Leppmann bemerkte der Angeklagte: Er habe als Kind die englische Krankheit gehabt und leide jetzt etwas an Schlaflosigkeit. Vier Wochen vor seiner Verhaftung habe er befürchtet, schwermütig zu werden.

Vors.: Wie kam das?

Angekl.: Weil ich die Liebetruth nicht heiraten, überhaupt von ihr loskommen wollte. Die Liebetruth drohte mir aber, mich zu erschießen, wenn ich sie nicht heiraten wolle. Auf Befragen des Verteidigers äußerte der Angeklagte: er habe sich trotzdem weiterzubilden gesucht und sich u.a. Kürschners Bücherschatz angeschafft.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde auf Antrag des Staatsanwalts die Öffentlichkeit, einschließlich der Vertreter der Presse, ausgeschlossen, weil eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu besorgen war.

Auch am folgenden Morgen wurde eine Zeitlang unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt.

Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit sagte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe sich dem Mädchen, das er in der Nacht vom 9. zum 10. Juni bei sich hatte, als Inhaber der Wohnung ausgegeben. Das Haus Ackerstraße 130 sei, wie stets, auch in dieser Nacht aufgewesen. Es wohnen in diesem Hause sehr viel Prostituierte und junge Leute, die die ganze Nacht fast unaufhörlich aus- und eingehen.

Vert. Rechtsanwalt Bahn: In Zeitungen wird mitgeteilt, daß der Zuhälter Lenz, der ebenfalls in dem Hause Ackerstraße 130 wohnte, der Tat verdächtig gewesen sei. Ich erlaube mir die Frage, ob Lenz als Zeuge geladen ist.

Vors.: Soviel ich weiß, ist Lenz als Zeuge geladen worden; sein Aufenthalt ist aber nicht zu ermitteln.

Staatsanw. Dr. Lindow: Lenz, der im Hause Ackerstraße 130 mit der Prostituierten Seiler zusammenwohnte und dieser Zuhälterdienste leistete, wurde im Juni unter dem Verdacht des Mordes verhaftet. Er wurde nach einiger Zeit entlassen und ist jetzt spurlos verschwunden.

Es wird alsdann der älteste Bruder der ermordeten Lucie, der 21jährige Tischlergeselle Carl Berlin als Zeuge vernommen! Er bekundete: Lenz sei ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzem aufgewirbeltem Schnurrbart und kleinem Spitzbart gewesen. Die Lucie habe vielfach sowohl in der Wohnung der Liebetruth als auch in der der Seiler verkehrt. Sie nannte Berger „Onkel“, zu Lenz dagegen sagte sie „Herr Lenz“.

Vors.: Wie kam es, daß das Kind so häufig in den Wohnungen von Prostituierten verkehrte?

Zeuge: Ich war stets dagegen und habe auch meiner Mutter gegenüber Bedenken geäußert, die Mutter sagte aber: das Kind versteht das ja noch nicht.

Der Zeuge bekundete im weiteren: Seine Schwester Lucie hatte mit Lenz oftmals nach den Klängen eines Leierkastens getanzt. Lenz habe vielfach in einem in der Turmstraße belegenen „Nuttenkeller“ verkehrt. Es sei das ein Keller, in dem Männer und halbwüchsige 13- bis 16jährige Prostituierte verkehren.

Bei der hierauf erfolgten Vernehmung der Prostituierten Seiler wurde auf Antrag des Staatsanwalts wiederum die Öffentlichkeit, einschließlich der Vertreter der Presse, ausgeschlossen. Die Seiler soll bekundet haben: Sie habe seit vielen Jahren mit Lenz ein intimes Liebesverhältnis unterhalten. Lenz habe bei ihr gewohnt. Sie stehe unter sittenpolizeilicher Kontrolle und habe dem Lenz, der ihr Zuhälterdienste leistete, den Lebensunterhalt gewährt. Der Aufenthalt des Lenz sei ihr unbekannt. Die kleine Lucie sei vielfach in ihre Wohnung gekommen, da sie ihr Gänge besorgt habe. Ob Lenz mit dem Kinde getanzt habe, wisse sie nicht.

Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit wurden einige Leute, auch Kinder vernommen, die am 9. Juni mittags die kleine Lucie in Gesellschaft eines Mannes gesehen haben wollen.

Kriminalkommissar Wannowski bekundete: Die von ihm vernommenen Kinder haben sämtlich auf ihn einen unglaubwürdigen Eindruck gemacht, dagegen sei Frau Nehrkorn sehr bestimmt in ihren Aussagen gewesen. Teschkowski habe Lenz mit voller Bestimmtheit als den Mann bezeichnet, der am 9. Juni mittags mit der kleinen Lucie am Torweg des Hauses Ackerstraße 130 gestanden habe. Es sei festgestellt, daß, als die Kinder im Hause Ackerstraße 130 nach den Klängen eines Leierkastens tanzten, die kleine Lucie bereits vermißt wurde.

Staatsanwalt: Haben sich nicht, als der Mord durch die öffentlichen Anschlagsäulen bekannt wurde, eine Anzahl Leute gemeldet?

Zeuge: Jawohl, es wurde eine Belohnung ausgesetzt. Dies hatte, wie immer, zur Folge, daß sich eine große Anzahl Leute meldeten, die von der Sache absolut nichts wußten. Die Ermittelungen machten auch um so größere Schwierigkeiten, da in dem Hause Ackerstraße kerstraße 130 viele Prostituierte mit ihren Zuhältern wohnten.

Ein weiterer Zeuge war Versicherungsinspektor Bratengeyer: Am 9. Juni habe er Lenz als Versicherungsagent engagiert und ihm auch einen Vorschuß von 30 Mark gegeben. An diesem Tage, dem 9. Juni, sei er bestimmt mit Lenz von etwa 9 Uhr vormittags bis 1 3/4 nachmittags zusammen gewesen. Er erinnere sich des Tages ganz genau. Auch die Quittung trage das Datum vom 9. Juni. Am folgenden Tage, Freitag, den 10. Juni, habe Lenz über das Engagement eine so kindliche Freude an den Tag gelegt, daß er nun und nimmermehr glauben könne: Lenz habe den Mord begangen. Sonnabend, den 11. Juni, sei er gegen Mittag wiederum mit Lenz zusammen gewesen. Lenz sagte: Ich habe gestern eine Versicherung abgeschlossen, aber ich zittere am ganzen Leibe. Erschrecken Sie nicht, es könnte vorkommen, daß ich von Ihrer Seite weg verhaftet werde. Ich erschrak und fragte Lenz: was geschehen sei. Lenz versetzte: Ich werde beschuldigt, die Lucie Berlin ermordet zu haben. Ich erwiderte: Wenn es sich nur darum handelt, dann bin ich beruhigt. Daß Sie die Lucie Berlin ermordet haben, halte ich für ausgeschlossen. Ich war nur erschrocken, weil ich etwas anderes vermutete.

Der Verteidiger hielt dem Zeugen vor, daß seine Angaben mit denen des Lenz nicht ganz übereinstimmen. men. Der Zeuge blieb aber bei seiner Aussage.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Lenz müsse sich behufs Abschlusses von Versicherungsgeschäften schon Donnerstag, den 9. Juni, nachmittags bemüht haben.

Vert.: Sie sagen, Sie trauten dem Lenz keinen Mord zu und hielten ihn für einen anständigen Menschen. Wenn Sie gewußt hätten, daß Lenz seit vielen Jahren Zuhälter war und sich von einer Prostituierten ernähren lasse, hätten Sie alsdann dieselbe Meinung gehabt?

Zeuge: Es war mir allerdings nicht bekannt, daß Lenz Zuhälter war. Wir können nur im allgemeinen ein Urteil über einen Menschen abgeben. Wenn wir nach dem gehen wollten, was einem Menschen nachgesagt wird, dann würden nicht viele Versicherungsagenten übrigbleiben.

Frau Kube: Lenz habe zwei Monate bei ihr in der Bergstraße 70 gewohnt. Am 9. Juni. habe er ihr mittags gegen l Uhr 2 Mark bezahlt.

Der folgende Zeuge, Arbeiter Hermann Kube, bekundete: Lenz habe die 2 Mark seiner Mutter am 9. Juni gegen 11 Uhr vormittags bezahlt. Seine Mutter habe ein etwas schwaches Gedächtnis.

Frau Balcke: Lenz sei ein alter Bekannter von ihr gewesen. Am 9. Juni kurz vor 2 3/4 Uhr nachmittags sei er zu ihr gekommen. Sie haben sich längere Zeit über frühere Zeiten unterhalten. Bei dieser Gelegenheit habe ihr Lenz erzählt: er sei früher bei der „Wilhelma“ gewesen, sei aber soeben als Agent der „Iduna“ engagiert worden.

Abfischer Teske: Am 11. Juni vormittags gegen 7 3/4 Uhr sah er am Reichstagsufer in der Spree hinter einem Kahn einen Haufen Unrat. Sogleich darauf kam ein Paket in braunem Packpapier dahergeschwommen. Er sah eine blutige Masse, so daß er sofort den Eindruck gewann: es sei wieder etwas ins Wasser geworfen worden, was jemand von der Welt haben wollte. Er habe das Paket sofort herausgefischt. In diesem befand sich der Rumpf eines kleinen Mädchens. Kopf, Arme und Beine fehlten. Das Paket müsse, der ganzen Sachlage nach, zwischen der Marschallsbrücke und dem Reichstagsufer in die Spree geworfen worden sein.

Schutzmann Püschel schilderte, wie ihm Teske den Rumpf übergeben habe. Er habe den Rumpf sogleich nach dem Leichenschauhause bringen lassen und ihn dort dem Kriminalinspektor übergeben.

Unter großer Spannung machte ein Fräulein Römer folgende Bekundung: Am Morgen des 11. Juni, gegen 5 1/2 Uhr, der Tag begann gerade zu dämmern, sei sie das Reichstagsufer entlang nach dem Kriminalgericht zu gegangen. Da sah sie einen Mann, der ein großes, breites Paket, in braunem Packpapier eingewickelt, trug. Das Paket war verschnürt; es hatte den Anschein, als ob in dem Paket ein großer, weicher Gegenstand, etwa eine Steppdecke, enthalten war. Der Mann war stehengeblieben und habe ins Wasser hineingesehen. In seiner Begleitung war ein kleiner schwarzer, reich behaarter Hund; sie habe den Hund für einen Pudel gehalten. Der Hund habe sich auf der Erde gewälzt.

Vors.: Haben Sie sich den Mann angesehen?

Zeugin: Das Gesicht konnte ich nicht genau sehen, da der Mann nach dem Wasser zu sah.

Vors.: Wie war der Mann gekleidet?

Zeugin: Er trug einen weißen Strohhut.

Vors.: Der Angeklagte ist Ihnen schon einmal vorgestellt worden, Sie haben ihn nicht wiedererkannt?

Zeugin: Der Mann war von der Größe des Angeklagten, ich kann aber nicht sagen, ob es der Angeklagte war.

Der Vorsitzende befahl darauf, den Hund des Angeklagten in den Saal zu führen. Es war dies ein kleiner, langhaariger, schwarzer Pudel. Die Zeugin bemerkte: Es sei möglich, daß dies der Hund gewesen sei, den sie in Begleitung des Mannes gesehen habe, mit Bestimmtheit könne sie den Hund nicht wiedererkennen.

Auf Befragen des Verteidigers gab die Zeugin zu, daß sie vor vielen Jahren wegen Sittenpolizei-Kontravention vention bestraft worden sei.

Vert.: Sie sagten, der Mann war korpulenter wie der Angeklagte, wie kommen Sie dazu, trotzdem zu behaupten, der Mann habe mit dem Angeklagten eine gewisse Ähnlichkeit?

Zeugin: Als mir der Angeklagte bei dem Untersuchungsrichter vorgestellt wurde, war er noch etwas korpulenter.

Vert.: Sie sagten, es war „schummerich“, als Sie am 11. Juni früh 5 1/2 Uhr den Mann mit dem Paket am Reichstagsufer stehen sahen. Am 11. Juni um diese Zeit ist doch aber heller Tag?

Zeugin: Es war aber 5 1/2 Uhr früh.

Vors.: Haben Sie irgendeine Veranlassung, betreffs des Mordes etwas Falsches zu bekunden?

Zeugin: Keineswegs.

Schiffer Tornow: Am Morgen des 11. Juni habe er oberhalb der Kronprinzenbrücke in der Spree einen kleinen Korb mit geöffnetem Deckel schwimmen sehen. Er habe den Korb herausgefischt. In diesem lag nur eine Haarnadel. Er hatte keine Ahnung, daß der Korb mit einem Morde zusammenhänge; er habe deshalb den Korb mit nach Hause genommen. Einige Tage später habe ihm sein Bootsmann mitgeteilt: In Berlin sei ein kleines Mädchen ermordet worden, in diesem Morde spiele ein Korb eine Rolle. Er habe deshalb den Korb sogleich der Berliner Kriminalpolizei zei ausgehändigt.

Bootsmann Klunder schloß sich der Bekundung des Vorzeugen, vollständig an.

Bäckergeselle Athus und Straßenreiniger Schmidt hatten ebenfalls den Korb in der Spree schwimmen sehen.

Am folgenden Tage teilte der Staatsanwalt mit, daß sich aus Anlaß der Zeitungsberichte Lenz gemeldet habe. Unter großer, allgemeiner Spannung betrat Lenz, ein mittelgroßer, etwas korpulenter Mann mit schwarzem, dünnem Haupthaar, aufgewirbeltem schwarzem Schnurrbart und kurzem Spitzbart, den Sitzungssaal. Er machte äußerlich einen wohlhabenden, behäbigen Eindruck. Der Vorsitzende ermahnte den Zeugen in eindringlichster Weise, die Wahrheit zu sagen. „Sie wissen, daß Sie verdächtig waren, die kleine Lucie Berlin, ermordet zu haben. Sie sind sogar deshalb verhaftet gewesen. Ich werde Sie zunächst uneidlich vernehmen, es wird später Beschluß gefaßt werden, ob Sie zu vereidigen sind. Sie müssen also die volle Wahrheit sagen, da Sie höchstwahrscheinlich Ihre Aussage werden beeiden müssen. Sie haben aber nicht nötig“ sich selbst zu belasten. Sollte Ihnen eine Frage vorgelegt werden, durch deren Beantwortung Sie befürchten, sich selbst zu belasten, so haben Sie das Recht, die Antwort zu verweigern.

Lenz gab alsdann auf Befragen des Vorsitzenden an: Er heiße mit Vornamen Otto und sei am 8. April 1873 geboren. Er müsse erst sein Gedächtnis anstrengen, um sich zu erinnern, wo er am 9. Juni d.J. gewesen sei. Er habe am 9. Juni in der Bergstraße 70 bei der Witwe Kube gewohnt. Er sei an diesem Tage von dem Versicherungsinspektor Bratengeyer als Agent für die Versicherungs-Gesellschaft „Iduna“ in Halle engagiert worden. An jenem Vormittag gegen 9 Uhr war er zunächst im hiesigen, in der Invalidenstraße belegenen Bureau der „Iduna“. Alsdann sei er mit Bratengeyer in das in der Friedrichstraße belegene „Norddeutsche Wirtshaus“, von da zu einer Familie Bönisch in der Ackerstraße, alsdann zu einer Familie, Bergstraße 27, und von dort zu einer in der Chausseestraße wohnenden Familie gegangen. Er habe überall mitteilen wollen, daß er als Agent der „Iduna“ engagiert sei und daß ihm Aufträge gegeben werden mögen. Zuletzt sei er in das in der Invalidenstraße belegene Restaurant von Kaiser gegangen.

Der Vert. hielt dem Zeugen vor, daß er bei seiner Vernehmung am 13. Juni und auch am 15. Juni andere Angaben gemacht habe.

Lenz (sehr erregt): Ich kann mich heute nicht mehr auf alles erinnern. Ich leide infolge dieser Sache an Halluzinationen, ja geradezu an Verfolgungswahn. Mein Name wird in allen Zeitungen herumgezogen, meine ganze Existenz ist vernichtet.

Vert.: Herr Lenz, ich bin weit entfernt, Sie reinlegen zu wollen, es ist aber meine Pflicht als Verteidiger, Sie auf Widersprüche in Ihren Aussagen aufmerksam zu machen.

Lenz (sehr erregt): Die Hauptsache ist doch mein Unschuldsbewußtsein, Herr Verteidiger. Es ist doch unmöglich, daß ich mich auf alle Einzelheiten vom 9. Juni noch erinnern kann.

Vert.: Sie geben aber zu, daß das, was Sie am 13. und 15. Juni bei Ihren Vernehmungen gesagt haben, wahr ist?

Lenz: Ich war auch damals so aufgeregt, daß ich vielleicht mich einzelner Irrtümer schuldig gemacht habe.

Vors.: Jedenfalls können wir feststellen, daß der Angeklagte Berger ganz anders aussieht als der Zeuge Lenz, eine Verwechselung des Berger mit Lenz ist ausgeschlossen.

Vert.: Sie haben mit der Seiler ein Liebesverhältnis unterhalten?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Haben Sie von der Seiler Geld erhalten? Sie sind deshalb wegen Zuhälterei angeklagt, Sie haben mithin das Recht, die Antwort hierauf zu verweigern.

Vorsitzender: Sie sind berechtigt, alle Fragen, die sich auf Ihre Zuhälterei beziehen, zu verweigern.

Lenz: Ich verweigere also darauf die Antwort.

Vert.: Sie kannten die kleine Lucie Berlin?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Die Lucie soll in der Wohnung der Seiler vielfach verkehrt, dieser Gänge besorgt und Ihnen auch oftmals Schnaps geholt haben?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert.: Die Lucie soll Ihnen einmal nicht den richtigen Schnaps gebracht haben, Sie sollen das Kind deshalb an der Hand genommen und mit ihm zwecks Umtausches des Schnapses den Schnapsladen betreten haben?

Zeuge: Das ist möglich.

Vert.: Am Geburtstage der Seiler sollen Sie in der Kellerwohnung der letzteren mit der Lucie nach den Klängen eines Leierkastens getanzt und Ihrer Freude Ausdruck gegeben haben, daß das Kind so schön tanzt?

Zeuge: Auch das ist möglich.

Vert.: Sie sollen eine ganz besondere Vorliebe für Kinder gehabt haben?

Zeuge: Ich gebe zu, ich bin ein großer Kinderfreund.

Hierauf wurde Frau Meißner als Zeugin vernommen: Die gestern vernommene Zeugin Römer habe bei ihr gedient, sie habe sie nicht wegen Diebstahls entlassen. Die Römer habe damals ihr den am Reichstagsufer beobachteten Vorgang erzählt, sie habe aber der Erzählung erst Bedeutung beigelegt, als sie den Vorgang in Zeitungen gelesen hatte.

Kriminalschutzmann Blume, der die Römer zuerst vernommen hatte, bekundete: Die Römer habe auf ihn einen wenig glaubwürdigen Eindruck gemacht.

Es wurde darauf noch einmal die gestern vernommene Zeugin Römer hervorgerufen. Diese blieb trotz aller Ermahnungen bei ihrer Aussage.

Vert.: Haben Sie etwa den Vorgang deshalb gemeldet, damit Sie die ausgesetzte Belohnung erhalten?

Zeugin: Ich habe an die Belohnung nicht gedacht.

Vert.: Es war Ihnen aber bekannt, daß eine Belohnung für Entdeckung des Mörders ausgesetzt war?

Zeugin: Ich habe das wohl gelesen, aber nicht daran gedacht.

Untersuchungsrichter Landrichter Maßmann: Die Zeugin Römer hat einen vollständig sicheren Eindruck gemacht.

Im weiteren Verlauf der Vernehmung des Landrichters Maßmann befahl der Vorsitzende, den Hund in den Saal zu führen.

Ein Gerichtsdiener meldete: Der Hund ist nicht da.

Vors.: Der Hund soll doch aber heute vernommen werden. (Allgemeine Heiterkeit!)

Gutsvorsteher Siepel: Am 15. Juni sei ihm gemeldet worden, im Charlottenburger Verbindungskanal gegenüber dem Johannisstift sei ein menschlicher Kopf nebst zwei Armen, in braunem Packpapier verschnürt, aufgefunden worden. Zunächst seien die Leichenteile in der „Berliner Morgenpost“ eingewickelt gewesen.

Laufbursche Hermann Müller, Schüler Fritz Krause und Bureauschreiber Walter Poeppel erzählten: Sie haben am 15. Juni vormittags ein Paket im Charlottenburger Verbindungskanal schwimmen sehen. Da sie ein menschliches Gesicht sahen, haben sie einen Schiffer auf das Paket aufmerksam gemacht. Der Schiffer habe das Paket ans Ufer gestoßen. Sie seien alsdann ans Ufer gelaufen, haben das in Pack- und Zeitungspapier eingeschnürte Paket geöffnet und einen Kinderkopf und zwei Arme darin gefunden.

Arbeiter Stübler: Am 17. Juni des Morgens habe er im Wasser an der Sandkrugbrücke ein menschliches rechtes Bein schwimmen sehen. Ober- und Unterschenkel waren zusammen. Er habe das Bein herausgefischt und es einem Schutzmann übergeben.

Polizei-Wachtmeister Kroll: Am 17. Juni vormittags sei am Schiffbauerdamm das linke Bein der Lucie (Ober- und Unterschenkel zusammenhängend) aufgefunden worden.

Fräulein Berta Berlin: Sie habe bei der Liebetruth verkehrt, letztere sei mit der Lucie Berlin nicht verwandt gewesen. Den auf dem Zeugentisch stehenden Korb kenne sie nicht; es sei möglich, daß es der Korb der Liebetruth sei. Die Liebetruth sei auf Berger sehr eifersüchtig gewesen. Im vorigen Sommer, als die kleine Lucie schon verschwunden war, habe die Liebetruth ihr erzählt, daß Berger sie nunmehr heiraten wolle.

Vors.: Arbeitete Berger?

Zeugin: In der letzten Zeit jedenfalls nicht.

Vors.: Berger will doch mit allen möglichen alten Sachen gehandelt haben?

Zeugin: In der letzten Zeit hat er meiner Meinung nach gar nichts getan.

Vors.: War Berger besonders brutal?

Zeugin: Zu der Liebetruth jedenfalls nicht.

Frau Buchholz: Sie sei die Schwester der Liebetruth. Es sei möglich, daß der Korb ihrer Schwester gehöre, genau könne sie das aber nicht sagen.

Vors.: In welchem Verhältnis stand Berger zu Ihrer Schwester?

Zeugin: Sie verkehrten zusammen.

Vors.: In welcher Weise?

Zeugin: Na, wie Braut und Bräutigam zusammen verkehren. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: War Berger der Zuhälter Ihrer Schwester?

Zeugin: Das glaube ich nicht, ich kann es aber nicht genau sagen.

Vors.: Die Verhältnisse Ihrer Schwester werden Ihnen wohl bekannt gewesen sein?

Zeugin: Ich kann darüber nichts sagen.

Vors.: Hat Berger gearbeitet?

Zeugin: Das weiß ich nicht, er hatte jedenfalls immer Geld.

Staatsanw.: Sind Sie der Meinung, daß Berger sich unterstanden hätte, einen Ihrer Schwester gehörenden Korb zu verschenken?

Zeugin: Das ist schon möglich, Borger verschenkte alle Sachen, die ihm entbehrlich schienen.

Vors.: Aber der Korb gehörte nicht ihm, sondern Ihrer Schwester?

Zeugin: Deshalb ist es doch möglich, daß Berger den Korb verschenkt hat.

Gürtler Emil Kühr: Er sei vor etwa 12 Jahren der Bräutigam der Liebetruth gewesen, den Korb könne er nicht wiedererkennen.

Fräulein Flora Goldstein: Der der Liebetruth gehörige Korb sei ursprünglich ihr, der Zeugin, Eigentum gewesen. Sie habe einmal diesen Korb gegen einen anderen eingetauscht. Dieser Korb sehe dem, den sie der Liebetruth gegeben, sehr ähnlich, sie könne aber nicht genau sagen, daß es derselbe Korb sei.

Fräulein Piatkowski: Sie habe vor langer Zeit bei Fräulein Goldstein gewohnt und kenne den Korb mit ziemlicher Bestimmtheit wieder.

Fräulein Koperska: Sie habe vor einigen Jahren bei der Seiler gewohnt. Als sie umgezogen sei, habe sie sich von der Liebrtruth den Korb geliehen, sie glaube mit Bestimmtheit, daß dies der Korb sei.

Fräulein Fuhrmann: Sie sei im vergangenen Jahre acht Tage Aufwärterin bei der Liebetruth gewesen. Sie kenne den Korb mit voller Bestimmtheit wieder.

Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf Johanna Liebetruth als Zeugin in den Saal gerufen. Sie erschien in sehr eleganter Toilette. Sie hatte eine pompöse Figur und ein hübsches Gesicht. Nur ihre Nase wies, dem Vernehmen nach infolge einer häßlichen Krankheit eine kleine Verunstaltung auf.

Vors.: Fräulein Liebetruth, Sie hatten ein Liebesverhältnis mit dem Angeklagten, verlobt sind Sie aber nicht mit ihm?

Zeugin: Doch, wir sind verlobt.

Vors.: Das ist ja ganz neu, seit wann sind Sie mit Berger verlobt?

Zeugin: Ich glaube, 1901 haben wir uns in Breslau verlobt. Wir haben die Verlobung auch in Zeitungen einrücken lassen.

Vors.: Haben Sie sich denn seit dieser Zeit als Verlobte betrachtet?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Betrachten Sie sich auch jetzt noch als die Verlobte des Angeklagten Berger?

Zeugin: Jetzt nicht mehr.

Vors.: Seit wann betrachten Sie sich nicht mehr als verlobt?

Zeugin: Seitdem Berger wegen des Mordes in Untersuchungshaft sitzt, habe ich die Verlobung für aufgehoben betrachtet.

Vors.: Nun, Angeklagter, ist das richtig, daß Ihre Verlobung mit der Liebetruth aufgehoben ist?

Angekl.: Wenn es die Liebetruth sagt, dann muß es ja wahr sein.

Vors.: Haben Sie das dem Angeklagten geschrieben?

Zeugin: Jawohl, ich habe dem Berger geschrieben, daß es jetzt keinen Zweck mehr habe, ich betrachte die Verlobung für aufgehoben.

Vors.: Da Sie sich jetzt nicht mehr für verlobt betrachten, so haben Sie kein Zeugnisverweigerungsrecht. Sie sind also verpflichtet, die volle Wahrheit zu sagen, da Sie wahrscheinlich vereidigt werden. Die Zeugin bemerkte darauf auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie 1872 geboren und evangelischer Konfession sei. Der Vorsitzende ließ darauf der Zeugin den Korb zeigen. Diese äußerte: So ganz genau hat mein Korb ausgesehen, nur war mein Korb wackeliger.

Vors.: Auf der Polizei haben Sie aber sofort den Korb wiedererkannt?

Zeugin: Als ich zum Kriminalkommissar am Alexanderplatz kam, sagte ich sofort: Da ist ja mein Korb. So, sagte der Kommissar, das ist Ihr Korb. Ja, sagte ich, ich stehe wie vor einem Rätsel. Kennen Sie denn den Korb mit Bestimmtheit wieder, fragte der Kommissar: Genau kenne ich ihn nicht wieder, antwortete ich, mein Korb war wackeliger, sonst sieht er genau so aus wie der meinige.

Restaurateur Gottlieb Hentschel (Breslau): Er habe in der Breiten Straße in Breslau ein Restaurant. Der Angeklagte habe während seines Aufenthalts in Breslau vielfach bei ihm verkehrt. Er habe sich sehr anständig benommen und wenig getrunken. Auch wenn er einmal betrunken war, habe er sich sehr anständig benommen. Soweit ihm bekannt, habe der Angeklagte einen Handel getrieben.

Gasthofsbesitzer Rudolf Paul (Schimpke bei Dresden): Der Angeklagte habe mehrfach bei ihm gewohnt und sich stets anständig benommen. Er habe sich als Händler ins Fremdenbuch eingetragen, er wisse aber nicht, ob er einen Handel getrieben habe.

Angekl.: Ich habe in Schimpke auch als Sommergast gewohnt und während dieser Zeit allerdings keinen Handel getrieben.

Restaurateur Kirchner (Berlin): Der Angeklagte habe oftmals bei ihm verkehrt und sich stets anständig benommen.

Frau Sander: Der Angeklagte habe 1903 vier Wochen bei ihr gewohnt. Er habe bei Tag geschlafen und sei abends ausgegangen.

Kriminalkommissar Wehn: Die Liebetruth habe sogleich, als ihr der Korb gezeigt wurde, ihn als den ihrigen wiedererkannt, allerdings hinzugefügt: mein Korb war etwas wackeliger. Er (Wehn) habe festgestellt, daß Körbe im Wasser sich zusammenziehen.

Der Verteidiger bemerkte: Es sei das ein Gutachten, er behalte sich vor, einen Sachverständigen für Körbe vorzuschlagen.

Ein weiterer Zeuge war Barbiergehilfe Hegewald: Er habe am 9. Juni gegen 6 1/2 Uhr abends Lenz barbiert, dieser habe von dem Mord nicht gesprochen.

Leierkastenmann Czichon: Es sei ihm erinnerlich, daß er aus Anlaß eines Geburtstages in der Seilerschen Wohnung gespielt und mehrere Leute dabei getanzt haben. Ob Lenz mit der kleinen Lucie getanzt habe, wisse er nicht mehr.

Hierauf wurde die zehnjährige Schülerin Frieda Haak als Zeugin in den Saal geführt. Am 9. Juni habe sich ein Mann mit rötlichem Schnurrbart an ein kleines Mädchen herangedrängt. Der Mann habe dem Mädchen Bonbons gegeben und sei mit ihm in die Büsche gegangen. Der Zeugin wurde der Angeklagte vorgestellt; diese bemerkte jedoch, daß dies nicht der Mann war.

Frau Bönich: Lenz sei mit ihrem Bräutigam befreundet gewesen. Am Nachmittag des 9. Juni sei Lenz in ihrer Wohnung gewesen und habe etwas zum besten gegeben, da er eine Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft „Iduna“ gefunden habe. Von dem Morde habe Lenz nicht gesprochen.

Frau Grimm machte eine ähnliche Aussage.

Schuldiener Friedrich Schmidt: Er sei Schuldiener, in der in der Ackerstraße belegenen Mädchenschule. Dort treiben sich, sobald die Mädchen die Schule verlassen, oftmals junge Leute umher. Eines Tages im Juni d.J. habe er auf dem Hofe des Schulgebäudes einen jungen Mann ohne Schnurrbart in auffälliger Weise stehen sehen. Dieser Mann habe dem Angeklagten nicht ähnlich gesehen.

Fräulein Schade: Sie habe früher mit der Liebetruth und Berger in einem Hause gewohnt. Berger sei zu der Liebetruth sehr gut gewesen. Einmal habe die Liebetruth von Berger 10 Mark gefordert. Berger habe gesagt, er habe selbst nichts, er werde ihr aber die 10 Mark geben.

Vors.: Wie kam die Liebetruth dazu, von Berger 10 Mark zu fordern?

Zeugin: Die Liebetruth sagte zu Berger, wenn du mir die 10 Mark nicht gibst, dann laß ich dich „alle“ werden.

Vors.: Was meinte die Liebetruth damit?

Zeugin: Sie meinte, sie wolle ihn ins Gefängnis bringen. Berger schimpfte auf „das Weib“, gab ihr aber die zehn Mark.

Vors.: Wissen Sie, wegen welchen Verbrechens die Liebetruth den Berger anzeigen wollte?

Zeugin: Nein.

Verteidiger: Ist es nicht üblich unter den Prostituierten, sich gegenseitig „Weib“ zu nennen?

Zeugin: Allerdings.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß sich Berger an kleine Mädchen herangedrängt hat?

Zeugin: Nein.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß Berger ganze Anzüge verschenkt hat?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Schneider Röhricht: Berger hatte bei ihm ein Zimmer gemietet und monatlich 3 Mark bezahlt, obwohl er niemals bei ihm gewohnt habe. Er sagte: er schlafe bei seiner Braut, er müsse aber anderswo gemeldet sein.

Vors.: Er zahlte Ihnen also für das bloße Melden monatlich 3 Mark.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Konnten Sie das Zimmer anderweitig vermieten?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was hätten Sie für das Zimmer gefordert, wenn Berger darin gewohnt hätte?

Zeuge: 10 Mark.

Die Gattin des Vorzeugen schloß sich dieser Bekundung kundung an. Sie bemerkte auf Befragen des Verteidigers: Berger sei stets sehr anständig, gekleidet gewesen; einmal habe Berger ihrem Mann ein Paar noch gut erhaltene Hosen geschenkt.

Verteidiger: Hat nicht Borger kurz nach dem Morde geäußert, ich bin unschuldig, die Polizei kann mir gar nichts?

Zeugin: Das ist richtig.

Verteidiger: Hielten Sie ihn auch für unschuldig?

Zeugin: Gewiß, ich hielt Berger überhaupt für einen anständigen Menschen.

Vors.: Wenn Sie die erheblichen Vorstrafen des Angeklagten gekannt hätten, würden Sie alsdann derselben Meinung gewesen sein?

Zeugin: Nein, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich anderer Meinung gewesen.

Auf Befragen des Angeklagten gab die Zeugin als richtig zu, daß er oftmals zu ihr Pakete gebracht habe.

Der folgende Zeuge war der Drehorgelspieler Schöneberg.

Vors.: Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten?

Zeuge: Nich in die Hand! (Allgemeine Heiterkeit) Der Zeuge leistete darauf den Zeugeneid und bekundete, er habe im Juni d.J. auf dem Hofe des Hauses Ackerstraße 130 gespielt, eine große Anzahl Kinder haben nach den Klängen seines Leierkastens getanzt. Die kleine Lucie habe er nicht gekannt. Zwei Männer haben sich das Tanzen der Kinder angesehen, er habe sich aber das Aussehen der Männer nicht gemerkt. Er wisse auch nicht, an welchem Tage des Juni er in der Ackerstraße 130 gespielt habe. Der Vorsitzende ließ Lenz hervortreten, Schöneberg vermag ihn aber nicht wiederzuerkennen.

Kriminalkommissar Wehn: Der Zeuge Schöneberg und auch Bewohner des Hauses. Ackerstraße 130 haben ihm zur Zeit mitgeteilt: Das Tanzen der Kinder nach den Klängen des Leierkastens sei am 9. Juni mittags gegen 1 3/4 Uhr gewesen.

Es meldete sich darauf Johanna Liebetruth: Herr Vorsitzender, die Schade, die vorhin vernommen wurde, hat die Unwahrheit gesagt. Ich habe dem Berger niemals gedroht, ich werde ihn „alle“ werden lassen. Im vorigen Jahre wohnte ich mit Berger in der Hussitenstraße. Ich schlief mit Berger in der Küche, die Schade im Vorderzimmer. Eines Tages lieh ich dem Berger 8 Mark, sehr bald darauf noch 3 Mark. Ich wollte schließlich das Geld wiederhaben, Berger versicherte aber, daß er kein Geld habe. Ich wußte jedoch, daß Berger in der Matratze Geld verborgen habe. Ich suchte und fand in der Matratze 70 Mark in Gold. Ich wollte mir mein dem Berger geliehenes Geld nehmen, da wurde ich von Berger furchtbar geschlagen. Ich schrie „Hilfe“. Da kam die Schade in die Küche gestürzt und sagte zu mir: „Laß doch den Lude alle werden.“

Vors.: Die Schade hat das aber ganz anders geschildert?

Liebetruth: Die hat die Unwahrheit gesagt.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Berger habe sie auch mit einem Messer bedroht.

Verteidiger: Hat Berger nicht das Messer beiseite gebracht, da er befürchtete, Sie könnten es gegen ihn zur Anwendung bringen?

Liebetruth (nach einigem Zögern): Berger wußte allerdings, wie sehr aufgeregt ich bin.

Die Liebetruth bemerkte noch: Es wird sich noch alles anders herausstellen, wie es hier geschildert worden ist.

Verteidiger: Es ist ja sehr interessant, daß alles, was hier verhandelt wird, draußen den Zeugen erzählt wird.

Der folgende Zeuge war Arbeitsbursche Graff: Er habe gehört, daß am 9. Juni am Torweg des Hauses Ackerstraße 130 zwei Männer mit der Lucie in verdächtiger Weise gestanden haben; er habe es für seine Pflicht gehalten, dies anzuzeigen, er habe aber selbst nichts gesehen.

Die zehnjährige Schülerin Martha Liebe bekundete: Am Tage, an dem die kleine Lucie verschwunden sei, habe sie gegen Mittag Berger an der Hand der kleinen Lucie über den Damm der Ackerstraße gehen sehen. Berger habe der Lucie Bonbons gekauft und sei alsdann mit ihr die Bernauer Straße entlang gegangen.

Vors.: Nun, Berger, ist das richtig?

Berger: „Das ist ja eine Lüge von das Kind.“

Der Vorsitzende hielt hierauf der kleinen Zeugin vor, daß sie bei ihrer früheren Vernehmung von Berger gar nichts, sondern gesagt habe, sie habe zwei Männer in der Gartenstraße stehen sehen. Der Vorsitzende fragte das Mädchen wiederholt in eindringlichster Weise: Wie es komme, daß es ihre Aussage derartig ändere. Das Kind gab jedoch keine Antwort.

Staatsanwalt: Er wolle nach diesem Vorgange auf die Vernehmung aller weiteren Kinder verzichten.

Der Verteidiger schloß sich dem Antrage an. Der Gerichtshof beschloß, auf die Vernehmung aller weiteren Kinder zu verzichten.

Inzwischen vernahm man im Saale einen furchtbaren Lärm. Auf dem Korridor, dicht vor dem Eingang zum großen Schwurgerichtssaale, drängte sich ein sehr zahlreiches Publikum, zumeist Typen des nördlichen Berlins. Zwischen zwei Zeugen, dem Vernehmen nach zwischen dem jetzigen Zuhälter der Liebetruth und einem Kellner, namens Alfred Klein, entwickelte sich eine regelrechte Schlägerei. Drei Schutzleute trennten sehr bald die Kämpfenden, und Kellner Klein, ein großer, schlanker, sehr brünetter Mann, wurde von zwei Gerichtsdienern als Zeuge in den Saal geschoben. Der Zeuge trat in großer Erregung vor den Richtertisch und bemerkte: Ich bin soeben draußen von einem Kerl vor den Kopf geschlagen worden.

Vors.: Nun beruhigen Sie sich, Sie sollen jetzt hier als Zeuge vernommen werden.

Klein: Ich kann mir das aber nicht gefallen lassen von dem Luden.

Vors.: Sie sind doch Manns genug, um sich bemeistern zu können. Sie sollen jetzt als Zeuge vernommen werden.

Klein: Ich gehe ja schon, ich will ja gar nicht hierbleiben.

Vors.: Sie sollen aber hierbleiben.

Klein: Ich halt’s hier nicht aus, Sie müßten mir denn gerade fesseln.

Vors.: Sie scheinen allerdings so sehr aufgeregt zu sein, daß wir heute Ihre Vernehmung werden aussetzen müssen.

Klein: Ich bin so aufgeregt, daß mir bald der Schädel platzt. Ich kann mir det von dem Luden von de Liebetruth nicht gefallen lassen. Meine Frau hält mir die Zeitung vor, worin steht: ick bin ein Nuttenjäger. Und nu will ick noch wat sagen. Eine Person, eine geborene Täuber, hat in einer Kneipe hier drüben erzählt: Die Liebetruth hat einem Kind gesagt, was sie hier aussagen soll.

Vors.: Ich kann Ihnen mitteilen, daß auf die Vernehmung aller Kinder verzichtet worden ist.

Klein: Det können Se machen, wie Sie wollen, aber sone Person darf doch keen Kind nich beeinflussen.

Der Vorsitzende bemerkte dem Klein, daß er für heute entlassen sei. Der Zeuge verließ in großer Erregung den Saal.

Ein weiterer Zeuge war Handlungslehrling Vogelmann. Am 9. Juni mittags habe er vor dem Hause Ackerstraße 130 einen Mann mit einem kleinen Mädchen stehen sehen, es sei gegen 1 Uhr mittags gewesen. Er glaube aber nicht, daß es der Angeklagte war.

Fräulein Mannigel, Frau Dubinski und Frau Wantke wollen am 9. Juni ähnliche Wahrnehmungen gemacht haben. Alle diese Zeuginnen vermögen aber nicht zu bekunden, wer der Mann oder das Mädchen gewesen sei.

Droschkenkutscher Krüger: Am 9. Juni mittags habe er mit seiner Droschke am Gartenplatz gehalten. Da habe er einen Mann mit einem kleinen Mädchen gehen sehen.

Vors.: Können Sie sagen, wer dieser Mann war?

Zeuge (nach einigem Besinnen): Ich erkenne in diesem Mann mit aller Bestimmtheit den Angeklagten wieder. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Wissen Sie, wer das Mädchen war?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kannten Sie die ermordete Lucie?

Zeuge: Nein.

Staatsanwalt Dr. Lindow: Ich muß bemerken, daß der Zeuge bei der Polizei mit ebensolcher Bestimmtheit Lenz als den betreffenden Mann bezeichnet hat. Ich ersuche, den Herrn Kriminalkommissar Wanowski zu vernehmen.

Kriminalkommissar Wanowski: Als ich dem Zeugen Lenz vorstellte, sagte er: Das ist er nicht. Ich befahl darauf dem Lenz, den Schnurrbart aufzuwirbeln und seinen Hut aufzusetzen. In diesem Augenblick wollte sich Krüger in voller Erregung auf Lenz stürzen und ihn mißhandeln. Ich mußte ihn mit Gewalt zurückhalten. Krüger rief, das war der Kerl, ich erkenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder. Als er einige Tage darauf von dem Kriminalkommissar Wehn vernommen und ihm Berger gegenübergestellt wurde, bezeichnete er mit ebensolcher Bestimmtheit Berger als den betreffenden Mann.

Kriminalkommissar Wehn und Landrichter Maßmann bestätigten dies.

Ein Geschworener: Hat vielleicht der Angeklagte früher den Schnurrbart aufgewirbelt getragen?

Angekl.: Hier sitzen 10 Zeugen, die beschwören können, daß ich den Schnurrbart niemals aufgewirbelt getragen habe.

Es wurden darauf einige Frauen und Kinder vernommen, die am 9. Juni in der Ackerstraße Männer mit kleinen Mädchen gesehen haben.

Eine Frau wollte die Lucie am 10. Juni mit einem Manne auf dem Gartenplatz gesehen haben.

Am folgenden Tage wurde der Kellner Alfred Klein, der den Spitznamen „Mulattenalfred“ hatte, als Zeuge aufgerufen. Der Gerichtshof beschloß, die Liebetruth während der Vernehmung des Klein aus dem Saale zu entfernen. Klein bekundete, er kenne den Angeklagten Berger schon seit mehreren Jahren. Berger sei ein gutmütiger, keineswegs zanksüchtiger Mensch. Am Abend des 8. Juni sei er mit Berger zusammengewesen. Er (Zeuge) habe ein Mädchen, eine Artistin, auf der Straße angesprochen und sei mit diesem in der Wohnung der Liebetruth zusammengewesen; Berger hatte ihm die Schlüssel gegeben. Die Liebetruth war im Gefängnis. Am Morgen des 9. Juni gegen 9 1/2 Uhr begab er sich in das in der Elsässer Straße belegene Restaurationslokal „Zur goldenen Kugel“. Dort traf er Berger und Sander. Beide waren angetrunken und zankten sich. Sehr bald kam es zu einer heftigen Balgerei zwischen den beiden. Bald lag Berger unten, bald Sander oben, bald wieder umgekehrt. Die Hauerei dauerte ziemlich lange. Berger war bis gegen 11 Uhr vormittags in der „Goldenen Kugel“.

Vors.: Berger will in der Nacht vom 8. zum 9. Juni nicht zu Hause gewesen sein?

Klein: Das kann ich nicht sagen, übernächtigt sah er ja aus. Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge: Er hatte Berger vom Donnerstag bis Sonnabend nicht gesehen.

Vors.: Trauen Sie dem Berger ein Verbrechen zu, wie es ihm hier zur Last gelegt wird?

Zeuge: Durchaus nicht.

Staatsanwalt: War Ihnen bekannt, daß Berger ein Zuhälter ist?

Zeuge: Gewiß.

Staatsanwalt: Sie haben früher gesagt: Wenn Berger angetrunken ist, dann ist er furchtbar aufgeregt?

Zeuge: „Das mag ja sind, wenn ich besoffen bin, denn bin ick so aufgeregt, daß ich mir nicht kenne.“

Staatsanwalt: Berger soll, wenn er betrunken ist, gewalttätig, ja sogar gefürchtet sein?

Zeuge: „Det kann ich nich sagen, mir ist nicht bekannt, daß sich vor Bergern jemand hätte fürchten gedäht. Er hat allerdings einmal einen gewissen Hase ?verbimst?, weil dieser mit der Liebetruth poussiert haben soll.“

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß Berger dieser Schlägerei wegen freigesprochen wurde, weil sich ergeben hatte, daß Berger von Hase angegriffen worden sei?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Ich will bemerken, daß Berger wegen Gewalttätigkeiten mehrfach bestraft worden ist.

Verteidiger: Herr Klein, ist Ihnen bekannt, daß die Liebetruth, während sie mit Berger verkehrte, 8 Jahre einen Zuhälter hatte, der „Schlächter-Emil“ genannt wurde und im Verdacht stand, den Günzelschen Mord begangen zu haben, und daß sie 6 Jahre lang noch einen anderen Zuhälter hatte?

Zeuge: Das habe ich gehört.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß der jetzige Zuhälter der Liebetruth diese zu einem falschen Zeugnis verleiten wollte?

Zeuge: Die Liebetruth nicht, aber zur Schade hat er gesagt: Du mußt sagen: Berger wollte die Liebetruth mit einem Messer erstechen.

Verteidiger: Hat Berger Neigung für unerwachsene Mädchen gehabt?

Zeuge: Nein, im Gegenteil, wir haben uns einmal über „Nutten“ (unerwachsene Mädchen) unterhalten. Da sagte Berger: Ich könnte dabei kein Vergnügen finden.

Verteidiger: War die Liebetruth gewalttätig?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Vors.: Sie haben früher gesagt, Sie hatten in Ihren Kreisen gesammelt, um Berger einen Verteidiger zu beschaffen. Als aber der Korb gefunden wurde, sagten Sie: Nun rühre ich für Berger keinen Finger mehr, nun glaube ich, er ist der Mörder?

Zeuge: Das ist richtig, als der Korb gefunden wurde, waren wir allgemein der Meinung, daß Berger der Mörder ist.

Vors.: Glaubt man noch heute in Ihren Kreisen, daß Berger der Mörder ist?

Zeuge: Die Meinung ist so.

Verteidiger: Herr Vorsitzender, ich muß gegen diese Fragestellung Protest erheben, das ist ein Gutachten.

Vors.: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß sich diese Frage mit dem Zeugeneid deckt.

Vors.: Halten Sie Berger heute noch für den Mörder?

Zeuge: Ich habe schon gesagt, ich traue Berger einen Mord nicht zu.

Vors.: Sie sind also heute anderer Meinung?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sind Sie zu dieser Meinungsänderung vielleicht durch einen Artikel des „Lokal-Anzeigers“ gekommen, in dem es hieß: „Die Chancen für Berger haben sich günstiger gestaltet“?

Zeuge: Das ist möglich, jedenfalls traue ich Berger einen Mord nicht zu.

Darauf wurde der Untersuchungsrichter, Landrichter richter Maßmann, als Zeuge vernommen: Klein sagte, wenn Berger betrunken ist, dann ist er wie ein wilder Stier, er hat einem Mann, mit dem er in Streit geraten war, ohne jede sichtliche Veranlassung mit geballter Faust ins Auge geschlagen. Klein erzählte ferner: „Es wurde in Zuhälterkreisen mittels einer Liste Geld gesammelt, um Berger einen Verteidiger zu beschaffen. Nachdem aber der Korb gefunden war, wurde die Sammlung eingestellt, da wir uns sagten: Berger muß den Mord begangen haben.“

Vors.: Nun Klein, haben Sie das zu dem Herrn Untersuchungsrichter gesagt?

Zeuge: Das mag sein, ich kann mich darauf nicht erinnern.

Vors.: Sie geben aber zu, daß Sie das, was der Herr Landrichter hier bekundet hat, gesagt haben?

Zeuge: Das mag sein.

Der Verteidiger bezeichnete es als falsch, daß eine Liste zur Aufbringung der Verteidigungskosten herumgegangen sei, es liege hierfür bereits eine eidesstattliche Versicherung vor.

Landrichter Maßmann bemerkte noch: Klein habe auf Befragen gesagt: Es sei ihm bekannt, daß Berger ein Zuhälter sei, er sei es aber nicht.

Der folgende Zeuge war Kellner Max Schumann: Er sei Kellner in der „Goldenen Kugel“. Berger habe vielfach in dem Lokal verkehrt, er habe Berger als ruhigen, higen, gutmütigen Menschen kennengelernt.

Vors.: Berger soll aber, wenn er betrunken war, gewalttätig gewesen sein?

Zeuge: Das mag sein.

Vors.: Er soll am Vormittag des 9. Juni in der Goldenen Kugel einen Menschen, mit dem er in Streit geraten, war, sogleich mit einem Daumen ins Auge gestoßen haben?

Zeuge: Das habe ich allerdings gehört. Als ich am 9. Juni ins Geschäft kam, war die Prügelei schon vorüber.

Vors.: Hat Berger Handel getrieben?

Zeuge: Jawohl, er handelte mit Taschentüchern und Wäsche.

Ein weiterer Zeuge, der Reisende Wilhelm Sander schilderte den Angeklagten in derselben Weise wie der Vorzeuge. Er sei mit Berger oftmals in der Goldenen Kugel zusammengetroffen.

Vors.: Wurde in der Goldenen Kugel über den Mord gesprochen?

Zeuge: Allerdings.

Vors.: Wurde nicht, nachdem der Korb aufgefunden wurde, allgemein behauptet: Berger ist der Mörder?

Zeuge: Anfänglich glaubten wir nicht, daß Berger der Mörder sei, als aber der Korb gefunden war, da wurden wir schwankend.

Staatsanwalt: Sie haben bei der Liebetruth gewohnt?

Zeuge: Jawohl, einige Zeit.

Staatsanwalt: Sie sind auch mit Berger zusammen gereist?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanw.: Woher hat Berger das Geld zum Reisen und zum Handeln genommen?

Zeuge: Soweit ich weiß, hat er sich Geld von seinen Verwandten geborgt.

Staatsanw.: Sie sind auf die sogenannte „Wechselfalle“ gegangen, d.h. Sie sind in Läden gegangen und haben falsches Geld zu wechseln gesucht, Sie sind deshalb mit drei Wochen Gefängnis bestraft worden?

Zeuge: Jawohl.

Die Liebetruth trat vor: Der Zeuge sagt die Unwahrheit, wenn er behauptet: Berger sei nicht gewalttätig.

Landrichter Maßmann: Der Zeuge hat bekundet: Wenn Berger betrunken war, dann ist er im höchsten Maße gewalttätig.

Zeuge Sander gab zu, eine solche Bekundung bei dem Untersuchungsrichter getan zu haben.

Hierauf wurde der 75jährige Drechslermeister Christian Liebetruth, Vater der Johanna Liebetruth, als Zeuge aufgerufen: Er wohne seit 1886 in Berlin. Eines Abends habe er seine damals 14 1/2 Jahre alte Tochter mit Berger in der Brunnenstraße getroffen. Er habe Borger sofort zur Rede gestellt und ihm gesagt: er warne ihn, seine Tochter zu verführen, da er sich dadurch strafbar machen würde. Es wurde ihm aber berichtet, daß Berger seine Tochter weiter behellige. Er habe auch das Paar einmal in der Stralsunder Straße abgefaßt und von dieser Zeit ab seiner Tochter die Kleider versteckt, damit sie nicht ausgehen konnte.

Vert: Sie sagten zu Berger, er mache sich strafbar, wie kamen Sie dazu, Ihre Tochter stand doch bereits unter sittenpolizeilicher Kontrolle?

Zeuge: Zu der Zeit noch nicht, da war sie noch ein sehr anständiges Mädchen.

Vors.: Weshalb waren Sie gegen den Verkehr des Berger mit Ihrer Tochter?

Zeuge: Weil er arbeitsscheu war. Als ich ihn einmal zur Rede stellte, sagte er: „Ich brauche nicht zu arbeiten; Ihre Tochter ist ja ein sehr hübscher Backfisch, ich will mich von ihr ernähren lassen.“ Da ich sah, daß die beiden jungen Leute sich lieben, so sagte ich zu Berger: Wenn er anständig werden will, dann soll er meine Tochter zur Frau bekommen, er solle zu mir kommen und in meiner Werkstätte polieren. Er kam aber nicht.

Vors.: Sie würden also, wenn Berger ein ordentlicher Mensch gewesen wäre, nichts dagegen gehabt haben, wenn er Ihre Tochter geheiratet hätte?

Zeuge: Nein.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Berger Ihre Tochter gemißhandelt hat?

Zeuge: Jawohl, er soll ihr einmal die Nase eingeschlagen haben.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie bis in die letzte Zeit den Angeklagten Berger Theodor und er Sie „Vater“ genannt hat?

Zeuge: Das ist richtig, das war von der Zeit ab, wo sich beide verlobt hatten; ich glaubte immer noch, daß Berger sich bessern werde.

Johanna Liebetruth, nochmals vernommen, wurde vom Vorsitzenden in eindringlichster Weise ermahnt, die volle Wahrheit zu sagen. Sie bekundete auf Befragen: Sie habe gegen Berger keinen Haß. Sie habe Berger 1887 auf der Straße kennengelernt und mit ihm sehr bald intim verkehrt. Sie sei damals 14 1/2 Jahre alt gewesen. Anfänglich habe Berger bei seinen und sie bei ihren Eltern gewohnt. Ihr Vater habe es nicht dulden wollen, daß sie mit Berger verkehre, und habe sie deshalb oftmals gezüchtigt. Schließlich habe sie sich nicht mehr nach Hause getraut und sei zu fremden Leuten gezogen. Seit ihrem 16. Lebensjahre stehe sie unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Sie sei schließlich mit Berger zusammengezogen, ihr Zuhälter sei aber Berger niemals gewesen. Er habe sie niemals mals angehalten, ihrem unzüchtigen Gewerbe nachzugehen, er habe sie auch auf ihren Gängen niemals begleitet. Berger habe auch niemals von ihr Geld gefordert. Sie habe ihm freiwillig solches gegeben, und wenn sie nichts hatte, habe ihr Berger Geld gegeben.

Vors.: Woher hatte Berger Geld?

Zeugin: Er handelte.

Staatsanw.: Haben Sie nicht mit Berger sogenannte Kunsttouren unternommen?

Zeugin: Ich bin mit Berger in Breslau, Halle, Leipzig, Dresden, Hannover, Köln und Düsseldorf gewesen. Auf solchen Touren machte aber Berger oftmals Abstecher. So z.B. reiste er von Dresden nach Nordhausen.

Staatsanw.: Weshalb tat er das?

Zeugin: Um Geschäfte zu machen.

Vors.: War Berger bisweilen gewalttätig?

Zeugin: Jawohl, ganz besonders wenn er betrunken war, hat er mich bisweilen geschlagen.

Vert.: Sie sollen Berger auch bisweilen geschlagen haben?

Zeugin: Das war ein einziges Mal, weil Berger meine Schwester geschlagen hatte. Einmal hat er mich auf die Nase geschlagen, so daß ich einen Nasenpolyp bekam.

Staatsanw.: Ist es richtig, daß Berger Ihnen einmal mit einem Brotmesser den Hals abschneiden wollte?

Zeugin: Jawohl, das war in der Hussitenstraße, weil ich mir die ihm geliehenen 11 Mark nehmen wollte.

Staatsanw.: War Berger, wenn er angetrunken war, sehr sinnlich?

Zeugin: Bisweilen; er war überhaupt sehr eifersüchtig.

Vert.: Ist es richtig, daß sie mit einem Schlächter, der in Zuhälterkreisen „Schlächter-Emil“ genannt wird, ein Verhältnis gehabt haben?

Zeugin: Jawohl, das war im vorigen Jahre.

Angekl.: Die Liebetruth sagte: Sie habe Reisen mit mir unternommen, weil sie glaubte, in anderen Städten mehr zu verdienen. Das ist nicht richtig, wir sind von Berlin abgereist, weil ich dem Gefängnis entgehen wollte.

Vors.: Fräulein Liebetruth, ist das richtig?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Angekl.: Die Liebetruth hat immer betont, sie sage die reine Wahrheit, sie hat aber nicht die Wahrheit gesagt. Die Liebetruth hat gesagt, sie hat mich niemals wegen Zuhälterei angezeigt. Die Liebetruth hat mich aber mindestens 30mal wegen Zuhälterei angezeigt. Ich bin deshalb von 1895 bis 1898 auf Reisen gegangen. Als ich 1898 angeklagt war, da hat die Liebetruth beschworen, daß alle ihre Angaben unwahr seien, ich wurde deshalb freigesprochen.

Vors.: Ist das richtig?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Angekl.: Dann bitte ich die Akten einzusehen.

Vert.: Frl. Liebetruth, ist es richtig, daß Sie Berger mindestens 30mal wegen Zuhälterei angezeigt haben?

Zeugin: Ich bin ja sprachlos, ich habe doch Berger nicht 30mal angezeigt.

Vert.: Sind es 5- oder 3mal gewesen?

Zeugin: Ich weiß es nicht, ich leide bisweilen an schlechtem Gedächtnis.

Vert.: Bisweilen sollen Sie auch ein starkes Gedächtnis gehabt haben?

Zeugin: Das mag sein.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie vor Gericht Ihre Angaben widerrufen haben?

Zeugin: Es ist ja möglich, daß ich auf der Polizei gesagt habe, was ich nicht verantworten konnte.

Auf Antrag des Verteidigers wurde Kriminalkommissar Wehn beauftragt, die Polizeiakten des Berger zur Stelle zu schaffen.

Ein Geschw.: Reiste Berger unter seinem Namen?

Angekl.: Bisweilen unter meinem Namen, bisweilen auch unter falschem, wie dies oftmals Reisende in den Hotels tun. Die Liebetruth hat auch heute nicht die Wahrheit gesagt, es ist unwahr, daß ich die Liebetruth mit einem Messer bedroht habe. Die Liebetruth hatte mir 10 Mark genommen. Ich habe ihr deshalb mit Schlägen gedroht. Die Schade war aber nicht dabei.

Die Liebetruth blieb bei ihrer Aussage.

Vert.: Wie kam es, daß Sie früher bekundet haben, Sie wissen nicht, womit Berger Geld verdient hat. Heute sagen Sie, Berger habe mit Taschentüchern gehandelt?

Liebetruth: So genau weiß ich das nicht.

Angekl.: Die Liebetruth hat mir auch mehrfach gedroht, sie wolle mich „alle“ werden lassen.

Liebetruth: Das ist nicht wahr, wenn Berger mir kein Geld geben wollte, da sagte er: Dann laß mich doch „alle“ werden. Ich habe darauf erwidert: Wenn du mir kein Geld gibst, dann bin ich auch gezwungen, dich „alle“ werden zu lassen.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Liebetruth: Sie habe zu einem Mädchen in der Barnimstraße geäußert: Meiner hat gesagt: er macht lieber 10 Jahre Zuchthaus ab, ehe er mich heiratet; da versetzte das Mädchen: Wenn das meiner wäre, dann würde ich ihn entweder reinschieben oder rausschmeißen. Sie habe gesagt, sie werde ihn auch rausschmeißen.

Vert.: Die Wehn soll zu Ihnen gesagt haben: wenn ich rauskomme, dann heirate ich, du bist allerdings schon 17 Jahre mit Berger zusammen, und er heiratet dich noch immer nicht. Da Sie gewissermaßen in dieser Weise verhöhnt wurden, sagten Sie: Wenn ich jetzt rauskomme, dann heirate ich auch?

Zeugin: Das ist nicht richtig, verhöhnt wurde ich nicht.

Auf weiteres Befragen erzählte die Liebetruth in sehr weitschweifiger Weise: Als ich Sonnabend, den 11. Juni, vormittags aus dem Arrest kam, sah ich vor dem Hause Ackerstraße 130 eine große Anzahl Leute stehen. Berger schlief noch. Ich sah mich in meiner Wohnung um und gewann sehr bald die Überzeugung, daß Berger ein Mädchen bei sich gehabt hat. Ich muß ja bekennen, ich war sehr eifersüchtig. Als Berger aufwachte, sagte ich ihm das auf den Kopf zu. Berger bestritt es und sagte, „Mulatten-Albert“ ist mit einem Mädchen hier gewesen. Ich schimpfte. Plötzlich vernahmen wir, der Rumpf der Lucie ist aufgefunden. Nachmittags, als Berger wieder schlief, sah ich plötzlich, daß mein kleiner Korb verschwunden war. Ich weckte sofort Berger und fragte ihn, wo der Korb sei. Zunächst sagte er, er habe ihn seiner Schwester geschenkt. Da ich ihm auf den Kopf zusagte, daß das nicht wahr sei, sagte er: ich war besoffen und habe eine „Penne“ (obdachloses Mädchen) mitgenommen, die muß den Korb gestohlen haben. Ich versetzte: Das ist nicht wahr, du hast der Penne den Korb geschenkt, du bist ja ein so schlechter Kerl, daß ich dir den Mord an der kleinen Lucie zutraue. Berger sagte: Sei nur still, ich werde dich auch heiraten. Montag gehen wir bestimmt aufs Standesamt. Wenn es heute noch nicht so spät wäre, dann würden wir heute noch gehen. Das Standesamt wird aber um 5 Uhr nachmittags geschlossen.

Vors.: Sie wollten Berger heiraten?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Was mag Berger veranlaßt haben, plötzlich mit Ihnen zum Standesamt zu gehen?

Zeugin: Ich war der Meinung, daß er mich wegen der „Penne“ und auch wegen des Korbes heiraten wollte.

Vors.: Sind Sie vielleicht der Meinung, daß Berger Sie habe heiraten wollen, damit Sie wegen des Korbes keinen weiteren Skandal machen?

Zeugin: Das allein war wohl nicht die Ursache. Ich muß offen gestehen, ich traue Berger den Mord nicht zu.

Staatsanw.: Hat nicht Berger gesagt: Sollte ich inzwischen verhaftet werden, so gehst du allein auf Standesamt?

Zeugin: Jawohl. Die Zeugin sagte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Die Lucie sei ein sehr hübsches, munteres Mädchen gewesen, das sie sehr lieb hatte. Das Kind habe ihr oftmals Einkäufe besorgt und sei auch oftmals besuchshalber in ihrer Wohnung gewesen. Das Kind habe zu ihr „Frau Liebetruth“, zu Berger „Onkel“ gesagt. Montag früh kamen zwei Sittenbeamte. tenbeamte. Da sie den Beamten sagte: daß sie im Arrest war, seien sie wieder fortgegangen. Einige Tage darauf wurde Berger verhaftet.

Vert.: Hatten Sie nicht auf Lenz Verdacht?

Zeugin: Allerdings.

Vert.: Wie kamen Sie dazu?

Zeugin: Weil gesagt wurde: es sei ein starker Mann mit dickem, schwarzem Schnurrbart in verdächtiger Weise mit der Lucie gesehen worden.

Vert.: Ist es richtig, daß Berger verschiedene ihm gehörige Sachen verschenkt hat?

Zeugin: Allerdings, er hat sogar kurz nach dem Morde ein Paar fast noch neue Stiefel verschenkt.

Auf ferneres Befragen bemerkte die Zeugin: Frau Berlin habe zu ihr gesagt: Sie haben wohl meine kleine Lucie in der Friedrichstraße verkauft?

Angekl.: Die Liebetruth hat nicht die volle Wahrheit gesagt. Die Liebetruth schrie und lärmte wegen des Korbes, ich machte deshalb die Fenster zu und sagte: Hannchen, mache um Gotteswillen nicht so furchtbaren Skandal, es ist doch nicht nötig, daß alle Leute unser Zanken hören. Die Liebetruth sagte: Ich werde ruhig sein, aber du weißt doch, daß du mir versprochen hast, Montag mit mir aufs Standesamt zu gehen. Gewiß, sagte ich, wenn es nicht schon so spät wäre, würden wir heute noch gehen.

Die Liebetruth gab dies als richtig zu.

Angekl.: Ich bin genötigt, noch verschiedenes klarzustellen. Die Liebetruth hat angedeutet, daß ich den Mord begangen haben könnte.

Vors.: Das ist nicht wahr, die Liebetruth hat ausdrücklich und zwar wiederholt gesagt: sie traue Ihnen den Mord nicht zu.

Angekl.: (mit weinender Stimme): Herr Vorsitzender, ich bin hier wegen Mordes angeklagt, ich muß mich doch ganz ausführlich verteidigen können.

Vors.: Selbstverständlich, Sie haben volle Verteidigungsfreiheit, Sie dürfen aber nicht, was längst festgestellt ist, wiederholen.

Angekl.: Jedenfalls hat die Liebetruth angedeutet, daß der Korb mich verdächtig macht und hat mir auch deshalb mit Anzeige gedroht. Ich will darauf bemerken: als wir in Breslau waren, da verkehrten wir mit einer gewissen Weiland. Die Liebetruth erzürnte sich mit ihr, und auch ich hatte mit dem Mädchen Krach. Plötzlich wurde die Weiland ermordet, der Täter ist, soviel ich weiß, noch nicht entdeckt. In der Hand der Ermordeten wurde ein blonder Schnurrbart, den sie offenbar im Todeskampf dem Mörder abgerissen hat, vorgefunden. Die Liebetruth hat mir auch gedroht: wenn du mich nicht heiratest, dann lasse ich dich auch wegen des Breslauer Mordes „alle“ werden. Ich weiß, daß du es nicht gewesen bist, ich traue dir so etwas auch nicht zu, aber verschiedenes, insbesondere der blonde Schnurrbart, macht dich verdächtig. Jedenfalls würdest du verhaftet und einige Monate in Untersuchungshaft behalten werden.

Vors.: Liebetruth, ist das richtig?

Zeugin: „Das habe ich nicht gesagt wegen dem Breslauer, sondern wegen dem Charlottenburger Mord.“

Angekl.: Das ist nicht wahr, die Liebetruth hat mir gedroht, mich wegen des Breslauer Mordes anzuzeigen. Ich will weiter bemerken: Ich habe die Liebetruth bisweilen „Tante“ genannt. Die Liebetruth war darüber ärgerlich und sagte: ich bin nicht deine alte Tante. Wenn du zu mir Tante sagst, so sage ich zu dir Onkel. Die Liebetruth hat mich deshalb vielfach „Onkel“ genannt und dadurch wurde wohl die kleine Lucie veranlaßt, Onkel zu mir zu sagen. Sie hat auch zu der Liebetruth „Tante“ gesagt, diese hatte das aber dem Kinde untersagt.

Vors.: Ist das richtig, Liebetruth?

Zeugin: Es ist möglich.

Angekl.: Ich ersuche, der Liebetruth ferner die Frage vorzulegen, ob ihr bekannt war, daß ich sie nicht früher heiraten konnte, weil ich polizeilich gesucht wurde?

Zeugin: Das ist richtig.

Es wurde darauf Frau Wehn, geborene Täubner vernommen: Ich habe im Juni mit der Liebetruth im Polizeigefängnis in der Barnimstraße gesessen. Da sagte ich zu der Liebetruth: Wenn ich jetzt rauskomme, werde ich heiraten, ich habe auch inzwischen geheiratet. Die Liebetruth sagte: „Meiner geht lieber zehn Jahre ins Zuchthaus, als daß er mir heiratet.“ Du bist schön dumm, versetzte ich, du bist 17 Jahre mit dem Kerl zusammen, und da will er dich noch immer nicht heiraten. Ich ließ den Kerl entweder alle werden oder schmiß ihn raus. Ich werde ihn auch rausschmeißen, wenn ich rauskomme und er mir nicht heiratet, sagte die Liebetruth. Einige Tage später traf ich die Liebetruth im „Heidelberg“. Da sagte sie zu mir: Meiner wird mir jetzt doch heiraten, wir waren schon aufs Standesamt, hätte er es nicht getan, so würde ich ihn rausgeschmissen haben.

Eine weitere Zeugin war Frau Gottschalk: Sie wohne im Seitenflügel des Hauses Ackerstraße 130. Am 9. Juni vormittags zwischen 9 und 10 Uhr habe sie Berger nach Hause kommen sehen. Sie habe nicht den Eindruck gehabt, daß Berger betrunken war. Schon früher sei Frau Walter, die Schwester des Berger, zu ihr gekommen und habe auf Berger gewartet. Wie lange Berger zu Hause geblieben sei, wisse sie nicht. Mittags seien hintereinander zwei Leierkastenmänner auf den Hof gekommen. Die Kinder im Hause haben nach den Klängen des Leierkastens getanzt. Ob Lucie Berlin sich unter den Kindern befand, könne sie nicht sagen.

Vert.: Sie haben früher eine sehr phantasievolle Geschichte erzählt. Sie haben Lenz als Mörder bezeichnet und dies damit begründet: Lenz verkehre bei einer Frau Feige, die zwei Wohnungen habe, in denen sie Harems unterhalte. Sie habe gesehen, wie am 9. Juni mittags die kleine Lucie an der Hand eines etwa 13jährigen Mädchens nach der Verbindungsbahn gegangen sei. Ist es richtig, daß Sie diese Phantasterei der Polizei mitgeteilt haben?

Zeugin: Ich wurde von einem Kriminalbeamten gefragt, und da habe ich meine Vermutung geäußert.

Vert.: Wie kamen Sie zu dieser Erzählung, ganz besonders, wie kamen Sie dazu, auf bloße Vermutungen hin Lenz des Mordes zu beschuldigen?

Zeugin: Ich wurde gefragt, wen ich als Mörder vermute, da habe ich meiner Vermutung Ausdruck gegeben.

Vors.: Die Hauptsache ist, daß das, was Sie heute unter Ihrem Eide ausgesagt haben, wahr ist?

Zeugin: Das ist wahr.

Vert: In dem Hause Ackerstraße 130 wohnen doch sehr viele Menschen. Wie kommt es, daß Ihnen gerade Berger, als er am Vormittag des 9. Juni nach Hause kam, auffiel?

Zeugin: Weil ich gerade am Fenster saß.

Vert.: Das ist doch kein Grund, es kommen doch unaufhörlich zahlreiche Menschen ins Haus?

Zeugin: Mir fiel Berger auf.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß die Familie Berlin furchtbar auf Berger schimpfte und alle Hausbewohner, die als Zeugen in diesem Prozeß in Frage kommen könnten, auf Berger hetzte, mit der Behauptung: Berger sei zweifellos der Mörder?

Zeugin: Geschimpft haben allerdings die Berlins heftig auf Berger, das ist doch sehr natürlich.

Vert.: Die Frage der Täterschaft ist jedenfalls noch nicht entschieden, so sehr natürlich ist also das Schimpfen auf Berger nicht. Ist Ihnen aber bekannt, daß die Familie Berlin eine Belohnung von 100 Mark ausgesetzt hat, wenn Berger verurteilt wird?

Zeugin: Ich habe wohl etwas von einer Belohnung gehört, ich habe mich aber dadurch nicht beeinflussen lassen.

Vert.: Jedenfalls geben Sie wohl aber zu, daß Sie nach dem Morde vielfach mit Frau Berlin über den Mord gesprochen haben?

Zeugin: Jawohl.

Frau Walter, die Schwester des Angeklagten, bekundete: Sie sei am 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr bei ihrem Bruder in der Liebetruthschen Wohnung gewesen. Die Liebetruth sei zu jener Zeit im Gefängnis gewesen. Sie hatte den Eindruck, daß ihr Bruder angetrunken war, und zwar um so mehr, da ihr Bruder ihr sagte: er sei die Nacht vorher „durchgegangen“. Ihr Bruder habe ihr gesagt: „Nun werde ich Hannchen heiraten.“

Bereiter Gerlach: Nachdem der Rumpf der kleinen Lucie aufgefunden war, habe er mit Frau Walter, der Schwester des Angeklagten, über den Mord gesprochen. Frau Walter sagte: Meinem Bruder traue ich den Mord nicht zu. Aber selbst wenn er es gewesen wäre, dann würde ich meinen Bruder nicht verraten.

Vorsitzender: Früher lautete Ihre Aussage: Frau Walter habe gesagt: Wenn es mein Bruder gewesen wäre, dann würde ich nicht so dumm sein und meinen Bruder verraten?

Zeuge: Das ist allerdings richtig. Bei meiner ersten Vernehmung wußte ich mich noch besser zu erinnern.

Vors.: Nun, Frau Walter, ist das richtig?

Zeugin: Das ist nicht wahr, das habe ich nicht gesagt.

Vors.: Hören Sie, Frau Walter, der Zeuge hat keinerlei Interesse an diesem Prozeß und macht einen durchaus glaubwürdigen Eindruck. Ihr direktes Ableugnen könnte doch auf die Herren Geschworenen einen unangenehmen Eindruck machen?

Zeugin: Ich kann nicht anders sagen.

Unter allgemeiner Spannung wurde darauf die Mutter der kleinen Lucie, Frau Berlin, eine recht nett aussehende Frau, in tiefe Trauer gekleidet, als Zeugin in den Saal gerufen.

Vors.: Frau Berlin, Ihren tiefen Schmerz, den Sie erlitten haben, wird Ihnen jeder nachfühlen. Sie müssen sich aber zusammennehmen und ohne jede Voreingenommenheit hier Zeugnis ablegen. Die Zeugin wurde vereidigt und bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, bisweilen unter heftigem Schluchzen: Die Lucie war ein munteres, hübsches Mädchen. Sie hatte hellblondes Haar, blaue Augen und rote Wangen. Sie war etwas wild, aber sonst herzensgut und folgsam. Sie besuchte die in der Ackerstraße belegene Mädchen-Gemeindeschule. Das Kind war Bekannten gegenüber sehr zuvorkommend, Fremden gegenüber dagegen sehr zurückhaltend, ja mißtrauisch. Ich sagte zu der Lucie noch am Sonnabend vor dem Morde: Lucie, daß du nicht einmal mit einem fremden Manne mitgehst. Nein, Mutti, versetzte das Kind, mit einem fremden Mann gehe ich nicht mit, da wird einem Kopf und Bein abgeschnitten und dann ins Wasser geworfen (große Bewegung im Zuhörerraum).

Vors.: Wie kam das Kind wohl zu dieser Äußerung?

Zeugin: Es war kurz vorher ein solcher Mord an den öffentlichen Anschlagsäulen bekannt gemacht worden. Zwei Tage später rief plötzlich die Lucie: Mutti, Mutti, ein fremder Mann hat mich aufgefordert, mit ihm zu gehen, ich gehe aber bloß mit Bekannten. Am 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr kam Lucie aus der Schule. Sie spielte zunächst mit anderen Kindern auf dem Hofe, alsdann machte sie für Frau Höner einige Besorgungen. Frau Höner gab dafür dem Kinde zwei Pfennige. Lucie fragte mich, ob sie sich dafür Bonbons kaufen dürfe. Ich gab meine Zustimmung. Sehr bald kam Lucie mit den Bonbons zurück und sagte: Mutti, die schönsten Bonbons sollst du bekommen. Ich küßte und herzte das Kind mit dem Bemerken: Iß nur die Bonbons allein, mein herziges Kind (Frau Berlin weinte bei diesen Worten sehr heftig). Nachdem sie ihre Tränen getrocknet, fuhr sie fort: Gegen 12 1/4 Uhr kommt mein Mann gewöhnlich zum Mittagessen nach Hause. Die Lucie lief dem Vater zumeist entgegen, an diesem Tage hatte sich aber mein Mann über eine Wickelmacherin (mein Mann ist Zigarrenmacher) sehr geärgert, er kam infolgedessen einige Minuten früher. Lucie wollte gerade zum Korridor hinausgehen, um dem Vater entgegenzulaufen, da trat mein Mann in den Korridor. Wir aßen Mittagbrot, wir aßen Karbonade, Gurkensalat und Kartoffeln.

Vors.: Hat das auch die Lucie gegessen?

Zeugin: Jawohl. Nachdem mein Mann gegessen hatte, begab er sich sogleich wieder zur Arbeit. Da mein Mann sehr ärgerlich war, so befürchtete ich, er könnte nicht wieder zur Arbeit gehen. Ich schickte daher die Lucie nach, um zu sehen, ob der Vater auch zur Arbeit gegangen sei. Sehr bald kam Lucie zurück mit dem Bemerken: Vater ist zur Arbeit gegangen. Gleich darauf sagte Lucie: Mutti, ich muß aufs Klosett. Ich sagte, nimm den Schlüssel, aber bleibe nicht lange, sonst bekommst du Haue.

Vors.: Weshalb sagten Sie das?

Zeugin: Weil die Lucie immer Bälle bei sich hatte, und ich glaubte, sie werde mit anderen Kindern auf dem Hofe Ball spielen. Sie sollte aber bald wiederkommen, da ich gegen 3 Uhr nachmittags etwas vorhatte. Gegen 1 1/4 Uhr nachmittags kam mein Sohn Bruno zu Tisch. Dieser fragte, wo Lucie sei. Da die Lucie selbst nach Verlauf von 20 Minuten nicht wiederkam, ging ich nachsehen. Das Klosett war aber verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Ich begab mich auf den Hof. Auf diesem spielte gerade ein Leierkastenmann, und die Kinder tanzten, meine Lucie war aber nicht unter den Kindern. Es wurden von den Kindern die verschiedensten Angaben über den Verbleib des Kindes gemacht. Ich suchte mit Hilfe meines Sohnes in der ganzen Umgegend, es war jedoch alles vergeblich, mein Kind blieb verschwunden, ich habe es nicht mehr wiedergesehen. (Die Zeugin weinte wiederum heftig.)

Vors.: Wie war die Lucie gekleidet?

Zeugin: Sie trug ein dunkelbraunes Kleid, eine schwarze, mit weißem Band eingefaßte Schürze, rotbraune Knöpfstiefeletten, weiße, baumwollene Strümpfe und einen rotwollenen Unterrock. Außerdem trug sie ein goldenes Medaillon um den Hals.

Staatsanwalt: Sie sagten vorhin, Sie hätten um 3 Uhr nachmittags etwas vorgehabt. Was hatten Sie vor?

Zeugin: Das ist meine Sache.

Vors.: Frau Berlin, Sie sind verpflichtet, diese Frage des Herrn Staatsanwalts zu beantworten.

Zeugin: Ich hatte in der Leipziger Straße etwas zu besorgen.

Vors.: Kannten Sie die Liebetruth?

Zeugin: Jawohl. Einmal kam Lucie sehr spät zu Tisch. Auf meine Frage, wo sie geblieben sei, sagte sie, sie habe für Fräulein Liebetruth Schabefleisch geholt. Alsdann habe sie mit dem Hund gespielt, Onkel sei sehr gut zu ihr.

Vors.: Unter „Onkel“ verstand sie Berger?

Zeugin: Das nahm ich an.

Vors.: Kannten Sie die Liebetruth und den Berger?

Zeugin: Nur vom Sehen.

Vors.: Die näheren Verhältnisse waren Ihnen nicht bekannt?

Zeugin: Nein.

Frau Berlin erzählte weiter: Als der Rumpf aufgefunden war, da sagte ich: ich kann mir nicht anders helfen, das muß ein Mord aus Rache sein. Berger versetzte: „Das war kein Mord aus Rache, sondern ein Lustmord. Ich bin der Meinung, den Mord hat der Zigarrenspitzenhändler Kufahl in der Gartenstraße begangen, das ist ein bekannter Nuttenjäger. Ich habe gesehen, wie Fräulein Feige das Kind an der Hand genommen und über die Verbindungsbahn nach der Gartenstraße zugeführt hat.“

Angekl. (sehr erregt): Frau Berlin, wenn Sie so etwas sagen, dann sehen Sie mich wenigstens an. Schämen Sie sich, eine solche Lüge zu sagen.

Vors.: Berger, ich muß Sie dringend zur Ruhe ermahnen. Ich habe Ihnen bisher den weitesten Spielraum gelassen, ich kann aber unmöglich dulden, daß Sie in dieser Weise Zeugen gegenübertreten.

Angeklagter: Herr Vorsitzender, ich kann mir unmöglich solche gemeinen Lügen von der Frau gefallen lassen. Ich habe niemanden verdächtigt, ich habe sogar gesagt, als alle Welt behauptete, Lenz ist es gewesen: Solchen Verdacht darf man nicht aussprechen, wenn man nicht, volle Beweise dafür hat.

Vors.: Nun, Frau Berlin, Sie hören, was der Angeklagte sagt. Sie haben einen Eid geleistet, ich ermahne Sie dringend, nur das zu sagen, was Sie mit gutem Gewissen auf Ihren Eid nehmen können.

Frau Berlin: Herr Vorsitzender, meine gute Lucie ist tot, die kommt nicht wieder; ich will niemanden unschuldig belasten, was ich sage, das ist die Wahrheit.

Vors.: Weshalb nahmen Sie an, daß es ein Mord aus Rache war?

Zeugin: Weil ich hörte, Lenz hätte sich mit der Seiler gezankt, da glaubte ich, Lenz hätte aus Wut darüber mein Kind ermordet.

Vors.: Wenn sich Lenz mit der Seiler zankt, liegt doch noch kein Grund vor, ein Kind zu töten?

Zeugin: Man kommt doch dabei auf alle möglichen Vermutungen.

Verteidiger: Sie haben ja in der Voruntersuchung fast das Gegenteil gesagt, ganz besonders haben Sie Lenz belastet. Aber wie kommt es, Frau Berlin, daß Sie von diesem wichtigen Vorkommnis bei allen Ihren früheren Vernehmungen nichts gesagt haben?

Zeugin: Man denkt nicht immer an alles.

Angekl.: Als die Kriminalbeamten kamen, da wurde ich gefragt, ob ich Lenz ausfindig machen könnte. Ich sagte: Ich glaube, das wird nicht schwer halten, der ist immer mit einem gewissen Fuhrmann zusammen. Soviel ich weiß, wohnt Fuhrmann in der Chausseestraße. Da sagte Herr Kriminalkommissar Wannowski: Hier haben Sie drei Mark, und sehen Sie zu, daß Sie Fuhrmann ausfindig machen. Als ich am Montag aufs Präsidium kam und mitteilen wollte, daß ich Fuhrmann ausfindig gemacht habe, sagte Kriminalkommissar nalkommissar Wannowski: Die Sache ist schon erledigt.

Kriminalkommissar Wannowski: Berger verdächtigte derartig den Lenz, daß, obwohl damals Berger gar nicht in Frage kam, ich gegen ihn Verdacht schöpfte. Er sagte u.a.: „Lenz ist pervers veranlagt, dieser allein ist der Mörder.“ Es ist richtig, daß ich Berger drei Mark gezahlt habe, damit er Fuhrmann und Lenz ausfindig machen solle.

Hierauf wurde Frau Müller, eine 85jährige Frau, als Zeugin, in den Saal geführt. Am 9. Juni mittags habe sie sich einen Topf in ihre Wohnung getragen. Da habe sie die Lucie auf der Treppe getroffen. Die Lucie sagte: Großmutter, geben Sie her den Topf, ich werde Ihnen den Topf nach oben tragen. Sie sagte: Laß, mein Kind, den Topf kann ich schon selbst tragen. Die kleine Lucie ging aufs Klosett. Oben auf dem Flur stand Berger und sah mich an. Ich sagte zu Berger: Weshalb sehen Sie mich so an, haben Sie denn noch keine alte Frau gesehen?

Alsdann wurde der Vater der ermordeten Lucie, Zigarrenmacher Friedrich Berlin, ein sehr anständig aussehender mittelgroßer Mann von fünfzig Jahren, als Zeuge aufgerufen. Er bekundete, gleich seiner Gattin: Er sei am 9. Juni mittags gegen 12 1/4 Uhr zum Mittagessen nach Hause gekommen und gegen 1 Uhr wieder zur Arbeit gegangen. Als er gegen 7 Uhr abends nach Hause kam, saß seine Frau auf einem Stuhle und weinte. Er fragte nach der Ursache des Weinens. „Die Lucie ist verschwunden,“ sagte seine Frau. Er sei, ohne Abendbrot gegessen zu haben, sofort aus seiner Wohnung geeilt und habe volle zwei Stunden lang sein Kind gesucht.

Vors.: Wo suchten Sie?

Zeuge: Bei allen Verwandten und Bekannten im weiten Umkreise.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge: Die Lucie war ein sehr hübsches, aufgewecktes, munteres Mädchen. Das Kind sei oftmals gewarnt worden, mit Fremden mitzugehen. Er könne es sich daher nicht denken, daß seine Tochter mit einem Fremden mitgegangen sei. Das Kind sei körperlich sehr entwickelt gewesen, es habe das Aussehen eines 11jährigen Mädchens gehabt.

Vors.: Wußten Sie, daß Ihre Tochter für die Liebetruth Einkäufe besorgte?

Zeuge: Jawohl, soviel ich weiß, nannte sie die Liebetruth Tante und Berger Onkel.

Ein weiterer Zeuge war der Bruder der ermordeten Lucie, der 15jährige Laufbursche Bruno Berlin! Er erzählte: Er sei am 9. Juni mittags gegen 1 1/4 Uhr zum Mittagessen nach Hause gekommen. Die Mutter sagte, die Lucie sei verschwunden, er möchte doch nach dem Kinde suchen. Er sagte zur Mutter, sie solle mitkommen, da er bald wieder zur Arbeit müsse. Als er abends gegen 7 Uhr nach Hause kam, habe er sofort seinem Vater suchen helfen. Zunächst sei er mit dem Vater in ein Restaurant gegangen und habe mit ihm ein Glas Bier getrunken. Der Zeuge erzählte im weiteren auf Befragen: Er habe mehrfach vor dem Hause Ackerstraße 131 einen Mann in elegantem Anzug mit einem hellen Strohhut stehen sehen. Dieser Mann sei auch oftmals in das Haus Ackerstraße 130 gegangen und habe zugesehen, wie die Lucie mit einem Hunde auf dem Hofe spielte. Ob dies Berger war, könne er nicht sagen.

Hausverwalter Möbius: Er sei Hausverwalter des Hauses Ackerstraße 130. Das Haus sei nachts stets verschlossen. In dem Hause wohnen 106 Mieter, es sei daher schon möglich, daß hin und wieder die Haustür offengelassen worden sei. Es seien ihm aber Fälle bekannt, in denen Hausbewohner, die keinen Hausschlüssel hatten, lange Zeit auf den Nachtwächter warten mußten.

Instrumentenmacher Bollert: Er kenne Berger seit 16 Jahren. Der Vater der Liebetruth habe ihm einmal geklagt, daß Berger seine Tochter auf die Bahn des Lasters gedrängt habe und sich nun von seiner Tochter ernähren lasse. Er habe deshalb Berger energisch zur Rede gestellt.

Berger bemerkte: Bollert habe ihn damals in sehr heftiger Weise vor die Brust gestoßen.

Bollert bekundete noch auf Befragen: Am Tage vor dem Morde habe er an der Ecke der Bernauer und Ackerstraße Berger mit einem kleinen, etwa 11jährigen Mädchen stehen sehen; wer das Kind war, könne er nicht sagen, die ermordete Lucie habe er nicht gekannt.

Restaurateur Weber: Am Tage nach dem Morde, den 10. Juni, sei Berger in seinem Lokal gewesen und habe sich über das Verschwinden der kleinen Lucie in durchaus unverdächtiger Weise geäußert.

Kriminalschutzmann Siegel: Er sei Sittenpolizeibeamter. Er sei am 11. Juni in der Liebetruthschen Wohnung gewesen. Die Liebetruth habe den Lenz verdächtigt. Letzterer sei ein pervers veranlagter Mann, dem die Tat zuzutrauen sei. Berger unterbrach schließlich die Liebetruth mit dem Bemerken: „Hör’ schon einmal auf mit den Verdächtigungen, man macht sich dadurch, bloß Feindschaft.“

Kriminalschutzmann Ball bekundete über die von ihm in der Liebetruthschen Wohnung vorgenommene Haussuchung. Er habe einen Anzug, Wäsche und Bindfaden gefunden, der genau so aussah, wie der, mit dem die aufgefundenen Leichenteile verschnürt waren. Er habe im Seitenflügel des Hauses Ackerstraße 130 Nachforschungen gehalten, wer von den männlichen Bewohnern am 9. Juni zur kritischen Zeit zu Hause war.

Verteidiger: Wenn der Zeuge dies bekunden soll, dann bin ich genötigt, sämtliche Hausbewohner des Hauses Ackerstraße 130 zu laden.

Vors.: Ich lege auf diese Bekundung keinen weiteren Wert.

Kriminalschutzmann Blume: Berger habe anfänglich ein sehr ruhiges Wesen an den Tag gelegt. Als er jedoch Berger aufforderte, zu dem Kriminalkommissar Wannowski zu kommen, sei Berger auffallend blaß und sehr erregt geworden.

Der Verteidiger protestierte gegen derartige Bekundungen. Ob ein Mensch blaß und aufgeregt sei, könne nur ein Arzt beurteilen.

Der Gerichtshof beschloß, da es sich lediglich um die Bekundung einer Tatsache handelt, die Bekundung zuzulassen.

Die folgende Zeugin, Frau Marowski, bekundete: Am 9. Juni mittags gegen 1 1/2 Uhr habe sie einen furchtbaren Schrei gehört. Es war ein dumpfer Schrei, so daß sie der Meinung war, es werde ein Kind heftig geschlagen.

Vors.: Woher mag der Schrei gekommen sein?

Zeugin: Der Schrei kann meiner Meinung nach nur von unten gekommen sein.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Am 10. Juni vormittags habe sie Berger auf der Treppe stehen sehen, da sei sie sofort zu der Vermutung gekommen: Berger könnte die Lucie ermordet haben. Als am Sonnabend, den 11. Juni, bekannt wurde, daß der Rumpf der Lucie aufgefunden worden sei, haben fast alle Hausbewohner laut klagend im Hofe gestanden, nur die Liebetruth und Berger haben auf der Treppe gestanden und seien in ihre Wohnung gegangen; dies sei ihr verdächtig vorgekommen. Sie habe deshalb gehorcht und habe gehört, wie Berger zu der Liebetruth sagte: „Auf den Gedanken kommt niemand.“

Vors.: Weiter haben Sie nichts gehört?

Zeugin: Nein.

Frau Schneidermeister Noelte: Ihre Küche liegt direkt unter der Liebetruthschen Wohnung. Am 9. Juni mittags gegen 1 1/2 Uhr hatte sie sich mit ihrem Manne gezankt. Sie hatte sich deshalb ein bißchen aufs Sofa gelegt. Bald darauf sei Frau Tamm gekommen. Ihr Mann sagte zu dieser: „Meine Frau schläft, sie wird bald aus dem Bett fallen.“ Sogleich vernahm man zunächst ein Poltern und alsdann zweimal ein dumpfes Fallen. Sie sagte: „Nun fällt Hannchen aus dem Bett.“ Später habe sie gehört, daß die Liebetruth nicht aus dem Bett gefallen sein konnte, da sie im Gefängnis war.

Vors.: Wissen Sie genau, daß das Geräusch von oben kam?

Zeugin: Ganz bestimmt.

Frau Tamm bestätigte diese Bekundung. Der Fall habe sich holprig angehört.

Der Verteidiger machte die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie bei dem Untersuchungsrichter gesagt habe, es hörte sich an, wie ein weicher, dumpfer Fall.

Untersuchungsrichter, Landrichter Maßmann: Die Zeugen seien nicht so sprachlich gebildet, als daß sie ihre Wahrnehmungen hierüber genau angeben konnten. Auf nochmaliges eingehendes Befragen bemerkte die Zeugin, sie hatte das Gefühl, als wenn ein menschlicher Körper gefallen wäre.

Schneidermeister Noelte schloß sich im wesentlichen der Bekundung seiner Gattin an. Er habe auch den Eindruck gehabt, als ob ein menschlicher Körper gefallen sei. Der Zeuge bekundete im weiteren: Am 10. Juni früh 3 Uhr habe er über sich Schritte gehört. Er habe zu seiner Frau gesagt, jetzt scheinen die Leute oben nach Hause zu kommen.

Der Vorsitzende ersuchte den Untersuchungsrichter, Landrichter Maßmann, sich über den Eindruck zu äußern, den die verschiedenen Zeugen auf ihn gemacht haben.

Der Verteidiger protestierte gegen diese Fragestellung, da das ein Gutachten sei.

Der Gerichtshof beschloß jedoch, dem Untersuchungsrichter die Frage vorzulegen. Letzterer sagte: Die Zeugen machten im allgemeinen einen glaubwürdigen Eindruck, nur die Kinder haben augenscheinlich Erzähltes mit eigenen Wahrnehmungen verwechselt.

Ein Geschworener fragte, ob bei den Hausbewohnern nach dem Kinde gesucht worden sei.

Frau Berlin verneinte das. Sie habe nicht geglaubt, daß das Kind im Hause sei.

Kriminalkommissar Wannowski: Er sei einige Tage nach Auffindung der Leichenteile mit einer großen Anzahl Beamten im Hause Ackerstraße 130 gewesen, um bei sämtlichen Bewohnern Haussuchung zu halten. Als er in die Liebetruthsche Wohnung kam, sei Berger sehr ruhig gewesen. Einige Tage darauf habe er Berger von dem Kriminalschutzmann Blume nach dem Polizeipräsidium holen lassen. Berger sei auffallend blaß und erregt gewesen. Er habe ihm die kleine Gertrud Hübsch, die Berger mehrfach auf der Straße mit der ermordeten Lucie beobachtet haben soll, gegenübergestellt. In diesem Augenblick sei Berger so erschrocken, daß er am ganzen Leibe gezittert habe und bald umgefallen wäre.

Der Verteidiger stellte den formellen Antrag, von der Vernehmung sämtlicher Polizeibeamten Abstand zu nehmen. Die Polizeibeamten seien Gehilfen der Staatsanwaltschaft, sie seien schon deshalb naturgemäß etwas voreingenommen. Außerdem sei jeder Polizeibeamte in das Ergebnis seiner Recherche gewissermaßen verliebt; er sei daher naturgemäß von der Richtigkeit dieses Ergebnisses überzeugt.

Der Vorsitzende verkündete nach kurzer Beratung des Gerichtshofes: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Antrag des Verteidigers abzulehnen; die Polizeibeamten haben selbstverständlich die Verpflichtung, sich streng an die Tatsachen zu halten.

Kriminalschutzmann Ogotzek: Als er in die Wohnung der Liebetruth kam, habe er Berger gefragt, ob er da wohne. Nein, ich wohne nicht hier, ich wohne in der Bergstraße, erwiderte Berger. Bei diesen Worten holte er eine polizeiliche Anmeldung aus der Tasche. Er (Zeuge) habe darauf in der angeblichen Wohnung des Berger nachgefragt, dort kannte man Berger überhaupt nicht.

Der folgende Zeuge war Kriminalkommissar Wehn: Als der Rumpf aufgefunden wurde, habe der Vater des ermordeten Kindes, Zigarrenmacher Friedrich Berlin, sofort gesagt, der Rumpf ist der meiner Tochter Lucie, ich erkenne ihn ganz besonders an dem roten Unterrock wieder. Der Verdacht lenkte sich bekanntlich zuerst auf Lenz. Dieser wurde zur Sektion im Leichenschauhause hinzugezogen. Er sagte mit großer Ruhe: Meine Herren, ich bin an dem Morde des Kindes ebenso unschuldig, wie Sie alle hier. Er (Wehn) hatte sehr bald die Überzeugung gewonnen, daß Lenz als Täter nicht in Betracht kommt. Nicht bloß die Mutter, auch der Lehrer habe die kleine Lucie gewarnt, etwaigen Lockungen fremder Männer zu folgen. Er habe zunächst auf Berger keinen Verdacht gehabt. Eins machte ihn aber ganz besonders stutzig. Berger sagte zu der Liebetruth: „Sprich bloß nicht von dem Korbe, sonst hält man mich schließlich für den Mörder.“ Das war zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, ein Korb könnte mit dem Morde in Verbindung gebracht werden. Als der Korb aufgefunden wurde, habe er Berger gefragt, Sie sollen einen Korb der Liebetruth entwendet haben. Berger habe zunächst die Entwendung des Korbes in Abrede gestellt. Schließlich habe er gesagt, ich habe den Korb verschenkt. Wem, fragte er, haben Sie den Korb verschenkt? Einem Mädchen. Was für einem Mädchen? Auf der Straße, antwortete Berger. Nachdem bekannt wurde, daß ein Korb aufgefunden war, habe er eine Preßnotiz veranlaßt. Daraufhin habe der Schiffer Tornow angezeigt, daß er einen Korb gefunden habe. Er habe sofort einen Schutzmann nach Plaue geschickt, um den Korb zu holen. Es sei ihm außerdem aufgefallen, daß Berger sagte: „Die Aufregung vertrage ich nicht.“ Diese Äußerung war um so auffälliger, da damals Berger noch in keiner Weise verdächtigt wurde, es wurde ihm im Gegenteil von dem Kriminalkommissar Wannowski. Geld gegeben, damit er Recherchen nach Lenz und Fuhrmann anstelle.

Das Leben und Treiben

der Zuhälter und Dirnen in Berlin.

Kriminalkommissar Wehn berichtete hierauf über die verschiedenen von ihm vorgenommenen Haussuchungen und äußerte alsdann: Die Zuhälter üben im allgemeinen auf die Dirnen einen geradezu dämonischen Einfluß aus. Es kommt fast täglich vor, daß eine Dirne auf die Polizei kommt und sich beklagt, ihr Zuhälter habe sie braun und blau geschlagen. Die Mädchen sehen gewöhnlich so zerschlagen aus, daß man Mitleid mit ihnen hat. Am folgenden Tage kommen die Dirnen wieder und sagen, sie nehmen die Anzeige zurück, alles, was sie gesagt haben, ist Lüge, ihr Zuhälter ist ein hochanständiger Mensch. (Allgemeine Heiterkeit.) Der Kellner Klein sagte einmal zu der Liebetruth im Café: Es ist eine Dummheit von dir, daß du etwas von dem Korbe gesagt hast, hättest du das nicht gesagt, dann hätten sie Berger gar nichts tun können.

Staatsanwalt: Herr Kommissar, ist es nicht eine bekannte Tatsache, daß auch die Zuhälter fest zusammenhalten, ja, daß sie geradezu in Bezirken organisiert sind und sich gegenseitig herauszuhauen suchen?

Zeuge: Das ist richtig, dafür spricht ja am besten der Umstand, daß, wie Klein erzählt hat, die Zuhälter gesammelt haben, um Berger einen Verteidiger zu stellen; erst als sie die Tatsache von dem Korbe hörten, stellten sie die Sammlung ein.

Staatsanwalt: Es ist also der Polizei bekannt, daß unter den Zuhältern eine förmliche Organisation existiert, um sich gegenseitig herauszuhauen?

Zeuge: Jawohl. Der Zeuge bekundete im weiteren Verlauf: Der Einfluß der Zuhälter auf die Dirnen sei so groß, daß selbst der Hinweis, sie müßten ihre Aussage vor Gericht beschwören, sie nicht vor einer falschen Aussage abhält. Ich sagte einmal zu der Liebetruth: Ich glaube, Berger wird doch noch gestehen. Da versetzte die Liebetruth: „Da kennen Sie den Menschen nicht, Berger hat einen so verstockten Charakter, der gesteht nie und nimmer.“ Berger wird immer als harmloser Mensch geschildert. Mir fiel es auf, daß Berger nicht einmal ein Taschenmesser besaß. Als ich Klein darauf aufmerksam machte, sagte dieser: Berger hat ein Taschenmesser, er steckt es nur niemals zu sich, weil er sich kennt. Sowie der Kerl besoffen ist, macht er davon gefährlichen Gebrauch.

Kriminalkommissar Wehn sagte noch: Die Ermahnungen des Lehrers und der Mutter haben zweifellos auf das Kind ihren Einfluß nicht verfehlt. Daher erklärt es sich auch, daß, als der Mörder es sittlich angriff, es sich heftig gesträubt und geschrien hat.

Kriminalschutzmann Siegel: Es sei ihm aufgefallen, daß, als er am Abend des 11. Juni in der Liebetruthschen Wohnung gewesen, der Fußboden sauber aufgewaschen war.

Frau Gottschall machte eine ähnliche Bekundung.

Fräulein Seiler: Die Liebetruth habe ihr erzählt, sie habe ihr, als sie in das Gefängnis nach der Barnimstraße ging, die Schlüssel ihrer Wohnung geben wollen. Da habe Berger gesagt: „Was, der Seiler willst du die Schlüssel geben, traust du mir die Schlüssel nicht an?“ Daraufhin habe die Liebetruth dem Berger die Schlüssel gegeben. Am Donnerstag, den 9. Juni, nachmittags, habe sie an die Liebetruthsche Wohnung geklopft, um zu sehen, ob der Hund heruntergelassen worden sei, es sei ihr aber nicht geöffnet worden.

Frau Schreiber: Sie wohne über der Liebetruthschen Wohnung. Am Abend des 9. Juni gegen 8 Uhr habe sie an der Liebetruthschen Wohnung geklopft, sie wollte der Liebetruth etwas sagen. Es sei ihr aber nicht geöffnet worden.

Vors.: Berger behauptet, er sei bis 10 Uhr abends zu Hause gewesen. Sie wissen aber genau, daß Sie vor 10 Uhr geklopft haben?

Zeugin: Ich glaube, es war nicht später als 8 Uhr.

Ein weiterer Zeuge war Handelsmann Streichhahn. Der Vorsitzende forderte den Zeugen auf, seine Vorstrafen anzugeben.

Zeuge: Dann bitte ich, zunächst die Öffentlichkeit auszuschließen. (Allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Das ist gesetzlich nicht zulässig. Ich bin leider genötigt, Sie aufzufordern, Ihre Vorstrafen anzugeben.

Zeuge: Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.

Vors.: War es sechs- oder achtmal?

Zeuge: Es können auch siebenmal gewesen sein, so genau weiß ich es nicht. (Heiterkeit.)

Staatsanwalt: Ich bemerke, daß sich der Zeuge geradezu zur Zeugenschaft gedrängt hat.

Zeuge: Das ist nicht richtig, ich habe an den Herrn Verteidiger bloß einen Brief geschrieben. Hätte ich gewußt, daß ich deshalb als Zeuge geladen werde, dann würde ich mich gehütet haben, den Brief zu schreiben.

Der Vors. hielt dem Zeugen aus den Personalakten vor, daß er wegen gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs, vorsätzlicher Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs, Bedrohung, Kuppelei, schweren Diebstahls, gewerbsmäßigen Glücksspiels usw. bestraft worden sei. Der Zeuge bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Berger habe sich einmal mit „Hasen-Hermann“ in Gegenwart der Liebetruth geprügelt. Da habe Berger gesagt: „Es fällt mir nicht ein, die Liebetruth zu heiraten, dann hätte sie mich ja ganz.“

Frau Krakow: Sie wohne dem Hause Ackerstraße 130 gegenüber, Sie habe oftmals wahrgenommen, daß in dem Hause Ackerstraße 130 des Nachts viele Leute aus- und eingingen.

Staatsanw.: Sie haben früher gesagt: Sie hätten in der Nacht vom 10. zum 11. Juni einen Menschen mit einem Korbe aus dem Hause Ackerstraße 130 herauskommen sehen, das halten Sie heute nicht mehr aufrecht?

Zeugin: Nein.

Es wurde darauf nochmals Johanna Liebetruth als Zeugin hervorgerufen. Sie bestätigte vollinhaltlich die Angaben des Kriminalkommissars Wehn. Sie habe zu dem Kommissar gesagt: Selbst wenn Berger es gewesen ist, wird er es nie und nimmer gestehen, dazu ist er ein zu verstockter Charakter.

Vert.: Sie haben bisher gesagt: Sie trauen Berger einen Mord nicht zu?

Zeugin: Das ist richtig. Aber als ich den Korb mit dem Blut sah, da wurde ich eben anderer Meinung.

Vert.: Sie haben hier unter Ihrem Eide gesagt: Sie trauen Berger einen Mord nicht zu.

Zeugin: Jawohl, man kommt doch aber schließlich auf andere Gedanken.

Vors.: Sie waren der Meinung, Berger habe den Korb einem Mädchen geschenkt?

Zeugin: Jawohl, zunächst glaubte ich das, später wurde ich stutzig.

Vors.: Weshalb wurden Sie stutzig?

Zeugin: Ich wurde stutzig, als mir der Korb mit dem Blut gezeigt wurde.

Der Angekl. bemerkte: Wenn die Liebetruth fortging, habe sie am Bett usw. Zeichen gemacht, um bei ihrer Rückkehr zu sehen, ob Veränderungen vorgekommen seien. Wenn nun die Liebetruth zurückkam und ihrer Meinung nach etwas nicht so war, wie sie glaubte, daß es bei ihrem Verlassen gewesen ist, dann machte sie mit mir Skandal und sagte mir auf den Kopf zu: du hast ein Mädchen hier gehabt.

Vors.: Fräulein Liebetruth, ist das wahr?

Zeugin: Jawohl, das war meine große Eifersucht.

Die Zeugin erzählte ferner auf Befragen, daß der als Zeuge vernommene Instrumentenmacher Bollert vor vielen Jahren dem Berger ihretwegen einmal ein paar derbe Ohrfeigen gegeben habe.

Zeuge Bollert: Herr Präsident, das ist doch nichts Auffälliges; ich war in früheren Jahren im Norden Berlins meiner Körperkräfte wegen eine ganz bekannte Persönlichkeit. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Die Liebetruth bemerkte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei Abonnentin der „Berliner Morgenpost“.

Kriminalkommissar Wannowski: Bekanntlich wurden den die Leichenteile in der „Berliner Morgenpost“ eingewickelt gefunden. Ich habe nun zunächst festgestellt, daß die „Berliner Morgenpost“ in der Liebetruthschen Wohnung gehalten wurde. Ferner habe ich im Bureau der „Morgenpost“ festgestellt, daß diejenigen Nummern bzw. Teile der „Morgenpost“, in denen die Leichenteile eingewickelt waren, in der Liebetruthschen Wohnung sich nicht vorfanden, während die übrigen Nummern fast sämtlich vorhanden waren. Noch ehe der Korb aufgefunden wurde, suchte ich dem Berger an der Hand des Strafgesetzbuches klarzumachen, daß kein Mord, sondern nur ein Sittlichkeitsverbrechen, in Verbindung mit einer vorsätzlichen Körperverletzung mit tödlichem Ausgange, vorliege. Berger hörte sehr aufmerksam zu und weinte. Ich hatte dabei das Gefühl, daß Berger ein Geständnis ablegen wollte.

Vors.: Nun Berger, ist das richtig?

Angekl.: Jawohl, es ist richtig, aber ein Geständnis wollte und konnte ich nicht ablegen, weil ich eben den Mord nicht begangen habe.

Vors.: Weshalb weinten Sie?

Angekl.: Herr Präsident, wenn man als vollständig unschuldiger Mensch des Mordes beschuldigt wird, da ist es doch kein Wunder, wenn man schließlich weint.

Ein Blick in die Berliner Zuhälterwelt.

Darauf wird nochmals der Untersuchungsrichter Landrichter Maßmann vernommen: Berger hat mit Entschiedenheit bestritten, daß er Zuhälter war, er gab aber schließlich zu, daß er sich 17 Jahre lang von der Liebetruth habe ernähren lassen. Aus seinen Äußerungen entnahm ich, daß er während der 17 Jahre niemals gearbeitet hat; im Falle der Not hat er mit Taschentüchern gehandelt. Auf meine Frage, wie es gekommen sei, daß er bisweilen größere Summen besessen habe, sagte Berger: Die Zuhälter haben all eine Passion, das ist das Spiel. Die Zuhälter frönen fast ausnahmslos dem gewerbsmäßigen Glücksspiel. Dadurch kommt es, daß Zuhälter bisweilen größere Summen besitzen, die sie von ihren Dirnen nicht erhalten können. Durch das Spiel kommen die Zuhälter vielfach mit Verbrechern in Berührung. Als ich dies protokollieren wollte, bat mich Berger, anstatt „Verbrecher“ zu schreiben: „bestrafte Personen“. Auf meine Frage, was ein Zuhälter macht, wenn er von der Dirne hinausgeschmissen wird, antwortete Berger: das kommt äußerst selten vor. In diesem Falle findet aber ein Zuhälter, wenn er einigermaßen manierlich aussieht, sofort eine andere Dirne. Berger sagte mir ferner: Die Dirnen in Berlin haben fast sämtlich das Bestreben, einen Mann zu haben, den sie mit Haut und Haaren besitzen wollen. Diejenigen Zuhälter, die neben ihrer Zuhälterei arbeiten wollen, werden von den Dirnen verlacht und verhöhnt. Solche Kerls können die Dirnen nicht gebrauchen. Deshalb reden die Dirnen diesen Zuhältern so lange zu, bis sie das Arbeiten einstellen. Die Dirnen wollen eben den Mann vollständig besitzen, und ihn auch vollständig unterhalten. Als ich dem Berger den Korb zeigte, sagte er: solchen Korb hat allerdings die Liebetruth gehabt. Da aber in dem Korb Blutspuren sind, so kann es nicht der Korb der Liebetruth sein. Ich sagte zu Berger: Nehmen Sie an, es wäre doch der Korb der Liebetruth und anstatt Ihrer stände ein anderer Mann unter dem Verdacht des Mordes, würden Sie alsdann nicht sagen: Das ist der Mörder? Darüber kann ich nichts sagen, versetzte Berger, es kann der Korb der Liebetruth nicht sein, denn ich habe den Mord nicht begangen.

Der Angeklagte gab diese Bekundung im wesentlichen als richtig zu.

In der vorletzten Sitzung wurde der Obermeister der Berliner Korbmacherinnung Scheffer als Sachverständiger vernommen. Dieser begutachtete: Ein alter, schon etwas wackeliger Korb wird im Wasser etwas fester. Der eingedrückte Deckel wird jedoch, dadurch daß er ins Wasser gelegt wird, nicht wieder gerade. Man sieht auch heute noch eine gewisse Einsenkung des Deckels an dem aufgefundenen Korbe. Die geringste Veränderung, die man an einem Korbe vornimmt, kann dahin führen, daß der Laie sein Eigentum nicht mehr wiedererkennen kann. Es kommt nicht selten vor, daß eine Dame, die einen Korb zur Reparatur gebracht hat, sagt: Das ist ja mein Korb. Dabei weist die Dame auf einen ganz neuen Korb. Solche Körbe, die zu den Massenartikeln gehören, werden nicht in Berlin, sondern außerhalb, zumeist in Fürstenberg, Provinz Brandenburg, angefertigt.

Der Verteidiger wies darauf einen ganz ähnlichen Korb vor, den er bei Wertheim in der Rosentaler Straße gekauft habe. Er berufe sich unter Umständen auf das Zeugnis des Herrn Wertheim, der bekunden werde, daß in seinem Geschäft jährlich etwa 4000 solcher Körbe verkauft werden.

Es wurden alsdann die chemischen Sachverständigen vernommen. Auf dem Zeugentisch waren die Kleider des ermordeten Kindes, darunter der rotwollene Unterrock aufgestapelt.

Der Sachverständige, erster Assistenzarzt am Institut für Staatsarzneikunde an der Berliner Universität, Dr. Schulz, zeigte den Geschworenen, daß er im Innern des Korbes Blutkörperchen und rote Wollfaserchen gefunden habe. Hierauf zeigte der Sachverständige den Geschworenen unter einem Mikroskop in achtzigfacher Vergrößerung die in dem Korbe vorgefundenen fundenen Wollfasern und die aus dem roten Unterrock des ermordeten Kindes entnommenen Fasern. Auch den Mitgliedern des Gerichtshofes, dem Staatsanwalt, Verteidiger und endlich auch dem Angeklagten wurde das Mikroskop gezeigt.

Der Sachverständige Dr. Schulz bemerkte auf Befragen: Er könne nur sagen: Es spricht nichts gegen die Annahme, daß die im Korbe vorgefundenen Wollhärchen mit denen des Unterrocks identisch seien.

Chemiker Dr. Samuel Engel: Er habe doch bezüglich der Identität der Wollhärchen einiges Bedenken. Es sei nicht ganz sicher, ob die Fasern Wolle seien, da die Schuppen, das Hauptmerkmal von Wolle, fehlen. Man könne aber mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit sagen, daß es Wolle sei. Daß der Farbstoff den in dem Korbe vorgefundenen Fasern mit dem aus dem Unterrock entnommenen Fasern übereinstimmen, erscheine ihm zweifelhaft. Sein Ergebnis fasse er dahin zusammen: Er halte es nur 40 Prozent für wahrscheinlich, 60 Prozent aber für unwahrscheinlich, daß die Fasern identisch seien. Er neige aber mehr zu der Ansicht, daß die Fasern nicht identisch seien.

Es entspann sich hierauf eine längere Auseinandersetzung zwischen den Sachverständigen Dr. Engel, Dr. Schulz sowie zwischen dem Staatsanwalt und Verteidiger. Dr. Engel bemerkte: Blutkörperchen in achtzigfacher Vergrößerung seien nur schwer zu erkennen. kennen.

Die Frage des Verteidigers, wie lange der Korb im Wasser gelegen haben mag, vermochten die beiden Sachverständigen Dr. Engel und Dr. Schulz nicht zu beantworten.

Gerichtschemiker Dr. Paul Jeserich führte des längeren aus: Nach menschlichem Ermessen bestehen die Fasern aus Wolle, sie können weder aus Seide, Baumwolle oder Leinewand bestehen. Andere Stoffe können nicht in Frage kommen. Der Sachverständige zeigte den Geschworenen das Zeitungspapier, in dem die Leichenteile eingewickelt waren, das deutliche rote Flecken habe.

Der Verteidiger bemerkte: Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß nur der Kopf in Zeitungspapier eingewickelt war.

Auf Befragen des Staatsanwalts sagte Dr. Jeserich: Er sei seit 27 Jahren Gerichtschemiker und habe sich vorwiegend mit forensischen Untersuchungen befaßt. Er habe monatlich mindestens 5 Blutuntersuchungen innerhalb der 25 Jahre vorgenommen. Er rechne nicht prozentualiter, er halte es aber für festgestellt, daß die Fäden Wolle seien, und Blutfarbstoff enthalten. Er schließe sich im weiteren dem Gutachten des Dr. Schulz an: Es spreche nichts gegen die Annahme, daß die Fasern im Korbe mit denen, die aus dem Unterrock genommen seien, übereinstimmen.

Dr. Engel: Wenn die Erfahrung ins Gewicht gelegt werden soll, so müsse er sagen, daß er seit 1886 Chemiker an der Königlichen Charite sei und seit dieser Zeit als Vortragender, Untersuchender und Dozierender in Blutsachen dort fungiert habe. Er müsse aber an seinem Gutachten festhalten, es könne mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die Fasern aus Wolle bestehen, die Fasern angesichts des geringen Farbstoffs keine Blutspuren enthalten und daß eine Identität der Fasern, die im Korbe und denen, die aus dem Unterrock gefunden seien, nicht nachgewiesen sei.

Gerichtsarzt, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich durchweg dem Gutachten seines Assistenten Dr. Schulz an.

Professor Dr. Wassermann: Er sei ordentlicher Professor an der Universität in Berlin und Direktor des Königlichen Instituts für Infektionskrankheiten. Wenn man aus einem Stoff Blut auswasche oder den Stoff längere Zeit ins Wasser lege, gehe die Blutfarbe wohl aus, es bleiben aber gelbe Flecken zurück. Er sei daher der Meinung, daß in den gelb aussehenden Fasern Blut enthalten sei, obwohl keine Blutschollen vorhanden seien.

Gerichtschemiker Dr. Jeserich äußerte sich alsdann über die Blutspuren in der Liebetruthschen Wohnung. Das von ihm an den Wänden der Liebetruthschen Wohnung vorgefundene Blut sei Wanzenblut gewesen. Er habe außerdem die Dielen, das Bett, die Wasserleitung, die Vorhänge und so weiter untersucht, aber kein Menschenblut gefunden. Auch den Fingerschmutz des Lenz und des Berger habe er bald nach der Verhaftung untersucht, jedoch kein Blut gefunden. Er habe ferner den gefundenen Korb wegen Blut untersucht. Er habe in dem Korbgeflecht Papier und rotblaue Wollfasern gefunden. Er habe heute zum ersten Male gehört, daß die Herren Mediziner rote Wollfasern im Korbgeflecht gefunden haben. Er habe nun die Webung des Stoffes und den Farbstoff aufs genaueste untersucht und sei zu dem Ergebnis gekommen, daß die in dem Korb vorgefundenen Fasern genau von demselben Webstoff herrühren, wie der Unterrock der Lucie Berlin. Ob die Fasern mit voller Bestimmtheit von dem Unterrock herrühren, könne er nicht sagen, da ja ein solcher Unterrock nicht für die Lucie Berlin allein hergestellt worden sei. Auch das Gewebe der Tragbänder des Unterrocks stimme mit dem im Korbe aufgefundenen Partikelchen in Schuß und Wolle genau überein. Er habe auch den großen Korb, der in der Liebetruthschen Wohnung stand, untersucht. Dieser wies keine Blutspuren, dagegen Tintenflecken von sogenannter roter Kaisertinte auf. Er habe die Tinte genau untersucht und gefunden, daß die Tintenflecke am großen Korbe mit denjenigen am kleinen Korbe vollständig identisch seien. Da der kleine Korb in dem großen Korbe gestanden habe, so sei es jedem Laien einleuchtend, daß die vergossene Tinte auch auf den kleinen Korb fließen konnte.

Vert.: Die Liebetruth hat gesagt, daß sie niemals rote Tinte besessen habe.

Dr. Jeserich: Dann hat die Liebetruth vielleicht rote Schuhwichse gehabt.

Vert.: Kann denn rote Schuhwichse dieselben Flecken hervorbringen?

Dr. Jeserich: Jawohl.

Der Sachverständige Dr. Jeserich hatte auch den Bindfaden untersucht, mit dem die Leichenteile verschnürt waren. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, daß der Bindfaden, der zur Verschnürung der Leichenteile benutzt war, mit dem in der Wohnung der Liebetruth vorgefundenen identisch sei.

Angekl.: Ich halte es für nötig, daß hierbei die Liebetruth als Zeugin dabei ist.

Vors.: Es handelt sich hier um richterliche Feststellungen, dazu ist die Anwesenheit der Liebetruth nicht erforderlich.

Angekl.: Er habe einmal die Schuhe der Liebetruth mit Tinte schwarz gemacht; bei dieser Gelegenheit ist Tinte auf den großen Koffer gekommen. Diese Tinte muß sich heute noch in der Liebetruthschen Wohnung vorfinden. Ich beantrage, die Tinte und auch die Bürsten sten zu untersuchen.

Die Liebetruth, die inzwischen an Gerichtsstelle erschienen war, bestätigte, nochmals als Zeugin vernommen, die Behauptungen des Angeklagten. Ob dabei Tintenspritzer auf den kleinen Korb gekommen sein können, vermöge sie nicht zu sagen.

Der Sachverständige Dr. Jeserich äußerte im weiteren: Er habe die Dielen der Liebetruthschen Wohnung aufreißen lassen und untersucht. Er habe hellblonde Haare gefunden. Er habe auch die Haare des ermordeten Kindes untersucht. Diese stimmten nicht mit denen auf den Dielen gefundenen überein, dagegen mit künstlichen Haaren, die zur Zeit die Liebetruth getragen hatte. An dem Messer des Angeklagten befanden sich rote und blaue Wollfasern, Da das Messer aber in dem roten Unterrock eingewickelt war, so sei es auch möglich, daß die Fasern davon herrühren.

Dr. Schulz gab alsdann eine längere Erläuterung über die im Korbe gefundenen Blutspuren. Der Sachverständige setzte in eingehender Weise auseinander, welche Untersuchung er mit dem im Korbe gefundenen Blut vorgenommen habe. Säugetierblut sei nicht kernhaltig, Menschenblut habe eine gewisse Trübung. Der Sachverständige zeigte den Geschworenen in Mikroskopen Menschenblut, Blut von Säugetieren, Blut von Vögeln und kam zu dem Ergebnis, daß das im Korbe gefundene Blut Menschenblut sei.

Vert.: Herr Sachverständiger, Ist Ihnen bekannt, daß der Gerichtsarzt Dr. Georg Struwe sagt, eine Färbung des Blutes sei noch kein Beweis für Menschenblut?

Dr. Schulz: Ich habe ja bereits gesagt: Wenn man feststellen will, ob man Menschenblut habe, dann darf der Zusatz von Serum nicht zu groß sein; man bekommt sonst auch bei Tierblut eine gewisse Trübung.

Auf die Frage, daß sich zwei Autoritäten in der Medizinischen Wochenschrift gegen seine Schlußfolgerungen aussprechen, sagte der Sachverständige: Diese Aufsätze datieren aus dem Jahre 1901, man sei inzwischen zu anderen Anschauungen gekommen.

Der Sachverständige Dr. Engel suchte des längeren auseinanderzusetzen, daß die von Dr. Schulz angewandte Untersuchungsmethode nicht zweckentsprechend sei, um feststellen zu können, daß das im Korbe vorgefundene Blut Menschenblut sei.

Professor Dr. Wassermann führte unter eingehender Begründung aus: Die von Dr. Schulz angewandte Methode entspreche vollständig den neuesten Forschungen der Wissenschaft. Das Institut für Staatsarzneikunde sei durchaus befugt, Blutuntersuchungen vorzunehmen. Er halte es für zweifellos festgestellt, daß das im Korbe gefundene Blut Menschenblut sei.

Dr. Schulz bemerkte noch auf Befragen: Er halte es für ausgeschlossen, daß das im Korbe vorgefundene Blut Menstruationsblut sei.

Prof. Dr. Wassermann schloß sich dieser Anschauung an.

Am letzten Verhandlungstage waren der Oberstaatsanwalt am Kammergericht Dr. Wachler und Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel vom Landgericht Berlin 1 im Sitzungssaale erschienen: Nach Formulierung der Schuldfragen, die auf Mord und Sittlichkeitsverbrechen lauteten, nahm das Wort Staatsanwalt Dr. Lindow: M.H. Geschworenen! Selten hat wohl ein Verbrechen eine so furchtbare Erregung hervorgerufen, wie das gegenwärtige, das Sie volle neun Tage beschäftigt hat. Am hellen Tage, als die Kinder im Hofe nach den Klängen eines Leierkastens tanzten, wurde ein kleines achtjähriges Mädchen mißbraucht und ermordet. Zwei Tage darauf wurden an verschiedenen Stellen der öffentlichen Gewässer die zerstückelten Leichenteile des verschwundenen Kindes gefunden. Es war dadurch zweifellos festgestellt, daß das Kind in scheußlichster Weise ermordet worden ist. Als ich nach dem Auffinden der Leichenteile nach dem Hause Ackerstraße 130 kam, da ging ein Schrei der Blutrache nach dem verruchten Mörder. Ja, die Hausbewohner verlangten geradezu den Kopf des Angeklagten Berger. Es ging ein Schrei durch das gesamte Publikum, ein Schrei der Entrüstung, der besagt: sagt: Wer wird das nächste Opfer sein, das in solch furchtbarer Weise abgeschlachtet werden wird. Wer schützt uns unsere Kinder, wenn es möglich ist, daß so etwas am hellichten Tage in einer belebten Straße Berlins geschehen kann, wenn es möglich ist, daß unsere Lieblinge in dieser Weise niederen Gelüsten zum Opfer fallen. Ihre Pflicht ist es, m.H. Geschworenen, durch Ihren Wahrspruch das Verbrechen zu sühnen, ein Verbrechen, das laut und vernehmlich nach Rache schreit. Die Meinung des Publikums kann und darf Sie selbstverständlich nicht beeinflussen. Sie haben auf Grund der Beweisaufnahme, die Ihnen hier in neuntägiger Verhandlung vorgeführt worden ist, aus freier Überzeugung auf Grund Ihrer Lebenserfahrungen Ihren Wahrspruch abzugeben. Wenn Sie auf Grund freier Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt sind, der Angeklagte ist der Täter, dann ist es Ihre Pflicht, dieser Ihrer Überzeugung in Ihrem Wahrspruch Ausdruck zu geben. Es haben sich allerdings in der Verhandlung große Schwierigkeiten ergeben. Es hatten sich, ganz besonders aus Anlaß der ausgeschriebenen Belohnung, viele Zeugen gemeldet, die Gehörtes von eigenen Wahrnehmungen nicht auseinanderzuhalten vermochten. Es kommt hinzu, daß die Verhandlung Sie in eine fremde Welt führte. Die Verhandlung hat Ihnen ein grauenhaftes Bild von dem Leben und Treiben der Berliner Dirnen- und Zuhälterwelt welt vor Augen geführt. Es konnte Ihnen auch nur ein Indizienbeweis geführt werden. Aber trotz alledem und trotz aller Schwierigkeiten hat die Verhandlung keinen Zweifel gelassen, wer das Verbrechen begangen hat.

Ich habe die volle Überzeugung, kein anderer als Berger ist der Mörder. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, m.H. Geschworenen, Sie werden den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens und des Mordes schuldig sprechen. Der Staatsanwalt ging hierauf näher auf die einzelnen Vorgänge ein, er schilderte das Verschwinden des Kindes am 9. Juni und die Auffindung der einzelnen Leichenteile. Die kleine Lucie Berlin, so etwa fuhr der Staatsanwalt fort, wurde sehr sorgfältig erzogen und behütet. Es wurde ihr von den Eltern und auch in der Schule eingeschärft: gegen jedermann zuvorkommend zu sein, aber gegen fremde Männer Mißtrauen zu beobachten. „Mit fremden Männern gehe ich nicht mit,“ sagte das Mädchen, „diese schneiden mir Kopf, Arme und Beine ab und werfen mich ins Wasser.“ Das Kind sagte das, weil ein solcher Mord gerade an den öffentlichen Anschlagsäulen angezeigt war, und kaum acht Tage darauf las man an denselben Anschlagsäulen die Ermordung der kleinen Lucie in genau derselben Weise.

Es entsteht nun für Sie die Frage: Wer ist der Mörder? der? Sie haben außer acht zu lassen, daß im Humboldthain ein Mann mit einem kleinen Mädchen in verdächtiger Weise gesehen worden ist, ebenso, daß im Schulhof in der Ackerstraße ein junger Mann in verdächtiger Weise gesehen worden ist, wie auch, daß Lenz verdächtig war. Sie haben nur zu prüfen: Ist der Angeklagte Berger der Täter? Lenz war nur deshalb verdächtig, weil er Zuhälter war und im Hause Ackerstraße 130 wohnte. Er war auch seit Monaten verschwunden, so daß die Gefahr vorlag, die Verhandlung werde vertagt werden müssen. Allein nachdem sich die Presse der Sache angenommen hatte, meldete sich Lenz sofort bei der Kriminalpolizei. Sie haben Lenz hier gesehen und gehört, Sie werden mit mir zweifellos die Überzeugung haben: es liegt gegen Lenz keinerlei Verdacht vor. Auch die Beobachtungen im Humboldthain und im Schulhof haben mit der Sache nicht das mindeste zu tun. Lediglich der Angeklagte Berger kann in Betracht komme. Die Tat kann nur ein vollkommen sittlich verkommener Mensch begangen haben. Ein solcher Mensch ist Berger. Er ist 18 Jahre Zuhälter, er hat seit 18 Jahren nicht ehrlich gearbeitet. Er hatte die Frechheit, dem Vater der Liebetruth zu sagen: „Sie denken wohl, ich werde arbeiten; Ihre Tochter ist ja ein hübscher Backfisch, von diesem lasse ich mich ernähren.“ Berger ist ein wegen Gewalttätigkeiten wiederholt bestrafter Mensch. Seine Freunde haben uns gesagt: Wenn Berger betrunken ist, dann ist er wie ein wildgewordener Stier. Er ist am 9. Juni von der alten Frau Müller mittags l Uhr mit der kleinen Lucie auf dem Flur, auf dem die Liebetruthsche Wohnung liegt, gesehen worden. Nach dieser Zeit ist die kleine Lucie nicht mehr lebend gesehen worden. Nachdem die Liebetruth aus dem Gefängnis zurückgekommen war und wegen des Fehlens des Korbes Skandal machte, da versprach Berger, sofort mit ihr aufs Standesamt zu gehen und das Aufgebot zu bestellen. Die Liebetruth wollte längst, schon seit Jahren geheiratet sein, Berger sträubte sich aber hartnäckig. Noch wenige Tage vorher sagte die Liebetruth zu einer anderen Dirne: „Meiner geht lieber ein paar Jahre ins Zuchthaus, ehe er mich heiratet.“ Berger wußte, daß, wenn er die Liebetruth heiratet, dies nur eine leere Form ist. Sie wird nach wie vor ihrem schmutzigen Gewerbe nachgehen und wenn er dann wegen Kuppelei bestraft wird, er, da er Ehemann ist, ins Zuchthaus wandern. Jetzt mußte aber dem Angeklagten daran liegen, die Liebetruth zu heiraten. Einmal sollte sie wegen des Korbes schweigen und andererseits hatte sie, wenn sie eine Frau Berger, geborene Liebetruth, ist, das Recht der Zeugnisverweigerung. Wäre die Heirat zustande gekommen, dann hätte die Liebetruth zweifellos ihre Aussage verweigert. Der Angeklagte, der sich 18 Jahre von der Liebetruth, von deren Sündengeld hat ernähren lassen, hat mit ihr Kunsttouren durch alle Großstädte Deutschlands unternommen und ist dann mehrfach unter falschem Namen aufgetreten. In Altona ist er unter falschem Namen bestraft worden.

Der Staatsanwalt ging darauf näher auf die belastenden Umstände ein.

Das Hauptbelastungsmoment ist der Korb. Der Angeklagte sagt: er habe den Korb einem Mädchen geschenkt. Es sind öffentliche Aufrufe erlassen worden: das Mädchen solle sich melden. Es hat sich aber bis heute noch niemand gemeldet. Das Fehlen des Korbes fürchtete der Angeklagte sofort. War der Korb auch zunächst nicht vorhanden, so lag doch die große Gefahr vor, der Korb könnte aufgefunden werden. Und nach einigen Tagen wurde der Korb gefunden, und zwar in der Nähe der Stelle, wo die Leichenteile gefunden wurden. In dem Korb sind nicht nur Blutspuren, es ist von dem Gerichtschemiker Herrn Dr. Jeserich außerdem festgestellt worden, daß in dem Korbe sich Wollfasern gefunden haben, die mit denen des rotwollenen Unterrocks übereinstimmen, und auch ein Farbstoff ist im Korbe gefunden worden, der mit dem der Tragbänder des Unterrocks übereinstimmt. Herr Dr. Jeserich hat aber außerdem festgestellt, daß der Bindfaden, mit dem die Leichenteile verschnürt waren, genau mit dem Bindfaden übereinstimmt, der in der Liebetruthschen Wohnung gefunden wurde. Ich muß allerdings hervorheben, daß Blutspuren in der Wohnung nicht gefunden wurden.

Der Staatsanwalt ging alsdann näher auf die Einzelheiten der Beweisaufnahme ein und kam zu dem Schluß: Ich habe die Überzeugung, m.H. Geschworenen, Sie werden keinen Zweifel mehr haben: Kein anderer als Berger ist der Mörder. Der Angeklagte kam am 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr in etwas angetrunkenem Zustande nach Hause. Er sah die kleine Lucie auf dem Hofe mit seinem Hunde spielen. Da erwachte in ihm das Gelüste, sich an dem Kinde zu vergehen. Er hatte die beste Gelegenheit hierzu, die Liebetruthsche Wohnung stand ihm ungestört zur Verfügung. Und als das Kind vom Klosett kam, da lockte er es in die Wohnung, um es zu mißbrauchen. Das Kind hat sich aber zweifellos gesträubt, es schrie. Es entstand für Berger die Frage: was wird jetzt geschehen, wird das Kind schweigen? Dies konnte er nicht annehmen. Er mußte deshalb, um nicht entdeckt zu werden, sein Opfer beseitigen. Er brauchte nicht lange zu überlegen, wie er das Kind beseitigen solle. Ein Händedruck genügt, um das Kind zu erwürgen. Er ging alsdann an die Zerstückelung der Leiche, um sie unbeobachtet fortschaffen zu können. Es standen ihm alle möglichen Hilfsmittel, wie Decken usw., zu Gebote, so daß er sich nicht mit Blut zu besudeln brauchte. Daß ein Mensch wie der Angeklagte mit Überlegung gehandelt hat, werden Sie nicht bezweifeln. Ich habe die Überzeugung, Sie werden die schreckliche Tat mit Ihrem Wahrspruch sühnen, indem Sie den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens und des Mordes schuldig sprechen.

Vert. Rechtsanwalt Walter Bahn: M.H. Geschworenen: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, es ist eine grausige Tat, die uns hier neun volle Tage beschäftigt hat, eine Tat, die die große Öffentlichkeit ungemein erregt hat. Allein der Richter darf sich von der öffentlichen Meinung nicht im geringsten beeinflussen lassen. Gewiß, das Publikum schreit nach Rache. Der Herr Staatsanwalt sagte: Die Bewohner des Hauses Ackerstraße 130 verlangten geradezu den Kopf des Angeklagten Berger. Der Richter hat aber nicht darauf zu achten, was das Publikum in der Ackerstraße fordert, er hat überhaupt nicht zu fragen, was das Publikum für eine Ansicht hat. Das Publikum hat schon vielfach den Kopf eines Menschen gefordert, und nachher hat sich seine Unschuld ergeben. Ihre Pflicht ist es, m.H. Geschworenen, sich weder durch derartige Gefühle noch durch die öffentliche Meinung irgendwie beeinflussen zu lassen, sondern lediglich zu prüfen, reichen die hier vorgeführten Beweise aus, um den Angeklagten zu verurteilen. Bei einem bloßen Indizienbeweis, noch dazu, wo es sich um den Kopf eines Menschen handelt, ist es doppelte Pflicht der Geschworenen, recht sorgfältig zu erwägen: ist der Angeklagte schuldig. So sehr erwünscht es ist, daß das Verbrechen eine Sühne findet, so ist es doch ebenso notwendig, darauf zu achten, daß der richtige Täter bestraft wird. Der Herr Staatsanwalt sagte: Die Tat kann nur ein sittlich verkommener Mensch begangen haben. Der Angeklagte ist seit 18 Jahren Zuhälter. Nur einem solchen Zuhälter ist die Tat zuzutrauen. Ich kann dem Herrn Staatsanwalt keineswegs beistimmen. Sittlichkeitsverbrechen werden keineswegs vorwiegend von Zuhältern begangen. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt, daß Sittlichkeitsverbrechen weniger von der Hefe des Volkes, sondern zumeist von den besitzenden und gebildeten Klassen begangen werden. Ich erinnere an den in diesem Saale geführten Prozeß Sternberg. Herr Sternberg gehörte zu der Elite der Gesellschaft, er war ein vielfacher Millionär, ein gebildeter Mann, er hat aber trotzdem zahlreiche Sittlichkeitsverbrechen gegen kleine Mädchen begangen1. Der Umstand, daß der Angeklagte ein alter Zuhälter ist, kann ihn noch nicht verdächtigen. In diesem Hause finden täglich Prozesse wegen Sittlichkeitsverbrechen gegen Angehörige aller Gesellschaftsstände statt. Sie wissen, daß anfänglich sich der Verdacht mit voller Bestimmtheit auf Lenz gelenkt hat. Der aufgefundene Korb ist nicht ein solches Indizium, um den Angeklagten zu verurteilen. Der Angeklagte hätte wirklich nicht nötig gehabt, von einem Mädchen zu erzählen, er konnte ja sagen: das Mädchen, das mit dem „Mulatten-Albert“ in der Liebetruthschen Wohnung war, hat mir den Korb gestohlen. Diese Artistin ist bis heute noch nicht gefunden worden. Ist es nicht möglich, daß das Mädchen, dem der Angeklagte den Korb geschenkt, einen Freier gefunden hat, der mit dem Mädchen in eine Weinstube gegangen ist und es aufgefordert hat, den Korb ins Wasser zu werfen. Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß solche Körbe allein bei Wertheim in der Rosentaler Straße jährlich gegen 4000 verkauft werden.

Der Obermeister der Berliner Korbmacherinnung sagte: es kommen gerade bei Körben vielfach Verwechselungen vor. Eine Dame, die einen Korb zur Reparatur übergeben hat, bezeichnet bei der Abholung oftmals einen anderen Korb als den ihrigen. Der Verteidiger ging darauf des näheren auf die einzelnen Zeugenaussagen ein und fuhr alsdann fort: Ein so mangelhaftes, schlechtes Zeugenmaterial ist mir in meiner langjährigen Verteidigertätigkeit noch nicht vorgekommen. Ich erinnere nur an die widersprechenden Angaben des Fräulein Römer, an den Droschkenkutscher Krüger und an die Aussagen der Kinder. Die Liebetruth sagte: Ich war von der Unschuld Bergers überzeugt. Als ich aber den Artikel in den Zeitungen las, da wurde ich stutzig. Die Presse hat ja bisweilen sehr heilsam gewirkt, sie hat aber auch schon bisweilen zur Verwirrung beigetragen. Es ist doch klar, wenn die Liebetruth geschrien hätte: Der Korb ist verschwunden, du hast einen ähnlichen Mord begangen wie der von Radatus, dann wäre Berger sofort verhaftet worden. Das wollte Berger vermeiden, deshalb tat er alles, um die Liebetruth zum Schweigen zu bringen. Die Heiratsgeschichte war im übrigen nicht neu. Über die sittliche Qualität des Angeklagten will ich nicht sprechen. Der Angeklagte ist sicherlich kein Mensch, der verdiente, in den Adelsstand erhoben zu werden. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Aber das muß ich sagen Nachdem die Liebetruth 17 volle Jahre lang, also von Kindesbeinen an, mit dem Angeklagten Leid und Freude geteilt hat, da hätte man erwarten sollen, daß sie weniger gehässig gegen ihn aufgetreten wäre, und daß sie nicht täglich mit ihrem jetzigen Zuhälter an Gerichtsstelle erschienen wäre, der sie und andere gegen den Angeklagten aufhetzte. Ich will davon absehen, daß die Liebetruth eine Prostituierte ist. Aber wenn ich die Liebetruth als bloße Zeugin betrachte, dann kann ich sie für glaubwürdig in keiner Weise halten, denn ein Zeuge ist nur dann glaubwürdig, wenn er Charakter hat. Ich will den hier vernommenen Polizeibeamten nicht zu nahe treten, aber ihrem gerichtlichen Zeugnis darf man nicht allzu großes ßes Gewicht beilegen. Die Strafprozeßordnung verbietet, polizeiliche Protokolle zu verlesen.

Die Polizeibeamten werden daher als Zeugen vernommen. Wenn man aber erwägt, daß die Polizeibeamten Gehilfen der Staatsanwaltschaft sind, so liegt es doch nahe, daß ihr Zeugnis getrübt ist. Der Verteidiger bemängelte ferner die Sachverständigen-Gutachten. Es sei nicht ausgeschlossen, daß nach 5-6 Jahren die Uhlenhut-Wassermannsche Methode, die jetzt soviel Aufsehen errege, sich als falsch erweisen werde. Es sei auch vom Staatsanwalt außer acht gelassen worden, daß der Angeklagte keinerlei Neigung zu kleinen Kindern gehabt habe. Endlich sei doch aber zu berücksichtigen, daß, obwohl der Angeklagte den Leichnam zerstückelt haben soll, keinerlei Blutspuren weder an seinen Kleidern noch in der Wohnung gefunden wurden. Auch sei kein Messer gefunden worden, das Blutspuren aufgewiesen habe. Der Verteidiger schloß: „Ich warne Sie, meine Herren Geschworenen, den Angeklagten deshalb zu verurteilen, weil der Schein gegen ihn spricht, weil er angeblich ein Mann ist, dem man die Tat zutrauen kann. Ihre Aufgabe ist es, lediglich zu prüfen: Ist die Tat dem Angeklagten nachgewiesen worden? Das können Sie aber nicht annehmen. Ich erinnere Sie daran, daß es sich um Tod und Leben handelt. Wenn ein Mensch hingerichtet ist, dann gibt es keine Remedur mehr. Vor Justizmorden muß man sich aber um so mehr hüten, da diese das Vertrauen in unsere Rechtsprechung erschüttern. Ich erinnere nur an den Fall Ziethen. Jedenfalls ersuche ich, den alten juristischen Grundsatz zu beherzigen, der an der Wand jedes Gerichtssaales stehen sollte: ?In dubio pro reo?. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie den Angeklagten freisprechen werden.“

Nach noch sehr langer Rede und Gegenrede zwischen Staatsanwalt und Verteidiger sagte der Angeklagte, der den Plädoyers mit größter Ruhe und Aufmerksamkeit gefolgt war, auf Befragen des Vorsitzenden, ob er noch etwas anzuführen habe: „Meine Herren Geschworenen! Ich bin es nicht gewesen, ich bin vollständig unschuldig. Ich bin ebenso unschuldig wie Christus, als er vor den Pharisäern stand und Pilatus sagte: An diesem Manne ist keine Schuld. Gott ist mein Zeuge, daß ich unschuldig bin.“

Nach mehrstündiger Beratung sprachen die Geschworenen den Angeklagten schuldig des Totschlags und des Sittlichkeitsverbrechens unter Versagung mildernder Umstände. Darauf verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Stellung unter Polizeiaufsicht.

Fußnote

1 Vgl. die ausführliche Schilderung dieses Prozesses in Bd. 2.

73 Bearbeiten

Ein Landgerichtsrat auf der Anklagebank

Die alten Ägypter stellten bekanntlich bildlich einen Richter dar als einen Mann mit verbundenen Augen und abgehackten Händen, damit er kein Ansehen der Person kenne und nicht in der Lage sei, Geschenke zu nehmen. Dieses Symbol der richterlichen Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit gilt glücklicherweise noch heute bei allen Kulturvölkern als etwas ganz Selbstverständliches. Um so peinlicher mußte es berühren, als im Januar 1906 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Beuthen, Oberschlesien, ein alter Landgerichtsrat, der lange Zeit Strafrichter und Vorsitzender einer Strafkammer war, wegen vielfachen Betruges, versuchten Betruges, Unterschlagung, Arrestbruchs und Verbrechens im Amte auf die Anklagebank geführt wurde. Es muß für die erkennenden Richter schwierig gewesen sein, jede Voreingenommenheit beiseite zu lassen und ohne Ansehen der Person zu urteilen. Denn daß der angeklagte Landgerichtsrat das Ansehen des preußischen Richterstandes aufs schwerste geschädigt hatte, lag auf der Hand. Wenn man die Person des Angeklagten beiseite ließ, dann fühlte man sich unwillkürlich in den Gerichtssaal einer Weltstadt versetzt, in dem gegen einen äußerst gewandten internationalen Hochstapler prozessiert siert wird. Wenn man, wie ich, fast ein Menschenalter im Gerichtssaale am Berichterstattertische tätig gewesen ist, dann fällt es schwer, den Gedanken zu fassen, daß ein Richter, der lange Jahre selbst über Recht und Unrecht entschieden hat, Dinge begangen haben soll, die an die Taten der gewiegtesten Berliner Bauernfänger erinnern, von denen schon der verstorbene Berliner Polizeidirektor Dr. Stieber in einem in den 1850er Jahren unter dem Titel: „Die Verbrecherwelt von Berlin“ erschienenen Werke eine sehr anschauliche Schilderung entworfen hat. Sehr bezeichnend war es jedenfalls, als ein Breslauer Zeuge sagte: Er hatte die Empfindung, als sei er von Bauernfängern gerupft worden.

Neben dem Hauptangeklagten, Landgerichtsrat Blumenberg, waren Kaufmann Max Abraham und Agent Salo Hepner angeklagt.

Den Gerichtshof bildeten: Landgerichtsdirektor Robe (Vorsitzender), Landrichter Wessel, Landrichter Lindner, Landrichter Schatz und Gerichtsassessor Gärtner (Beisitzende). Die öffentliche Anklagebehörde vertraten Erster Staatsanwalt Dr. Recke und Staatsanwalt Fipper. Die Verteidigung führten für Blumenberg und Hepner Justizrat Dr. Schreiber-Breslau und für Abraham Rechtsanwalt Dr. Czapla-Beuthen.

Landgerichtsrat Blumenberg, ein mittelgroßer, vornehm aussehender Herr, mit einem wohlgepflegten, dunkelblonden, in die Höhe gedrehten Schnurrbart, hieß mit Vornamen Alfred Johann Karl. Er war am 4. Juni 1853 zu Breslau geboren, evangelischer Konfession, unverheiratet und unbestraft.

Abraham war am 1. Dezember 1876 geboren, mosaischer Konfession und wegen Betruges und versuchten Betruges bestraft.

Hepner war 1848 geboren, mosaischer Konfession und unbestraft.

Auf Auffordern des Vorsitzenden erzählte der Angeklagte Blumenberg mit bewegter Stimme: Mein Vater war Pastor an der Salvatorkirche in Breslau, den ich sehr zeitig verlor. Meine Mutter bezog eine sehr kärgliche Pension. Trotzdem besuchte ich das Elisabeth-Gymnasium, war aber genötigt, da meine Mutter mich nicht weiter unterstützen konnte, von der Prima abzugehen und Kaufmann zu werden. Ich habe in Breslau die Handlung erlernt und bin alsdann in Breslau und Berlin als Handlungsgehilfe tätig gewesen. Ich war von einem vielleicht falschen Idealismus beseelt. Ich fühlte mich als Kaufmann nicht glücklich und hatte den sehnlichsten Wunsch, aufs Gymnasium zurückzugehen, das Abiturientenexamen zu machen und zu studieren. Ich kündigte daher meine kaufmännische Stellung und ging zu meiner Mutter zurück. Letzterer war das ja sehr unangenehm, sie willigte aber schließlich ein und gewährte mir Beköstigung und Wohnung. Ich hatte in den fünf Jahren meiner kaufmännischen Tätigkeit fast alles vergessen und war daher genötigt, sehr fleißig zu repetieren, ehe ich zu meinem Direktor zurückgehen und diesen bitten konnte, mich als Hospitant in die Prima aufzunehmen. Der Direktor entsprach meinem Wunsche, und obwohl an Jahren schon etwas vorgerückt, besuchte ich noch zwei Jahre das Gymnasium. 1876 machte ich das Abiturientenexamen. Ich studierte alsdann in Breslau und wurde von dem jetzigen Berliner Oberbürgermeister Kirschner unterstützt. Ich habe, da ich außerdem nur auf die Unterstützung meiner Mutter angewiesen war, lediglich in Breslau studiert. 1881 machte ich das Referendariatsexamen, 1886 das Assessorexamen. 1892 wurde ich angestellt. Da ich aller Mittel bar war, geriet ich insbesondere bei Schneidern in Schulden, so daß ich, als ich als Richter angestellt wurde, eine Schuldenlast von etwa 8000 Mark hatte.

Vors.: Inzwischen ist die Schuldenlast auf etwa 70000 Mark angewachsen?

Blumenberg: Soviel war es nicht, aber 60000 Mark können es gewesen sein.

Vors.: Das wird noch festgestellt werden.

Blumenberg: Ich bemerke noch, daß ich sowohl in Breslau als auch hier in Beuthen äußerst solid und streng zurückgezogen gelebt habe. Ich bin weder Trinker noch Spieler und kann auf Ehrenwort versichern, chern, daß während meiner hiesigen richterlichen Tätigkeit keine Dame meine Wohnung betreten hat, so daß ich also auch in dieser Hinsicht keinerlei Exzesse begangen habe.

Vors.: In dieser Beziehung werden noch Feststellungen getroffen werden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte der Angeklagte: Bis 1896 sei er nicht verklagt worden.

Vors.: Wie hoch belief sich Ihre Schuldenlast 1896?

Angekl.: Auf etwa 10000 Mark.

Vors.: Soll es nicht mehr gewesen sein, Sie hatten doch für einen Amtsrichter eine Bürgschaft von 8000 Mark übernommen?

Angekl.: Diese Bürgschaft war allerdings nicht mit inbegriffen.

Vors.: Wie kamen Sie dazu, trotz Ihrer Schuldenlast noch Bürgschaft für 8000 M. zu leisten, war das nicht ein großer Leichtsinn?

Blumenberg: Ich kannte den Amtsrichter von meiner Gymnasialzeit her, ich hatte mit ihm zusammen studiert und konnte ihm daher seine Bitte nicht abschlagen.

Vors.: Sie sollen auch im Jahre 1902 mehrere opulente Gastmähler gegeben haben?

Blumenberg: Das bestreite ich. Ich habe nur ein einziges Gastmahl gegeben, und zwar weil ich genötigt tigt war, mich für langgenossene Gastfreundschaft zu revanchieren.

Vors.: Ihr Hauptgläubiger war der Schneidermeister Pilz in Breslau?

Blumenberg: Jawohl, diesem schuldete ich etwa 2000 Mark.

Vors.: Sie haben außerdem bei dem Hofkürschnermeister Moritz Boden in Breslau sehr kostbare Damenpelzgarnituren für etwa 1400 Mark gekauft, für wen haben Sie diese gekauft?

Blumenberg: Ich machte sie Frau Just, Frau Hepner usw. zum Weihnachtsgeschenk.

Vors.: Ein Mann in Ihren Verhältnissen macht solch kostspielige Weihnachtsgeschenke?

Blumenberg: Ich fragte die Damen, was sie sich zu Weihnachten wünschten, und da damals die Gläubiger nicht drängten, suchte ich die Wünsche der Damen zu befriedigen.

Vors.: Sie werden doch zugeben, daß es sträflich leichtsinnig ist, wenn ein Mann in Ihren Verhältnissen solch kostbare Geschenke macht?

Blumenberg schwieg.

Vorsitzender: Sie haben außerdem bei dem Schneidermeister Galle in Breslau in einem Jahre Anzüge im Werte von 800 Mark entliehen.

Angekl.: Das war für mehrere Jahre.

Vors.: Nein, das war für ein Jahr. Sie werden zugeben, ben, daß das eine ganz horrende Summe ist, man kann doch im Höchstfalle 200 M. für Kleidung in einem Jahre ausgeben.

Blumenberg: Ich glaube doch, daß das für mehrere Jahre gewesen ist.

Vors.: Es ist festgestellt, daß Sie bei Galle in einem Jahre Kleidung im Werte von 800 Mark entnommen haben, Sie haben außerdem einmal eine Taschenuhr für 500 Mark gekauft?

Blumenberg: Das ist richtig.

Vors.: Ein Mann in Ihren Verhältnissen kauft sich doch nicht eine Uhr für 500 Mark, das muß doch etwas ganz Kostbares gewesen sein?

Blumenberg: Allerdings.

Vors.: Die Uhr haben Sie schließlich verpfändet?

Blumenberg: Jawohl.

Vors.: Sie haben außerdem einen Damenschirm für 42 und einen Damenhut für 45 Mark gekauft? Wem haben Sie diese Sachen geschenkt?

Blumenberg: Einer Dame, die ich nicht nennen will.

Vors.: Sie haben ferner sehr kostspielige Reisen gemacht?

Blumenberg: Das war nur zur Ferienzeit.

Vors.: Allerdings, aber ein Mann in Ihren Verhältnissen bleibt auch während der Ferien zu Hause und unternimmt nicht Reisen nach Ostende und ähnlichen sehr kostspieligen Badeorten.

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Im Jahre 1902 haben Sie sich bei dem Hofuhrmacher Felsing in Berlin eine Taschenuhr für 2000 Mark gekauft? (Bewegung im Zuhörerraum.)

Angekl.: Das war ein astronomisches Kunstwerk mit Jahreszeiten, Kalender usw.

Vors.: Die Uhr haben Sie von Felsing auf Borg genommen und sehr bald verpfändet?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Haben Sie Felsing eine Unterlage gegeben?

Blumenberg: Nein.

Vors.: Kannte Sie denn Felsing?

Angekl.: Nein.

Vors.: Es ist doch aber ganz eigentümlich, daß ein Geschäft wie Felsing in Berlin Ihnen ohne jede Unterlage und ohne Sie zu kennen eine Uhr von 2000 Mark auf Kredit gibt?

Blumenberg schwieg.

Vors.: Was bekamen Sie von dem Pfandleiher für die Felsingsche Uhr?

Blumenberg: Ein Pfandleiher in Zabrze gab 180 Mark; auf Anraten des Mitangeklagten Abraham nahm ich die Uhr von dem Zabrzer Pfandleiher heraus und versetzte sie in Berlin für 350 Mark.

Auf weiteres Befragen sagte der Angeklagte: Er habe nicht gewußt, wieviel Wechsel von ihm im Umlauf lauf waren.

Vors.: Haben Sie denn nicht darüber Buch geführt?

Blumenberg: Nein.

Vors.: Sie haben doch wohl in Ihrer richterlichen Tätigkeit die Erfahrung gemacht, daß ein derartiges Verfahren notwendigerweise zum finanziellen Zusammenbruch führen muß.

Angekl.: Der Zusammenbruch wäre nicht erfolgt, wenn ich nicht in Wuchererhände gefallen wäre.

Vors.: Auf alle Fälle hätten Sie doch über Ihre Wechselverbindlichkeiten Buch führen müssen.

Blumenberg schwieg.

Vors.: Sie sollen auch einer Frau Eisner große Geschenke gemacht haben?

Blumenberg: Jawohl, ich habe bei Eisner längere Zeit gewohnt und war der Familie zu Dank verpflichtet.

Vors.: Sie sollen Frau Eisner auch sehr oft besucht haben, als sie schon in Breslau wohnte und der Mann im Gefängnis war?

Blumenberg: Das ist richtig, der Verkehr zwischen mir und Frau Eisner war aber ein vollständig harmloser.

Vorsitzender: Darauf werden wir noch zurückkommen.

Ferner gab Blumenberg auf Befragen des Vorsitzenden zu: Er habe in Breslau, Berlin und Dresden, und zwar zum großen Teil auf Drängen Abrahams, Ölgemälde, Möbel, Brillantgegenstände, Wein usw. auf Borg entliehen und diese sofort verpfändet, schließlich habe er auch die Pfandscheine verpfändet, um die immer mehr drängenden Gläubiger zu befriedigen. Die Weine habe er von einem Weinhändler aus Würzburg, zu dem er wegen eines Darlehens empfohlen war, anstatt des erbetenen Geldes erhalten.

Vors.: Haben Sie sich denn gar keine Gedanken über Ihre sträfliche Handlungsweise gemacht? Ein Mann wie Sie, ein Landgerichtsrat, mußte sich doch sagen, daß diese Handlungsweise notwendigerweise zur Katastrophe führen muß.

Angekl.: Ich hoffte immer, es würde mir gelingen, durch eine reiche Heirat alles wieder gutzumachen.

Vors.: Glaubten Sie, eine vermögende Dame werde Ihnen die Hand zum Ehebunde reichen, wenn sie Ihre Schuldenlast erfahren hätte?

Angekl.: Ich lernte im Jahre 1904 in Breslau eine Berliner Dame kennen. Diese besaß außer vielen Wertpapieren eine sehr gute Hypothek über 60000 Mark.

Vors.: Kannte diese Dame Ihre Schuldenlast?

Blumenberg: Jawohl.

Vors.: Weshalb kam die Heirat nicht zustande?

Angekl.: Die Dame war Witwe. Sie erzählte mir schließlich, sie habe zwei Söhne und eine 18jährige Tochter im Hause, für deren Verheiratung vorläufig keine Aussicht vorhanden sei. Letzterer Umstand paßte mir nicht, deshalb nahm ich von der Heirat Abstand. Später lernte ich eine Dresdener Dame kennen. Es wurde mir mitgeteilt, daß diese mindestens ein Vermögen von 100000 Mark besitze. Schließlich erfuhr ich aber: Der Vater der Dame sei ein Fabrikbesitzer, das Vermögen stecke in der Fabrik, die Tochter erhalte nur einen Zuschuß. Deshalb nahm ich auch von dieser Heirat Abstand. Aus ähnlichen Gründen habe ich schon 1897 eine Verlobung mit einer Lübecker Dame zurückgehen lassen. Ich erteilte auch einem Heiratsvermittler den Auftrag, mir eine passende Frau zu verschaffen. Es wurde mir bald darauf eine Bergratstochter empfohlen. Aber auch bei dieser war das Vermögen nicht flüssig. Endlich hatte ich mich in Breslau mit einer sehr vermögenden Dame verlobt. Kurz vor der bereits festgesetzten Hochzeit wurde ich jedoch verhaftet.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden gab Blumenberg an: Die kritische Zeit für ihn sei 1903 gewesen. Es wurde dem Oberlandesgerichtspräsidenten in Breslau Anzeige erstattet. Von diesem zur Vernehmung befohlen, habe er seine volle Schuldenlast nicht angegeben, da er befürchtete, alsdann suspendiert zu werden. Der Oberlandesgerichtspräsident habe ihm vorgeschlagen, freiwillig auf einen Teil seines Gehalts zu verzichten; darauf sei er selbstverständlich eingegangen. Als nun im März 1905 eine zweite Anzeige kam, habe er den Oberlandesgerichtspräsidenten gebeten, ihm vier Wochen Frist zu gewähren. Er stehe vor seiner Verheiratung mit einer vermögenden Dame und dürfte nach der ehelichen Verbindung in der Lage sein, seine Schulden sämtlich zu bezahlen. Der Präsident habe aber sein Gesuch abgelehnt und am 22. März 1905 seine Suspendierung vom Amte verfügt. Kurze Zeit darauf sei er verhaftet worden.

Der Angekl. Abraham bestritt, den Angeklagten Blumenberg zum Ankauf und Verpfändung von Wertgegenständen angestiftet zu haben. Er habe allerdings dem Angeklagten Geldverleiher empfohlen. Einmal sei ihm die große Schuldenlast Blumenbergs nicht bekannt gewesen, andererseits habe er gewußt, daß Blumenberg Landgerichtsrat war und als solcher 6000 Mark Gehalt bezog, das nicht beschlagnahmt war. Endlich habe ihm Blumenberg gesagt: Er habe Aussicht, sich mit einer sehr vermögenden Dame zu verheiraten. Er habe allerdings an Blumenberg durch seine Vermittlungen 8-900 Mark verdient, im übrigen hatte seine Frau ein gutgehendes Geschäft, so daß er auf die Vermittlungstätigkeit, die er dem Angeklagten Blumenberg leistete, keineswegs angewiesen war. Er gebe zu, Blumenberg mit dem Mitangeklagten Hepner bekannt gemacht zu haben.

Es wurde hierauf dem Angeklagten Blumenberg vorgehalten, daß er in einem Zivilprozeß Wagner wider Schindler (Blumenberg war damals Vorsitzender der vierten Beuthener Zivilkammer) einer Frau Cloer, mit der er in Geschäftsverbindung gestanden, Mitteilung gemacht und dadurch das Amtsgeheimnis verletzt habe.

Blumenberg gab dies zu, er versicherte, daß er sich nichts Böses dabei gedacht habe.

Zeuge Landrichter Franz, der in diesem Prozeß Beisitzer war, vermochte sich an die Einzelheiten der Verhandlung nicht mehr zu erinnern. Er glaube nicht, daß der Prozeßverhandlung Publikum beigewohnt habe. Soweit er sich erinnere, sei von dem Vertreter des Klägers Wagner eine Anzahl Zeugen, unter diesen einige aus Kopenhagen, benannt worden. Er und der andere Beisitzer, Landrichter Charmak, haben sich gegen den Antrag erklärt.

Landrichter Charmak schloß sich der Bekundung des Vorzeugen an. Die Sache sollte in Kattowitz passiert sein. Er und Landrichter Franz wunderten sich daher, daß Zeugen aus Kopenhagen vorgeschlagen wurden. Der Vorsitzende sei für die Vernehmung der Kopenhagener Zeugen gewesen, er und Landrichter Franz als Beisitzende haben die Vernehmung abgelehnt, da der Antrag anscheinend gestellt worden sei, um eine Verschleppung herbeizuführen, zumal nicht behauptet worden sei, die Kopenhagener Zeugen seien z.Z. in Kattowitz gewesen. Er habe sich gesagt: man müsse bei dem Kläger Wagner ganz besonders vorsichtig sein.

Stat.-Assist. Cloer bekundete zeugeneidlich: Seine Frau betreibe Geldgeschäfte und habe auch dem Landgerichtsrat Blumenberg Geld geliehen bzw. Wechsel diskontiert. Soweit ihm erinnerlich, habe Landgerichtsrat Blumenberg seiner Frau über einen Zivilprozeß Wagner wider Schindler einen Brief geschrieben. Mit diesem sei seine Frau zu Wagner gegangen.

Rechtsanwalt Dr. Färber bekundete als Zeuge: Wagner sei in dem Prozeß, in dem dessen Mandatar den Antrag auf Vernehmung von Kopenhagener Zeugen gestellt habe, nicht zugegen gewesen. Frau Cloer bestätigte, mit der Unterschrift Bl. einen Brief von Landgerichtsrat Blumenberg erhalten zu haben. In dem Briefe, den der Vorsitzende verlas, hieß es: „Der Antrag auf Vernehmung der Kopenhagener Zeugen ist vom Gericht abgelehnt worden, da der Anwalt den Antrag ungenügend begründet hat. Sagen Sie Wagner: er solle sich das nicht gefallen lassen, er könne sonst den Prozeß verlieren. Ich hoffe, morgen von Ihnen Geld zu bekommen, ich habe keines mehr, morgen nachmittag bin ich zu Hause.“

Frau Cloer bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: den: Derartige Briefe habe Blumenberg oftmals an sie geschrieben. Sie habe ihm etwa 20000 Mark gegen Wechsel besorgt. Sie sei vermögenslos, habe aber das Geld dem Landgerichtsrat von Kattowitzer Kaufleuten gegen Provision verschafft.

Beisitzender Landrichter Lindner: Frau Zeugin, hatten Sie die Empfindung, daß Landgerichtsrat Blumenberg Ihnen über den Prozeß Wagner-Schindler Mitteilung machte in der Absicht, von Ihnen wieder Geld zu bekommen?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Sie hatten an dem Ausgang des Prozesses großes Interesse, da Wagner Ihnen Geld schuldete?

Zeugin: Jawohl.

Verteidiger J.-R. Dr. Schreiber: Kam es nicht vor, daß die Geldgeber trotz der erhaltenen Wechsel das Geld teelöffelweise gaben und Blumenberg Ihnen deshalb schrieb, er wolle den Rest des Geldes haben.

Zeugin: Das kam mehrfach vor.

Vert.: Kann es ein solcher Brief gewesen sein?

Zeugin: Das ist möglich.

Dem Angeklagten Blumenberg war ferner zur Last gelegt, in einem Zivilprozeß wider Frau Cloer, in dem er den Vorsitz führte, letzterer verschiedentlich Rat erteilt zu haben, damit der Prozeß für sie nicht verlorenging. In jedem dieser Briefe bat Blumenberg um Geld, da er sich in großer Verlegenheit befinde. In einem der Briefe hieß es: Ich habe dafür gesorgt, daß der Termin wieder verlegt wurde.

Angeklagter Blumenberg gab zu, daß Frau Cloer ein großes Interesse an der möglichsten Hinausschiebung des Prozesses hatte. Er habe aber die Briefe an Frau Cloer nicht in der Absicht geschrieben, diese zur Beschaffung von Geldern geneigt zu machen.

Vors.: Dachten Sie nicht daran, daß, wenn nur ein solcher Brief gefunden wird, er Ihnen das Amt kosten würde?

Angeklagter Blumenberg: Ich kannte wohl die große Gefahr, ich habe aber im Augenblick, als ich die Briefe schrieb, nicht daran gedacht.

Landrichter Charmak bekundete als Zeuge: Rechtsanwalt Sobtzick habe ihm einmal gesagt: es sei gut, daß der Prozeß Pyttlik wider Cloer zu Ende sei. Der Kläger Pyttlik habe ihm gesagt: wenn er den Prozeß verliere, werde er den Landgerichtsrat Blumenberg aus dem Amt bringen, da er ihm Schwierigkeiten bereite; er (Zeuge) hatte auch eine solche Empfindung.

Stationsassistent Cloer: Weder er noch seine Frau haben den Angeklagten Blumenberg ersucht, ihnen Rat und Auskunft zu geben.

Frau Cloer bestätigte das mit dem Bemerken: Sie habe einmal dem Angeklagten von einer Gräfin Reichenbach 500 Mark besorgt.

Vert. R.-A. Dr. Schreiber: Die Gräfin Reichenbach ist eine in Breslau stadtbekannte Geschäftsdame; sie ist bürgerlicher Abkunft, hat aber einen Grafen Reichenbach zum Manne gehabt.

Erster Staatsanwalt: Sie haben doch den Landgerichtsrat Blumenberg mehrfach Geldgeschäfte halber besucht, haben Sie da nicht Herrn Blumenberg um Rat in Ihrem Prozesse gefragt?

Zeugin: Um Rat nicht, ich hatte ja meinen Rechtsanwalt.

Erster Staatsanwalt: Sie haben ihn aber um Auskunft gebeten?

Zeugin: Allerdings.

Beisitzer Landrichter Lindner: Sagten Sie sich nicht, es ist gut, daß ich mit dem Landgerichtsrat Blumenberg in Geschäftsverbindung stehe, daraus können mir für den Ausfall des Prozesses Vorteile erwachsen?

Vors.: Sie haben das Recht, die Antwort auf diese Frage zu verweigern, da Sie sich der Bestechung beschuldigen könnten.

Zeugin: Ich habe keinen solchen Gedanken gehabt, da mir der Ausgang des Prozesses gleichgültig war.

Dem Angeklagten Blumenberg wurde vom Vorsitzenden ferner vorgehalten, daß er in einem Prozeß Goldstein wider Fiskus, der vor der zweiten Zivilkammer des Beuthener Landgerichts geschwebt, sich des Amtsvergehens schuldig gemacht habe.

Angekl. Blumenberg: Der Prozeß Goldstein wider Fiskus schwebte vor der zweiten Zivilkammer, ich hatte infolgedessen, da ich Vorsitzender der vierten Zivilkammer war, keinerlei Einfluß auf diesen Prozeß. Eines Tages erhielt ich von einer Frau Granzow einen Brief, in dem sie mich im Auftrage des Möbelhändlers Zernik, Schwiegersohns des Goldstein, bat, mich für den Prozeß zu interessieren, es solle mein Schade nicht sein. Ich habe zunächst nicht darauf geantwortet, da ich nicht wußte, was ich eigentlich machen sollte. Einen Rat brauchte man doch nicht von mir, dafür gibt es Rechtsanwälte, und Einfluß auf den Gang des Prozesses hatte ich nicht. Frau Granzow kam einige Tage darauf zu mir und bat mich, einmal die Prozeßakten in Sachen Goldstein wider Fiskus einzusehen, ich könnte unter Umständen 20000 Mark verdienen. Ich verhielt mich trotzdem ablehnend, da ich mir sagte: Ich habe auf den Prozeß so wenig Einfluß, daß ich unmöglich 20000 Mark dafür erhalten kann. Auf dringendes Bitten der Frau Granzow habe ich mir schließlich die Akten durchgelesen.

Vors.: Wie kamen Sie in den Besitz der Akten?

Blumenberg: Ich habe sie mir einfach vorlegen lassen.

Vors.: Sie werden zugeben, daß das ein Mißbrauch der Amtsgewalt war.

Blumenberg: Ich gebe zu, daß ich unrecht gehandelt habe.

Vors.: Frau Granzow ist eine Geldverleiherin.

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Frau Granzow hat Ihnen auch Gelder besorgt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Kannten Sie Zernik?

Angekl.: Zernik hat mir einmal 500 Mark geliehen. Ich habe außerdem einmal bei Zernik Möbel gekauft.

Vors.: Wo haben Sie denn überall Möbel gekauft, Sie hatten doch als unverheirateter Mann nicht soviel Möbel notwendig?

Angekl.: Ich wollte mich damals verheiraten.

Es wurde darauf ein Brief, den Blumenberg an Frau Granzow geschrieben hatte, verlesen. In diesem Briefe klagte Blumenberg, daß alles von ihm Geld haben wolle; er befinde sich in sehr bedrängter Lage, und Plaumann hülle sich, wie immer, in Schweigen. Dieser bezahle niemanden. (Plaumann war der Amtsrichter, für den Blumenberg eine Bürgschaft über 8000 Mark übernommen hatte.) Es hieß ferner in dem Briefe: Ich bezweifle stark, daß Goldstein 20000 Mark geben wird, zumal ich gar zuwenig in der Sache tun kann. Zernik traue ich nicht; dieser will mir ja nicht einmal 300 Mark verschaffen. Wenn ich von Goldstein 20000 Mark bekäme, so wäre das ja ein sehr schönes Geschäft. Werte Frau Granzow, geben Sie mir einen Rat, was ich in der Sache tun soll; was ich tun kann, werde ich tun.

Blumenberg teilte alsdann mit, was er aus den Akten ersehen, und gab verschiedene Ratschläge, die zur Gewinnung des Prozesses führen könnten. Der ellenlange Brief schloß mit einer nochmaligen Klage über die drängenden Gläubiger, bezüglich deren er mit Beschimpfungen nicht kargte: „Es ist ganz furchtbar, es ist nirgends Geld zu bekommen.“ Endlich hieß es in dem Briefe: „Sie sehen, liebe Frau Granzow, daß ich mir die größte Mühe gebe, um für Goldstein tätig zu sein.“

Vors.: Nun, Herr Blumenberg, was sagen Sie dazu?

Angekl. (mit sehr bewegter, fast weinender Stimme): Ich weiß ja heute, daß ich großes Unrecht begangen habe, ich befand mich eben in Not.

Vors.: Sie werden zugeben, daß ein Laie die Akten nicht bekommen hätte?

Angekl.: Ich gebe zu, daß jemand, der der Sache fernstand, die Akten nicht bekommen hätte.

Vors.: Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Landgerichtsrat Blumenberg von der Gerichtsschreiberei die Akten gefordert, und diese sind Ihnen infolgedessen auch ausgehändigt worden.

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie geben also zu, daß Sie die Akten unter Mißbrauch Ihrer Amtsgewalt erhalten haben? Sie schrieben ja selbst Frau Granzow: „Ich muß um strengste Diskretion bitten, da ich, wenn es herauskommt, geschaßt werde.“

Angekl.: Allerdings, ich befürchtete, auf dem Disziplinarwege aus dem Amte entlassen zu werden.

Vert. Justizrat Dr. Schreiber: Ich ersuche, an den Angeklagten die Frage zu stellen, ob er sich bewußt war, daß er sich im Sinne des Paragraphen 332 des Strafgesetzbuches strafbar gemacht hat?

Vors.: Der Angeklagte hat das eigentlich bereits zugegeben, ich will aber trotzdem die Frage noch einmal stellen.

Angekl.: Ich befürchtete, disziplinarisch bestraft zu werden, ich glaubte aber nicht, mich strafrechtlich schuldig zu machen.

Vors.: Herr Blumenberg, Sie sind ein alter Landgerichtsrat und waren lange Zeit Strafrichter. Es muß Ihnen bewußt gewesen sein, daß Sie sich im Sinne des Paragraphen 332 schuldig machen. Sie werden zugeben, daß man diese Frage nur verneinen kann, wenn man zu der Annahme gelangt, es liegt der Paragraph 51 des Strafgesetzbuches vor?

Angekl. (zögernd): Ich kann nur wiederholen, daß ich an eine strafbare Handlung nicht gedacht habe.

Frau Granzow, Breslau, wurde unter Aussetzung der Vereidigung vernommen und ihr vom Vorsitzenden bedeutet: Wenn sie befürchte, sich durch Beantwortung einer Frage einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, sei sie berechtigt, die Antwort zu verweigern. Die Zeugin bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe dem Angeklagten Blumenberg vielfach Geld geliehen bzw. Darlehen vermittelt. Es sei ihr wohl bekannt gewesen, daß Blumenberg verschuldet war, er sagte ihr aber, er werde in nächster Zeit Landgerichtsdirektor werden, beziehe alsdann ein größeres Gehalt, und außerdem habe er die Heirat mit einer sehr vermögenden Dame in sicherer Aussicht. Sie habe sich in uneigennütziger Weise für den Prozeß Goldstein wider Fiskus interessiert, jedes Geldinteresse habe ihr dabei ferngelegen. Sie gebe allerdings zu, mit dem Schwiegersohn Goldsteins, Möbelhändler Zernik, in Geschäftsverbindung zu stehen. Sie habe auch gewußt, daß Blumenberg, der nicht Mitglied der zweiten Zivilkammer war, keinerlei Einfluß auf den Gang des Prozesses hatte, sie wollte auch nur, daß Blumenberg vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung einen Vergleich herbeiführe.

Vors.: Es war Ihnen doch aber bekannt, daß dazu eine Akteneinsicht erforderlich war.

Zeugin: Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.

Vors.: Sie haben zweifellos sich gesagt: Blumenberg berg ist beim hiesigen Landgericht und kann infolgedessen für eine günstige Wendung des Prozesses viel tun?

Zeugin: Ich wollte nur, daß ein Vergleich zustande komme.

Vors.: Haben Sie dabei nicht daran gedacht, daß Landgerichtsrat Blumenberg, um einen Vergleich herbeizuführen, genötigt war, die Akten einzusehen?

Zeugin: Es ist möglich, daß ich daran gedacht habe.

Vors.: Ich frage Sie nun nochmals, welches Interesse hatten Sie, Herrn Blumenberg zu bewegen, in dem Prozeß einen Vergleich herbeizuführen?

Zeugin: Ich hatte keinerlei Geldinteresse.

Vert. Justizrat Dr. Schreiber: Die Zeugin weicht augenscheinlich der Beantwortung dieser Frage aus, da sie befürchtet, des Wuchers beschuldigt zu werden. Das Interesse der Zeugin, das ein vollständig legales ist, ist mir bekannt. Frau Granzow, hatten Sie und Ihr Herr Gemahl nicht im Breslauer Spar- und Darlehnsverein für den Angeklagten Blumenberg Bürgschaft geleistet?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Sie hofften, wenn Blumenberg die versprochene Provision erhalte, die Bürgschaft loszuwerden.

Z.: Allerdings.

Im weiteren Verlauf gab die Zeugin auf Befragen zu: Blumenberg schulde ihr noch etwa 20000 Mark. Als Bürgschaft habe ihr letzterer eine Lebensversicherungspolice über 22000 Mark gegeben; die Prämien müsse sie allerdings bezahlen.

Vert. Justizrat Dr. Schreiber: Ich bemerke, der Angeklagte hat bei der Disziplinarbehörde seine Schuldenlast auf 53000 Mark angegeben, dabei war die Schuld von Frau Granzow außer Ansatz gelassen.

Angekl. Blumenberg: Die Schulden, die ich bei Frau Granzow hatte, habe ich allerdings nicht angegeben.

Auf Ersuchen des Angeklagten Blumenberg teilte Frau Granzow noch mit: Blumenberg hatte die ernstliche Absicht, sich mit einer vermögenden Dame zu verheiraten. Er war auch einige Male mit solchen Damen verlobt, die Heiraten seien aber nicht zustande gekommen, da die betreffenden Damen keine flüssigen Mittel hatten. Zuletzt war Blumenberg mit einer sehr vermögenden Dame aus Frankfurt a.M. verlobt; diese Heirat wäre wohl auch zustande gekommen, wenn Blumenberg nicht verhaftet worden wäre.

Möbelhändler Zernik (Kattowitz), ebenfalls unter Aussetzung der Vereidigung vernommen, bekundete: Ich habe an Landgerichtsrat Blumenberg einmal für 1500 Mark Möbel verkauft und ihm auch einige Male gegen Wechsel Geld geliehen. Frau Granzow sagte mir: Landgerichtsrat Blumenberg könnte für Beschleunigung schleunigung des Prozesses sorgen. Letzterer habe ihm auch einige Male über den Gang des Prozesses schriftliche Auskunft gegeben, genau dasselbe habe er aber zumeist am folgenden Tage von dem Rechtsanwalt seines Schwiegervaters erfahren. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge Zernik: Er gebe zu, daß Frau Granzow ihm einmal gesagt habe, Bl. könnte für Beschleunigung des Prozesses sorgen oder einen Vergleich herbeiführen, wenn man ihm 10000 Mark als Darlehn verspreche. Er habe sich aber in keiner Weise verpflichtet und mit Landgerichtsrat Blumenberg niemals darüber gesprochen.

Auf Befragen des Vert. Justizrats Dr. Schreiber sagte der Zeuge: Er habe niemals die Absicht gehabt, dem Landgerichtsrat Blumenberg irgendeinen Vorteil zuzuwenden, um ihn zu einer Verletzung seiner Amtspflicht geneigt zu machen.

Auf Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge: Er habe in den letzten Jahren es entschieden abgelehnt, dem Landgerichtsrat Blumenberg ein Darlehn zu geben; er habe auch Frau Granzow in dieser Beziehung gewarnt. Einmal sei ihm die große Schuldenlast Blumenbergs bekannt gewesen, und andererseits habe er Blumenberg in Breslau in Gesellschaft eines Mannes gesehen, der in Breslau als sehr gefährlich gelte.

Vors.: Das ist Schneidermeister Just.

Zeuge: Jawohl.

Zernik und Frau Granzow wurden schließlich vereidigt.

Blumenberg war ferner beschuldigt, einen bei ihm vom Gerichtsvollzieher versiegelten Nußbaumregulator, Ölgemälde und Meyersche Konversationslexika verpfändet bzw. verkauft und den Erlös für sich verwendet zu haben. Blumenberg gab auf Befragen den objektiven Tatbestand zu; er wußte aber nicht, ob diese Gegenstände inzwischen frei geworden waren.

In einem weiteren Falle wurde der Angeklagte Blumenberg beschuldigt: ein ihm vom Gerichtsvollzieher versiegeltes Salonsofa, einen Salonspiegel, ein Vertiko, im Gesamtwerte von 150 Mark, verpfändet bzw. verkauft zu haben. Diese Möbel hatte Blumenberg auf Leihkontrakt von Großmann entnommen.

Der Angeklagte gab diese und noch einige andere Arrestbrüche zu, er sei von seinen Gläubigern so furchtbar gedrängt worden, daß er sich zur Veräußerung der Möbel genötigt gesehen habe. Blumenberg gab schließlich auf Befragen zu, daß seine gesamte Wohnungseinrichtung vom Gerichtsvollzieher versiegelt gewesen war. Dem Angeklagten Abraham wurde zur Last gelegt, bei einigen Veräußerungen von Pfandstücken mitgewirkt zu haben. Abraham bemerkte: Es sei ihm nicht bekannt gewesen, daß diese Sachen gepfändet waren.

Vors.: Sie müssen doch gesehen haben, daß alle Sachen in der Wohnung des Herrn Blumenberg versiegelt waren.

Abraham: Das habe ich nicht gesehen.

Vors.: Aus den vielen Pfändungen, die Ihnen nicht entgangen sein können, müssen Sie doch die große Verschuldung des Herrn Blumenberg entnommen haben.

Abraham: Solche Verschuldungen sind doch nichts Seltenes.

Vors. (erregt): Nun, soweit sind wir doch noch nicht. In richterlichen Kreisen sind Gott sei Dank solche Vorkommnisse mit der Laterne zu suchen.

Der Angeklagte Abraham schwieg.

Im weiteren Verlauf bemerkte Abraham: Blumenberg habe ihm gesagt, die Möbel kommen zwecks Aufpolsterung zum Möbelhändler Großmann. Blumenberg gab dies als möglich zu.

Aus den zur Verlesung gelangten Leihverträgen der verschiedenen Möbelhändler war zu entnehmen, daß der Angeklagte Blumenberg eine hochelegante Wohnungseinrichtung besessen habe. Blumenberg hatte diese Wohnungseinrichtung als sein Eigentum bezeichnet und die einzelnen Gegenstände an Darlehnsgeber, und zwar zum Teil mehrfach schriftlich als Eigentum zugestanden. Schneidermeister Galle in Breslau hatte Blumenberg nicht nur mehrere Anzüge im Betrage von 850 Mark gestundet, sondern ihm auch noch ein Darlehen in ansehnlichem Betrage gegeben. Blumenberg hatte Galle als Unterlage einen Teil seiner Möbel verpfändet. Der Inhaber der Firma Galle, Kluge, hatte schließlich erfahren, daß das Mobiliar bereits verpfändet war. Blumenberg hatte darauf Kluge eine Ehrenerklärung ausgestellt, in der er sich auf Ehrenwort verpflichtete, allvierteljährlich an die Firma Galle 150 Mark zu zahlen, er hatte aber, außer 100 Mark, die er am Tage der Abgabe der Ehrenerklärung zahlte, nichts gezahlt. Blumenberg schuldete an die Firma Galle, einschließlich Zinsen, annähernd 1200 Mark. Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten Blumenberg vor, daß er von Kaufmann Heidenreich in Breslau eine große Anzahl kostbarer Möbel auf Leihvertrag gekauft habe. Laut Vertrag blieben die Möbel, die in vereinbarten Raten abgezahlt werden sollten, Eigentum des Heidenreich. Diese Möbel hatte Blumenberg ebenfalls veräußert bzw. verpfändet. Hierbei soll sich der Angekl. Hepner der Beihilfe bzw. Begünstigung schuldig gemacht haben. Hepner bestritt diese Beschuldigung mit großer Entschiedenheit. Er kenne Blumenberg seit etwa 8 Jahren und habe ihm mehrfach Gelder zu den anständigsten Bedingungen verschafft.

Vors.: Was verstehen Sie unter „anständigsten Bedingungen“?

Hepner: 5-6 Prozent Zinsen. Das Geschäft mit Heidenreich habe ich nicht vermittelt. Heidenreich hat Blumenberg fast täglich gemahnt. Ich habe daher einmal zu Heidenreich gesagt: Ich habe in Kattowitz geschäftlich zu tun, kommen Sie mit mir, da können Sie den Landgerichtsrat Blumenberg persönlich sprechen. Ich tat das, weil Herr Rat Blumenberg sagte: er wolle die Sache aus der Welt schaffen.

Vors.: Sie geben doch zu, an Ihren Geldvermittlungen für Blumenberg verdient zu haben?

Hepner: Das gebe ich zu, ich habe für Vermittlungen Provision erhalten, aber niemals Wucherzinsen genommen.

Staatsanwalt Fipper: Ich muß doch bemerken, daß Hepner außer seiner Provision hohe Zinsen erhalten hat und stets auf Kosten des Angeklagten Blumenberg zweiter Wagenklasse gefahren ist.

Blumenberg: Das ist eine Verwechslung mit Just. Ich habe Herrn Hepner sogar einmal Bezahlung für zweite Klasse angeboten, er hat es aber abgelehnt mit dem Bemerken: Ich kann ebensogut dritter oder vierter Klasse fahren.

Angekl. Hepner: Ich habe Herrn Rat Blumenberg niemals hohe Spesen berechnet. Im Gegenteil, ich habe Herrn Blumenberg stets gewarnt, sich zu sehr zu engagieren. Just allerdings ist auf Kosten des Herrn Rat Blumenberg stets zweiter Klasse gefahren, er hat in Berlin auf Kosten des Herrn Rat in den ersten Hotels tels gewohnt, mit Weibern kostspielige Gelage gegeben usw. Dieser Mann ist in der Hauptsache an dem Unglück des Herrn Landgerichtsrats Blumenberg schuld. Ich habe aber alles getan, um Herrn Rat Blumenberg zu halten.

Dem Angeklagten Blumenberg wurde ferner zur Last gelegt, von Berg in Kattowitz für 1000 Mark Möbel gegen Wechsel gekauft zu haben. Blumenberg habe auf Befragen Bergs gesagt, daß die Wohnungseinrichtung sein Eigentum sei. Der Angeklagte Abraham soll dies Geschäft vermittelt haben. Abraham bestritt dies. Diese Möbel habe Blumenberg ebenfalls sofort veräußert bzw. verpfändet.

Es wurden dem Angeklagten Blumenberg noch mehrere derartige Unterschlagungs- bzw. Betrugsfälle vorgehalten. Möbelhändler Großmann in Breslau, so teilte Angekl. Blumenberg mit, habe sich alle Mühe gegeben, ihn zum Kunden zu bekommen. Er habe schließlich von Großmann Möbel gekauft, die Großmann zu dem horrenden Preis von 3263 Mark berechnete. Diese Preise waren ganz außerordentlich hoch. Er habe sich nachträglich überzeugt, daß die großen Firmen, wie Dittmar, Pfaff usw. in Berlin bedeutend niedrigere Preise haben. Angesichts dieser horrenden Preise war das fürchterliche Drängen auf Bezahlung ganz unbegründet, zumal er bereits 1000 Mark gezahlt hatte.

In einem weiteren Falle hatte Blumenberg von einem Möbelhändler Sternschuß in Oswiecim Möbel auf Leihvertrag und Wechsel von 1100 Mark gekauft.

Der Angeklagte bemerkte: Er habe die Möbel schließlich dem Sternschuß zurückgegeben, da dieser fast täglich in seinem „galizischen Kostüm“ in seine Wohnung kam, was ihm sehr unangenehm war.

Einer Frau Steinhorst in Breslau hatte Blumenberg die bereits von ihm verpfändeten Möbel verpfändet und dafür auf Wechsel 1700 Mark erhalten.

Blumenberg: Ich bekenne, daß ich unrecht gehandelt habe, ich brauchte aber das Geld. Hätte ich gesagt, die Möbel sind bereits verpfändet, dann hätte ich das Geld nicht erhalten.

In einem weiteren Falle soll Angeklagter Abraham mitgewirkt haben, obwohl ihm bekannt war, daß die Möbel des Blumenberg bereits verpfändet waren.

Abraham bestritt dies.

Auf Antrag des Staatsanwalts Fipper wurde die von Abraham beim Untersuchungsrichter gemachte protokollarische Aussage verlesen. Danach hatte Abraham ein volles Geständnis abgelegt. Abraham bemerkte: Er sei durch die lange Untersuchungshaft, durch die er finanziell ruiniert worden sei, und durch die ihm zuteil gewordene Behandlung ganz verwirrt gewesen, so daß er schließlich nicht mehr wußte, was er sagte. Der Untersuchungsrichter habe ihm jedesmal mit dem Zuchthaus gedroht, wenn er etwas in Abrede stellte.

Vors.: Das Protokoll, das ganz klar ist, ist Ihnen doch vorgelesen und von Ihnen unterschrieben worden?

Abraham: Ich kann nur wiederholen, daß ich verwirrt war, so daß ich nicht wußte, was ich unterschrieb.

Bäckermeistersfrau Leschziner bekundete auf Befragen: Sie sei früher Hebamme gewesen, seit längerer Zeit sei sie aber sehr krank, sie könne daher nicht mehr praktizieren. Ihr Mann sei rückenmarkleidend, mithin auch erwerbsunfähig; sie lebe mit ihrem Manne von der Unterstützung ihrer Kinder. Auf Zureden des Angekl. Hepner habe sie ihren Schwiegersohn veranlaßt, dem Landgerichtsrat Blumenberg 600 Mark zu leihen. Das Geld sei verloren.

Hepner: Er habe im Gegenteil abgeredet, dem Rat Blumenberg etwas zu leihen.

Staatsanwalt Fipper: Obwohl Sie abgeredet haben wollen, haben Sie sich von dem Schwiegervater der Zeugin 50 Mark Provision für das Zustandekommen des Darlehensgeschäfts zahlen lassen.

Hepner gab das zu.

Frau Klepatzky hatte dem Angeklagten Blumenberg gegen Verpfändung seiner Wohnungseinrichtung 1200 Mark geliehen. Hepner habe gesagt: „Sie gehen kein Risiko ein, Ihnen gehört ja die Wohnungseinrichtung des Herrn Landgerichtsrats.“

Hepner bestritt, eine solche Äußerung getan zu haben.

Wirtschaftsinspektor Biest (Breslau): Auf Veranlassung des Schneidermeisters Just in Breslau habe er Blumenberg gegen Wechsel, den auch Just unterschrieben habe, 14000 Mark geliehen. Er habe das ganze Geld verloren. Blumenberg habe ihm die Wohnungseinrichtung verschrieben, später habe er gehört, daß diese Wohnungseinrichtung verpfändet war. Der Zeuge brach bei seiner Vernehmung in Tränen aus.

Kaufmann Kluge, Inhaber der Firma Galle in Breslau: Blumenberg habe bei ihm innerhalb zwei Jahren für 850 Mark Garderobe und 500 Mark bar geliehen. Da er trotz aller Mahnungen kein Geld erhalten konnte, habe er Blumenberg verklagt. Blumenberg habe ihm schließlich seine Wohnungseinrichtung verschrieben, damit er die Klage zurücknehme. Einige Zeit darauf habe er erfahren, daß die Wohnungseinrichtung bereits verpfändet sei. Nachdem er sich als Eigentümer der Wohnungseinrichtung gefühlt habe, sei er sicher geworden und habe dem Landgerichtsrat Blumenberg noch für mehrere 100 Mark Garderobe geliehen, so daß er noch 1600 Mark von Blumenberg zu bekommen habe.

Als Landgerichtsrat Blumenberg sich wieder in Bedrängnis drängnis befand, wandte er sich an den Mitangeklagten Hepner. Dieser führte Blumenberg zu dem Möbelhändler Heidenreich in Breslau. Letzterer erklärte sich zur Gewährung eines Darlehens bereit, wenn Blumenberg einen Teil dieses Darlehens in Gestalt von Möbeln entnehme. Die Möbel, in Höhe von 475 Mark, wurden gegen den bekannten Leihvertrag und außerdem 500 Mark gegen Wechsel gegeben. Angeklagter Blumenberg bemerkte: Diese Schuld sei bis auf 70 Mark getilgt.

Angekl. Hepner: Er sei bei Abschluß des Geschäfts wohl dabei gewesen, und es sei auch möglich, daß er zu Heidenreich gesagt habe: „Sie haben jetzt Wechsel, können also beruhigt sein,“ etwas weiteres habe er gewiß nicht gesagt, zumal er von der Möbelbranche keinerlei Kenntnis habe.

Möbelhändler Heidenreich bekundete als Zeuge: Er habe Blumenberg außerdem noch einmal auf Wechsel Geld geliehen, da ihm gesagt worden sei, Blumenberg werde in nächster Zeit eine sehr vermögende Dame heiraten. Er habe im ganzen 200 Mark verloren. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Wenn er gewußt hätte, die Möbel Blumenbergs seien bereits verpfändet, dann würde er sofort von dem Geschäft Abstand genommen haben.

Frau Behrendt: Sie habe Hepner mit Heidenreich bekannt gemacht und dafür von letzterem 20 Mark Provision erhalten.

Mühlenbesitzer Alfred Pinn, Inhaber der Firma Pinn und Aronsohn (Berlin): Ich habe mit dem Landgerichtsrat Blumenberg nicht in Geschäftsverbindung gestanden. Eines Tages kaufte die Firma Berger (Königshütte) bei mir Mehl. Berger sandte mir dafür zwei Wechsel in Höhe von je 500 Mark, akzeptiert von Landgerichtsrat Blumenberg in Beuthen, O.-S. Ich wollte zunächst die Wechsel nicht nehmen, habe sie aber schließlich behalten, da ich gehört hatte, daß Berger schlecht stehe. Nach einiger Zeit ging auch die Firma Berger in Konkurs, und der Wechsel wurde am Verfalltage nicht eingelöst. Noch ehe ich die Wechsel zur Bergerschen Konkursmasse angemeldet hatte, erschien der Angeklagte Abraham bei mir und bat mich, die Wechsel nicht zur Konkursmasse anzumelden. Landgerichtsrat Blumenberg habe seine Schuldenlast dem Oberlandesgerichtspräsidenten in Breslau mitgeteilt, dabei aber die beiden Wechsel nicht angegeben. Wenn nun das Vorhandensein der Wechsel zur Kenntnis des Oberlandesgerichtspräsidenten komme, dann werde Blumenberg womöglich aus dem Amte entfernt. Blumenberg sei ein jüdischer Richter, man müsse eine solche Blamage möglichst zu vermeiden suchen.

Vors.: Ich will Ihnen bemerken, Herr Pinn, daß Blumenberg kein Jude, sondern evangelischer Christ ist.

Zeuge: Abraham sagte mir aber, Blumenberg sei ein jüdischer Richter. Ich glaubte dies, zumal der Name Blumenberg auch einigermaßen dafür sprach. Obwohl Abraham auf mich einen unangenehmen Eindruck machte, nahm ich Abstand, die Wechsel zur Bergerschen Konkursmasse anzumelden. Ich schrieb daraufhin an Blumenberg, daß ich Einlösung der protestierten Wechsel erwarte. Darauf erschien Schneidermeister Just (Breslau) bei mir, zahlte mir 150 Mark und bat mich, einen neuen Wechsel über 850 Mark auszustellen. Diesen werde Landgerichtsrat Blumenberg akzeptieren und mir als Unterlage seine kostbare Möbeleinrichtung verpfänden. Ich erwiderte: Darauf könnte ich nur eingehen, wenn Landgerichtsrat Blumenberg die ehrenwörtliche Erklärung gibt, daß die Möbel sein Eigentum und anderweitig nicht verpfändet seien. Blumenberg gab mir schriftlich eine solche ehrenwörtliche Erklärung, worauf ich auf den Vorschlag Justs einging. Der Wechsel ist ja in Raten zum Teil bezahlt worden; ich muß aber bekennen, wenn ich die Wechsel zur Bergerschen Konkursmasse angemeldet hätte, würde ich einen wesentlich größeren Betrag auch nicht erhalten haben. Auf Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge: Er habe sich nicht denken können, daß ein preußischer Richter etwas Unwahres in einer ehrenwörtlichen Erklärung versichern chern werde. Hätte er gewußt, daß Blumenberg im Vermögensverfall sei und die Möbel bereits verpfändet waren, dann würde er selbstverständlich die Wechsel zur Bergerschen Konkursmasse angemeldet und nicht einen neuen Wechsel ausgestellt haben.

Rentier Tomansky (Berlin): Er sei durch einen Agenten Bock mit Landgerichtsrat Blumenberg bekannt geworden. Er habe letzterem gegen Wechsel und Verpfändung seiner Möbel 6300 Mark geliehen. Dies Geld habe er vollständig verloren.

Agent Bock (Berlin): Er habe Tomansky durch Zeitungsinserat kennengelernt. Er habe für Vermittlung des Geschäfts von Blumenberg 10 Prozent Provision erhalten.

Möbelhändler Großmann hatte dem Angeklagten Blumenberg für 3500 Mark Möbel gegen Leihvertrag verkauft, er hat dafür 900 Mark in Ratenzahlungen erhalten. Schließlich habe er die Möbel zurückholen lassen, diese habe er aber sämtlich aufpolieren lassen müssen; sie seien heute kaum die Hälfte wert.

Frau Steinhorst (Breslau): Sie und ihr Mann haben dem Landgerichtsrat Blumenberg gegen Wechsel, Verpfändung der Möbel und Ehrenschein 4000 Mark bar geliehen und für weitere 4000 Mark Bürgschaft geleistet. Die Wechsel mit dem Akzept von Blumenberg habe aber niemand nehmen wollen. Sie haben jedoch trotzdem nicht geglaubt, daß sie alles verlieren werden, da sie nicht ahnen konnten, daß die Möbeleinrichtung bereits verpfändet war. Andererseits habe ihnen Frau Granzow gesagt: Landgerichtsrat Blumenberg werde in nächster Zeit eine sehr vermögende Dame heiraten. Die Mitgift erhalte nicht Blumenberg, sondern Justizrat Roth, der zunächst die Gläubiger befriedigen werde. Es sei ihr allerdings gesagt worden: Die Schuldenlast Blumenbergs betrage nur 20000 Mark. Auf Befragen des Beisitzenden, Landrichters Lindner, sagte die Zeugin: Sie habe dem Landgerichtsrat Blumenberg viel Geld hinter dem Rücken ihres Mannes, selbst ihre letzten Sparpfennige gegeben. Im ganzen haben sie etwa 7000 Mark verloren.

Auf Befragen des Vert. Justizrats Dr. Schreiber sagte die Zeugin: Frau Granzow gab sich die größte Mühe, Landgerichtsrat Blumenberg mit einer vermögenden Dame zu verheiraten. Blumenberg habe auch die ernste Absicht gehabt, sich zu verheiraten; er sei einige Male mit vermögenden Damen verlobt gewesen. Noch kurz vor seiner Verhaftung sei Blumenberg mit einer sehr vermögenden Dame in Breslau verlobt gewesen. Sie sei der Meinung, wäre Blumenberg nicht verhaftet worden, dann wäre die Heirat zustandegekommen.

Hotelier August Schulz (Königshütte): Ich wollte eine Gastwirtschaft pachten, es wurde mir aber die Konzession verweigert. Der Angeklagte Abraham hatte dies erfahren, er kam zu mir und sagte: ich solle dem Landgerichtsrat Blumenberg 500 Mark gegen Wechsel leihen, Blumenberg werde zum Bürgermeister gehen und für Erteilung der Konzession sorgen. Dabei nahm Abraham ein Akzept heraus, das ich nicht beachtete. Abraham ließ absichtlich oder unabsichtlich das Akzept auf dem Tisch liegen. Sehr bald darauf fragte Abraham telephonisch an, ob er das Akzept liegengelassen habe. Ich antwortete bejahend. Ich habe mich schließlich von Abraham bestimmen lassen, dem Landgerichtsrat Blumenberg 500 Mark und später noch 300 Mark gegen Wechsel und Verpfändung der Möbel zu geben, Ich habe darauf im ganzen 250 Mark erhalten, das andere Geld ist verloren, denn die Möbel waren bereits anderweitig verpfändet.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bekundete der Zeuge: Landgerichtsrat Blumenberg habe ihm versprochen, mit seiner Frau zum Bürgermeister zu gehen, sie als seine Kusine auszugeben und den Bürgermeister um Gewährung der Konzession zu bitten.

Angekl. Abraham: Er habe das Akzept nicht absichtlich liegenlassen, im übrigen bestreite er, dem Schulz wissentlich eine falsche Vorspiegelung gemacht zu haben.

Hofkürschnermeister Moritz Boden (Breslau): Landgerichtsrat Blumenberg kam kurz vor Weihnachten ten 1904 mit einem hageren Mann, den ich für einen Schneider hielt, in meinen Laden und kaufte verschiedene wertvolle Pelzgarnituren für Damen, unter diesen eine Zobelpelzgarnitur gegen Wechsel im Gesamtbetrage von 1100 Mark. Ich habe 900 Mark bei diesem Geschäft verloren.

Unter allgemeiner Spannung wurde Frau Eisner (Breslau), eine hübsche, junge Dame, als Zeugin in den Saal gerufen. Sie wurde unter Aussetzung der Vereidigung vernommen und bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Wir wohnten früher in Beuthen, während dieser Zeit hat Landgerichtsrat Blumenberg zwei Jahre bei uns gewohnt. Im Laufe der Zeit hat sich ein sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen Herrn Gerichtsrat und mir herausgebildet. Das Freundschaftsverhältnis hat sich fortgesetzt, als wir nach Breslau gezogen waren. Herr Gerichtsrat Blumenberg hat uns oftmals besucht, und wir haben auch in ziemlich regem Briefverkehr gestanden, so daß es meinem Manne auffiel.

Vors.: Also Ihrem Manne ist der Briefverkehr, den Sie mit Herrn Blumenberg hatten, bereits aufgefallen?

Zeugin: Jawohl, irgendeine Intimität hat aber zwischen uns nicht bestanden.

Vors.: Ihr Mann ist einmal im Gefängnis gewesen, während dieser Zeit soll Herr Blumenberg Sie oftmals besucht haben?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Ist er des Nachts in Ihrer Wohnung geblieben?

Zeugin: Nein.

Vors.: Sie stehen unter dem Eide.

Zeugin: Das weiß ich wohl.

Angekl. Blumenberg: Ich kann auf Ehrenwort versichern, daß ich mir niemals eine Intimität gegen Frau Eisner, weder in Wort, noch in Schrift, noch in Tat erlaubt habe.

Vors.: Herr Blumenberg, ich habe die Zeugin absichtlich nicht danach gefragt.

Vors.: Frau Eisner, wieviel Geld haben Sie und Ihr Gatte Herrn Blumenberg geliehen?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Vors.: Was für Geschenke hat Ihnen Herr Blumenberg gemacht?

Zeugin: Genau kann ich das auch nicht sagen.

Vors.: Strengen Sie einmal ein bißchen Ihr Gedächtnis an.

Zeugin: Ich bekam von Herrn Blumenberg einen Schirm, einen Hut, eine Pelzgarnitur, eine Anzahl Blusen und eine goldene Brosche.

Vors.: Wofür mag wohl der Angeklagte Blumenberg Ihnen alle diese Sachen geschenkt haben?

Zeugin: Ich habe Herrn Blumenberg mehrfach Geld zinslos geliehen. Ich glaube, er hat die Geschenke als Äquivalent dafür betrachtet.

Vors.: Haben Sie mit Herrn Blumenberg Reisen gemacht?

Zeugin: Allein mit Herrn Rat Blumenberg niemals. Ich bin einige Male mit Herrn Rat Blumenberg gereist, da war aber stets mein Mann dabei.

Erster Staatsanwalt: Was hatten Sie sich denn soviel zu schreiben, zumal Herr Blumenberg fast allwöchentlich in Breslau bei Ihnen war?

Zeugin: Nach solch langer Zeit bildet sich eben ein Freundschaftsverhältnis heraus, das oftmaligen Briefwechsel veranlaßt.

Kaufmann Eisner: Landgerichtsrat Blumenberg wurde uns von Herrn Staatsanwalt Schweitzer empfohlen. Der Herr Landgerichtsrat zog nach einiger Zeit zu uns. Eines Abends wurde der Herr Landgerichtsrat von Kollegen nach Hause gebracht, er hatte sich den Fuß gebrochen. Ich riet ihm, er solle sich ins Krankenhaus aufnehmen lassen. Herr Blumenberg wollte das aber nicht. Er blieb infolgedessen bei uns. Ich hatte damals kein offenes Geschäft, sondern nur Agenturen. Ich hatte daher Zeit und habe den Herrn Landgerichtsrat sehr gepflegt. Daß, wie behauptet wird, Landgerichtsrat Blumenberg mit meiner Frau sehr intim war, glaube ich nicht. Meine Frau hatte ihm einmal etwas gebracht, was ihm nicht paßte. Er schimpfte daher furchtbar auf die Weiber. Meine Frau war deshalb sehr beleidigt. Einige Zeit nach der Krankheit kam Herr Landgerichtsrat in den Garten zu mir und fragte mich, ob ich ihm nicht 800 Mark borgen könnte. Ich hatte soviel Geld augenblicklich nicht flüssig, verschaffte ihm aber das Geld. Ich habe ihm nachher noch mehrfach Geld geliehen. 1901 zog ich mit meiner Familie nach Breslau. Dort besuchte uns der Herr Rat häufig. Wenn er zu den Ferien in Breslau war, besuchte er uns allerdings fast täglich. Er ist aber auch mehrfach in Breslau gewesen, ohne uns zu besuchen. Eines Tages erzählte mir Landgerichtsrat Blumenberg: Ein Herr v. Hirsch habe ihm gegen Wechsel Geld geliehen, dieser habe die Wechsel an einen Klempnermeister Hasse zediert, und letzterer dränge ihn ganz unendlich. Ich habe daher mit Hans v. Hirsch und Hasse gesprochen und Herrn Rat noch oftmals Geld geliehen, damit er Hasse befriedigen konnte. Bis auf 250 Mark und einen kleinen Posten, den ich für Hasse vorgeschossen, bin ich vollständig befriedigt worden.

Vors.: Wieviel Zinsen haben Sie genommen?

Zeuge: Ich habe überhaupt keine Zinsen genommen.

Vors.: Herr Blumenberg hat Ihrer Frau große Geschenke gemacht?

Zeuge: Die Geschenke, die Herr Rat Blumenberg meiner Frau gemacht hat, reichen jedenfalls nicht annähernd nähernd an das heran, was wir Herrn Landgerichtsrat während seiner Krankheit geleistet haben. Herr Rat Blumenberg hat auch meinem Sohn zur Konfirmation ein schönes Geschenk gemacht.

Vors.: Ist Ihnen der Briefwechsel des Herrn Blumenberg mit Ihrer Frau bekannt?

Zeuge: Jawohl, der Briefwechsel zwischen Herrn Rat Blumenberg und meiner Frau war ein vollständig harmloser, ich habe die Briefe des Herrn Blumenberg stets zuerst gelesen.

Vors.: Sie sind einmal längere Zeit fortgewesen, wußten Sie, was während dieser Zeit in Ihrer Wohnung vorging?

Zeuge: Nein.

Erster Staatsanwalt: Sie wurden 1894 wegen Unterschlagung mit drei Monaten Gefängnis bestraft?

Zeuge: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Hat deshalb der Verkehr zwischen Ihnen und Herrn Blumenberg eine Beeinträchtigung erfahren?

Zeuge: Nein.

Erster Staatsanwalt: Sie sind alsdann einige Male wegen Beleidigung und wegen Vergehens gegen das Alters- und Invalidenversicherungsgesetz bestraft worden?

Zeuge: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Vom Landgericht Breslau wurden Sie wegen strafbaren Eigennutzes mit 6 Monaten Gefängnis bestraft?

Zeuge: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Haben Sie nicht deshalb ein Gnadengesuch gemacht?

Zeuge: Jawohl.

Erster Staatsanwalt: Hat Ihnen dieses Gnadengesuch Herr Blumenberg geschrieben?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Erster Staatsanwalt: Vielleicht äußert sich der Angeklagte Blumenberg hierzu.

Angekl.: Blumenberg: Ich gebe die Möglichkeit zu, ich erinnere mich aber nicht.

Vors.: Einen solchen Vorgang behält man doch im Gedächtnis.

Blumenberg: Herr Landgerichtsdirektor, ich bin seit 9 Monaten in Untersuchungshaft, in solcher Lage ist es kein Wunder, wenn man verwirrt und das Gedächtnis schwach wird.

Vors.: Haben Sie sich nicht um Beschaffung eines Verteidigers für Herrn Blumenberg bemüht?

Zeuge: Ich war sogar bemüht, Kollegen des Herrn Rat zu bewegen, zur Bestreitung der Verteidigerkosten etwas beizusteuern, ich habe aber damit keinen Erfolg gehabt.

Vors.: Frau Eisner, sind Sie bereit, Ihre Aussage zu beschwören?

Zeugin: Jawohl, ich muß aber noch etwas bemerken. Einige Male ist Herr Rat Blumenberg des Abends etwas längere Zeit bei uns geblieben.

Vors.: Wie lange dehnte sich alsdann die Besuchszeit aus?

Zeugin: Bis 10, 11, auch 11 1/2 Uhr abends.

Vors.: Das war zur Zeit, als Ihr Mann im Gefängnis war?

Zeugin: Jawohl.

Der Gerichtshof beschloß, das Ehepaar Eisner zu vereidigen.

Schneidermeister Just (Breslau) wurde in Sträflingskleidern von zwei Gefängnisbeamten in den Saal geführt. Er verbüßte in Groß-Strehlitz eine einjährige Zuchthausstrafe wegen Verleitung zum Meineid. Er wurde unter Aussetzung der Vereidigung vernommen. Auf Befragen des Vorsitzenden bekundete Just: Er habe Landgerichtsrat Blumenberg durch den Angeklagten Abraham kennengelernt. Er hatte es sich zur Ehre angerechnet, dem Herrn Landgerichtsrat Blumenberg Gelder zu beschaffen. Er gebe zu, sich Provision berechnet zu haben, bestreite aber, den Landgerichtsrat übers Ohr gehauen zu haben.

Vors.: Sie haben aber stets Herrn Blumenberg zweite Klasse Eisenbahnfahrt berechnet und auf seine Kosten in den ersten Hotels gewohnt?

Zeuge: Herr Landgerichtsrat wollte, daß ich zweiter ter Klasse fahre. Er sagte: Ich kann, wenn Sie durch Beuthen durchfahren, nicht an Ihren Wagen herantreten, wenn Sie dritter Klasse fahren. Wenn ich nach einer fremden Stadt komme, da kann ich doch nicht sofort wissen, ob ein Hotel erster oder zweiter Klasse ist.

Vors.: Sie werden doch zwischen einem Hotel erster Klasse und einem Gasthof zu unterscheiden wissen?

Zeuge: In einer fremden Stadt ist eine solche Unterscheidung immer schwer.

Vors.: Herr Blumenberg hat Ihrer Frau viele Geschenke gemacht?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was waren das für Geschenke?

Zeuge (zögernd): Eine goldene Brosche, ein Brillantring, eine Pelzgarnitur.

Vors.: Wofür mag Herr Blumenberg solch kostbare Geschenke gemacht haben?

Zeuge: Ich nehme an, weil ich Herrn Landgerichtsrat Geld besorgte.

Vors.: Ich muß Ihnen wiederholt vorhalten, daß Sie dabei in bedenklichster Weise gehandelt haben.

Zeuge: Herr Vorsitzender, ich habe stets streng reell gehandelt. (Heiterkeit im Zuhörerraum und auf der Zeugenbank.)

Angekl. Abraham bestritt, daß er dem Landgerichtsrat richtsrat Blumenberg Just empfohlen habe, im Gegenteil, er sei erst durch Just mit Blumenberg bekannt geworden.

Der Zeuge blieb bei seiner Aussage.

Angekl. Blumenberg: Er habe Abraham durch Just kennengelernt.

Erster Staatsanwalt: Ich beantrage, den Polizeiinspektor Bender als Zeugen zu vernehmen. Dieser wird bekunden, daß Eisner in Beuthen einen sehr schlechten Ruf hatte.

Vert. Justizrat Dr. Schreiber: Ich widerspreche diesem Antrag, ich wäre evtl. genötigt, die Vertagung der ganzen Sache zu beantragen.

Eisner erklärte in großer Erregung: Polizeiinspektor Bender sei sein Feind, mithin nicht maßgebend. Er habe für die renommiertesten Firmen Schlesiens die bedeutendsten Geschäfte zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber abgeschlossen. Er genieße jedenfalls in der kaufmännischen Welt großes Ansehen.

Nachdem der Verteidiger erklärte, daß er nicht den Antrag auf Vertagung stellen werde, beschloß der Gerichtshof, den Polizeiinspektor Bender (Beuthen) als Zeugen zu vernehmen.

Letzterer bekundete: Eisner habe in Beuthen einen sehr schlechten Ruf.

Der Angeklagte Blumenberg gab alsdann auf Vorhalt zu, daß Kaufmann Heinrich Hoffmann (Breslau) ihm gegen Wechsel und Verpfändung der Möbel, die sämtlich verkauft und anderweitig verpfändet waren, 1900 Mark geliehen habe. Es kam weiter zur Sprache, daß Abraham im Auftrage Blumenbergs zwei Standuhren an Gastwirt Chrobok verkauft habe.

Blumenberg: Er habe auf Anraten Abrahams, der täglich bei ihm war, Möbelstücke, Uhren, Lampen usw. verkauft, um die am meisten drängenden Gläubiger zu befriedigen.

Abraham: Er bestreite, daß er täglich bei Blumenberg war, jedenfalls sei ihm nicht bekannt gewesen, daß alles verkauft und verpfändet war.

Frau Horstmann: Sie erachte es für zweifellos, daß Abraham genau gewußt habe, die ganze Wohnungseinrichtung sei verkauft und verpfändet.

Auf Vorhalt des Vorsitzenden bemerkte Angekl. Blumenberg: Im September 1904 war ich in großer Not. Ich fuhr nach Breslau und fragte die Firma Ollendorf u. Co. telephonisch an, ob sie mir gegen Wechsel eine Uhr verkaufen könne. Nachdem die Firma sich überzeugt hatte, daß ich Landgerichtsrat am Landgericht zu Beuthen war, erklärte sie sich bereit, mir für 480 Mark eine Taschenuhr gegen Ausstellung von drei Wechseln zu verkaufen.

Vors.: Diese Uhr haben Sie sofort für 60 Mark versetzt?

Blumenberg: Jawohl.

Vors.: Wozu kauften Sie die Uhr?

Blumenberg: Ich muß zugeben, daß ich unrecht gehandelt habe.

Vors.: Es kann Ihnen doch nicht zweifelhaft sein, daß Sie sich dadurch einer strafbaren Handlung schuldig gemacht haben?

Angekl.: Ich hatte jedenfalls die redliche Absicht, die Akzepte einzulösen.

Vors.: Sie waren doch aber dazu nicht in der Lage.

Blumenberg: Ich hatte mein Gehalt und eine reiche Heirat in Aussicht.

Frau Klara Zeißfeld (Magdeburg): Sie sei längere Zeit bei der Familie Eisner in Breslau gewesen. Landgerichtsrat Blumenberg sei sehr oft zu Eisners gekommen. Ganz besonders häufig sei Blumenberg bei Eisners gewesen, als Herr Eisner im Gefängnis war.

Vors.: Haben Sie zwischen Frau Eisner und Herrn Blumenberg einen auffälligen Verkehr wahrgenommen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Wie lange ist Herr Blumenberg des Abends bei Frau Eisner geblieben?

Zeugin: Oftmals sehr lange. Ich begab mich gegen 11 Uhr abends gewöhnlich zu Bett, kann also nicht sagen, wie lange Herr Blumenberg bei Frau Eisner geblieben ist. Einmal fiel es mir auf, daß, obwohl ich des Abends im Schlafzimmer Wasser in genügender Menge hingesetzt hatte, dies nicht ausreichte.

Vors.: Hat Herr Blumenberg Frau Eisner viele Geschenke gemacht?

Zeugin: Jawohl, er hat goldene Broschen, einen Schirm, Hut, Pelzgarnituren und anderes geschenkt.

Vors.: Hat sich Frau Eisner mit Herrn Blumenberg geduzt?

Zeugin: Ich habe beide wohl oftmals zusammen auf dem Sofa sitzen sehen, ein Duzen habe ich nicht wahrgenommen.

Am 24. September 1904 erschien Abraham im Uhren- und Goldwarengeschäft des Kaufmanns Wilhelm Lewy in Breslau. Er stellte sich als Besitzer einer großen Weinhandlung in Beuthen (O.-S.) vor, mit dem Bemerken: Sein Freund, Landgerichtsrat Blumenberg am Landgericht in Beuthen (O.-S.), ein sehr vermögender Herr, habe die Absicht, eine gute Uhr und Brillantringe zu kaufen, Lewy könne also ein gutes Geschäft machen. Er wisse zwar nicht, ob der Landgerichtsrat sofort bar bezahlen werde, er glaube, er werde teils bar, teils mit Akzepten bezahlen, eine Gefahr, daß Lewy etwas verlieren könnte, sei selbstverständlich ausgeschlossen. Nachdem Abraham sich entfernt hatte, betrat bald darauf Blumenberg den Lewyschen Laden mit der Frage, ob Abraham noch nicht dagewesen sei. Er wünsche die schwerste Uhr zu kaufen, die Lewy auf Lager habe. Außerdem wünsche er zwei gute Brillantringe zu kaufen. Inzwischen betrat Abraham wieder den Laden. Blumenberg kaufte nun eine goldene Uhr für 320 Mark und zwei Ringe für 230 Mark. Er erklärte, er sei Landgerichtsrat am Landgericht Beuthen. Da er sein Gehalt nur vierteljährlich erhalte, könne er nicht bar bezahlen, sondern nur kurzfristige Wechsel geben. Lewy versetzte: Er mache sonst nicht solche Geschäfte, er wolle aber eine Ausnahme machen. Bl. gab drei Akzepte, von denen das erste schon Anfang Oktober 1904 fällig war. Als dies nicht eingelöst wurde, drohte Lewy mit Klage. Blumenberg zahlte daraufhin 150 Mark. Die Wechsel wurden sämtlich nicht eingelöst; Lewy hat an diesem Geschäft 400 Mark verloren.

Angekl. Blumenberg: Er habe sich in bedrängtester Lage befunden, deshalb habe er Uhr und Ringe gekauft, um sie von Abraham versetzen zu lassen. Abraham habe Uhr und Ringe am folgenden Tage für 180 Mark versetzt. Einige Zeit später seien auch die Pfandscheine versetzt worden.

Vors.: Abraham, Sie werden zugeben, daß Sie sich hierbei auch strafbar gemacht haben. Sie hatten einige Tage vorher für Herrn Blumenberg die bei Ollendorf gekaufte Uhr versetzt. Es war Ihnen doch außerdem bekannt, in welch mißlichen Vermögensverhältnissen sich Herr Blumenberg befunden hat, und trotzdem überredeten Sie Herrn Lewy, Herrn Blumenberg die schwerste Uhr, die er auf Lager habe, und zwei sehr wertvolle Brillantringe gegen Akzept zu verkaufen?

Abraham: Herr Vorsitzender, ich war und konnte wohl auch der Meinung sein, die Geldknappheit des Herrn Landgerichtsrats sei nur eine vorübergehende. Einmal bezog der Herr Landgerichtsrat 6000 Mark Gehalt und andererseits stand er am Vorabend seiner Hochzeit mit einer sehr vermögenden Dame. Ich konnte annehmen, die Heirat werde alles wieder wettmachen.

Vors.: Woraus schlossen Sie, daß Herrn Blumenbergs Hochzeit nahe bevorstand?

Abraham: Ich habe den Herrn Landgerichtsrat oftmals im schwarzen Rock gesehen, in dem er Besuche machte. Ich nahm an, daß der Herr Landgerichtsrat seine Verlobte besuche.

Vors.: Herr Blumenberg lief also gewissermaßen schon im Hochzeitsfrack herum. (Allgemeine große Heiterkeit.)

Abraham: Ich mußte annehmen, daß die Verehelichung des Herrn Landgerichtsrats unmittelbar bevorstehe.

Vors.: Sie hatten doch aber erst kurz vorher die bei Ollendorf gekaufte Uhr versetzt, kamen Ihnen denn keine Bedenken, als Blumenberg den Wunsch äußerte, wiederum eine teure goldene Uhr zu kaufen und vollends, als er Ihnen am folgenden Tage Uhr und Brillantringe zum Versatz übergab?

Abraham: Ich glaubte, da der Herr Landgerichtsrat die Ollendorfsche Uhr versetzt hatte, habe er eine andere Uhr nötig; der Herr Landgerichtsrat konnte doch unmöglich ohne Uhr gehen. Der Herr Landgerichtsrat schien derselben Ansicht zu sein, denn er hat tatsächlich die Uhr einige Tage getragen, am folgenden Tage wurden nur die Ringe versetzt. Ich hatte auch Bedenken, die Sachen zum Versatz zu bringen. Ich fragte deshalb den Herrn Landgerichtsrat, ob es nicht strafbar sei, wenn man Sachen verpfände, die noch nicht bezahlt seien. Der Herr Landgerichtsrat antwortete: „Die Sachen sind ja nicht gegen Leihvertrag entnommen, mithin ist der Versatz nicht strafbar.“ Ich erwiderte: „Herr Landgerichtsrat, Sie müssen ja die Gesetze kennen.“ Ich glaubte, nichts Unrechtes zu tun.

Juwelier Wilhelm Lewy (Breslau) bekundete als Zeuge: Abraham sagte mir, ich könne ein gutes Geschäft machen. Ein Landgerichtsrat, der sonst nur bei dem Hofjuwelier Raimondo Lorenzi in der Schweidnitzer Straße kaufe, wolle bei mir Uhr und Ringe kaufen. Als ich Bedenken äußerte, ob Blumenberg wirklich ein Landgerichtsrat sei, sagte Abraham: Der Landgerichtsrat wohnt seit Jahren, sobald er nach Breslau kommt, im Hotel Viktoria, dort könne ich mich erkundigen. Als Abraham zum zweitenmal, nachdem Blumenberg schon eingetreten war, meinen Laden betrat, sagte er: „Verzeihen Sie, Herr Landgerichtsrat, daß ich jetzt erst komme, ich war geschäftlich verhindert und habe außerdem meine Mama besucht.“ Nachdem der Kauf bereits abgeschlossen war und Blumenberg sich schon entfernt hatte, äußerte ich noch einige Bedenken. Da sagte Abraham, mit dem ich vor vielen Jahren bekannt war: „Bist ja verrückt, feines Geschäft, der Mann ist goldsicher.“ Es war mir sehr unangenehm, daß ich von einem Manne, wie Abraham, den ich seit meiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte, geduzt wurde. Ich hatte nachträglich die Empfindung, daß ich einer Bauernfängerkomödie zum Opfer gefallen sei.

Abraham begab sich eines Tages zu dem Juwelier Emil Richter in Beuthen. Er zeigte dem Juwelier ein angeblich von dem Landgerichtsrat Blumenberg zum Geschenk erhaltenes Zigarrenetui, bat, das auf letzterem befindliche goldene Monogramm zu entfernen und aus diesem für seine (Abrahams) Tochter einen Ring anzufertigen. Der Juwelier erklärte, daß sich dies nicht lohnen würde. Bei dieser Gelegenheit erzählte Abraham dem Juwelier: Landgerichtsrat Blumenberg sei ein guter Bekannter von ihm, ein sehr vermögender Herr, der oftmals Brillantgegenstände kaufe. Einige Tage darauf kam Blumenberg zwecks Reparatur einer Uhr zu Richter. Bei dieser Gelegenheit äußerte Blumenberg den Wunsch, zwei teure Brillantringe zu kaufen. Richter erklärte, solche Ringe augenblicklich nicht auf Lager zu haben, er wolle sie aber besorgen. Als Richter die Ringe erhielt, begab er sich mit diesen selbst zu Blumenberg. Er traf in dessen Wohnung auch Abraham an. Blumenberg kaufte zwei Brillantringe zum Preise von 450 Mark gegen Akzept. Wenige Tage später kaufte Blumenberg, ebenfalls gegen Akzept, eine goldene Uhr für 430 Mark. Anfänglich hatte Richter Bedenken, das Geschäft abzuschließen. Die Bedenken wußte Blumenberg zu beseitigen, indem er sagte: er werde sich direkt an die Fabrik wenden.

Wenige Tage darauf erhielt Abraham von Blumenberg den Auftrag, Uhr und Ringe zu versetzen. Abraham fuhr nach Gleiwitz. Dort gelang es ihm, einen der Ringe für 60 Mark zu versetzen. Zwecks Verpfändung des zweiten wertvolleren Ringes reiste Abraham nach Breslau. Hier wanderte er, wie er angab, von Leihhaus zu Leihhaus, da ihm überall eine zu geringe Summe geboten wurde. Endlich gelang es ihm, für den teuren Ring 100 Mark zu bekommen. Für diese seine Bemühungen berechnete sich Abraham, einschließlich Spesen, 40 Mark. Die Uhr wurde von der Wirtschafterin des Angekl. Hepner für 60 Mark ebenfalls in Breslau verpfändet. Später wurden auch die Pfandscheine verkauft. Richter gelang es schließlich, die Pfandscheine zurückzukaufen und die verpfändeten ten Sachen einzulösen, so daß er nur einen Verlust von 550 Mark hatte.

Vors.: Abraham, bestreiten Sie auch in diesem Falle Ihre Schuld?

Angeklagter Abraham: Ich versichere wiederholt, daß ich Herrn Landgerichtsrat Blumenberg für einen Herrn gehalten habe, der bestrebt war, unter allen Umständen seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Vors.: Daher auch die 70000 M. Schulden. (Heiterkeit.)

Rendant des Gemeindeleihamts zu Zabrze, Poppe, bekundete: Seit Juli 1904 wurden von dem Angeklagten Abraham für Blumenberg eine Reihe Taschenuhren, Standuhren, Brillantringe, Ölgemälde usw. verpfändet. Mehrere Male sei Landgerichtsrat Blumenberg selbst auf dem Leihamt gewesen. Im ganzen seien für 2170 Mark Wertgegenstände verpfändet worden.

Auf Befragen des Beisitzenden, Landrichters Lindner, bemerkte der Zeuge: Einige verpfändete Gegenstände seien von fremden Leuten eingelöst worden.

Beisitzender: Es besteht danach die Möglichkeit, daß die Pfandscheine verkauft waren?

Zeuge: Jawohl.

Der Vorsitzende hielt alsdann dem Angeklagten Blumenberg vor, daß er von Großpietsch in Breslau ein Pianino und von Schröder in Breslau Möbel auf Leihvertrag, mit der Wahrung des Eigentumsrechts entnommen und diese Sachen einer Frau Scholz übergeben habe.

Angeklagter Blumenberg: Ich schuldete der Frau Scholz etwa 1600 Mark. Frau Scholz war lange Zeit eine sehr nachsichtige Gläubigerin. Plötzlich verlangte sie aber in sehr energischer Weise eine ansehnliche Abschlagszahlung, da sie umziehen müsse. Da ich kein bares Geld hatte, machte mir Angekl. Hepner den Vorschlag: von Großpietsch ein Pianino und von Schröder Möbel zu entnehmen und diese der Frau Scholz zu übergeben. Ich hatte nicht die Absicht, jemanden zu schädigen, ich konnte mich aber nur behaupten, wenn ich mich darauf beschränkte, die am meisten drängenden Gläubiger zu befriedigen. Großpietsch und Schröder drängten eben nicht.

Vert. J.-R. Dr. Schreiber: Ich hatte gestern Gelegenheit, mich um die Zivilprozesse der Frau Scholz zu erkundigen. Ich habe erfahren, daß Frau Scholz den in dieser Sache bei dem Breslauer Oberlandesgericht schwebenden Zivilprozeß voraussichtlich gewinnen wird; sie wäre also danach nicht geschädigt. Ich beantrage daher, diesen Anklagepunkt zu vertagen.

Vors.: Herr Justizrat, wenn auch Frau Scholz nicht geschädigt ist, so dürften doch Großpietsch und Schröder geschädigt sein.

Angekl. Hepner: Ich hatte es veranlaßt, daß Frau Scholz Herrn Rat Blumenberg Geld lieh, ich fühlte daher die moralische Verpflichtung, auch dafür zu sorgen, daß Frau Scholz ihr Geld zurückerhalte. Ich habe daher Herrn Rat Blumenberg den Vorschlag gemacht, von Großpietsch ein Pianino und von Schröder Möbel zu entnehmen und diese der Frau Scholz an Zahlungsstatt zu geben. Ich habe dabei nicht einen Pfennig verdient. Bei Schröder wurden im übrigen 120 Mark und bei Großpietsch 75 Mark angezahlt. Ich konnte nicht annehmen, daß diese Firmen einen Verlust erleiden würden.

Frau Scholz bekundete: Sie sei der Ansicht gewesen, daß Pianino und Möbel ihr als, Eigentum übergeben seien. Großpietsch und Schröder haben jedoch ihr Eigentumsrecht geltend gemacht und gegen sie einen Prozeß angestrengt. Diesen habe sie in erster Instanz verloren. Sie habe Berufung eingelegt; der Prozeß schwebe noch bei dem Breslauer Oberlandesgericht. Sie habe ein Schuhwarengeschäft. Hepner sei ein alter Kunde von ihr. Auf dessen Veranlassung habe sie dem Landgerichtsrat Blumenberg gegen Wechsel Geld geliehen. Die schlechten Vermögensverhältnisse Blumenbergs seien ihr nicht bekannt gewesen. Sie habe die Darlehen hauptsächlich mit Rücksicht auf die hohe amtliche Stellung Blumenbergs gegeben.

Vors.: Wenn Sie gewußt hätten, Pianino und Möbel sind von dem Rat Blumenberg auf Leihvertrag entnommen und letzterer ist nicht in der Lage, in absehbarer Zeit die Sachen bei Großpietsch und Schröder zu bezahlen, hätten Sie sich alsdann auch bereit erklärt, Pianino und Möbel an Zahlungsstatt anzunehmen?

Zeugin: Ich habe in der Hauptsache auf Herrn Hepner vertraut.

Vors.: Worauf fußte Ihr Vertrauen zu Hepner?

Zeugin: Ich hielt Herrn Hepner für einen Ehrenmann.

Auf nochmaliges wiederholtes Befragen des Vorsitzenden bemerkte die Zeugin: Wenn sie gewußt hätte, Pianino und Möbel seien auf Leihvertrag entnommen, dann würde sie die Sachen nicht an Zahlungsstatt angenommen haben. Im Jahre 1902 habe sie auf Veranlassung des Hepner dem Angeklagten Blumenberg 600 Mark zu einer Reise nach Ostende geliehen.

Handlungsgehilfe August Schneitzig: Er sei von dem Abzahlungsgeschäft Steinmetz in Kattowitz als Einkassierer engagiert worden. Er hatte an Steinmetz 1200 Mark zu zahlen. Bei seinem Abgange habe er die Kaution zurückverlangt. Da Steinmetz diese nicht gab, habe er mit Anzeige gedroht. Darauf habe ihn Steinmetz zu seiner Verwandten, Frau Schepatzky, gewiesen. Letztere habe ihm bzw. seiner Mutter eine Forderung von 1800 Mark, die sie an den Landgerichtsrat Blumenberg hatte, zediert. Er bzw. seine Mutter seien genötigt gewesen, für den Mehrbetrag von 600 Mark einen Wechsel auszustellen. Es sei vereinbart worden, daß der Wechsel nicht weitergegeben werde. Der Wechsel sei aber dennoch weitergegeben und ihnen präsentiert worden, so daß sie ihn bezahlen mußten. Er habe von Steinmetz im ganzen 240 Mark erhalten, das ganze übrige Geld sei verloren.

Frau Stationsassistent Klähr: Sie habe sich auf Ersuchen des Landgerichtsrats Blumenberg oftmals für Stundungen fälliger Wechsel usw. verwendet. Landgerichtsrat Blumenberg habe ihr dafür anständige Provision bezahlt.

Angeklagter Blumenberg: Der Angeklagte Abraham habe einmal gesagt: Ich fahre auch, wenn es sein muß, vierter Klasse für Sie, er könne nicht sagen, daß ihm Abraham zu hohe Spesen berechnet habe.

Abraham: Er versichere, daß er den Rat Blumenberg in keiner Weise ausgesogen oder irgendwie betrogen oder bestohlen habe. Er habe die bescheidensten Spesen berechnet. Nicht er, sondern ganz andere Agenten gehörten auf die Anklagebank.

Erster Staatsanwalt: Ich habe mich inzwischen überzeugt, daß der Angeklagte Blumenberg nicht für Eisner, sondern für einen Bauunternehmer, der auch zu den Gelddarleihern Blumenbergs gehörte, ein Gnadengesuch gemacht hat. Dieser Bauunternehmer war wegen falscher eidesstattlicher Versicherung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Blumenberg hat auch dem Bauunternehmer in dessen Strafangelegenheiten mehrfach Rat erteilt.

Blumenberg gestand dies zu und auch, daß er Eisner in Angelegenheiten seiner Bestrafung Rat erteilt habe.

Vors.: Herr Blumenberg, ich stelle nun nochmals die Frage an Sie, bekennen Sie sich bezüglich der Betrugsfälle für schuldig?

Bl.: Mit Ausnahme in den Fällen Großpietsch und Chrobok bekenne ich, daß objektiv Betrug vorliegt.

Vors.: Und subjektiv?

Blumenberg: Subjektiv kann ich mich nicht für schuldig bekennen, da ich niemanden schädigen wollte, sondern den redlichsten Willen hatte, alle meine Gläubiger voll zu befriedigen.

Nach beendeter Beweisaufnahme nahm das Wort Erster Staatsanwalt Dr. Recke: Die Straftaten des Angeklagten Blumenberg zerfallen in vier Teile, 1. in Amtsvergehen, 2. in die wiederholten Verpfändungen des Mobiliars, 3. in die Warenerschwindelungen, 4. in die amtlichen Siegelbrüche. Die Amtsvergehen fallen unter den § 332 des Strafgesetzbuches, der folgendermaßen lautet: „Ein Beamter, welcher für eine Handlung, die eine Verletzung einer Amts- oder Dienstpflicht enthält, Geschenke oder andere Vorteile annimmt, fordert oder sich versprechen läßt, wird wegen Bestechung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe ein.“ Es ist nicht erforderlich, daß Geschenke angenommen worden sind, es genügt, Vorteile zu fordern oder sich versprechen zu lassen. In den Zivilprozessen Wagner wider Schindler und Pyttlik wider Klehr hat der Angeklagte den Parteien Ratschläge erteilt und auch für Verschleppung der Prozesse gewirkt. In der Gerichtsordnung wird den Justizbeamten und Räten untersagt, einer Partei in Rechtsangelegenheiten Rat oder irgendeine Auskunft zu erteilen. In § 18 der Gerichtsordnung werden die Justizbeamten und Räte zu strengster Amtsverschwiegenheit verpflichtet. In einer Kabinettsorder wird diese Amtsverschwiegenheit allen Beamten der preußischen Monarchie noch außerdem zur Pflicht gemacht. Der Angeklagte Blumenberg hat nun in beiden erwähnten Prozessen, in denen er den Vorsitz führte, den Parteien Rat erteilt. Er ist außerdem in einem Falle bemüht gewesen, eine Verschleppung herbeizuführen. Es ist hierbei nicht erforderlich, daß die Vorteile in Geldgeschenken bestehen, sie können verschiedener Art sein. Aus den verlesenen Briefen geht hervor, daß der Angeklagte sich der Hoffnung hingibt, es werden ihm Darlehen gegeben und Stundungen fälliger Wechsel bewirkt werden. In dem Falle Goldstein wider Fiskus war Blumenberg, da der Prozeß vor der zweiten Zivilkammer schwebte, nicht in der Lage, Einfluß auszuüben. Der Angeklagte hat jedoch, da ihm 20000 Mark versprochen waren, sich, unter Mißbrauch seiner Amtsgewalt, die Akten vorlegen lassen und vom Inhalt dem Zeugen Zernik, Schwiegersohn des Klägers Selmar Goldstein, Kenntnis gegeben und Rat erteilt. Dadurch hat der Angeklagte sich nicht bloß im Sinne der Gerichtsordnung, sondern auch des § 332 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht. Der Angeklagte hat selbst zugestanden: er sei sich bewußt gewesen, daß er nur kraft seiner richterlichen Eigenschaft Kenntnis von dem Inhalt der Akten erlangt habe. Blumenberg schrieb u.a. an Frau Granzow: 20000 Mark wäre ja ein ganz schönes Geschäft. „Geben Sie mir einen Rat, liebe Frau Granzow, was ich in der Sache tun soll. Was ich tun kann, werde ich tun.“ Der Angeklagte sagte selbst: Frau Granzow ließ durchblicken, es werde mein Schaden nicht sein, Zernik werde sich gewiß dankbar erweisen, wenn der Prozeß gewonnen werde. Es kann mithin keinem Zweifel unterliegen, daß der Angeklagte Blumenberg sich im Sinne des Paragraphen 332 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht hat. Der Erste Staatsanwalt ging alsdann auf die Entnahme der Möbel auf Leihvertrag ein. In allen diesen Fällen, so fuhr der Erste Staatsanwalt fort, hat der Angeklagte sich der Unterschlagung und des Betruges schuldig gemacht. Der Angeklagte sagt: Er habe niemanden schädigen wollen, er hatte den redlichsten Willen, alle seine Gläubiger voll zu befriedigen, er hoffte auf reiche Heirat oder einen sonstigen Glückszufall. Der Angeklagte ist kein Kind mehr, sondern ein Mann Mitte der Fünfziger. Für einen solchen Mann laufen doch vermögende Witwen nicht so auf der Straße umher, zumal der Angeklagte noch alle möglichen Bedingungen stellte. Unter anderem sollte die vermögende Witwe keine erwachsene Tochter haben. Der Angeklagte war ja auch schon seit Jahren vergeblich bemüht, eine reiche Heirat zu machen. Ich behaupte, der Angeklagte war als Ehemann ebenso schwer anzubringen, wie in der letzten Zeit seine Wechsel. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Er mußte sich auch die Frage stellen: Wie ist es, wenn ich keine reiche Heirat machen kann und nicht das große Los gewinne? Der Angeklagte hat auch selbst erklärt: Ich befolgte den Grundsatz und mußte ihn befolgen: nur die am meisten drängenden Gläubiger zu befriedigen. Der Erste Staatsanwalt beleuchtete alsdann die Warenerschwindelungen. Es liege in allen diesen Fällen Betrug vor. Der Arrest- und Siegelbrüche habe sich der Angeklagte schuldig bekannt. Mildernde Umstände, so etwa schloß der Erste Staatsanwalt, stehen dem Angeklagten in keiner Weise zur Seite. Der Angeklagte hat das Ansehen des preußischen Richterstandes in einer Weise herabgesetzt, wie es noch niemals vorgekommen ist. Volle Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit ist von jeher der Stolz der preußischen Richter gewesen. Der Angeklagte ist in dieser Beziehung der Versuchung erlegen. Ich gebe zu, daß die Sache auch milde Seiten hat. Der Angeklagte ist der Sohn unbemittelter Eltern. Sein Vater ist frühzeitig gestorben, seine Mutter erhielt nur eine kärgliche Pension. Er war daher genötigt, als Student und Referendar Schulden zu machen, so daß, als er als Richter angestellt wurde, er eine Schuldenlast von 8000 Mark hatte. Dazu kam, daß sein Hauptgläubiger Pilz in Konkurs geriet. Pflicht des Angeklagten wäre es aber gewesen, sich einzurichten und nach und nach seine Schulden abzutragen. Anstatt dessen führte der Angeklagte, der, als er Richter wurde, bereits 42 Jahre alt war, einen furchtbar unsoliden, ja ausschweifenden Lebenswandel. Er schaffte sich eine kostbare Möbeleinrichtung an, gab ein horrendes Geld für Anzüge aus, kaufte sich eine Uhr für 500 Mark, bald darauf eine Uhr für 2000 Mark, machte an Frauen, wie Frau Just und Frau Eisner, kostbare Geschenke und verkehrte in Kreisen wie Eisner, Just, Abraham, Hepner, Klehr, Granzow usw. Daß viele dieser Leute bestraft waren, kümmerte den Herrn Landgerichtsrat nicht. Er dachte nicht daran, daß er durch solches Verhalten das richterliche Standesgefühl verletzt. Es kam ihm lediglich darauf an, Geld zu erhalten, die Mittel waren ihm vollständig gleichgültig. Er unternahm außerdem kostspielige Badereisen nach Ostende usw. Daß er, wie er vortrug, von einem Idealismus beseelt war, möchte ich bezweifeln. Ich erinnere daran, daß der Angeklagte es nicht verschmähte, ganz arme Leute um ihre Ersparnisse zu bringen. Er hat alle Straftaten begangen unter Ausnützung seiner richterlichen Stellung. Die Betrügereien sind ihm eben alle gelungen, weil die Leute es sich zur Ehre anrechneten, mit dem Herrn Landgerichtsrat Geschäfte zu machen. Ich erinnere daran, daß ein Anfänger wie Wilhelm Lewy in Breslau seine Bedenken fallen ließ, weil er den Gedanken nicht fassen konnte, daß ein preußischer Landgerichtsrat ein Betrüger sein könne, obwohl er sich des Gefühls nicht erwehren vermochte, zwei Bauernfängern zum Opfer gefallen zu sein. Schuld des Angeklagten ist, daß man sich im Publikum zuflüsterte, am Landgericht zu Beuthen ist ein Landgerichtsrat, der für Geld zugänglich ist. Wenn auch dem Angeklagten nicht direkt nachgewiesen werden konnte, daß er das Recht gebeugt habe, so steht doch fest, daß er, um Geld zu erhalten, seine Amtspflichten in schwerster Weise verletzt hat. Wenn ein hochstehender Richter sich soweit vergißt, so verdient er keine Milde. Ich beantrage daher für jedes Amtsvergehen je 1 Jahr Zuchthaus, für die 11 Unterschlagungsfälle je drei Monate Gefängnis, für die 12 Betrugsfälle je 6 Monate Gefängnis, für die Arrestbrüche je 1-10 Tage Gefängnis. Ich beantrage eine Gesamtstrafe von vier Jahren Zuchthaus. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Da der Angeklagte eine ehrlose Gesinnung an den Tag gelegt hat, beantrage ich, dem Angeklagten die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren abzuerkennen. Der Angeklagte befindet sich seit 9 Monaten in Untersuchungshaft, ich beantrage daher, 6 Monate auf die Untersuchungshaft in Anrechnung zu bringen.

Staatsanwalt Fipper erörterte in eingehender Weise das Verfahren des Angeklagten Abraham. Diesem waren die Verhältnisse Blumenbergs ganz genau bekannt. Er wußte, daß die Möbel überhaupt nicht Eigentum Blumenbergs und außerdem mehrfach verpfändet waren. Trotz alledem hat er es in der Hauptsache veranlaßt, daß Blumenberg von allen möglichen Leuten Darlehen entnahm und sich dafür die Möbel verschreiben ließ. Abraham hat es außerdem veranlaßt, daß Blumenberg all die Uhren, Brillantringe usw. gekauft hat, um sie sofort wieder zu verpfänden. Er wußte, daß Blumenberg nicht in der Lage war, zu bezahlen, daß er die Sachen nur kaufte, um sie sofort zu verpfänden. Ich behaupte, Abraham war der böse Geist des Blumenberg, er war es, der in der Hauptsache Blumenberg auf die Bahn des Verbrechens gedrängt hat. Blumenberg wäre ohne Abraham nicht so tief herabgesunken. Blumenberg hat allerdings Abraham zu entlasten gesucht. Ich habe die Vermutung, Abraham weiß von noch mehreren von ihm und Blumenberg begangenen Straftaten, deshalb will Blumenberg nicht mit der Sprache heraus, da er vielleicht eine neue Anklage fürchtet. Der Angeklagte Abraham ist in 4 Fällen der Beihilfe zum Betruge, in 2 Fällen der Beihilfe zur Unterschlagung und in einem Falle der Beihilfe zum versuchten Betruge schuldig. Mildernde Umstände sind dem Angeklagten nicht zuzubilligen. Ich erinnere nur an das bauernfängerische Verhalten Abrahams bei Lewy und an seine Äußerung bei Pinn in Berlin: es handle sich um einen jüdischen Richter, den man nicht fallen lassen dürfe. Der Angeklagte hat zugegeben, daß er 10 Prozent Provision von dem Angeklagten Blumenberg erhalten hat. Charakteristisch ist, daß Abraham einmal zu Blumenberg sagte: Herr Landgerichtsrat, ich habe ein ganzes Jahr von Ihnen gelebt.

Abraham ist zweimal vorbestraft.

Ich beantrage gegen ihn eine Gesamtstrafe von 2 Jahren Zuchthaus, 600 Mark Geldstrafe, im Unvermögensfalle weitere 60 Tage Zuchthaus und 2 Jahre Ehrverlust.

Der Staatsanwalt erörterte alsdann in eingehender Weise die Straftaten Hepners. Dieser habe sich im Falle Klepansky der Begünstigung, im Falle Scholz des Betruges schuldig gemacht. Er beantrage für die Begünstigung 6 Wochen, für den Betrug 3 Monate Gefängnis und eine Gesamtstrafe von 4 Monaten Gefängnis.

Vert. Justizrat Dr. Schreiber, Breslau: Meine Herren Richter! Sie werden mir zweifellos beistimmen, es ist nicht ein alltäglicher Straffall, der uns hier in viertägiger Sitzung beschäftigt hat. Es ist nicht ein Fall, der mit den gewöhnlichen Mitteln behandelt werden kann. Tatsache ist, daß das jedem Juristen heilige Rechtsgut beeinträchtigt worden ist. In dieser Beziehung ist nicht bloß der Richterstand und die Mitglieder der Staatsanwaltschaft, sondern auch der Anwaltstand, ja alle Juristen in ihrer Standesehre verletzt. Der Rechtsboden ist von einem hochgestellten Gerichtsbeamten aufs schwerste beeinträchtigt worden. In solchem Prozeß erwächst nicht nur den Richtern eine schwere Aufgabe, auch den Vertretern der Staatsanwaltschaft und des Anwaltstandes erwachsen große Schwierigkeiten. Ich erkläre im Namen des Anwaltstandes, den ich hier vertrete, daß ich keinerlei Konzessionen machen werde. Meine Aufgabe ist mir allerdings durch die mündliche Verhandlung erleichtert worden, da die Verhandlung die Behauptungen der Anklage nicht vollauf bestätigt hat. Obgleich ich weit entfernt bin, angesichts der Sachlage irgend etwas zu beschönigen, so bin ich trotzdem genötigt, bezüglich der drei Amtsvergehen die Freisprechung des Angeklagten Blumenberg zu beantragen. Der Angeklagte hat zweifellos schwer gegen das Disziplinargesetz gefehlt, strafrechtlich hat sich aber der Angeklagte des Amtsvergehens nicht schuldig gemacht. Der Angeklagte hat das Amtsgeheimnis verletzt. Der Paragraph 332 des Strafgesetzbuches ist jedoch nicht gegen ihn anzuwenden. Der Verteidiger suchte diese seine Rechtsansicht in eingehender Weise und unter Hinweis auf Reichsgerichtsentscheidungen zu begründen und fuhr alsdann fort: Ich verneine, daß der Angeklagte für Verletzung einer Amts- oder Dienstpflicht Geschenke oder andere Vorteile angenommen, gefordert oder sich hat versprechen lassen, er hat lediglich gelegentlich seiner Auskunftserteilung seine Interessen wahrzunehmen gesucht. Die Handlungsweise des Angeklagten ist gewiß höchst verwerflich. Sie kann aber nicht von dem Strafrichter, sondern nur von dem Disziplinarrichter geahndet werden. Der Angeklagte ist zweifellos von den Wucherern auf die Bahn des Verbrechens gedrängt worden. Leute, wie der Angeklagte, werden von den Wucherern nicht bloß ausgesaugt, sondern außerdem noch erdrosselt, denn es ist das Wesen des Wucherertums, daß es nicht nur unerschwingliche Zinsen verlangt, sondern das Darlehen nur teelöffelweise gibt. Die weiteren Anklagefälle sind mehr alltäglicher Natur. Die Handlungsweise des Angeklagten ist gewiß im höchsten Grade verwerflich, ich vermisse aber die strafrechtliche Grundlage für den Betrug und die Unterschlagungen. Ich vermisse die Vorspiegelung falscher Tatsachen sowie auch, daß sich Blumenberg eine fremde bewegliche Sache, die er im Besitz hatte, rechtswidrig zugeeignet hat. Der Verteidiger suchte das im einzelnen nachzuweisen und fuhr fort: Über die Arrestbrüche verliere ich kein Wort. Sollte der hohe Gerichtshof die Amtsverbrechen dennoch für vorliegend erachten, dann ersuche ich, dem Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen. Ich will nicht auf den Paragraph 51 kommen. Allein wenn der Paragraph 51 des Strafgesetzbuches de lege ferenda, wie ich ihn wünsche, gefaßt wäre, daß er willensschwachen Leuten zugute kommen müßte, dann wäre er zweifellos auf den Angeklagten Blumenberg anzuwenden. Daß der Angeklagte Blumenberg von Not, Kummer und Sorge geradezu gepeitscht, in steter Sorge, eine furchtbare Katastrophe könnte über ihn hereinbrechen, seine Willenskraft schließlich verloren hat, ist zweifellos. Der Angeklagte Blumenberg ist ein Mensch, der schließlich jeden moralischen Halt verloren hatte. Auf Blumenberg paßt der Ausspruch eines berühmten Professors von der moral insanity. Die Handlungsweise des Angeklagten ist jedenfalls nicht so verwerflich, daß ihm mildernde Umstände zu versagen wären. Ich bitte also für den Angeklagten um mildernde Umstände. Der Angeklagte hat in der letzten Zeit geradezu gedarbt, er hatte eben den Kopf verloren. Er ist ein Mann, dem ein gewisses Mitleid nicht zu versagen ist. Ich vermisse auch, daß der Angeklagte eine ehrlose Gesinnung an den Tag gelegt hat, ich bitte daher auch dem Angeklagten die schwerwiegende Strafe, den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, zu erlassen. Über die Höhe des Strafmaßes will ich, falls der hohe Gerichtshof den Angeklagten dennoch für schuldig erachten sollte, nicht sprechen.

Vert. Rechtsanw. Czapla (Beuthen) suchte des längeren den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte Abraham sich im Sinne des Gesetzes nicht schuldig gemacht habe. Die Heiratsgeschichten stehen allerdings einem Mann wie Blumenberg schlecht an, von einem Mann mit dem Bildungsgrade Abrahams sei es aber sehr begreiflich, daß er ehrlich geglaubt habe, Landgerichtsrat Blumenberg werde sich mit einer vermögenden Dame verheiraten und alsdann in der Lage sein, alle seine Gläubiger voll zu befriedigen. Er bestreite, daß Abraham der böse Geist Blumenbergs war. Es könne doch keinem Zweifel unterliegen, daß Abraham der Meinung sein mußte, ein Landgerichtsrat werde ihm nicht Dinge auftragen, die strafbar seien. Er beantrage daher prinzipaliter die Freisprechung. Sollte aber der Gerichtshof anderer Meinung sein, dann ersuche er außer acht zu lassen, daß Abraham der Agent des Blumenberg war und ihm mildernde Umstände, die wohlbegründet seien, nicht zu versagen.

Der Vert. Justizrat Dr. Schreiber suchte noch in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte Hepner sich nicht strafbar gemacht habe.

Der Erste Staatsanwalt Dr. Recke erwiderte: Blumenberg habe keinen geistigen Defekt, es sei ihm nur in der letzten Zeit jedes Ehrgefühl abhanden gekommen.

Am fünften Verhandlungstage erhielt das Schlußwort Angeklagter Landgerichtsrat Blumenberg: Ich muß zunächst den Vorwurf zurückweisen, daß ich mit Rücksicht auf Abraham etwas verschwiegen habe. Ich wurde bezüglich Abrahams vom Untersuchungsrichter sehr wenig gefragt. Erst acht Tage vor Beginn der Hauptverhandlung wurde mir vom Herrn Untersuchungsrichter eine mehrere Bogen füllende Erklärung Abrahams vorgelegt, zu der ich mich zu äußern hatte. Daß ich dabei meine frühere Aussage in einigen Punkten modifizierte, ist erklärlich, mit der Wahrheit habe ich aber in keiner Weise zurückgehalten. Ich muß ferner bemerken, daß die Rechnung bei Galle sich auf mehrere Jahre beziehen muß. Es ist einfach unmöglich, daß ich innerhalb zwei Jahren für 850 Mark Anzüge gebraucht habe. Ich ließ mir stets zwei Anzüge, einen „für gut“, einen für Alltag, machen und reichte damit ein volles Jahr. Man kann sich doch schließlich nicht mehr Anzüge machen lassen, als man trägt. Ferner bemerke ich, daß meine Schulden von 8000 Mark, die ich bei meiner Anstellung 1892 hatte, von 1876 bis 1892 gemacht wurden. 1898 starb meine Mutter; diese hatte ich zu unterstützen. Ich habe ihr allmonatlich 100 Mark gesandt. Meine Mutter war auch lange Zeit krank, ich war selbstverständlich genötigt, während dieser Zeit größere Unterstützungen zu senden, Arzt, Apotheker usw. zu bezahlen. Endlich bin ich selbst vielfach krank gewesen. Trotzdem habe ich unaufhörlich Schulden abgezahlt. Ich habe in der Zeit von 1892 bis 1896 meine Schuld bei dem Herrn Oberbürgermeister Kirschner, bei der Quästur usw. abgetragen. Es ist mir weiter der Vorwurf gemacht worden, daß ich kostspielige Ferienreisen unternommen habe. Seit 1901 bin ich nicht mehr gereist. Ich habe allerdings meine Ferien zumeist in Breslau verlebt, habe aber dort sehr wenig Geld ausgegeben. Frau Leschziner hat nicht 600 Mark verloren, ich habe ihr 300 Mark abgezahlt. Wäre ich nicht vom Amte suspendiert und bald darauf verhaftet worden, dann hätte ich Frau Leschziner und noch eine Reihe anderer Gläubiger befriedigt. Und ich gebe hier in feierlichster Weise die Erklärung ab: sobald ich wieder in die Lage kommen sollte, werde ich in erster Reihe meine Restschuld an Frau Leschziner abtragen. Es ist mir ferner zum Vorwurf gemacht worden, daß ich sehr häufig nach Breslau gefahren sei. Ich versichere, daß alle diese Reisen aus geschäftlichen Gründen geboten waren. Wenn meine Freunde scherzhaft zu mir sagten: Du fährst wohl einer Dame wegen so häufig nach Breslau, so habe ich dies zugegeben, da ich doch unmöglich den wahren Grund meiner Reisen angeben konnte. Es ist gesagt worden: ich habe bei meinen Heiratsbewerbungen viele Bedingungen gestellt. Ich bemerke darauf, daß bei der erwähnten Berliner Dame die 18jährige Tochter nicht für mich bestimmend war, von der Verehelichung Abstand zu nehmen. Ich bekenne, ich habe mehrfach die Unwahrheit gesagt. Ich bitte Sie aber, mir zu glauben, daß ich nur in meiner Notlage zu Unwahrheiten meine Zuflucht genommen habe. Ich bitte Sie flehentlich, mir deshalb nicht alle Glaubwürdigkeit zu versagen und nicht anzunehmen, daß ich noch weiter die Unwahrheit sage. So wahr ein Gott im Himmel ist, so wahr sage ich jetzt, wo ich an dieser Stelle stehe, die Wahrheit. Ich bemerke nun, daß ich der Frau Klehr wohl Auskunft erteilt, aber daran nicht die Bitte geknüpft habe, mir einen Vorteil zuzuwenden, es fehlt also dabei der ursächliche Zusammenhang.

Vors.: Wie kam es, daß Sie die Auskunft an Frau Klehr und nicht an Wagner gegeben haben?

Blumenberg: Weil Wagner fast niemals zu Hause war. Was den Fall Zernik anlangt, so versichere ich, daß mir die von dem Herrn Ersten Staatsanwalt erwähnte Bestimmung der Gerichtsordnung nicht bekannt war. Ich war mir nicht bewußt, eine strafrechtliche Verfehlung zu begehen. Der Brief an Frau Granzow enthielt allerdings eine drastische Bemerkung, diese war aber mit Rücksicht auf Frau Granzow geboten. Ich war mir selbstverständlich von vornherein klar, daß ich für meine geringe Tätigkeit, die ich in dieser Sache zu entfalten vermochte, nicht 10000 Mark bekommen konnte. Bezüglich der anderen Delikte bekenne ich, daß außer dem Falle Chrobok und Großpietsch objektiv strafbare Handlungen vorliegen. Ich bitte aber, mir zu glauben, daß ich stets gehofft habe, es werde mir gelingen, alle meine Gläubiger voll zu befriedigen. Ich bekenne, ich habe schwer gefehlt, die Verfehlungen sind um so schwerer, da sie von einem Richter begangen worden sind. Ich bitte aber den hohen Gerichtshof, in Berücksichtigung zu ziehen, daß ich durch die Not auf diese verhängnisvolle Bahn gedrängt worden bin. Ich bin mit großer Mühe und Entbehrungen aller Art Richter geworden, und nun sind alle meine Ideale vernichtet, ich habe von 1883 ab umsonst gelebt. Ich bitte Sie, meine Herren Richter, die ganze Sachlage zu berücksichtigen und nicht allzu streng mit mir ins Gericht zu gehen. Ich bitte Sie flehentlich, soweit angängig Milde walten zu lassen und mir nicht jeden Blick in die Zukunft abzuschneiden.

Blumenberg, der mit sehr bewegter Stimme dies vortrug, brach bei den letzten Worten in Tränen aus.

Angeklagter Abraham: Hoher Gerichtshof! Ich gebe die heilige Versicherung ab, ich bin unschuldig. Ich habe gesehen, daß Herr Rat Blumenberg, soweit er konnte, bezahlt hat, ich konnte daher nicht annehmen, daß er jemanden benachteiligen wollte. Ich habe doch auch nicht annehmen können, daß ein Landgerichtsrat etwas Strafbares begehen wird. Ich bitte, auf meine arme Frau und meine unglücklichen Kinder Rücksicht zu nehmen.

Abraham weinte ebenfalls heftig.

Angekl. Hepner: Ich versichere auch, daß ich mir keiner strafbaren Handlung bewußt war. Ich bin 58 Jahre alt geworden, ohne jemals mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen. Ich habe ein Vermögen von 345000 Mark gehabt und dies vollständig zur Befriedigung meiner Gläubiger aufgewendet, weil ich ein ehrlicher Mann bleiben wollte. Es ist daher doch nicht anzunehmen, daß ich solcher Kleinigkeiten wegen meinen ehrlichen Namen beflecken werde. Ich bitte dringend um meine Freisprechung.

Nach mehrstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsrat Robe folgendes gendes Urteil: Der Angeklagte Blumenberg ist dreier Amtsverbrechen beschuldigt. Er hat in dem Zivilprozeß Wagner wider Schindler den Vorsitz geführt. Im Interesse des Wagner hat er den im September 1904 vor der vierten Zivilkammer des hiesigen Landgerichts angestandenen Termin zur Vertagung gebracht und aus den Vorgängen im Beratungszimmer und den Akten der Zeugin Klehr Mitteilung gemacht. Er hat dadurch seine Amtspflicht verletzt und die Amtsverschwiegenheit, zu der er laut Gerichtsordnung verpflichtet war, gebrochen. In den Mitteilungen an Frau Klehr hat der Angeklagte durchblicken lassen, daß er Geld brauche. Der Gerichtshof hat in dieser Bemerkung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Verletzung der Amtspflichten erblickt. Wenn auch der Angeklagte dem Wagner nicht direkt Mitteilungen gemacht hat, so waren die Mitteilungen an Frau Klehr für Wagner bestimmt. Der Angeklagte hat sich mithin im Sinne des Paragraphen 332 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht. In der Zivilprozeßsache Pyttlik wider Klehr hat der Angeklagte der Frau Klehr auch aus den Vorgängen im Beratungszimmer und aus den Akten Mitteilung gemacht. Er hat auch hierfür zu verstehen gegeben, daß er Zuwendung von Vorteilen erwarte, mithin liegt auch in diesem Falle ein Amtsverbrechen im Sinne des Paragraphen 332 des Strafgesetzbuches vor. In dem Zivilprozeß Fiskus wider Goldstein führte der Angeklagte nicht den Vorsitz. Er hat aber auf Anfrage der Frau Granzow mitgeteilt: er werde bemüht sein, dem Schwiegersohn des Goldstein, Herrn Zernik aus den Akten Mitteilung zu machen. Zernik hat Blumenberg 10000 Mark versprochen, wenn durch seine Bemühungen ein Vergleich herbeigeführt oder der Prozeß für Goldstein einen günstigen Ausgang nehme. Der Angeklagte Blumenberg hat nun, unter Mißbrauch seines Richteramtes, widerrechtlich die Vorlegung der Akten gefordert. Das frühere preußische Obertribunal hat allerdings entschieden, daß die Verletzung einer Amtspflicht eine Amtshandlung zur Voraussetzung habe. Das Reichsgericht hat diesen Standpunkt verlassen und entschieden, daß auch durch eine Privattätigkeit eine Verletzung der Amtspflicht begangen werden kann. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Gerichtshof hat mithin für tatsächlich festgestellt erachtet, daß der Angeklagte dreier Amtsverbrechen im Sinne des Paragraphen 332 des Strafgesetzbuches schuldig ist.

Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof erwogen, daß ein Schaden nicht entstanden ist und daß der Angeklagte durch Ausbeutung von Wucherern auf die Bahn des Verbrechens gedrängt worden ist, er hat daher dem Angeklagten mildernde Umstände zugebilligt. Andererseits hat der Angeklagte sein Richteramt in der frivolsten Weise geschändet. Er hat das höchste Rechtsgut, die Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit der preußischen Richter in schnödester Weise mit Füßen getreten und dadurch das Ansehen des preußischen Richterstandes in unerhörter Weise geschädigt. Der Gerichtshof hat in Anbetracht dieses Umstandes eine erhebliche Strafe für angezeigt erachtet. Für die beiden ersten Amtsverbrechen sind daher je 1 1/2 Jahre Gefängnis, für das dritte Amtsverbrechen 1 Jahr Gefängnis als angemessen erachtet worden. Der Gerichtshof hat außerdem in der Mobiliarverpfändung 11 Fälle des Betruges, im Falle Großmann Unterschlagung, in den Fällen Olendorf, Lewy und Richter je einen Betrug, im Falle Chrobok eine versuchte Unterschlagung, im Falle Hoffmann einen versuchten Betrug und im Falle Scholz einen vollendeten Betrug wider Großpietsch und Schröder und endlich mehrere Arrestbrüche und einen Siegelbruch für vorliegend erachtet. Der Angeklagte konnte nach Lage der Dinge nicht annehmen, es werde ihm gelingen, durch Verheiratung mit einer vermögenden Dame seine Gläubiger zu befriedigen. Der Angeklagte hat sich also im Sinne der Paragraphen 332, 263, 246, 43, 136 und 137 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht. Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof erwogen, daß es dem Angeklagten, wenn er mäßig gelebt hätte, sehr wohl möglich gewesen wäre, seine Schuldenlast von 8000 Mark abzutragen. Anstatt dessen schaffte sich der Angeklagte eine kostbare Möbeleinrichtung an, kaufte sich Uhren bis zu 2000 Mark, unternahm kostspielige Reisen und machte an Damen kostspielige Geschenke. Der Gerichtshof hat ferner erwogen, daß der Angeklagte auch die Betrugs- und Unterschlagungsfälle unter Mißbrauch seines Amtes als Landgerichtsrat begangen hat. Der Gerichtshof hat daher, in Gemäßheit des § 74 des Strafgesetzbuches, auf eine Gesamtstrafe von 5 Jahren Gefängnis erkannt. Der Angeklagte befindet sich seit 9 Monaten in Untersuchungshaft. Mit Rücksicht hierauf werden 6 Monate in Anrechnung gebracht. Der Gerichtshof hat aber auch die Überzeugung erlangt, daß der Angeklagte eine ehrlose Gesinnung an den Tag gelegt hat, er hat daher dem Angeklagten Blumenberg die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 4 Jahren aberkannt.

Bezüglich Abrahams hat der Gerichtshof für nachgewiesen erachtet, daß sich Abraham in den Fällen Olendorf, Lewy und Richter je eines vollendeten Betruges schuldig gemacht hat. Er hat diese Betrugsfälle in ganz raffinierter Weise vorbereitet. Es war ihm auch bekannt, daß Blumenberg Uhren und Ringe nur kaufen wollte, um sie sofort zu verpfänden. Abraham war die eigentliche Triebfeder für die verbrecherischen Handlungen Blumenbergs. Es liegt Betrug im Rückfalle vor. Der Gerichtshof hat aber in Betracht gezogen, daß die Vorstrafen Abrahams nur geringe waren, er hat ihm daher auch mildernde Umstände zugebilligt. Andererseits mußte im Hinblick auf die Handlungsweise des Angeklagten das Strafmaß erheblich sein. Der Gerichtshof hat daher gegen Abraham auf zwei Jahre Gefängnis erkannt, und da er sich auch seit 9 Monaten in Untersuchungshaft befindet, 6 Monate in Abzug gebracht. Auch sind dem Angeklagten, mit Rücksicht auf seine an den Tag gelegte ehrlose Gesinnung, die bürgerlichen Ehrenrechte auf vier Jahre aberkannt worden. Bezüglich des Angeklagten David Hepner hat der Gerichtshof in dem Falle Großpietsch und Schröder eine Beihilfe zum Betruge gefunden. Da Hepner noch nicht vorbestraft ist, hat der Gerichtshof nur auf 500 Mark Geldstrafe, im Unvermögensfalle auf 50 Tage Gefängnis erkannt. Den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend, sind den Angeklagten, soweit Verurteilung erfolgt ist, die Kosten des Verfahrens auferlegt worden.

Der Angeklagte Blumenberg nahm anscheinend das Urteil mit ziemlichem Gleichmut entgegen. Der Angeklagte Abraham war förmlich zusammengebrochen, er weinte heftig.

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Prozeß Leckert–Lützow

Der unheilvolle Einfluß der Holkamarilla Philipp Eulenburg und Genossen machte sich bekanntlich bereits geltend, als Fürst Bismarck noch am Ruder war. „Die Minister können uns sonst was,“ rief Landrat a.D.v. Diest daher vor einigen Jahren im Zirkus Busch in einer Generalversammlung des Bundes der Landwirte aus. Was war aber dieser ehemalige Landrat gegen den Schloßherrn von Liebenberg. Letzterer vermochte selbst den mächtigsten Kanzler des Deutschen Reiches, den Fürsten Bismarck, dessen Nachfolger, den Grafen v. Caprivi und den so ungemein beliebten alten „Onkel Chlodwig“, Fürsten Hohenlohe, zu stürzen und den vierten Kanzler Fürsten v. Bülow von seinem Botschafterposten in Rom nach Berlin zu dirigieren. „Ich will Könige machen, aber nicht König sein.“ sagte Eulenburg zu der Fürstin v. Bülow, als diese ihn bat, ihren Mann doch in Rom zu lassen und selbst das Kanzleramt zu übernehmen.1 Im Dezember 1906 stand der deutsche Kanzlerposten, dank der Kamarilla Philipp Eulenburg, wiederum auf des Messers Schneide. Die am 13. Dezember 1906 erfolgte Auflösung des Reichstages war Bülows einziger Rettungsanker. Und wäre bei den „Hottentottenwahlen“ (Januar 1907) nicht eine Kartellmehrheit (der konservativ- liberale Block) zustande gekommen, dann wäre es der Liebenberger Tafelrunde vielleicht doch gelungen, den Fürsten Bülow zu stürzen. Vor 15 Jahren war der jetzige deutsche Botschafter in Konstantinopel, Freiherr Marschall v. Biberstein, ein ehemaliger Erster Staatsanwalt in Mannheim, Staatssekretär des Auswärtigen Amts. Ein Berliner Kriminalkommissar, dem das politische und Preßdezernat beim Berliner Polizeipräsidium übertragen war, verstand es, dem Staatssekretär mit Hilfe seiner Spitzel das Leben derartig schwer zu machen, daß der Staatssekretär sich in dem bekannten Leckert-Lützow-Prozeß zu dem Ausruf veranlaßt sah: „Wenn Herr v. Tausch glaubt, Vertrauensmänner haben zu müssen, so ist das seine Sache. Wenn aber die Vertrauensmänner des Herrn v. Tausch sich erdreisten, mich, meine Beamten und das Auswärtige Amt zu verleumden, so flüchte ich mich in die Öffentlichkeit und brandmarke dies Treiben.“ Herr v. Tausch wurde in diesem Prozeß wegen dringenden Verdachts, einen wissentlichen Meineid geleistet zu haben, auf Antrag des Staatsanwalts verhaftet, Freiherr v. Marschall aber kurze Zeit nach diesem Prozeß gestürzt. Selbstverständlich hätte Kriminalkommissar v. Tausch nicht gewagt, einem Staatssekretär des Auswärtigen Amts derartig öffentlich gegenüberzutreten, wenn er nicht den damals allmächtigsten Mann im Deutschen Reich, die Spitze der Hofkamarilla, kamarilla, den Schloßherrn von Liebenberg zum Hintermann gehabt hätte.

Im September 1896 fand in der Nähe von Breslau das Kaisermanöver statt, zu dem auch der Kaiser von Rußland erschienen war. Am Abend des 5. September 1896 fand im Königlichen Schloß zu Breslau Galatafel statt. Nach dem Trinkspruch des Deutschen Kaisers erwiderte der Kaiser von Rußland. Er sagte u.a.: „Je puis vous assurer, Sire, que je suis animé des mêmes sentiments traditionels que Votre Majesté“ (Ich kann versichern, daß ich von denselben überlieferten Gefühlen beseelt bin wie Ew. Majestät). „Wolffs Telegraphenbureau gab die Schlußworte unrichtig dahin wieder: ?que mon père? (?wie mein Vater?). Der Irrtum wurde nachträglich berichtigt. Am 28. September 1896 veröffentlichte ?Die Welt am Montag? (Redakteur Dr. Plötz) einen Artikel, worin es u.a. hieß: Wie sich herausgestellt hat – so wird uns von unterrichteter Seite mitgeteilt – ist jene erste Meldung über den Zarentoast von einer der jüngst so oft besprochenen unverantwortlichen Stellen der ?Nebenregierung? ausgegangen und dem Vertreter des öffiziösen Drahtes in die Feder diktiert worden. Unser Gewährsmann steht nicht an, als den Urheber dieser ?Aktion? einen hohen Beamten der kaiserlichen Hofhaltung zu bezeichnen, dessen Person zwar bisher noch nicht unter den Begriff ?Nebenregierung? fiel, dessen Name jedoch – wenn auch seitens anderer Träger desselben – schon zu wiederholten Malen, zum Beispiel seit den Tagen der Liebenwalder (soll heißen Liebenberger) Jagd, kurz vor dem Sturze Caprivis von sich reden machte. Unser Gewährsmann will nun wissen, daß es englische Einflüsse gewesen sind, welche dem Herrn Grafen zu ganz bestimmten durchsichtigen Zwecken den Anlaß boten, die Antwort des Zaren gerade so in die Welt zu setzen, wie es geschehen ist. Verhielte sich das in Wirklichkeit so, so wäre allerdings, zusammengehalten mit früheren Ereignissen, das Bestehen einer Nebenregierung ad hoc oder in Permanenz nicht mehr zu leugnen.“ Als dieser Artikel abfällig besprochen wurde, brachte das Blatt am nächsten Montag einen neuen Artikel. Darin wurde gesagt, daß der Gewährsmann seine Information nicht nur ausdrücklich in allen Punkten aufrechterhalte, sondern noch das Nachfolgende anfüge: „Es hat als erwiesen zu gelten, daß vor und während der Zwei-Kaisertage starke englische Einflüsse tätig gewesen sind, um ein zuweit gehendes Einvernehmen zwischen Rußland und Deutschland zu hindern. Eine mittelbare Frucht dieser Bestrebungen ist die viel erörterte Redaktion des Zarentoastes, der in falscher Fassung von dem Vertreter des offiziösen telegraphischen Bureaus verbreitet werden mußte. Diese falsche Fassung verfolgte den Zweck, Zeitungsangriffe gegen den kaiserlichen lichen Tischredner selbst hervorzurufen, dadurch den letztgenannten zu verstimmen und um dadurch unsere leitenden und verantwortlichen Stellen zu zwingen, sich der Regierung von St. James zu nähern. Wir stellten infolge dieser Mitteilung noch weitere Nachforschungen an, und zwar an der offiziellsten Stelle, die überhaupt für die ganze Meldung in Betracht kam. An dieser Stelle wurde uns nun versichert, der Zarentoast sei nur durch ein Versehen in unrichtiger Fassung zur Veröffentlichung gelangt.“ Oberhofmarschall Graf August Eulenburg erblickte in diesen Artikeln den Vorwurf: er habe sich aus politischen Gründen – englischen Einflüssen folgend – einer Fälschung der Zarenrede schuldig gemacht, um das zu hintertreiben, was im Sinne seines kaiserlichen Herrn lag, nämlich die Annäherung Deutschlands an Rußland. Die Behauptungen enthielten somit den Vorwurf der Fälschung, des Verrats und des gröblichsten Vertrauensbruchs. Es wurden sofort eingehende Ermittelungen angestellt. Diese ergaben, daß der Verfasser dieser Artikel der Leutnant a.D. Journalist Karl v. Lützow war, der, wie er angab, das Material von dem zwanzigjährigen Journalisten Heinrich Leckert erhalten hatte. Letzterer habe ihm wiederholt die ausdrückliche Versicherung gegeben: Er habe die Information von dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Freiherrn v. Marschall, erhalten. Er (v. Lützow) habe die Artikel erst geschrieben, nachdem ihm Leckert die ehrenwörtliche Versicherung gegeben hatte, daß alles auf Wahrheit beruhe. Leckert habe als seinen Gewährsmann auch den Sohn des Reichskanzlers, den Prinzen Alexander von Hohenlohe genannt und ihm mitgeteilt: Er sei mehrere Male von Herrn v. Marschall empfangen worden. Dieser habe großes Interesse an der Veröffentlichung und Weiterführung der Artikel ausgedrückt. Leckert und v. Lützow behaupteten außerdem: Freiherr v. Marschall und der Chef der Preßabteilung im Auswärtigen Amt, Wirkl. Geh. Legationsrat Dr. Hammann, haben sie zu den gegen den Oberhofmarschall Grafen zu Eulenburg gerichteten Verleumdungen angestiftet und zu deren Veröffentlichung beigetragen. Gegen Leckert und v. Lützow wurde deshalb Strafantrag wegen wider besseres Wissen begangener verleumderischer Beleidigung gestellt und ihre sofortige Verhaftung beschlossen. Die Hintermänner der Verhafteten beabsichtigten augenscheinlich, den Freiherrn v. Marschall als politischen Intriganten hinzustellen und seinen Sturz zu bewerkstelligen. Leckert und v. Lützow hatten sich deshalb am 2. Dezember 1896 vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen verleumderischer Beleidigung zu verantworten. Außer diesen waren wegen Beleidigung angeklagt der Redakteur der „Welt am Montag“ Dr. Alfred Plötz, der Redakteur der ?Staatsbürger-Zeitung?, bürger-Zeitung?, Georg Berger, Zeitungsberichterstatter Oskar Föllmer und der Vater des Angeklagten zu 1, Kaufmann Bruno Leckert. Letzterer hatte in Sachen der Eröffnung des Hauptverfahrens dem Angeklagten Föllmer Material gegeben, in dem die Mutmaßung ausgedrückt war, Prinz Hohenlohe oder Frhr. v. Marschall seien die Gewährsmänner der verleumderischen Artikel. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Roesler. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Drescher. Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte DDr. Gennrich, Lubczynski, Schmielinski, Braß und Glatzel. Im kleinen Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Kriminalgerichtsgebäudes war an einem besonderen Tisch ein stenographisches Bureau unter Leitung des Reichstagsstenographen Otto Cohnen für das Auswärtige Amt etabliert. Das Berliner Polizeipräsidium hatte in der Person des Polizeisekretärs Lührs einen Stenographen entsandt. Als Zeugen waren geladen: Staatssekretär Freiherr Marschall von Biberstein, Direktor Dr. Mantler und Geheimrat Direktor Banse vom Wolffschen Bureau, Berichterstatter de Grahl, Wirkl. Geh. Legationsrat Dr. Hammann, Prinz Alexander v. Hohenlohe, Wirkl. Geh. Legationsrat v. Hollstein, die Redakteure Rippler und Werle, Kriminalkommissar v. Tausch, Hilfsarbeiter im Statistischen Amt Unruh, Redakteur Heller, Hilfsarbeiter im Ministerium des Innern Kukutsch, kutsch, Schriftsteller v. Huhn, Schriftsteller Holländer und Schriftsteller v. Vangerow. Der Angeklagte Leckert jun., 1876 geboren, machte den Eindruck eines Schülers. Er hatte das Französische Gymnasium bis zur Obersekunda besucht und war alsdann Journalist geworden. Obwohl er stotterte, waren seine Antworten sehr gewandt. Er erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Bei einem gelegentlichen Zusammentreffen mit v. Lützow habe er diesem gesagt: Nach zuverlässigen Informationen sei die falsche Redaktion des Zarentoastes auf englische Einflüsse zurückzuführen. Als der Artikel in der ?Welt am Montag? erschienen war, habe er v. Lützow gefragt, ob der Artikel etwa von ihm herrühre. v. Lützow habe geantwortet: er habe dieselbe Frage an ihn richten wollen.

Vors.: Wollen Sie behaupten, daß der Artikel, in welchem auf den Grafen August zu Eulenburg hingewiesen wurde, nicht von Ihnen herrührt?

Angekl.: Ich habe den Grafen Eulenburg nie genannt, sondern von Lützow nur im allgemeinen einige Mitteilungen über die Fälschung des Zarentoastes im englischen Interesse gemacht.

Vors.: Wer war denn Ihr angeblicher Gewährsmann?

Angekl.: Ich habe mich ehrenwörtlich verpflichtet, keine Mitteilung darüber zu machen.

Vors.: Hatten Sie nicht auch v. Lützow gesagt, daß Exzellenz v. Marschall auf die Publikation großen Wert lege?

Angekl.: Ich war der Überzeugung.

Vors.: Hatte Ihnen Ihr Gewährsmann dies gesagt?

Angekl.: Er hatte seine Überzeugung dahin ausgesprochen.

Vors.: Dann ist es doch komisch, daß Ihr Gewährsmann Ihnen das Ehrenwort abnimmt, ihn nicht als Inspirator eines Artikels zu nennen, der angeblich im Interesse des Herrn v. Marschall geschrieben war.

Angekl.: Der Schaden, den mein Gewährsmann persönlich erleiden würde, würde größer gewesen sein, als der Vorteil, den er Herrn v. Marschall verschaffen konnte.

Vors.: Damit geben Sie zunächst zu, es war Ihnen klar, daß der Artikel Schaden anrichten oder mindestens viel Staub aufwirbeln konnte.

Angekl.: Ich habe mein Ehrenwort zur Diskretion aus eigener Initiative gegeben.

Der Angeklagte behauptete weiter, daß er nur einen Artikel über dasselbe Thema geschrieben und ihn der „Tägl. Rundschau“ und dem „Breslauer Generalanzeiger“ vergeblich angeboten habe. Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten vor, daß die weiteren Tatsachen doch deutlich darauf hinweisen, daß er mit dem Artikel, der am 28. September in der „Welt am Montag“ erschienen, und in welchem Graf Eulenburg deutlich bezeichnet war, in enger Beziehung gestanden haben müsse. Dazu gehöre, so bemerkte der Vorsitzende weiter, daß, als die „Deutsche Tagesztg.“ einen heftigen Artikel gegen die „Fetten Enten“, die die „Welt am Montag“ in die Welt setzte, gebracht hatte, Leckert mittels einer Postkarte sofort Herrn v. Lützow zu einer Besprechung über den „Operationsplan“ eingeladen habe, daß er weiter mit Bezug auf diesen Artikel gesagt habe, „Herr von Marschall lasse ihn nicht im Stich,“ „er werde dem Direktor Mantler schön heimleuchten,“ daß dann in der „Welt am Montag“ ein zweiter Artikel erschienen ist, in welchem der „agrarischen Tante“ heftig zu Leibe gegangen und die Behauptung des ersten Artikels in vollem Umfange aufrechterhalten wird.

Leckert gab auf alle diese Vorhaltungen in sehr geläufiger Rede Antworten, die der Vorsitzende wiederholt als sehr gewunden und wenig wahrscheinlich erklärte.

Der Vorsitzende fragte den Angeklagten Leckert wiederholt, ob er den angeblichen Gewährsmann nicht nennen wolle, der ihm ja nach seinen, des Angeklagten, Angaben, selbst gesagt habe, es sei ein Unglück, daß der Name des Grafen Eulenburg, eines Ehrenmannes, in der Geschichte erwähnt sei. Wenn man angesichts dessen berücksichtige, daß der Angeklagte in einem zweiten Artikel seine frühern Behauptungen aufrechthalte, so wisse man wirklich nicht, was man dazu sagen solle. Entweder habe er in unverantwortlicher Weise seinem Gewährsmann gegenüber gehandelt, oder ein solcher existiere nur in seiner Erfindung. Der Angeklagte habe sich in betreff der Stellung des angeblichen Gewährsmannes auch in Widersprüche verwickelt; vor der Polizei habe er gesagt, es sei ein höherer Beamter im Auswärtigen Amt, und dies habe er bei seiner ersten Vernehmung vor dem Richter wiederholt. Die heutige Behauptung des Angeklagten, daß das polizeiliche Protokoll eine irrtümliche Fassung habe, verdiene deshalb keinen Glauben, denn er habe ja Gelegenheit gehabt, den Irrtum bei seiner Vernehmung vor dem Richter zu berichtigen.

Angekl. Leckert: Ich meine auch, es getan zu haben.

Vors.: Nein, Sie haben es erst später getan.

Angekl.: Ich habe nur sagen wollen, daß ich zum Auswärtigen Amt in Beziehungen stehe.

Vors.: Ja, und dann haben Sie gesagt, daß Ihr Gewährsmann Beamter bei einer Berliner Behörde sei.

Angekl.: Ja, so ist es auch.

Vors.: Angeklagter, ich will Ihnen mal etwas sagen. Man kann den preußischen Reichs- und Staatsbeamten im allgemeinen wohl nachrühmen, daß sie ihren Beruf mit Pflichttreue und in gewissenhafter Weise erfüllen; bis jetzt sind derartige Vertrauensbrüche che wie Sie sie Ihrem Gewährsmann in die Schuhe schieben wollen, nicht vorgekommen. Wie sollte es wohl denkbar sein, daß ein Beamter einem so jungen Menschen gegenüber, der vor drei Jahren noch Schüler war, so wichtige Enthüllungen machen sollte? Verkennen Sie Ihre Lage nicht, es handelt sich um ein schweres Vergehen, und Sie werden die Folgen zu tragen haben. Es ist fraglich, ob man Ihnen die Geschichte von dem Ehrenwort und dem Gewährsmann glauben wird, es scheint, als wollten Sie die Geschichte nur als Deckmantel für Ihre Handlungsweise benutzen. Wollen Sie uns die Behörde nennen, bei der Ihr Gewährsmann angestellt sein soll?

Angekl.: Bedauere, nein. Auf weiteres Befragen sagte Leckert: Dem zweiten Artikel in der „Welt am Montag“ stehe er ganz fern. Er wisse nur, daß dieser Artikel auf Grund zweier Manuskripte zustande gekommen sei, die er dem Angeklagten v. Lützow übergeben habe. Auf ferneren Vorhalt des Vorsitzenden blieb Leckert dabei: Er habe Herrn v. Marschall vor längerer Zeit im Auswärtigen Amt oder im Reichstage gesprochen. Daß Herr von Marschall sich darauf nicht mehr besinnen könne, sei ihm unerklärlich. Leckert blieb auch dabei, daß er in Breslau vom Reichskanzler Fürsten Hohenlohe empfangen worden sei und dieser mit ihm gesprochen habe.

Der Vorsitzende hob weiter hervor, daß der Angeklagte klagte auch dem Verleger Werle vom „Breslauer Generalanzeiger“ einen Artikel angeboten habe, der nicht dem vom Angeklagten dem Gericht überreichten Manuskript, sondern dem Artikel der „Welt am Montag“ entsprochen habe. Leckert soll sich von Werle für die Beschaffung einer wichtigen Nachricht 100 Mark Vorschuß haben geben lassen. Die Nachricht ist nie geliefert worden.

Der Angeklagte erklärte, daß er allerdings die sensationelle Nachricht nicht geliefert habe, weil er inzwischen verhaftet worden sei. Der Vorsitzende verwies aber darauf, daß die Verhaftung erst 4 Wochen nach der Hingabe des Geldes stattgefunden habe, daß also noch Zeit genug vorhanden gewesen sei, entweder die 100 Mark zurückzugeben oder die „sensationelle Nachricht“ zu liefern.

Vors.: Sie sollen dem Verleger Werle auch vorgespiegelt haben, daß zu der sensationellen Nachricht eine Reise nach Köln vielleicht nötig sein würde. Was wollten Sie denn in Köln?

Angekl.: Man hatte mir gesagt, daß vielleicht eine Reise nach Köln notwendig sein würde.

Vors.: Wer hat Ihnen denn dies gesagt?

Angekl.: Mein Gewährsmann.

Vors.: Also wieder Ihr Gewährsmann. Bei dem Dunkel, in welches Sie diesen Gewährsmann hüllen, werden wir damit wohl nicht weiterkommen. Welche Beziehungen hatten Sie denn überhaupt zu Herrn v. Marschall?

Angekl.: Gar keine persönlichen Beziehungen.

Vors.: Und zu anderen Beamten? Zu dem Prinzen Hohenlohe?

Angekl.: Den kenne ich gar nicht.

Vors.: Oder zu Herrn Geheimrat Hammann oder Geheimrat v. Hollstein?

Angekl.: Die Herren kenne ich gar nicht.

Vors.: Sie haben auch behauptet, Sie haben von Ihrem Gewährsmann wiederholt Rohrpostkarten erhalten, waren diese Rohrpostkarten mit einem Namen unterschrieben?

Angekl.: Sie waren chiffriert.

Vors.: Bei der bei Ihnen vorgenommenen Haussuchung ist unter Ihren Skripturen keine solche Rohrpostkarte gefunden worden?

Angekl.: Ich habe alle derartigen Sachen sofort vernichtet.

Oberstaatsanwalt Drescher: Der Angeklagte hat behauptet: Er habe bei dem Fürsten-Reichskanzler in Breslau eine Audienz gehabt. Nach meinen Informationen ist das eine wissentliche Unwahrheit.

Angekl. Leckert: Ich behaupte nach wie vor, daß ich am Abend des 5. September dem Fürsten Hohenlohe durch einen Kammerdiener angemeldet worden bin. Der Fürst-Reichskanzler hat mich empfangen und mir auf folgende drei Fragen Auskunft gegeben: 1. über den zukünftigen russischen Minister des Äußern, 2. über die bewaffnete Intervention in Kreta und 3. über die Beziehungen Deutschlands zu Rußland nach der Zarenreise. Ich habe über diese Audienz dem „Breslauer Generalanzeiger“ berichtet.

Dieser Artikel wurde verlesen.

Oberstaatsanwalt: Ich ersuche den Gerichtshof, sich schlüssig zu machen, ob angesichts dieser Behauptungen des Angeklagten die Vorladung des Reichskanzlers notwendig ist. Ich möchte den Herrn Reichskanzler nicht mit dieser Zeugenschaft belästigen. Ich habe deshalb Erkundigungen eingezogen. Auf mein Ersuchen hat Staatssekretär v. Marschall den Herrn Reichskanzler gefragt und sogar eine schriftliche Erklärung erhalten. Danach reduziert sich die Behauptung des Angeklagten auf folgendes: Bei einer Gelegenheit, als der Reichskanzler im Begriff war, seine Wohnung in Breslau zu verlassen, drängte sich ein junger Mensch an ihn heran. Er sprach auf den Herrn Reichskanzler ein, hat aber von letzterem die Antwort bekommen, daß er keine Zeit habe, sich mit ihm zu unterhalten. Das war die ganze Audienz. Wenn der Angeklagte Behauptungen, wie geschehen, aufstellt, dann läßt das einen Schluß auf seine Glaubwürdigkeit und sein Erfindungstalent zu. Deshalb dürfte es zweckmäßig sein, in voller Öffentlichkeit darzutun, daß dem Reichskanzler nichts ferner gelegen hat, als einem so jungen Mann über so hochwichtige politische Fragen Auskunft zu erteilen.

Angekl. Leckert: Ich stelle anheim, den Kammerdiener vorzuladen, der mir die Tür zum Vorzimmer des Reichskanzlers geöffnet hat.

Vors.: Es ist ja möglich, daß Sie einmal kurze Zeit im Vorzimmer des Reichskanzlers gewartet haben, damit ist doch noch nicht eine Audienz erwiesen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Gennrich: Ich beantrage, den Herrn Reichskanzler Fürsten Hohenlohe als Zeugen zu laden.

Der Gerichtshof beschloß: Die Beschlußfassung hierüber bis nach der Vernehmung des Staatssekretärs v. Marschall auszusetzen.

Aus verschiedenen Briefen, die hierauf zur Vorlesung gelangten, ging hervor: Leckert hatte dem „Breslauer Generalanzeiger“ die telephonische Nachricht übermittelt, daß die Gerüchte über den Rücktritt des Reichskanzlers Fürsten Hohenlohe und dessen Nachfolgerschaft durch den Fürsten Hatzfeld jeder Begründung entbehren. Der Verleger Werle hat hierauf geantwortet: Die Nachricht sei nicht aufgenommen worden, da sie bereits in der Kreuzzeitung gestanden habe. Leckert hat darauf erwidert: Er stehe derartigen journalistischen Rüpeleien, wie man sie ihm zuzumuten scheine, fern. In einem anderen Schreiben erwähnte te Leckert: Er sei durch seine Reise nach Köln bedeutend weitergekommen. Diese Reise hatte aber Leckert gar nicht unternommen.

In allen Briefen erhärtete Leckert seine Behauptungen mit der Versicherung auf sein Ehrenwort.

Oberstaatsanwalt: Die „Tägl. Rundschau“ brachte auch einen Artikel über den angeblichen Rücktritt des Reichskanzlers, stehen Sie zu diesem Artikel in Beziehung?

Leckert: Nein.

Oberstaatsanwalt: Es ist eine Abrechnung bei Ihnen gefunden worden, auf der zwei Artikel mit Eulenburg I und Eulenburg II verzeichnet sind. Die Abrechnung ist mit „v. Lützow“ unterzeichnet. Es ist doch auffallend, daß Sie für Artikel liquidieren, welche nach Ihrer Behauptung v. Lützow verfaßt hat?

Angekl. Leckert: Diese Abrechnung bezieht sich nicht auf die Artikel in der „Welt am Montag“, sondern auf die nicht veröffentlichten zwei Manuskripte, die ich v. Lützow überlassen hatte.

Es wurde darauf v. Lützow vernommen. Er sagte auf Befragen des Vorsitzenden: Seit Mitte Oktober bin ich in der Presse aufs schmählichste verleumdet worden. Es wurde behauptet: ich sei wegen Indiskretion aus dem Wolffschen Telegraphenbureau entlassen worden. Ich wurde außerdem als russischer Spion denunziert mit der Behauptung: ich sei deshalb aus dem Offizierstande entfernt worden. Endlich wurde behauptet: ich stehe in Diensten der politischen Polizei. Das sind mindestens so große Verleumdungen, wie sie die Anklage aus den hier in Frage stehenden Artikeln herausliest. Ich habe Berichtigungen an die Zeitungen gesandt und gegen eine Zeitung Strafantrag gestellt. Ich bin, nachdem ich inaktiver Offizier geworden, bis 1893 in der Landwehr gewesen. Aus der Landwehr bin ich in die gänzliche Inaktivität übergetreten, und zwar mit Pension und anderen Benefizien. Herr v. Marschall hat im Jahre 1892 der Militärbehörde angezeigt: ich sei bei einer Zeitung tätig, die deutschfeindliche Tendenzer verfolge. Die deshalb etwa ein Jahr währende Untersuchung endete mit meiner Freisprechung. Der Kaiser hat den Spruch des militärischen Ehrengerichts anerkannt, trotzdem bin ich am Schlusse dieses Verfahrens in Inaktivität getreten.

Oberstaatsanwalt: Der Angeklagte wurde allerdings freigesprochen, zur Ergänzung ist aber hinzuzufügen, daß der Übertritt in die gänzliche Inaktivität doch kein freiwilliger war. Der Spruch des Ehrengerichts wurde von Seiner Majestät wohl bestätigt, damit war aber gleichzeitig der Abschied des Angeklagten verbunden.

v. Lützow: Ich wurde 1877 Offizier. 1880 hatte ich einen schweren Zweikampf. Nach diesem erhielt ich den schlichten Abschied, weil ich dem Gegner nicht die Genugtuung gegeben hatte, die als notwendig erachtet wurde. Ich verbüßte die Festungshaft, zu der ich verurteilt war, trat aber unmittelbar, nachdem ich die Festung verlassen hatte, wieder aktiv in die Armee ein. Ich habe wieder von der Pike auf gedient und wurde 1881 wieder Offizier mit dem alten Patent. Vom alten Kaiser Wilhelm wurde ich rehabilitiert.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde das Erkenntnis des Ehrengerichts verlesen. Daraus ging hervor, daß v. Lützow von der Anschuldigung, an einer deutschfeindlichen Zeitung tätig zu sein, freigesprochen worden ist, daß ihm aber im übrigen der Kaiser eine Warnung und den Abschied erteilt hat.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski stellte fest, daß der Angeklagte v. Lützow noch Pension beziehe und die Anschuldigung, v. Lützow arbeite an einer deutschfeindlichen Zeitung, von dem Staatssekretär Freiherrn v. Marschall ausgegangen sei.

Auf Befragen des Vorsitzenden bestritt v. Lützow, daß er wegen Indiskretion aus dem Wolffschen Bureau entlassen worden, und auch, daß er Angestellter der politischen Polizei sei.

Vors.: Die weitere Verhandlung wird ergeben, daß mancherlei vorlag, was zu dieser Annahme führen konnte.

Oberstaatsanwalt: Die Anklage geht allerdings nicht – wie ich von vornherein erklären will – von der Annahme aus, daß der Angeklagte v. Lützow ein „Angestellter“ der Polizei gewesen ist. Darunter verstehe ich etwas anderes. Aber die Anklagebehörde nimmt an, daß der Angeklagte von der politischen Polizei beauftragt worden ist, Ermittelungen anzustellen, und daß er Vertrauensmann der Polizei in politischen Dingen gewesen ist.

Angekl. v. Lützow: Das ist nicht der Fall. Wie jeder Journalist, so habe auch ich meine Verbindungen gehabt. Ich kannte mehrere Leute von der Polizei und habe oft mit ihnen über politische Dinge gesprochen.

Vors.: Geben Sie zu, die zwei Artikel in der „Welt am Montag“ verfaßt zu haben?

v. Lützow: Die Artikel rühren in der Hauptsache von mir her. Acht Tage vor dem Erscheinen des ersten Artikels habe ich Leckert in dessen Wohnung aufgesucht, um mit diesem eine Geldangelegenheit zu ordnen. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir Leckert: er habe einige sehr hübsche Sachen in letzter Zeit geschrieben. Einen Artikel habe er an den „Breslauer Generalanzeiger“ gesandt. Dieser Artikel habe die Frage behandelt: wie der Zarentoast in der Fassung „que mon père“ in die Presse lanciert worden sei. Lockert sagte mir: es haben zwei Texte des Zarentoastes bestanden, darüber sei in deutschen und ausländischen Zeitungen viel geschrieben worden.

Oberstaatsanwalt: Das sind willkürliche Kombinationen, nationen, denen ich ganz entschieden entgegentreten muß. Es haben niemals zwei Texte des Zarentoastes bestanden, und es haben deshalb auch niemals diplomatische Vorbesprechungen stattgefunden. Es ist eine ganz willkürliche Annahme, der Kaiser von Rußland habe zunächst „que mon père“ sagen wollen und erst nach diplomatischen Verhandlungen sei er bewogen worden, seine Rede anders zu fassen.

Angekl. v. Lützow: Ich habe keine willkürliche Kombination aufgestellt, sondern nur festgestellt: es war mir bekannt, daß viele in- und ausländische Zeitungen von zwei Texten sprachen, die bestanden haben sollen.

Vors.: Es muß allerdings als feststehend erachtet werden, daß die Zeitungen tatsächlich von zwei Texten gesprochen haben.

v. Lützow: Leckert hat mir gesagt: der Zar habe „que mon père“ nicht gesprochen, die Lancierung dieser Fassung in die Presse sei auf englische Einflüsse zurückzuführen, welche sich in der Umgebung des Kaisers in Breslau breit machten. Ein höherer Hofbeamter habe es bewirkt, daß diese Fassung dem Vertreter vom Wolffschen Bureau übermittelt werde. Auf diese Weise sei der Text „que mon père“ in die Presse gekommen. Leckert erzählte mir weiter, daß er hierüber dem „Breslauer Generalanzeiger“ berichtet habe. Er sei aber mit der Wirkung des Artikels nicht zufrieden gewesen, da der Artikel in der übrigen Presse fast gar nicht beachtet worden sei.

Vors.: Fragten Sie Leckert, von wem er die Information habe?

Angekl.

v. Lützow: Es ist in der Journalistik nicht Usus, sofort immer nach dem Gewährsmann zu fragen, da dieser doch zumeist verschwiegen wird. Leckert ersuchte mich, den Artikel an bedeutendere Zeitungen als der „Breslauer Generalanzeiger“ sei, zu senden, um eine größere Wirkung und Beachtung zu erzielen. Leckert machte auf mich einen so glaubwürdigen Eindruck, daß ich unmöglich auf den Gedanken kommen konnte, Leckert habe sich alles aus den Fingern gesogen oder seine Information von einer untergeordneten Person erhalten. Ich bin deshalb der Sache nähergetreten, zumal Leckert mir sagte: er sei von Herrn v. Marschall empfangen worden. Ich sagte zu Leckert: Herr v. Marschall war gar nicht in Berlin. Leckert antwortete: Es kann ja ein Beauftragter des Herrn v. Marschall gewesen sein. Dies war mir einleuchtend. Als das Dementi in der „Deutschen Tageszeitung“ erschien, machte ich Leckert in eindringlichster Weise Vorhaltungen. Leckert gab mir jedoch wiederholt die Versicherung: Er sei mehrere Male von Herrn v. Marschall empfangen worden; dieser halte alles aufrecht. Vor dem Erscheinen des ersten Eulenburg-Artikels nannte mir Leckert den Namen des Oberhofmarschalls Grafen August zu Eulenburg, der nach der Annahme seines Gewährsmannes dem Berichterstatter des Wolffschen Bureaus de Grahl auf Grund englischer Einflüsse den gefälschten Kaisertoast gewissermaßen in die Feder diktiert habe. Leckert sagte: Exzellenz v. Marschall habe an der Veröffentlichung ein großes Interesse, damit die Welt erfährt, wie hier wieder einmal die Nebenregierung die Hand im Spiele habe. Da Leckert mir dies ehrenwörtlich versicherte, sagte ich: ich werde die Sache in die Hand nehmen, da ich als älterer Journalist mehr Beziehungen habe als er. Als der Artikel in der „Welt am Montag“ erschienen war, machte mir Leckert den Vorwurf, daß der Hinweis auf den Grafen Eulenburg nach Ansicht seines Gewährsmannes zu scharf ausgefallen sei, bemerkte aber ausdrücklich: die Tatsachen an sich sind durchaus richtig. Einige Tage darauf sagte mir Leckert: er komme von Exzellenz v. Marschall, dieser habe sich über den Artikel riesig gefreut. Ich war deshalb ganz beruhigt, da mir Leckert sagte: bei dem Empfange bei Herrn v. Marschall sei noch ein Vertrauensmann zugegen gewesen. Herr v. Marschall habe ihm versprochen, noch weiteres Material zu geben, damit er noch deutlicher werden könne. Ich habe auch das Manuskript zu dem zweiten Artikel in der „Welt am Montag“ geliefert, es sind aber dabei mehrere Stellen ausgelassen worden.

Oberstaatsanwalt: Ich stelle aus den Akten fest, daß der Angeklagte zuerst behauptet hat, er habe dem Angeklagten Dr. Plötz nur Informationen erteilt. Erst als Dr. Plötz zu seinem Glück das Manuskript noch vorgefunden, hat v. Lützow zugegeben, daß er das Manuskript geliefert habe.

Angeklagter v. Lützow: Da sein Manuskript nicht wörtlich abgedruckt worden, so konnte er dieses nur als eine schriftliche Information betrachten. Denn so wie die Sache schließlich in der „Welt am Montag“ veröffentlicht worden, habe er den Artikel nicht geschrieben. Den Satz, daß während der Kaiserzusammenkunft in Breslau starke englische Einflüsse tätig gewesen seien, habe er allerdings geschrieben. Er habe wegen der Abänderung seines Artikels seine Verbindung mit Dr. Plötz abgebrochen; es habe ihn ganz besonders verdrossen, daß die „Hauptsache“, nämlich die Erklärung des politischen Grundes der englischen Einflüsse, weggelassen worden sei.

Auf weiteres Befragen erklärte v. Lützow, daß Leckert immer wiederholt habe, Herr v. Marschall sei sehr erfreut darüber, daß die Hofclique mal gehörig eins auf den Kopf bekommen habe, Herrn v. Marschall mache es ein großes Vergnügen, mal ordentlich zu „stänkern“. Dem Dr. Plötz müsse er den Vorwurf machen, daß er ihn, obgleich er die Zusage der Diskretion kretion gehabt, einseitig genannt habe. Dr. Plötz habe ihn aber verraten. Das sei ein unerhörter Vertrauensbruch und ein Schlag ins Gesicht.

Vors.: Wie kommt es, daß Sie selbst in einem Briefe an den Kriminalkommissar v. Tausch Leckert als Ihren Gewährsmann genannt haben?

Angekl.: Leckert hatte mich wiederholt ermächtigt, ihn zu nennen.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde der Brief des Angeklagten v. Lützow an den Kriminalkommissar v. Tausch verlesen. Daraus soll sich nach Ansicht des Oberstaatsanwalts ergeben, daß v. Lützow den Bericht an v. Tausch nicht zu seiner Verteidigung geschrieben hat, sondern als politischer Vertrauensmann des Kommissars v. Tausch, dem er Mitteilungen machte, für welche er noch besonderen Dank und Anerkennung beanspruchen zu können glaubte.

Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanw. Lubczynski erklärte Oberstaatsanwalt Drescher, daß nach seiner Kenntnis der Dinge der Polizeipräsident Veranlassung genommen habe, von Amts wegen Ermittelungen über die Verfasserschaft der Artikel anzustellen und damit Herrn v. Tausch beauftragt habe. Herr v. Tausch habe dann, wie schon öfter, wenn es sich um Ermittelungen in Preßangelegenheiten handelte, sich des Herrn. v. Lützow als seines Vertrauensmannes bedient. Herr v. Tausch habe dann – wie anzunehmen men sei – zu seiner eigenen Überraschung erfahren, daß v. Lützow selbst der Verfasser der Artikel sei.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Zu der fraglichen Zeit war Herrn v. Tausch schon bekannt, daß v. Lützow der Verfasser der Artikel war.

Der Bericht, den v. Lützow Herrn v. Tausch über die Entstehung der Artikel erstattet hat, wurde verlesen.

Darin sprach v. Lützow allerdings von „Informationen“, die er Herrn v. Tausch gebe und die von letzterem anerkannt und gewürdigt werden sollten. Er gab weiter ganz ausführliche Mitteilungen, wie Leckert sich ihm genähert und was er ihm alles in bezug auf seine Beziehungen zu Herrn v. Marschall und auf die Wahrheit der Artikel in der „Welt am Montag“ gesagt habe. Leckert habe ihm auch gesagt, daß nach der Ansicht des Herrn v. Marschall dieser Zeitungskrieg einen Entrüstungssturm gegen ihn (v. Marschall) entfachen würde, und da bei dem Kaiser der am festesten im Sattel sitze, der am meisten angegriffen werde, so habe Herr v. Marschall geglaubt, daß seine Stellung schließlich befestigt werden und er als unentbehrlich erscheinen würde. v. Lützow erwähnte auch in dem Bericht, daß dieser „im Anschluß an frühere Berichte“ erfolge, daß er zuerst die Absicht gehabt habe, sich an Herrn v. Marschall zu wenden. Daß er dies aber nicht tun werde „ohne Ihre Instruktion“. v. Lützow zow suchte dies alles harmlos zu erklären und bestritt, daß er denunzieren wollte.

Vors.: Ein solches Verhalten macht den Eindruck, als wenn der Angeklagte als Polizeiagent handelte.

Angekl.: Er habe sich deshalb nicht an Herrn v. Marschall gewendet, weil er wußte, daß er im Auswärtigen Amt nicht gelitten sei, und weil der früher gegen ihn gerichtete Angriff von dort ausgegangen sei.

Oberstaatsanwalt Drescher wies noch einmal darauf hin, daß der Angeklagte schon vorher an Herrn v. Tausch geschrieben haben müsse, was aus seinen in dem Bericht enthaltenen Wendungen, wie „ich berichtete und berichte auch jetzt“ und „im Anschluß an frühere Berichte“ hervorgehe. Ferner habe der Angeklagte der Polizei geraten, nicht einen Schutzmann in Uniform zu Leckert zu schicken, denn dadurch würde letzterer gewarnt werden. Und das nenne der Angeklagte keinen Verrat!

Der Angeklagte bemerkte, er habe sich vielleicht in der Angst, daß die Sache für ihn schlecht ablaufen würde, im Ausdruck vergriffen.

Der Vorsitzende hielt dies für schwer vereinbar mit dem sonstigen bestimmten Auftreten des Angeklagten und dessen journalistischer Gewandtheit.

Vors.: In Ihrem Berichte erwähnen Sie auch, daß Leckert behauptet habe, Herr v. Marschall habe ihn in sehr gemütlicher Weise, mit den Händen in der Hosentasche und bei einer Kognakflasche empfangen. Haben Sie wirklich geglaubt, daß ein so hoher Staatsbeamter einen so jungen Menschen in dieser Weise zu seinem Vertrauten machen wird?

v. Lützow: Jawohl, aus meiner journalistischen Tätigkeit ist mir bekannt, daß die Regierung die verschiedensten Kanäle benutzt, um ihre Preßzwecke zu verfolgen. Hat doch Graf Caprivi selbst gesagt, er nehme das Gute, woher es auch komme.

Der Vorsitzende hielt v. Lützow weiter vor, daß er gelegentlich der Untersuchung den Leckert wiederholt als einen ganz unglaubwürdigen Menschen bezeichnet habe und daher unmöglich so felsenfest seinen Mitteilungen vertrauen konnte.

Angeklagter: Erst am 21. Oktober habe er Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Leckert ausgedrückt, weil er sich überzeugt habe, daß er düpiert worden sei.

Der Oberstaatsanwalt machte im Anschluß hieran auf den Widerspruch aufmerksam, der darin liege, daß der Angeklagte behauptete, er sei „bête noire“ im Auswärtigen Amt und dann glauben machen wolle, daß er den ersten Artikel „im Interesse“ des Herrn v. Marschall geschrieben habe. Der Angeklagte gab auch hierüber gewundene Erklärungen, die immer wieder darin gipfelten, daß er den Leckert für einen durchaus glaubhaften Mann gehalten habe. Es sei ihm doch auch bekannt gewesen, daß über ähnliche Themata wiederholt Artikel in den verschiedensten Zeitungen erschienen seien, namentlich auch sehr scharfe Artikel in der „Kölnischen Zeitung“ gegen den General v. Hahnke und die Hofclique.

Die Behauptung, daß er den früheren Angestellten des Wolffschen Bureaus seinerzeit habe bestimmen wollen, ihm Rußland berührende Nachrichten gegen Entgelt abzulassen, bestritt Angeklagter mit großer Entschiedenheit.

Die Anklage behauptete ferner in einem Nachtrage, daß der Angeklagte v. Lützow auch eines Tages in einem Gespräch, das er auf der Straße mit dem Vertreter des „Hannoverschen Kuriers“ und der „Tribuna“, Redakteur Heller, gehabt, ihn und Leckert belastende Mitteilungen gemacht und speziell gesagt habe: Vor drei Wochen sei Herr v. Marschall noch ganz derselben Ansicht gewesen, wie der Artikel in der „W.a.M.“, nun aber schicke er ihm alle Staatsanwälte auf den Hals, er werde es ihm jedoch schon anstreichen.

v. Lützow bemerkte, Heller müsse ihn falsch verstanden haben.

Auf nochmaliges Befragen des Oberstaatsanwalts erklärte v.L., daß er niemals von Herrn v. Tausch „beauftragt“ worden sei, über die Quellen gewisser Zeitungsartikel, die Verfasser u. dgl. Ermittelungen anzustellen und Herrn v. Tausch Bericht zu erstatten.

Der Oberstaatsanwalt fragte weiter, ob der Angeklagte v.L. der Verfasser anderer sensationeller unwahrer Artikel sei, speziell eines Artikels über den angeblich geschwächten Gesundheitszustand des Kaisers, sodann der sensationellen falschen Nachricht, daß, als der Kaiser in Schlesien weilte, Herr v. Kotze aus der Festungshaft entlassen worden sei und sich vorübergehend in Breslau aufgehalten habe, endlich auch noch eines Artikels über den angeblich bevorstehenden Rücktritt des Fürsten Hohenlohe. Der Angeklagte gab nur in Sachen des Kotze-Artikels die Verfasserschaft zu. Die Nachricht habe sich nicht bewahrheitet, das komme öfter bei Journalisten vor. Für den Artikel habe er mehrere Quellen gehabt, der Ursprung liege in Breslau im „Generalanzeiger“. Er bekannte sich ferner zur Verfasserschaft eines in der „W.a.M.“ erschienenen Artikels „Der Kaiser und der General Bronsart“ und gab zu, daß Leckert diesen selben Artikel der „Frankf. Ztg.“ angeboten habe. Der Oberstaatsanwalt folgerte auch hieraus die größte Intimität zwischen beiden Angeklagten.

Weiterhin bestritt der Angeklagte die in der Voruntersuchung aufgestellte Behauptung des Dr. Plötz, daß er diesem bei Überreichung des ersten Artikels ehrenwörtlich versichert habe, er habe die Mitteilungen von Herrn v. Marschall. Er habe nur von dem „Gewährsmann“ gesprochen und ehrenwörtlich versichert, daß die Sachen aus dem Auswärtigen Amte stammen.

Vert. Rechtsanwalt Schmielinski verwahrte den Angekl. Dr. Plötz gegen den Vorwurf des v. Lützow, daß dieser gegen ihn einen Verrat begangen habe. v. Lützow habe die Ermächtigung erteilt, ihn als den Verfasser zu nennen.

Vert. Rechtsanw. Dr. Lubczynski: Ich möchte von Herrn Dr. Plötz wissen, ob v. Lützow nicht auch andere Artikel geschrieben hat, die sich durchaus bewahrheiteten.

Angekl. Dr. Plötz: v. Lützow hat nicht überwiegend falsche Nachrichten, sondern auch sehr wichtige, zutreffende gebracht, beispielsweise die zuerst stark bestrittene Nachricht von dem Rücktritt des Ministers v. Berlepsch, die sich durchaus bestätigt hatte.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ist es dem Gerichtshofe bekannt, daß im Auswärtigen Amt viele Journalisten auch untergeordneter Art empfangen werden?

Vors.: Darüber wird mir morgen wohl Herr v. Marschall Auskunft geben können.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ich kann aber nicht wissen, ob nicht Freiherr v. Marschall aus öffentlichrechtlichen Gründen die Beantwortung derartiger Fragen ablehnen wird.

Oberstaatsanwalt Drescher: Demgegenüber kann ich die Versicherung geben, daß alle diese Fragen, die an die Beamten des Auswärtigen Amtes gerichtet werden, diesen keineswegs peinlich sein werden. Im Gegenteil, es besteht das größte Interesse für alle Beteiligten, die ganze Sache in breitester Öffentlichkeit zu verhandeln und Klarheit nach allen Seiten hin zu verbreiten.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski behielt sich vor, bei der Vernehmung des Freiherrn v. Marschall Fragen dahin zu stellen: ob sämtliche Kaiser reden dem Wolffschen Bureau nicht durch einen Berichterstatter, sondern durch einen Herrn aus der Umgebung des Kaisers übermittelt werden und ob nicht alle Telegramme des Wolffschen Bureaus, welche auswärtige politische Angelegenheiten betreffen, vorher dem Auswärtigen Amt „zur Verifizierung“ vorgelegt werden.

Angekl. Dr. Plötz, der alsdann vernommen wurde, versicherte: v. Lützow habe ihm wiederholt die Versicherung gegeben, er sei zu einer bestimmt angegebenen Zeit von Herrn v. Marschall empfangen worden. Er habe nicht den geringsten Zweifel gehabt, daß Herr v. Marschall der Gewährsmann des Angeklagten v. Lützow sei. Erst durch das entschiedene Dementi des Wolffschen Bureaus sei er auf den Gedanken gekommen, daß es sich vielleicht um einen Schlag gegen Herrn v. Marschall handeln könnte. Er habe deshalb an Frhrn. v. Marschall geschrieben und durch den Wirklichen Legationsrat Dr. Hammann die Antwort erhalten, daß die Zweifel an der Richtigkeit der Mitteilung durchaus berechtigt seien. Er sei dann noch durch Herrn Dr. Hammann persönlich empfangen worden. Er habe Herrn v. Lützow im allgemeinen zugesagt, daß sein Name als Verfasser der von ihm gelieferten Artikel nicht genannt werden würde; in diesem wichtigen Falle habe er aber gleich erklärt, daß er ihn für die Richtigkeit dieses Artikels mit verantwortlich machen müsse. Er hätte Herrn Dr. Hammann aber den Namen des Herrn v. Lützow auch noch nicht genannt, wenn dieser ihm nicht die Versicherung abgegeben hätte, daß über den Inhalt der Unterredung absolutes Stillschweigen beobachtet werden solle. Dies war Herrn Dr. Hammann unter dem Zwange der Zeugnispflicht nicht möglich. Herr Dr. Hammann habe ihm ja selbst auch noch verschiedene Mitteilungen bei dieser Gelegenheit gemacht. Er habe ihm u.a. gesagt, daß seit Monaten gegen das Auswärtige Amt gehetzt und auf den Sturz des Herrn v. Marschall hingearbeitet werde; der fragliche Artikel sei nur ein Glied in dieser Kette.

Vors.: Wie kommt es dann aber, daß Sie trotz der Aufklärung, die Sie von dem Herrn Dr. Hammann erhalten haben, doch noch den zweiten Artikel aufgenommen haben?

Angekl. Dr. Plötz: v. Lützow ist trotz alledem dabei verblieben, daß die Mitteilung richtig sei. Er hat wiederholt ehrenwörtlich versichert, daß er die Meldung direkt von Herrn v. Marschall habe, und daß Herr Dr. Hammann der bekannte „Beschwichtigungsrat“ des Auswärtigen Amtes sei. Ich forderte alsdann Herrn von Lützow in Gegenwart von Zeugen auf, doch noch einmal zu Herrn v. Marschall zu gehen; man hatte schon im geheimen Vorkehrungen getroffen, um ihn zu beobachten, ob er wirklich in das Auswärtige Amt gehe. Der zweite Artikel wurde nur aufgenommen, nachdem zwei Stellen aus dem Manuskript gestrichen waren, und zwar lediglich zu dem Zweck, um noch näher darzulegen, worin die englischen Einflüsse ihren Grund haben sollten. Die Redaktion hat an diesen Artikel eine dementierende Bemerkung geknüpft und geglaubt, der Öffentlichkeit auch damit einen Dienst zu leisten, weil sie gewillt war, eventuell den Verfasser einer erfundenen Sensationsnachricht preiszugeben.

Der Vorsitzende macht den Angeklagten v. Lützow darauf aufmerksam, daß die Darstellung des Dr. Plötz eine weit größere Wahrscheinlichkeit für sich habe, als die seinige. „Ich muß mich wundern,“ fügte der Vorsitzende hinzu, „daß ein ehemaliger Offizier, der doch gewöhnlich sein Ehrenwort hochhält, in der Weise damit umgeht, wie Sie es getan.“

Angeklagter v. Lützow: Ich kann nur behaupten, daß die Unterredung nicht diesen Verlauf genommen hat.

Vors.: Antworten Sie nun klar und einfach: Haben Sie ehrenwörtlich erklärt, daß Sie die Notiz persönlich von Herrn v. Marschall empfangen haben?

Angekl.: Nein, ich habe nur auf Ehrenwort erklärt, daß ich die Notiz von meinem Gewährsmann habe. Ich bitte, mir ebensoviel Glauben zu schenken, wie Herrn Dr. Plötz. Ich bleibe dabei, daß ich weder direkt noch indirekt Herrn Dr. Plötz die Erlaubnis erteilt habe, meinen Namen zu nennen. Ich habe nie und nimmermehr behauptet, daß ich von Herrn v. Marschall empfangen worden bin. Hätte mir Herr Dr. Plötz gesagt, daß er mich genannt habe, dann hätte noch alles geändert und der zweite Artikel verhindert werden können.

Angekl. Dr. Plötz versicherte dagegen, daß v. Lützow ihm vor dem Erscheinen des zweiten Artikels geradezu gedroht habe, „ihm die Suppe gehörig einbrocken zu wollen,“ wenn er den Artikel nicht brächte. Zeugen dafür seien die Redakteure Holländer und Dr. Martin Langen.

Angekl.: Leckert erklärte auf Befragen: Es sei unwahr, daß er v. Lützow gesagt: er sei von Herrn v. Marschall empfangen worden; er habe nur behauptet: Herrn v. Marschall würde die Lancierung der Nachricht richt sehr angenehm sein.

Hierauf wurde der Angeklagte Berger vernommen.

Angeklagter Berger bestritt, daß die „Staatsb.-Ztg.“ die Absicht gehabt habe, Beleidigungen auszusprechen. Sie haben nur gegen das seltsame Treiben und die Mißwirtschaft der Reichsoffiziösen Front machen zu müssen geglaubt, die in den Reichsämtern aus- und eingehen, wie beispielsweise die Vertreter der „Köln. Ztg.“, und dann in ihren Blättern eine Hetze gegen die nähere Umgebung des Kaisers betreiben. Die Artikel sollten nur dazu beitragen, daß die ganze offiziöse Quertreiberei einmal ganz aufgedeckt werde. Die Mutmaßung, daß Herr v. Marschall oder Prinz Hohenlohe die Hintermänner der Aktion gegen den Grafen zu Eulenburg seien, sei einem Berichte des Angeklagten Föllmer entnommen, um darzutun, wieweit die Dinge bereits gediehen seien, wenn schon solche Korrespondenzen derartige Mutmaßungen aussprechen.

Angeklagter Föllmer erklärte, daß er eine Rücksprache mit Leckert sen. über die Verhaftung seines Sohnes gehabt habe. Dabei habe ihm dieser die Mutmaßung ausgesprochen, wie sie ihm vom Angeklagten v. Lützow unterbreitet worden war.

Der letzte Angeklagte, Leckert sen., behauptete, daß er von der Art der journalistischen Tätigkeit seines Sohnes keine nähere Kenntnis gehabt habe. Er habe von der Verhaftung seines Sohnes erst nach einigen Tagen erfahren, und den Angeklagten v. Lützow aufgesucht. Dabei habe dieser ihm gesagt, daß der Sohn nun doch einmal sein Ehrenwort bezüglich der Geheimhaltung seiner Gewährsmänner gegeben, und ihn gefragt habe, ob er denn darüber nichts wisse; es würde doch sehr wirkungsvoll sein, wenn man nun so hintenrum den Gewährsmann des Sohnes nennen könnte. Er habe weiter gefragt, ob der Sohn nicht mal den Namen des Prinzen Hohenlohe oder des Herrn v. Marschall genannt habe. Letzteres habe er bejahen können. Er habe Föllmer keine Veranlassung zu so positiver Mutmaßung gegeben.

Am folgenden Tage fragte der Vorsitzende den Angeklagten Dr. Plötz: ob v. Lützow ihm einmal einen Artikel über das Befinden des Kaisers angeboten habe.

Dr. Plötz: Jawohl, ich habe aber den Artikel nicht aufgenommen, weil ich als Arzt den Inhalt nicht für medizinisch zutreffend hielt.

Oberstaatsanwalt Drescher: Um alle Mißverständnisse zu vermeiden, muß gesagt werden, daß es sich um den in der Presse mehrfach aufgewärmten Klatsch von einem Ohrenleiden Sr. Majestät handelte.

Leckert sen. erklärte auf Befragen, daß nach seiner Meinung v. Lützow ihm gegenüber keine Komödie spielte, sondern tatsächlich an das Vorhandensein eines „Gewährsmannes“ glaubte.

Oberstaatsanwalt Drescher: Ich möchte den Angeklagten v. Lützow ganz bestimmt fragen, ob er von dem Kommissar v. Tausch den Auftrag erhalten habe, Ermittelungen nach der Autorschaft eines Artikels der „Münchener Neuesten Nachrichten“ anzustellen, welcher sich mit der Militär-Strafprozeß-Novelle beschäftigte und ganz zu Unrecht gegen den damaligen Minister v. Köller ausgebeutet wurde, dem man fälschlich den Vorwurf der Indiskretion machte.

v. Lützow: Er erinnere sich nicht eines Artikels der „Münchener N.N.“, sondern nur eines solchen im „Hannoverschen Kurier“, der von dem Redakteur Heller herrühren sollte. Er habe einen Auftrag zur Auskundschaftung von Herrn v. Tausch weder direkt noch indirekt erhalten, kenne ihn aber schon längere Zeit und wisse nicht, ob er ihm gesprächsweise etwas über den Verfasser mitgeteilt habe.

Oberstaatsanwalt: Ich habe nichts weiter anzuführen, glaube aber, daß dem Angekl. v. Lützow das Material noch zeitig genug in die Erinnerung gebracht werden wird.

Als erster Zeuge wird der Berichterstatter des Wolffschen Bureaus, de Grahl, vernommen: Das Wolffsche Bureau hatte ein Interesse daran, die Depesche über den Verlauf des Diners so bald wie möglich in einem Vorbericht zu erhalten. Er habe, als der Zar seine Tischrede mit ziemlich leiser Stimme hielt, geglaubt, verstanden zu haben „que mon père“. Der Ausdruck erschien ihm im ersten Augenblick etwas fremdartig, obgleich er wußte, daß auch Kaiser Alexander III. bei einer Tischrede die Worte des Kaisers Wilhelm I. ähnlich mit einem Hinweis auf die traditionellen Freundschaftsbeziehungen zwischen beiden Höfen erwidert hatte. Er (Zeuge) habe zu seiner Sicherheit den Stenographen gefragt, der die Worte ebenso verstanden zu haben glaubte; er habe dann jedoch versucht, Herrn v. Lucanus zu sprechen, was ihm aber nicht sofort gelang. Die Feststellung solcher Tischreden allerhöchster Personen geschehe niemals durch das Hofmarschallamt, sondern durch das Zivilkabinett. Er sei an jenem Tage sehr abgespannt gewesen und habe zu seinem großen Bedauern den Fehler begangen, den von ihm verstandenen Text in dem Vorbericht hierher zu telegraphieren. Er habe aber sofort, als er den richtigen Text erhielt, diesen ohne jeden Verzug seinem Bureau übermittelt.

Durch Befragen des Rechtsanwalts Dr. Lubczynski wurde festgestellt, daß das Wolffsche Bureau den Wortlaut einer Kaiserrede niemals erhält, ehe sie nicht dem Geheimen Zivilkabinett vorgelegen hat, und daß es das erstemal war, daß der Zeuge in dieser Form selbständig einen Vorbericht über eine Kaiserrede telegraphierte.

Der Verteidiger erklärte es für sonderbar, daß in einer so hochpolitischen Angelegenheit Herr v. Lucanus und der Zeuge, die doch dabei aufeinander angewiesen seien, sich vor Absendung des Telegramms nicht zu treffen vermochten.

de Grahl erwiderte: Er sei nicht in demselben Saale gewesen, deshalb konnte ihn Exzellen v. Lucanus unmöglich treffen.

Um die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen, richtete Rechtsanwalt Lubczynski einige Fragen an ihn, die sich auf die Raumverhältnisse des Breslauer Schlosses bezogen und darauf hinausliefen, daß der Zeuge an seinem Standorte schwerlich überhaupt etwas von der Rede des russischen Kaisers habe hören können. Der Zeuge erklärte noch, daß er den Hofmarschall Grafen zu Eulenburg überhaupt erst am Sonntag, 5. September, gesprochen habe, um von ihm zu erfahren, wen der Kaiser von Rußland empfangen habe.

Oberstaatsanwalt: Damit erledigt sich wohl die Behauptung, daß Graf zu Eulenburg Ihnen den falschen Text in die Feder diktiert habe.

de Grahl: Das ist eine vollständig erfundene Behauptung. Jeder Journalist von Fach weiß, daß ich meine Hofberichte nicht vom Hofmarschallamt, sondern vom diensttuenden Flügeladjutanten erhalte, und daß der Text solcher Reden lediglich vom Geh. Zivilkabinett kabinett und niemals vom Hofmarschallamt ausgefertigt wird. Ich wiederhole, daß ich seit 30 Jahren im Dienste des Wolffschen Bureaus stehe und hier infolge Übermüdung ein Versehen begangen habe, das ich ungemein bedauere.

Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge noch: Unser Kaiser pflegt die Reden, die er im Inlande hält, frei zu sprechen. Die Reden werden von einem Stenographen aufgenommen und alsdann der Wortlaut im Geheimen Zivilkabinett festgestellt.

Angekl. v. Lützow: Angesichts der räumlichen Verhältnisse des Königlichen Schlosses in Breslau war es Herrn de Grahl unmöglich, von seinem Standorte überhaupt etwas zu hören. Eine große Anzahl deutscher, russischer und französischer Blätter haben gemeldet: der Text habe „que mon père“ gelautet, daß dieser Text aber nicht gefallen habe, ebenso wie auf russischer Seite der Hinweis des Kaisers Wilhelm auf die Waffenbrüderschaft von 1813 bis 1815 nicht bequem war, und daß deshalb der abgeänderte Text zustande gekommen sei.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ich verweise darauf, daß der Herr Zeuge die Rede des russischen Kaisers so verstanden hat, wie sie in Wirklichkeit gehalten worden ist, nur gerade am Schluß ist ihm ein Irrtum passiert.

Chefredakteur der „Täglichen Rundschau“, Heinrich rich Rippler, bekundete als Zeuge: Leckert kam zum ersten Male Ende August in die Redaktion der „Täglichen Rundschau“. Er stellte sich als Berichterstatter vor, und bat um Aufnahme seiner Artikel mit dem Bemerken, daß er vorzügliche Verbindungen habe. Meines Wissens nach habe ich nur zwei kleine Artikel von Leckert aufgenommen. Als Leckert sich beschwerte, daß so wenig von ihm genommen werde, bemerkte ich ihm: Nachrichten, deren Quelle der Redakteur nicht kenne, verlieren an Wert. Darauf versicherte Leckert auf Ehrenwort: Er sei vom Staatssekretär v. Marschall empfangen worden, und dieser habe auf die Veröffentlichung seiner Artikel besonderen Wert gelegt. Leckert warf überhaupt sehr mit seinem Ehrenwort herum. Nach Erscheinen des bekannten Artikels in der „Deutschen Tageszeitung“ kam Leckert wieder in die Redaktion der „Täglichen Rundschau“ und erklärte in voller Entrüstung, daß er den Inhalt des ersten Artikels in allen Punkten aufrechthalte, er werde es der Redaktion der „D.T.-Z.“ schon „besorgen“. Die Nachricht von der Beurlaubung des Herrn v. Kotze bewahrheite sich ebenfalls, er habe Herrn v. Kotze selbst in Breslau gesehen. Leckert identifizierte sich stets mit v. Lützow. Ich gewann den Eindruck, daß auch der erste Artikel in der „Welt am Montag“ vollständig von Leckert herrührte. Leckert hat sich offenbar in großprahlerischer Weise mit fremden Federn geschmückt, denn v. Lützow sagte bei Wiedererzählung einzelner von Leckert gemachten Mitteilungen wiederholt: „Alles Schwindel.“ v. Lützow behauptete außerdem, daß einige Artikel, wie z.B. der über Herrn v. Kotze, deren Autorschaft Leckert in Anspruch nahm, von ihm verfaßt worden seien, v. Lützow gab der Vermutung Ausdruck, daß Leckert wahrscheinlich einen Gewährsmann habe, dieser gehöre aber nicht zu den höheren Beamten. Leckert, so sagte v. Lützow, sei ein Schwindler, den man preisgeben müsse. Ich hatte den Eindruck, daß Leckert nur ein Werkzeug des Angeklagten v. Lützow sei.

Angekl. Leckert gab auf Befragen zu, daß der Artikel über Herrn v. Kotze von v. Lützow herrühre. Dieser habe ihm aber ganz bestimmt versichert, daß er v. Kotze selbst in Breslau gesehen habe. Er (Leckert) gebe auch zu, daß er sich fälschlich für den Verfasser des Bronsart-Artikels Herrn Rippler gegenüber ausgegeben habe, er war aber von v. Lützow dazu autorisiert.

v. Lützow bestätigte das.

Chefredakteur Rippler: Leckert hat auch einen Berlepsch-Artikel fälschlich als sein Geistesprodukt ausgegeben; tatsächlich hat diesen Artikel v. Lützow verfaßt. Die Intimität der beiden geht auch daraus hervor, daß v. Lützow immer ganz genau unterrichtet war, was Leckert tat. Leckert hat wiederum alles, was v. Lützow erlebt hat, stets als Selbsterlebtes dargestellt. Dazu gehörten auch seine angeblichen Beziehungen zu dem Kriegsminister v. Bronsart.

Leckert: Ich hatte niemals Beziehungen zu dem Kriegsminister v. Bronsart.

Vors.: Angekl., ist bei Ihnen vielleicht eine starke Renommisterei mit im Spiele?

Leckert: Das gebe ich als möglich zu.

Oberstaatsanwalt: Ist vielleicht die Behauptung von der vom Herrn Reichskanzler gewährten Audienz auch auf diese Neigung zurückzuführen?

Leckert: Nein, die Mitteilung über die Begegnung mit dem Reichskanzler halte ich voll aufrecht.

Unter allgemeiner Spannung erschien hierauf Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst als Zeuge.

Vorsitzender: Der Gerichtshof ist genötigt gewesen, Ew. Durchlaucht als Zeugen laden zu müssen, da der Angeklagte Leckert behauptet, von Ew. Durchlaucht in Breslau zu kurzer Unterredung empfangen worden zu sein.

Zeuge: Ich kann keine bestimmte Auskunft geben. Ich weiß, daß ich im Vorzimmer meiner Wohnung in Breslau einen jungen Mann gesprochen habe, der vielleicht der Angeklagte Leckert gewesen ist. Was er mir gesagt hat, weiß ich nicht mehr, ebensowenig, was ich ihm gesagt habe. Ich habe aber meinen Kammerdiener gefragt, ob ihm von dieser Begegnung noch etwas im Gedächtnis geblieben ist. Nach dessen Erinnerung wurde, als ich mich ankleidete, um ins Königliche Schloß zur Galatafel zu gehen, an der Tür geklopft. Der Kammerdiener öffnete und sah einen jungen Mann, der eine Karte und eine Manöverkarte vorzeigte, und von mir empfangen sein wollte. Ich ließ dem jungen Mann sagen, daß dies nicht angehe, er bemerkte aber, daß er mir sehr wichtige Mitteilungen zu machen habe. Als ich aus meinem Zimmer trat, fand ich den jungen Mann im Vorzimmer. Er teilte mir etwas mit, ich kann jedoch mit Sicherheit darüber keine Auskunft geben.

Vors.: Fragten Ew. Durchlaucht vielleicht den jungen Mann noch irgend etwas?

Zeuge: Er teilte mir etwas mit, ich habe an ihn vielleicht auch eine Frage gerichtet.

Oberstaatsanwalt: Richtete der junge Mann an Ew. Durchlaucht vielleicht die Frage, wer Nachfolger des Fürsten Lobanow sein werde?

Zeuge: Das ist möglich, da die Sache damals durch die Zeitungen ging. Ich hätte aber schwerlich etwas antworten können, da mir nichts darüber bekannt war.

Leckert: Ich richtete an Ew. Durchlaucht eine Frage über die Aussichten des Grafen Kapnist als Nachfolger des Fürsten Lobanow.

Zeuge: Das ist möglich.

Hierauf wurde der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr Marschall v. Biberstein als Zeuge vernommen.

Vorsitzender: Das Zeugnis Ew. Exzellenz ist vom Gericht in zwei Richtungen für erforderlich erachtet worden: einmal dahingehend, in welchen Beziehungen Ew. Exzellenz selbst oder das Auswärtige Amt zu den Angeklagten Leckert und v. Lützow gestanden haben; sodann welche Stellung das Auswärtige Amt gewissen Zeitungen und den in den „reichsoffiziösen“ Zeitungen veröffentlichten Artikeln gegenüber einnimmt. Ich frage zunächst, ob Ew. Exzellenz einer von den beiden Angeklagten bekannt ist?

Zeuge: Nein, den ersten Angeklagten habe ich nie gesehen.

Vors.: Haben Ew. Exzellenz den Angeklagten Leckert jemals empfangen?

Zeuge: Nein, einen so jungen Menschen würde ich überhaupt nie empfangen. Ich erkläre aufs bestimmteste, daß ich den jungen Mann niemals empfangen habe. Die einzige Möglichkeit wäre, daß er mir vielleicht einmal im Reichstage, wo mir manche Herren von der Presse vorgestellt werden, gleichfalls vorgestellt worden ist; ich erinnere mich aber dessen nicht.

Vors.: Ist Ew. Exzellenz bekannt, daß sich Leckert auf Beamte des Auswärtigen Amtes als Gewährsmänner ner seiner Nachrichten beruft, und daß er behauptet: er habe die Information zu seinen beiden Artikeln, die unter Anklage stehen, von Beamten des Auswärtigen Amtes, von der „Umgebung des Herrn v. Marschall“, wie er sich ausdrückt? Haben Ew. Exzellenz vielleicht eine Umfrage unter den Beamten des Auswärtigen Amtes gehalten, um diesen Gewährsmännern auf die Spur zu kommen?

Zeuge: Nachdem mir bekannt geworden ist, daß sich der Angeklagte auf Beamte des Auswärtigen Amtes als seine Gewährsmänner beruft, habe ich sofort eine schriftliche Umfrage unter allen Beamten des Auswärtigen Amtes bis herab zu den Subaltern- und Unterbeamten gehalten, ob sie jemals eine Beziehung zu dem Angeklagten Leckert gehabt haben. Alle ohne Ausnahme haben diese Frage verneint. Dem Herrn Oberstaatsanwalt gegenüber habe ich mich bereit erklärt, erforderlichenfalls alle Beamten vom Dienstgeheimnis zu entbinden. Ich bin jedoch der Ansicht: es handelt sich in dieser Sache um den bekannten „großen Unbekannten“, der in Gerichtssälen sooft eine Rolle spielt. Was meine Kenntnis über das Zustandekommen der Depesche bezüglich des Kaisertoasts betrifft, so setzte ich voraus, daß der Stenograph nicht in der Lage sei, Französisch zu stenographieren; ich habe deshalb den Toast des Kaisers von Rußland sofort so aufgeschrieben, wie ich ihn gehört habe, und habe den Text von einem hochgestellten russischen Beamten verifizieren lassen. Unter den Teilnehmern der Galatafel konnte gar kein Zweifel darüber obwalten und waltete nicht ob, was der Kaiser von Rußland gesagt habe. Ich reiste am 7. September nach Karlsruhe ab und las in der Zeitung zu meinem Erstaunen, daß das Wolffsche Bureau einen falschen Text der Rede veröffentlicht habe. Ich telegraphierte deshalb von Karlsruhe aus sofort an das Auswärtige Amt und wies dies an, Nachforschungen darüber anzustellen, wie es möglich war, daß das Wolffsche Bureau noch vor der Zustellung des amtlichen Wortlautes einen Vorbericht mit einem falschen Text veröffentlichte. Da hat sich dann ergeben, daß hier ein Versehen des Berichterstatters de Grahl vorlag. Herr de Grahl hat seinen Standort als „auf der Galerie“ eines Nebensaales oder in einem mit einer Erhöhung versehenen Nebensaale bezeichnet. Daß ein Doppeltext des Toastes vorhanden gewesen, von denen der eine reprobiert und der andere akzeptiert worden sei, sind müßige Erfindungen. Von Verabredungen nach dieser Richtung hin müßte ich etwas wissen, solche Verabredungen haben nicht bestanden. Das Hofmarschallamt hat mit diesen Dingen überhaupt nichts zu tun, sondern nur das Zivilkabinett. Als ich nach Berlin zurückkehrte, erfuhr ich von den Artikeln der „Welt am Montag“, die ich bis dahin gar nicht kannte, und der „Staatsb.- Ztg.“, die sich mit der angeblichen offiziösen Preßwirtschaft und der Fälschung des Kaisertoastes beschäftigte. Ich war höchst erstaunt darüber, erwiderte aber dem Herrn Dr. Hammann auf dessen Frage, ob man eine Berichtigung loslassen solle, daß dies nicht nötig sei, da die Sache zu unsinnig sei, und daß eine Berichtigung höchstens vom Wolffschen Telegraphenbureau ausgehen könne. Letzteres hat dann auch bald darauf ein Dementi gebracht. Eines Tages erhielt ich einen Brief des Herrn Dr. Plötz mit Anfragen über die Wahrheit oder Unwahrheit der Mitteilungen. Dr. Plötz wurde von Herrn Dr. Hammann empfangen, und dieser ließ dem Dr. Plötz keinen Zweifel darüber, daß alles Schwindel sei. Dr. Plötz wurde gesagt, daß, wenn alles Schwindel sei, er doch kein Interesse haben könne, den Namen des Verfassers zu verschweigen. Daraufhin ist der Name des Herrn v. Lützow genannt worden. Ich erkundigte mich, wes Geistes Kind Herr v. Lützow sei, und erfuhr, daß dieser in Journalistenkreisen in dem Rufe stehe, ein Agent der politischen Polizei zu sein. Ich weiß, daß die Mitteilungen dieser Personen häufig am giftigsten wirken, denn diese Personen maßen sich oft eine gewisse Autorität an, die sie nicht besitzen, sie flüstern sich die Dinge von Ohr zu Ohr, und sie sind unfaßbar. Ich bat um den Besuch des Polizeipräsidenten; letzterer sagte mir bei der Unterredung: Herr v. Tausch habe ihm auch die Meldung gemacht, daß dieser Artikel aus dem Auswärtigen Amte stamme, Ich erwiderte, daß es für mich doch von großer Tragweite sei, wenn ein Beamter der Polizei seinem Vorgesetzten mitteile, eine begangene Infamie stamme aus einem Amte, dem ich vorstehe. Ich ersuchte um Ermittelung, ob etwa Herr v. Lützow dahinterstecke; der Polizeipräsident bestätigte mir dies schon nach einiger Zeit, und ich fand meine Vermutung gleichfalls bestätigt, daß v. Lützow im Dienste der politischen Polizei stehe. Der Minister des Innern hat mir später das betreffende Aktenstück des Herrn v. Tausch zur Verfügung gestellt. Bei den Unterredungen mit diesem ergab sich der Eindruck, daß Herr v. Tausch alle Schuld auf Leckert wälzen und v. Lützow möglichst exkulpieren wollte. Ich erwiderte: Da einer von beiden sich die Mitteilung einfach aus den Fingern gesogen haben muß, so ist es nicht einzusehen, warum gerade Leckert dies getan haben muß. Ich habe später Herrn Dr. Hammann beauftragt, verschiedene Korrespondenten, die ihn besuchten, zu bitten, nachzuforschen, wer Herr v. Lützow eigentlich sei, und ihnen nahezulegen, daß hier von einem Redaktionsgeheimnis keine Rede sein könne, denn hier handle es sich darum, ein Treiben zu entlarven, an dessen Beseitigung die anständige Presse das lebhafteste Interesse haben müsse. Es wurde dabei bestätigt, daß Herr v. Lützow als Agent der Polizei lizei gelte. Der Zeuge ging nun auf die „Staatsbürgerzeitung“ ein. Schon seit länger als Jahresfrist seien in diesem Blatte Artikel erschienen, in denen angedeutet wurde, daß in dem Auswärtigen Amt die Quelle zu suchen sei, aus der die Verhetzungen von hohen Beamten gegeneinander stammten. Der Name des Zeugen werde mit einer „Kamarilla“ in Verbindung gebracht; es wurde behauptet, daß die Fäden der Intrigen in der Wilhelmstraße zusammenliefen und ähnliche Andeutungen mehr, die keinen Zweifel darüber ließen, daß die Spitze sich gegen das Auswärtige Amt richten solle. Es liege hier einer der Fälle vor, daß man eine bestimmte Person im Auge habe und doch vermeiden wolle, mit dem § 185 StGB. in Konflikt zu kommen. Im vorigen Jahre sei in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ ein Artikel über die Militärstrafprozeßnovelle erschienen. Damals habe die „Staatsbürgerzeitung“ ebenfalls angedeutet, daß die Quelle des Artikels im Auswärtigen Amt zu suchen sei, und man bezwecke, die Minister Bronsart v. Schellendorf und v. Köller zu verhetzen. Es seien Ermittelungen nach dem Verfasser des Artikels angestellt worden, die aber nur den Erfolg gehabt hätten, festzustellen, daß in dem Ministerium des Innern keinerlei Indiskretion begangen sei. Als der Prozeß gegen v. Lützow im Gange war, habe er (Zeuge) vom Kriegsminister v. Goßler erfahren, daß Kriminalkommissar missar v. Tausch den Journalisten Kukutsch als denjenigen bezeichnete, welcher ihm anvertraute Geheimnisse verraten habe. v. Tausch habe erklärt, daß v. Lützow ihm diese Mitteilung gemacht habe. Dann sei im „Hamburger Korrespondenten“ ein Artikel über die Militärstrafprozeßordnung erschienen und ebenso unterm 28. April in der „Köln. Zeitung“ ein Artikel ähnlichen Inhalts, der Dinge enthielt, welche der Verfasser nur durch einen Vertrauensbruch erfahren haben konnte. Auch bei dieser Gelegenheit habe man auf das Auswärtige Amt verwiesen. Er (v. Marschall) habe vor einigen Tagen der „Kölnischen Zeitung“ mitgeteilt, daß dieser Artikel auch in dem gegenwärtigen Prozeß eine Rolle spielen würde, und hieran das Ersuchen geknüpft, ihm nunmehr den Verfasser zu nennen. Darauf habe er gestern ein Schreiben erhalten, worin sich Hauptmann a.D. Fritz Hönig als Verfasser bekenne, aber gleichzeitig die Versicherung abgegeben habe, daß seine Informationen nicht von irgendeinem Beamten herrührten, es sich vielmehr um eine Privatarbeit handle. Der Zeuge erörterte sodann die Geschäftsführung in dem Preßbureau des Auswärtigen Amtes, das unter der Leitung des Wirklichen Legationsrats Dr. Hammann stehe. Das Preßbureau sei ein notwendiges Übel, am liebsten wäre es ihm, wenn er dies Institut entbehren könnte. Es gäbe eine ganze Reihe von Blättern, welche die auswärtige Politik tik unterstützten, teils dadurch, daß sie der Regierung günstige Artikel aufnähmen, teils dadurch, daß sie beim Preßbureau des Auswärtigen Amtes anfragen ließen, ob von der ausländischen Presse verbreitete Nachrichten über deutsche Verhältnisse der Wahrheit entsprächen. Aber es habe dem Auswärtigen Amte stets ferngelegen, irgendwelchen Einfluß auf die Tendenz der Blätter auszuüben, die von ihm Informationen erhalten. Dr. Hammann empfange die Vertreter der Presse und habe die strenge Weisung, bei der Erteilung von Informationen alles zu vermeiden, was in der Öffentlichkeit irgendwelche Beunruhigung hervorzurufen geeignet sei. Auch in betreff der Hamburger Enthüllungen habe er angeordnet, daß außer den beiden Artikeln im „Reichsanzeiger“ keinerlei Inspirationen erfolgen sollten, aber trotz dessen seien in allen möglichen Zeitungen wohl über 100 Artikel über dies Thema erschienen, und auch dies werde dem Auswärtigen Amt in die Schuhe geschoben. Dies sei ein Punkt, wo die Presse selbst ansetzen müßte, um eine Änderung einzuführen. So wie bei uns, werde es bei allen auswärtigen Ministerien der Welt gehandhabt. Das Auswärtige Amt könne unmöglich deshalb, weil es gewisse Beziehungen zu bestimmten Blättern unterhält, für alle Artikel dieser Blätter verantwortlich gemacht werden. Diese Blätter bleiben völlig unabhängig. Selbst Artikel, die gegen ihn selbst gerichtet waren, gelten als offiziös. (Heiterkeit.) Vom Auswärtigen Amte seien niemals persönliche Angriffe ausgegangen, weder gegen aktive noch gegen frühere Minister und Beamte. Auf weiteres Befragen erklärte der Zeuge, daß er unter allen Umständen Strafantrag gestellt haben würde, wenn das Auswärtige Amt in irgendwelche Beziehung zu den „Unverantwortlichen“ gebracht würde. Herrn v. Lützow würde er nicht empfangen haben.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski richtete eine ganze Reihe von Fragen an Freiherrn v. Marschall, die feststellen sollten, inwieweit diesem die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten v. Lützow bekannt seien, und inwieweit die in verschiedenen Blättern erschienene Behauptung, daß v. Lützow wegen Verdachts der Spionage aus dem Offizierstande entfernt sei, auf Inspiration des Auswärtigen Amtes zurückzuführen sei. Herr v. Marschall erklärte, daß er über letztere Frage nichts wisse.

Auf eine Frage des Rechtsanwalts Glatzel erwiderte Freiherr v. Marschall, daß er es dem Gerichtshofe überlassen müsse, über die mala fides der „Staatsbürgerzeitung“ sich zu entscheiden; aber wenn einer so systematisch mit Anklagen gegen das Auswärtige Amt vorgehe, wie die „Staatsbürgerzeitung“, so müsse man doch annehmen, daß ihm vollständiges Material zur Verfügung stehe, und deshalb sei auch anzunehmen, daß seine eigene (des Zeugen) Tätigkeit zur Ermittelung der Urheberschaft ihm bekannt sein mußte. Es frage sich, auf Grund welchen positiven Materials die „Staatsbürgerzeitung“ sich berechtigt glaubte, systematisch so schwere Angriffe gegen einen Minister zu richten, bisher sei solch Material nicht in die Erscheinung getreten.

Vert. Rechtsanwalt Glatzel: Seit Jahren besteht in der Presse, welche sich nicht für offiziös hält, die Überzeugung, daß eine offiziöse Preßmißwirtschaft, wie sie von der „Staatsbürgerzeitung“ behauptet wurde, tatsächlich existiert, daß eine Reform dringend notwendig sei und auch von Allerhöchster Stelle mit Rücksicht auf die Verwirrung, die dadurch angerichtet werde, als berechtigt anerkannt worden sei.

Frhr. v. Marschall: Er könne seine Beziehungen zur Presse nicht noch enger ziehen, als er es getan, wenn nicht das Staatsinteresse darunter leiden solle. Er wünschte, daß er mit der Presse überhaupt nichts zu tun hätte, denn er wisse, daß damit immer Anfeindungen verknüpft seien. Es gehe aber nicht anders. Von einer Preßmißwirtschaft im Auswärtigen Amte könne keine Rede sein; die Preßmißwirtschaft liege in allererster Reihe darin, daß gewisse Blätter eine Polemik mit einem anderen Blatte gar nicht führen zu können vermeinen, ohne daß sie den Gegner als „offiziös“ denunzieren.

Rechtsanwalt Glatzel: Daß eine Preßmißwirtschaft besteht, zeigt doch die Tatsache, daß ein so anerkannt offiziöses Blatt, wie die „Kölnische Zeitung“ auf Allerhöchsten Befehl aus dem Schlosse verbannt worden ist.

Freiherr v. Marschall: In keinem Ministerium der Welt kann man den Zeitungen, welche sich bereit erklären, Ansichten der Regierung Raum zu gewähren, zur Pflicht machen, niemals irgend etwas gegen ein Regierungsamt zu schreiben.

Rechtsanwalt Glatzel wünschte die Verlesung eines Artikels der „Staatsbürgerzeitung“, aus welchem hervorgehen werde, daß es der „Staatsbürgerzeitung“ nicht auf eine Beleidigung des Freiherrn v. Marschall, sondern auf die Bloßlegung eines Krebsschadens und auf die Reform offenbarer Mißverhältnisse ankam.

Oberstaatsanwalt Drescher: Wenn doch noch Verlesungen stattfinden sollen, so beantrage ich die Verlesung einer Broschüre, welche schon in diesem Hause Gegenstand gerichtlicher Maßnahmen geworden ist. Sie wird beweisen, daß die „Staatsbürgerzeitung“ und die antisemitische Presse am allerwenigsten sich zu echauffieren Veranlassung hat über Angriffe, die gegen die Umgebung des Kaisers erhoben werden. Die Broschüre ist betitelt „Geheimes Judentum“, „Nebenregierung“ und „Jüdische Weltherrschaft“. schaft“. Diese Broschüre enthält die pöbelhaftesten Angriffe gegen den Hof, behauptet, daß die Umgebung des Kaisers – unter besonderem Hinweis auf Herrn v. Lucanus – aus Judenabkömmlingen besteht, und daß ein förmlicher Ring die Entschlüsse des Kaisers beeinflußt. Der Verfasser war der Gesinnungsgenosse der „Staatsbürgerzeitung“, der bekannte Karl Paasch, der von dieser nach allen Richtungen hin verherrlicht worden ist. Wo war denn gegenüber dieser Broschüre die „Staatsbürger-Zeitung“, um im Interesse des Staates ihre Stimme zu erheben?

Der Gerichtshof beschloß: die Verlesung nach Schluß der Zeugenvernehmung vorzunehmen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski beantragte darauf die Vorladung des Chefs des Geheimen Zivilkabinetts, Wirkl. Geheimen Rats Dr. v. Lucanus oder dessen Sekretärs, um die Stunde feststellen zu können, wann Herr de Grahl den richtigen Wortlaut erhalten hat.

Zeuge de Grahl erklärte, daß dies zwischen 10 und 11 Uhr abends gewesen sein müsse.

Oberstaatsanwalt: Ich muß doch entschieden bitten, mitzuteilen, zu welchem Zweck derartige Anträge dienen sollen.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Bei einem so hervorragend politischen Prozeß ist es doch nötig, die denkbar größte Klarheit zu verbreiten. Uns liegt natürlich türlich daran, festzuhalten, daß Herrn de Grahl der erste Wortlaut aus der Umgebung des Kaisers zugestellt ist.

Oberstaatsanwalt: Will Herr v. Lützow wirklich bei dieser ungeheuerlichen Behauptung bleiben, dann fordere ich ihn auf, nun endlich klipp und klar den Namen der Person zu nennen, die er im Auge hat. Dazu sollte ihn doch sein eigenes Ehrgefühl bewegen.

v. Lützow erklärte sich dazu nicht imstande.

Wirkl. Legationsrat Dr. Hammann gab zu: er habe davon gesprochen, daß v. Lützow in journalistischen Kreisen als Polizeivigilant gelte; seine Gewährsmänner seien v. Huhn, Dir. Dr. Mantler u.a. Die Informationen zu den die Person des Herrn v. Lützow betreffenden Nachrichten, betr. das ehrengerichtliche Verfahren und dessen Ausgang, rühren nicht von ihm, sondern wahrscheinlich von ganz anderen Personen her.

Die Vernehmung des Legationsrats Prinzen Alexander v. Hohenlohe-Schillingsfürst beschränkte sich darauf, daß der Zeuge erklärte, weder Leckert noch v. Lützow je gesehen oder einen von ihnen empfangen zu haben.

Wirkl. Legationsrat v. Hollstein erklärte als Zeuge, daß er Leckert zum ersten Male sehe und von Zuwendung von Nachrichten an diesen durch seine Person absolut keine Rede sein könne.

Direktor Dr. Mantler von Wolffs Telegraphenbureau: Er habe das viel besprochene Dementi in der „Deutschen Tageszeitung“ veranlaßt, um den vielfachen Erörterungen über die Meldung des Wolffschen Bureaus bezüglich des Kaisertoastes ein Ende zu machen. Soweit er sich erinnere, ist die erste Depesche um 1/412 Uhr hier im Bureau eingegangen, die Berichtigungsdepesche traf erst wahrscheinlich nach 1 Uhr ein. Da es Sonnabendnacht war, so lag für das Bureau keine Möglichkeit vor, diese Berichtigung wenigstens noch den Berliner Blättern mitzuteilen.

Der folgende Zeuge war der Verleger des „Breslauer Generalanzeigers“ Werle: Er habe v. Lützow als Manöverberichterstatter engagiert. Dieser habe ihm dann in Breslau Leckert als seinen Bekannten und geschickten Journalisten vorgestellt. Letzterer habe gesagt, daß er eine Unterredung mit dem Reichskanzler gehabt habe. Nachdem er versichert, daß alles, was er darüber melden werde, Tatsachen seien, habe er Leckert aufgefordert, das Manuskript einzuschicken, und das sei denn auch geschehen. Er sei dann von Leckert mit den 100 M. hineingelegt worden. v. Lützow habe ihm bei Antritt der Verbindung geschrieben, daß er Hofstaatenbeziehungen habe.

Oberstaatsanwalt: Ich möchte vom Angeklagten v. Lützow wissen, zu welchen Hofstaaten er Beziehungen habe.

Angekl.: Das habe ich wohl nicht gesagt, ich habe wohl nur von Beziehungen zu Hofkreisen, militärischen Kreisen u. dgl. gesprochen.

Oberstaatsanwalt: Welche Beziehungen hatten Sie zu Hofkreisen?

v. Lützow: Direkte Beziehungen habe ich nicht im Auge gehabt, sondern nur gesagt, daß ich infolge meiner gesellschaftlichen Stellung mit derartigen Kreisen in Berührung komme und mancherlei höre.

Alsdann erschien als Zeuge Kriminalkommissar v. Tausch. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei seit etwa vier Jahren mit dem Angeklagten v. Lützow bekannt, auf welche Weise die Bekanntschaft entstanden sei, wisse er nicht mehr.

Vors.: Hat v. Lützow der Polizei Dienste geleistet, Recherchen vorgenommen oder dergleichen?

Zeuge: Jawohl. Wenn mir ein Artikel aufstieß, von welchem ich annahm, daß er die Polizei beschäftigen könne, dann wandte ich mich an Herrn v. Lützow und bat ihn, den Verfasser zu ermitteln. Wir müssen derartige Leute haben. Was v. Lützow zu erledigen hatte, war durchaus harmlos und keineswegs unehrenhaft.

Vors.: Sie mußten also doch annehmen, daß v. Lützow der geeignete Mann war, der bereit ist, derartige Aufträge zu erledigen?

Zeuge: Das habe ich angenommen.

Vors.: Also diese Beziehungen zwischen Ihnen und dem Angeklagten haben vier Jahre bestanden?

Zeuge: Jawohl, ungefähr so lange.

Vors.: Wie war es nun, als der Artikel in der „Welt am Montag“ erschien? Haben Sie sich dabei auch an v. Lützow gewandt, um den Verfasser zu ermitteln?

Zeuge: Ich fragte Herrn v. Lützow nach dem Verfasser des Artikels der „Welt am Montag“. Da nannte er sich selbst und fügte hinzu: Der Artikel rührt vom Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Freiherrn v. Marschall her, der Leckert die erforderlichen Informationen gegeben hat. Ich hielt es für unglaublich, daß sich das Auswärtige Amt zur Unterbringung eines inspirierten Artikels eines so blutjungen Menschen wie Leckert bedienen werde. Ich erzählte die ganze Sache in Form eines Vortrages dem Herrn Polizeipräsidenten, der natürlich auch den Kopf schüttelte. Am folgenden Tage erklärte mir der Polizeipräsident: Er habe sich bei Herrn v. Marschall erkundigt und erfahren, daß alles Schwindel sei. Ich habe alsdann Herrn v. Lützow kommen lassen, ihm das Ergebnis mitgeteilt und ihn gebeten, nur in Form eines Berichts die Entwickelung der ganzen Angelegenheit darzustellen: v. Lützow blieb aber dabei, daß die Sache der Wahrheit entspreche, v. Lützow sagte: Leckert ist gar nicht so unbedeutend, wie ich vielleicht annehme. Der junge Mann habe vortreffliche Verbindungen, er sei in Breslau von Herrn v. Marschall in jovialer Weise empfangen worden. v. Lützow hat mir dies auch noch schriftlich versichert. Ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß v. Lützow von Leckert düpiert worden sei.

Vors.: Haben Sie v. Lützow aufgefordert, Ihnen Leckert einmal vorzustellen?

Zeuge: Nein, ich kannte Leckert von Ansehen vom Breslauer Kaisermanöver aus. Ich bin der Ansicht, daß Leckert in der Tat einen Hintermann hat, denn ich halte ihn für zu unerfahren in der Politik, um sich selbst eine so fein eingefädelte Intrige auszudenken. Sein Gewährsmann dürfte natürlich in anderen Kreisen zu suchen sein. Der Hintermann dürfte mehr die Absicht gehabt haben, dem Staatssekretär v. Marschall ein Bein zu stellen.

Vors.: Es wäre nun sehr interessant, diesen Hintermann kennenzulernen.

Zeuge: Es ist nicht unmöglich, daß dieser Hintermann noch gefunden wird.

Staatssekretär v. Marschall: Die Annahme des Kommissars, daß Leckert einen Hintermann habe, ist ja recht interessant, es wäre aber wünschenswert, wenn der Herr Beamte seine Anschauung begründete. Ist es dem Herrn Kommissar nicht bekannt, daß die Polizei Leute benutzt hat, die sich Skandalartikel aus den Fingern sogen zu Angriffen gegen das Auswärtige Amt? Ich erinnere nur an Herrn Normann-Schumann.

v. Tausch: Wir sind Polizeibeamte, Herr Staatssekretär, und wir müssen Leute haben, die bei der Presse bekannt sind. Einen Herrn, der beim „Ulk“ oder den „Fliegenden Blättern“ angestellt ist, können wir allerdings nicht gebrauchen. Wir auf der Polizei treiben keine Politik. Wir erfüllen nur die Aufträge, die wir bezüglich der Ermittelung journalistischer Angelegenheiten erhalten. Es ist fern von uns, auf eigene Faust Politik zu treiben.

Staatssekretär v. Marschall: Der Herr Polizeikommissar verteidigt sich gegen Vorwürfe, die kein Mensch gegen ihn erhoben hat. Ich erinnere den Kriminalkommissar nur daran, daß ein gewisser Normann-Schumann auch von ihm zur Ermittelung in Preßsachen benutzt worden ist, und daß sich dann herausgestellt hat, daß dieser selbe Vertrauensmann Normann-Schumann fast alle die Skandal-Artikel gegen das Auswärtige Amt selbst verfaßt hat, bezüglich deren er von Herrn v. Tausch mit Ermittelungen betreffs der Urheber betraut war und die sämtlich aus den Fingern gesogen waren. Nach den Erfahrungen, die Herr v. Tausch mit diesem Herrn Normann-Schumann gemacht hat, möchte ich doch, daß er sich näher erklärt, was er gerade in diesem Falle hier meint, daß Herr Leckert doch wohl einen Hintermann gehabt habe und sich diese Dinge nicht aus den Fingern gesogen habe. Es ist mir das sehr wichtig, denn ich muß annehmen, daß dieser von dem Kriminalkommissar in der Luft gelassene „Hintermann“ zum Piedestal für weitere Verdächtigungen gegen das Auswärtige Amt werden könnte.

Zeuge: Ich habe schon gesagt, daß ich Leckert nicht für politisch genug erfahren halte, Intrigen einzufädeln.

Vors.: Aus dem Protokoll, welches Sie mit Leckert aufgenommen haben, geht hervor daß er Ihnen bald Herrn v. Marschall, bald Herrn v. Hollstein als seinen Gewährsmann bezeichnet hat. Zuletzt hat er gesagt, er habe sein Ehrenwort gegeben, den Mann nicht namhaft zu machen, da dieser sonst seine Stellung verlieren könne. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß ein Beamter für nichts und wieder nichts sich in die Hände eines so jungen Menschen geben sollte?

Zeuge: Ja gewiß, ich halte aber doch an der Annahme fest, daß Hintermänner existieren.

Oberstaatsanwalt: Hat Lützow für die Dienste, die er leistete, Bezahlung erhalten?

Zeuge: Jawohl, er ist für seine Zeit, die er uns opferte, entschädigt worden.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie die Stellung des Herrn v. Lützow denn nicht ebenso aufgefaßt, wie die der sogenannten Vertrauensmänner, welche in den politischen Prozessen eine Rolle spielen?

Zeuge: Nein, keineswegs. Wir müssen Leute an der Hand haben, welche in der Presse bekannt sind. Wir haben noch andere Journalisten an der Hand, aber niemals habe ich einem von ihnen eine Zumutung gestellt, durch deren Ausführung sie sich in ihrer Ehre gekränkt finden konnten.

Vors.: Wenn Sie nun z.B. durch direkte Anfrage bei einer Zeitung auf die Antwort gefaßt sein müssen: „Ja, das ist Redaktionsgeheimnis,“ werden Sie sich dann nicht eines Ihrer Journalisten bedienen?

Zeuge: Ja gewiß, wie soll man es anders machen? Ich muß, um in Preßsachen informiert zu sein, befähigte Leute an der Hand haben, es geht ja gar nicht anders.

Oberstaatsanwalt: Ich will auch gar keinen Vorwurf etwa gegen die Polizei erheben, denn ich weiß, daß diese ohne die Mitarbeit solcher Vertrauensleute nicht ihren Aufgaben gerecht werden kann. Es fragt sich bloß, wie man die Tätigkeit dieser Leute selbst beurteilt.

Zeuge v. Tausch: Und besonders der Polizei! Wenn jemand anderen Behörden Dienste leistet, so sagt man, „sie erhalten Informationen“. Wenn uns solche Dienste erwiesen werden, dann heißt es „Spitzel“. Das haftet uns nun einmal an. Wenn andere Behörden Journalisten Informationen erteilen, so werden die betreffenden Journalisten auch gefragt, wo wohl die eine oder die andere Nachricht herrühre.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Ist dem Zeugen bekannt, daß auch vom Preßbureau ganz anständige Personen mit der Mission betraut werden, Verfasser bestimmter Artikel zu ermitteln?

Zeuge v. Tausch: Aber gewiß. Ohne solche Rechercheure kommt doch keiner mehr aus, solche Rechercheure werden in Patentsachen gebraucht, jeder Rechtsanwalt gebraucht sie.

Vert.: Sehen Sie die Vertrauensleute, die andere Behörden benutzen, anders an, als diejenigen, die Sie benutzen?

Zeuge: Keineswegs.

Staatssekretär v. Marschall: Das Auswärtige Amt hat aus ganz besonderen Gründen seit mehreren Jahren bei der Ermittelung der Urheberschaft von Artikeln nicht mehr die Hilfe der politischen Polizei in Anspruch genommen. Dies ist nur bezüglich des schon erwähnten Artikels der „Münchener Neuesten Nachrichten“ der Fall gewesen. Es wäre doch interessant, zu erfahren, welche Erfahrungen Herr v. Tausch bei dieser Gelegenheit mit Herrn v. Lützow gemacht hat.

v. Tausch: Ich habe von Herrn v. Bronsart den Auftrag erhalten, den Verfasser des Telegramms der „Münchener Neuesten Nachrichten“ zu ermitteln.

Ich habe v. Lützow damit beauftragt. Dieser kam mit der Meldung, daß die Notiz aus dem Literarischen Bureau stamme. Die angestellten Recherchen ergaben die Unrichtigkeit dieser Behauptung. Damit war die Sache zu Ende. Ich hatte die Empfindung, daß mich Herr v. Lützow wohl düpiert habe, da er keine Beweise bringen konnte und die angestellte Untersuchung auch ergeben hatte, daß die Beschuldigung unwahr sei. Herr v. Lützow hatte sich damit entschuldigt, daß ihm dann sein Gewährsmann wohl etwas vorgeschwatzt habe.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Veranlassung genommen, Ihrem höchsten Chef, Herrn v. Köller, über das Ergebnis der Ermittelungen und Ihre Erfahrungen mit v. Lützow Mitteilung zu machen?

Zeuge: Ich habe jeden Tag Herrn v. Windheim Mitteilung gemacht. Dem Herrn Minister Mitteilung zu machen, war ich nicht befugt.

Oberstaatsanwalt: Hat Ihnen v. Lützow Namen genannt und für den Betreffenden Geld verlangt?

Zeuge: Ja, er nannte den Namen des Schriftstellers Kukutsch, dem er 100 Mark geben solle.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie nicht ermittelt, daß das alles Unwahrheiten waren?

Zeuge: Mit Sicherheit nicht. In solchen Fällen spielen für uns 100 Mark auch keine so große Rolle, um darauf noch weiter zu recherchieren. Ich habe dem Kriegsministerium Mitteilungen gemacht, die 100 Mark sind vom Kriegsministerium erstattet, und ich habe sie Herrn v. Lützow gegeben. Dieser brachte eine mit „Kukutsch“ unterschriebene Quittung.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie nach diesen Erfahrungen doch noch Herrn Lützows Behauptungen über die „Hintermänner“ des Leckert Glauben beimessen können?

Zeuge: Ich glaubte es ihm, weil es Leckert bestätigte.

Rechtsanwalt Glatzel: Hat der Zeuge einen bestimmten Verdacht, daß seine Recherchen nach dem Hintermann noch Erfolg haben werden. Kann er mit einem bestimmten Namen hervortreten?

Der Zeuge besann sich einige Zeit, ob er dies tun solle, als aber alle Parteien, ebenso Herr v. Marschall, die Nennung des Namens für wünschenswert erklärten, nannte v. Tausch den Namen eines ehemaligen Konsuls von Ekuador, namens René, aus Stettin.

Leckert versicherte, daß er diesen gar nicht kenne, ebenso Frhr. v. Marschall. Der Gerichtshof beschloß, René sofort vorzuladen.

v. Marschall betonte, v. Tausch habe die Nachricht, daß die Mitteilung aus dem literarischen Bureau stamme, dem Kriegsministerium zuerst ohne jeden Zusatz als seine eigene Meinung mitgeteilt.

Der nächste Zeuge war Oberstleutnant Gäde: Ich kenne Herrn v. Lützow nicht persönlich, habe nie mit ihm gesprochen und ihm nie einen Auftrag gegeben. Was seine Glaubwürdigkeit betrifft, so kann ich folgendes sagen: Während der Amtstätigkeit des Generals Bronsart v. Schellendorf als Kriegsminister habe ich die Angelegenheiten der Presse zu bearbeiten gehabt. Zweck und Inhalt dieser Preßtätigkeit waren nur sachlicher und technischer, niemals persönlicher und politischer Art. Es mußten aber manchmal Nachforschungen nach der Urheberschaft bestimmter Artikel angestellt werden. Dies war namentlich bei einem Artikel der „Münchener Neuesten Nachrichten“ über die Militärstrafgerichtsordnung der Fall, an welchen sich Artikel des „Hannov. Kuriers“ und der „Berliner Neuesten Nachr.“ schlossen, die gleichfalls den Eindruck der Indiskretion machten. Dann kamen Artikel über die Nebenregierung und den General v. Hahnke. General v. Bronsart hat allen diesen Dingen vollständig ferngestanden, wie ich hier in aller Öffentlichkeit mit allem Nachdruck betone. Ich stehe mit meiner Person dafür ein! Kriegsminister v. Bronsart hat keinen dieser Artikel verfaßt oder inspiriert, er war von ihnen aufs peinlichste berührt. Diese Artikel waren mit großem Raffinement so geschrieben, daß man annehmen durfte, sie stammen aus dem Kriegsministerium. General v. Bronsart hatte deshalb alle Veranlassung, den Urhebern dieser perfiden Machenschaften auf die Spur zu kommen, deshalb bediente man sich der Hilfe der politischen Polizei. Ich habe nur mit Herrn v. Tausch verhandelt; General v. Bronsart hat diesen nicht gesprochen, wie er auch niemals einen Journalisten empfangen hat. Herr v. Tausch hatte mir gesagt, daß er mit solchen Nachforschungen Herrn v. Lützow betraut hatte. Dieser nun hat sich in zwei Fällen als Vertrauensmann der politischen Polizei nicht als glaubhaft erwiesen. Bezüglich des Telegramms der „Münchener Neuesten Nachrichten“ hat v. Lützow dem Herrn v. Tausch berichtet, er habe sich an die Herren des Literarischen Bureaus herangemacht, und ein Herr Kukutsch habe versprochen, gegen einen Betrag von 50 Mark nähere Mitteilungen über die Provenienz dieser Angriffe zu machen. Die 50 Mark wurden angewiesen, Herr v. Tausch brachte eine ihm von Herrn v. Lützow übergebene angebliche Quittung des Kukutsch, die ich dem Vorsitzenden überreiche. Die Nachrichten blieben aber aus, und Herr Kukutsch hat dann bei Gelegenheit der eingeleiteten Disziplinaruntersuchung eidlich bestritten, über die Provenienz dieser Depesche etwas zu wissen. Bei dieser Sachlage hat dann Herr v. Tausch selbst zugegeben, daß Herr v. Lützow sich nicht immer als zuverlässig erwiesen habe. Bald darauf kam aber Herr v. Tausch wieder mit der Meldung, daß Herr v. Lützow nun eine andere Quelle habe. In dem „Hannov. Kurier“ war ein ähnlicher Artikel über die Militärstrafgerichtsordnung erschienen, nach der Behauptung des Herrn v. Lützow sollte Herr v. Vangerow, der Vertreter des „Hannov. Kuriers“, bereit sein, den Verfasser zu nennen, wenn er eine Entschädigung erhielte. Diese sollte nicht in Geld bestehen, sondern in der Überlassung eines offiziellen, aus dem Kriegsministerium stammenden Artikels über das Militärstrafgerichtsverfahren. Mit Genehmigung des Kriegsministeriums habe ich dann eine ganz harmlose Stilprobe zu Papier gebracht, welche durch Vermittelung des Herrn v. Tausch Herrn v. Lützow zugestellt wurde. Eines Tages erhielt ich einen Brief des Herrn v. Vangerow. In diesem teilte er mit, daß Herr v. Lützow den betreffenden Artikel direkt aus dem Kriegsministerium erhalten habe, mit dem Zusatze, dem Kriegsministerium liege sehr daran, daß dieser Artikel in die Presse lanciert werde. v. Vangerow setzte in dem Briefe auseinander, daß er diesem Wunsche nachgekommen sei und den Artikel in der „Nationalzeitung“ und im „Hannoverschen Kurier“ veröffentlicht habe, aber doch sich vergewissern möchte, ob es richtig sei, daß das Kriegsministerium die Veröffentlichung wünsche. Daraus habe ich gesehen, daß Herr v. Lützow seinen Auftrag geradezu auf den Kopf gestellt hat und habe Herrn v. Tausch gesagt, er sehe nun wieder, wes Geistes Kind Herr v. Lützow sei. Herrn v. Vangerow habe ich mitgeteilt, daß v. Lützow ihm etwas vorgeredet habe.

Auf Befragen des Oberstaatsanwalts bestätigte der Zeuge, daß Frhr. v. Marschall seinerseits alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um den auf Herrn v. Köller geworfenen Verdacht der Indiskretion zu beseitigen. Dies sei ihm auch in dankenswerter Weise gelungen.

Staatssekretär v. Marschall betonte, daß Herr v. Köller seinerzeit mit Herrn v. Tausch über diese Angelegenheit gesprochen habe, aber wohl jetzt erst zu seinem Staunen hören werde, daß der Verdacht gegen ihn gar nicht von Herrn v. Bronsart ausgegangen sei, sondern durch v. Lützow-Tausch. Letzterer hatte, wie der Vorzeuge bekundet hat, ihm gegenüber schon gesagt, daß der Urheber der Depesche im Literarischen Bureau sitze.

v. Tausch: Ich habe täglich dem Polizeipräsidenten über meine ganze Tätigkeit in dieser Angelegenheit Bericht erstattet. Daß ich dem Minister v. Köller nicht mitgeteilt habe, die Ermittelungen in Sachen des Literarischen Bureaus seien resultatlos verlaufen, liegt daran, daß ich annehmen mußte, Exzellenz v. Köller sei darüber schon unterrichtet, und daß ich nicht über den Kopf meines Chefs hinweg an den Minister Bericht zu erstatten habe. Ich bin um keines Haares Breite von meiner amtlichen Aufgabe abgewichen und muß den Herrn Vorsitzenden bitten, mich gegen solche Vorwürfe in Schutz zu nehmen.

Staatssekretär v. Marschall: Ich bin hier nicht dazu da, Vorwürfe zu erheben, sondern Aussagen zu machen, selbst wenn sie dem Kriminalkommissar unangenehm sind.

Zwischen den beiden Zeugen entspann sich darauf eine Diskussion über den Zeitpunkt, in welchem Herr v. Tausch mit dem Minister v. Köller in der Angelegenheit gesprochen habe. v. Marschall erklärte die Zeitangaben des Herrn v. Tausch für irrig.

Rechtsanwalt Glatzel: Er möchte gern wissen, ob Herrn v. Köller denn schließlich mitgeteilt worden ist, wer der wirkliche Verfasser der Depesche sei.

Staatssekretär v. Marschall: Herr v. Köller ist zweifellos davon unterrichtet, daß der Verdacht, der gegen ihn erhoben wurde, als vollständig beseitigt anzusehen war. Allerdings war er wohl nicht davon unterrichtet, daß der Verdacht gegen ihn im Kriegsministerium durch Herrn v. Tausch erweckt worden sei.

v. Tausch (mit erhobener Stimme): Ich bin doch hier nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge!

Sehr dramatisch gestaltete sich die Vernehmung des Hilfsarbeiters im Ministerium des Innern, Schriftstellers Kukutsch: Er habe von keiner Behörde jemals auch nur einen Pfennig bezahlt erhalten, außer vom Literarischen Bureau, mit dem er in einem Vertragsverhältnis stehe.

Vors.: Der Angeklagte v.L. behauptet, daß er Ihnen 50 Mark gezahlt habe.

Zeuge (entrüstet): Das ist eine Lüge!

Vors.: Hier ist die Quittung.

Zeuge: Ich habe niemals durch Herrn v. Lützow oder Herrn v. Tausch 50 Mark erhalten. Die Quittung ist nicht von meiner Hand unterschrieben! (Große allgemeine Bewegung.)

Auf Befragen erklärte v. Lützow. Er bleibe dabei, daß der Text der Quittung von ihm, die Quittung selbst durch Herrn Kukutsch geschrieben sei. Er will von Kukutsch wiederholt Mitteilungen und auch eine Arbeit erhalten und ihm dafür 50 Mark gezahlt haben. Der Zeuge erklärte auf wiederholte Vorhaltung des Vorsitzenden auf seinen Eid, daß er Herrn v. Lützow niemals einen Dienst geleistet und niemals 50 Mark von ihm empfangen habe.

Angekl. v. Lützow blieb bei dem Gegenteil. Der Vorsitzende wies darauf hin, daß die eidliche Aussage des Zeugen bis jetzt unverdächtig erscheine und hiernach er einer schweren Urkundenfälschung beschuldigt werde.

Der Zeuge erzählte dann unter wiederholten Ausbrüchen seiner Empörung, daß er v. Lützow, von dem er wußte, daß er manches auf dem Kerbholze hatte und als Polizeispion gelte, stets gemieden und mit ihm gar keine Beziehungen gehabt habe. Da habe er zur Zeit der Köllerkrisis eine Postkarte mit Antwort von dem Angeklagten erhalten, in welchem er um eine Unterredung bat. Er habe die angebogene Karte gar nicht benutzt und eine Antwort nicht gegeben. Der Zufall führte den Angeklagten dann eines Tages mit ihm in einem Kaffeehause zusammen. Als er in dem Zeitungsschrank suchte, habe Herr v. Lützow auch nach Zeitungen gesucht und ihn dabei von der Seite scheu angesehen. Da habe er aus Höflichkeit gefragt, was er eigentlich von ihm wünsche. v. Lützow habe geantwortet, er wisse ja, daß er (Kukutsch) schon einmal eine Broschüre geschrieben habe, und da er dies auch getan, wolle er ihn bitten, das Manuskript durchzusehen. Dies habe er rundweg abgelehnt; darauf habe sich die ganze Unterredung beschränkt. Später habe er, außer auf der Journalistentribüne ganz flüchtig, niemals mehr mit v. Lützow gesprochen. Er habe von der ungeheuerlichen Behauptung des letzteren erst erfahren, als er zu Herrn v. Marschall beschieden wurde. Er habe bei dieser Gelegenheit sofort seiner höchsten Empörung darüber Luft gemacht und erklärt, daß, wenn eine Quittung vorhanden sei, diese gefälscht sein müsse.

Staatssekretär v. Marschall und Legationsrat Dr. Hammann bestätigten das, auch, daß Kukutsch sofort den Strafrichter in Anspruch nehmen wollte. Staatssekretär v. Marschall hatte Kukutsch gesagt, daß er gar nichts tun und alles der kurz bevorstehenden Hauptverhandlung überlassen solle.

v. Lützow: Ich bleibe dabei, daß ich mit Herrn Kukutsch mindestens 30mal gesprochen und von ihm allerlei Mitteilungen erhalten habe. Ich bleibe dabei, daß. Herr Kukutsch die Quittung unterschrieben hat, und ich ihm im Café der Potsdamer Straße 50 Mark gezahlt habe.

Alle Versuche, die Widersprüche miteinander in Einklang zu bringen, scheiterten.

Kukutsch blieb mit vollster Entschiedenheit dabei, daß alles, was v. Lützow über ihn gesagt habe, Lug und Trug sei, daß er bis dahin geglaubt habe, einen Tropf vor sich zu haben und nun sehe, daß er ein Teufel sei.

Der Vorsitzende mußte den Zeugen wiederholt zur Ordnung rufen.

Vert. Rechtsanwalt Schmielinski verwahrte sich für seine Person entschieden gegen die Behauptung des Herrn v. Tausch, daß sich auch Rechtsanwälte Vigilanten halten, v. Tausch erwiderte, daß er dabei an große Prozesse und an Dr. Fritz Friedmann gedacht habe.

Am dritten Verhandlungstage nahm sofort nach Eröffnung der Sitzung das Wort Oberstaatsanwalt Drescher: Mit Rücksicht auf den gestrigen aufsehenerregenden Zwischenfall habe ich bei dem Untersuchungsrichter des Landgerichts I den Antrag gestellt, gegen den Angeklagten v. Lützow die Untersuchung wegen schwerer Urkundenfälschung und Betruges zu eröffnen und ihn in dieser neuen Sache in Haft zu nehmen. Bezüglich des früheren Konsuls René sind die Nachforschungen des Kriminalkommissars v. Tausch von Erfolg gewesen. Herr René befindet sich in einem Berliner Hotel, er ist aber, wie er behauptet, krank und kann an Gerichtsstelle nicht erscheinen. Ich beantrage, Herrn René sofort vorschriftsmäßig zu laden. Kriminalkommissar v. Tausch hat sich bereit erklärt, dies auszuführen und einen Arzt mitzunehmen. Herr René ist noch gestern abend ausgegangen, er wird wohl sehr krank nicht sein. Sollte der Befund durch den Arzt ein Erscheinen des Herrn René vor Gericht nicht verbieten und dieser sich trotzdem weigern, dann müßte Kriminalkommissar v. Tausch ermächtigt werden, Herrn René sofort zu sistieren. Anderenfalls beantrage ich die kommissarische Vernehmung des Herrn René.

Der Gerichtshof beschloß, dem Antrage des Oberstaatsanwalts zu entsprechen.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Mir ist gestern abend die Adresse der Dame mitgeteilt worden, die nach der Behauptung des Angeklagten v. Lützow in dem Café anwesend gewesen sein soll, als der Zeuge Kukutsch die Quittung unterschrieb. Ich habe die Dame sofort telegraphisch aufgefordert, mit dem nächsten Zuge hierher zu kommen. Die Dame wohnt in St. Johann a.d. Saar.

Darauf bekundete Redakteur Heller, Berliner Vertreter des „Hannoverschen Kuriers“, als Zeuge: Bei einer gelegentlichen Begegnung auf der Straße mit v. Lützow habe dieser von seiner Affäre gesprochen und ihm gesagt: der Artikel in der „Welt am Montag“ rühre von ihm her. Staatssekretär v. Marschall sei noch vor ganz kurzer Zeit der in dem Artikel vertretenen Meinung gewesen. Nunmehr hetze er ihm den Staatsanwalt auf den Hals, er werde es aber Herrn v. Marschall schon „anstreichen“. Er (Zeuge) habe diese Äußerung für Renommisterei gehalten. Er sei von Kollegen vor v. Lützow gewarnt worden. Auf der Journalistentribüne des Reichstages habe er das zweifelhafte Vergnügen gehabt, in der Nähe des v. Lützow zu sitzen und infolgedessen viele Räubergeschichten von letzterem mitangehört. Einmal habe ihn v. Lützow durch eine grundfalsche Nachricht hineinlegen wollen. Er (Zeuge) habe damals für den „Frankfurter Generalanzeiger“ und die „Tribuna“ korrespondiert. v. Lützow sei einmal von ihm beauftragt worden, einige Berichte für die „Tribuna“ zu schreiben. Eines Tages sei v. Lützow in sein Bureau gekommen und habe ihm eine angeblich „authentische“ Nachricht über den bevorstehenden Rücktritt des Kultusministers Bosse überbracht. Nachträglich hatte er (Heller) erfahren, daß die Nachricht vollständig erfunden sei. Ein anderes Mal habe ihm v. Lützow mitgeteilt: er sei von Herrn v. Stumm beauftragt, Material zu dem Prozeß zu sammeln, den Hofprediger Stoecker gegen die „Saarbrücker Zeitung“ angestrengt hatte. Er (Heller) habe v. Lützow versprochen, sich wegen Materials umzusehen. Die Behauptung des v. Lützow: er (Zeuge) habe ihm die Türschwelle abgelaufen, um Nachrichten zur Affäre Eulenburg zu erhalten, sei ihm unerfindlich.

Es gelangte darauf ein Artikel der „Frankfurter Zeitung“ zur Verlesung, in dem mitgeteilt wurde: v. Lützow entstamme einer alten mecklenburgischen Adelsfamilie. Sein Vater sei ein höherer Offizier gewesen. Er selbst habe seine Ausbildung im Kadettenhause erhalten. Er habe sich mit einem Fräulein Bellair verheiratet, das in Wahrheit Frau Kunze hieß und eine Tochter des bekannten Hofzauberkünstlers Bellachini sei. Die Mutter des v. Lützow sei eine Schwester der bekannten Gräfin Seydewitz, die als Hofdame der Frau Prinzessin Karl seinerzeit am Königshofe in Berlin eine hervorragende Rolle spielte.

Angekl. v. Lützow erklärte: In dem Artikel sei viel Falsches mit wenig Wahrem vermischt gewesen.

Darauf wurde der Zeuge René vernommen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, daß er keinen der Angeklagten kenne und niemandem Material für die beiden Artikel der „Welt am Montag“ geliefert habe. Er habe für solche Sachen überhaupt kein Verständnis. Er habe die Artikel erst kennengelernt, nachdem sie erschienen waren.

Vert. R.-A. Glatzel: Haben Sie irgendwelche Beziehungen zum Auswärtigen Amt, oder sind Sie dort einmal empfangen worden?

Zeuge: Nein, niemals. Ich habe gelesen, daß Kriminalkommissar v. Tausch gestern meinen Namen genannt hat. Ich erkläre unter meinem Eide, daß ich Herrn v. Tausch nicht kenne und keinerlei Beziehungen zur Polizei unterhalte.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Sie werden sich erinnern, Herr Zeuge, daß wir uns einmal in einer Gesellschaft getroffen haben. Haben Sie sich nicht damals eines freundschaftlichen Verhältnisses gerühmt, welches zwischen Herrn v. Lucanus und Ihnen bestehe?

Zeuge: Ich kann nur gesagt haben, daß Herr v. Lucanus mich kennt, und das ist wahr.

Vert.: Ist es denn richtig, daß Sie sich mit Politik beschäftigen?

Zeuge: Ja, ich habe für den Landtag kandidiert und auch einige Artikel geschrieben, ich stelle aber entschieden in Abrede, daß ich irgendwie berufsmäßige Journalistik betreibe.

Vert. Rechtsanwalt Gennerich: Stehen Sie in Beziehungen zu irgendwelchen Persönlichkeiten, welche im Auswärtigen Amt verkehren?

Oberstaatsanwalt: Ich halte es doch für wünschenswert, daß der Verteidiger das Beweisthema angibt, auf welches sich diese Fragen beziehen. Seine Fragen gleichen einer Art Examen, die Zeugen können dadurch in ein eigentümliches Licht gestellt werden.

Vert.: Es ist doch möglich, daß der Zeuge von Personen, die im Auswärtigen Amt verkehren, Nachrichten erhalten hat, die er gesprächsweise weitererzählt hatte.

Vors.: Wie soll der Zeuge das wissen. Er hat unter seinem Eide versichert, daß er keinerlei Beziehungen zum Auswärtigen Amt und auch nicht zu einem der Angeklagten habe, ich halte damit die Angelegenheit für erledigt.

Kriminalkommissar v. Tausch: Er sei gestern von der Verteidigung gefragt worden, ob er einem Verdacht nach einer bestimmten Persönlichkeit nachgehe. Er habe zunächst Bedenken gehabt, darauf einzugehen, damit es aber nicht scheine, als ob er von angeblichen Ermittelungen bloß phantasiere, habe er schließlich den Namen René genannt. Er habe dies keineswegs leichtsinnigerweise getan. Er habe von zwei ganz verschiedenen Seiten Mitteilungen erhalten, die auf Herrn René hinwiesen. Da aber nur ein Verdacht vorlag, habe er die Absicht gehabt, im stillen weiter zu recherchieren. Es sei ihm bisher nicht möglich gewesen, die Recherchen vorzunehmen. Die Quelle dieser Mitteilungen zu nennen, lehne er aus dienstlichen Gründen ab.

Staatssekretär v. Marschall: Auf die Frage des Herrn Rechtsanwalts Gennerich erlaube ich mir zu bemerken: Es gewinnt den Anschein, daß nunmehr die dritte Kategorie von Hintermännern ins Feld geführt werden soll. Die erste Kategorie waren die Beamten des Auswärtigen Amts, die zweite diejenigen Leute, die im Auswärtigen Amt verkehren, und nun kommt die dritte Kategorie, d.h. Leute, die mit Leuten verkehren, welche im Auswärtigen Amte verkehren, das genügt. (Heiterkeit.) Wenn Kriminalkommissar v. Tausch betont, er sei noch immer mit Erhebungen nach dem angeblichen Hintermann beschäftigt, so muß ich bemerken, daß er vom Auswärtigen Amt keinen Auftrag dazu erhalten hat; er hat seit vier Jahren überhaupt keinen Auftrag vom Auswärtigen Amt erhalten.

Kriminalkommissar v. Tausch: Vom Auswärtigen Amt habe ich keinen Auftrag erhalten; es gibt aber außer dem Auswärtigen Amt noch eine Behörde, die mir viel näher steht, das ist das Berliner Polizeipräsidium. Ob ich von dieser Behörde einen Auftrag erhalten habe, kann Herr v. Marschall doch nicht wissen.

Staatssekretär v. Marschall: Ich will auch nicht unterlassen, zu erklären, daß ich Herrn René nicht kenne und dieser auch im Auswärtigen Amt unbekannt ist.

Es sollte darauf der Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“, v. Huhn, vernommen werden. Vorher erbat sich Freiherr v. Marschall das Wort: Es handelt sich um einen Artikel der „Kölnischen Zeitung“ vom 28. April d.J. über das Schicksal der Militärvorlage. Der Artikel hat gewaltiges Aufsehen hervorgerufen, weil er große Bekanntschaft mit diskreten Dingen verriet und anknüpfend an die Pensionierung des Generals v. Spitz Angriffe gegen den General v. Hahnke richtete. Im Ministerium des Innern waren nach meiner Kenntnis Erhebungen über den Verfasser des Artikels angestellt worden. Als angeblicher Verfasser der Korrespondenz wurde v. Huhn ermittelt und als solcher auch an höchster Stelle gemeldet. Da Herr v. Huhn zu den Journalisten gehört, die im Auswärtigen Amte verkehren, so fragte ich ihn deshalb vor einiger Zeit. Herr v. Huhn behauptete, daß er diesem Artikel vollständig fernstehe und bereit sei, dies jederzeit zu beschwören. Ich fragte darauf bei dem Ministerium des Innern an, woher die falsche Beschuldigung gegen Herrn v. Huhn stamme. Ich erhielt die Antwort: „Von Herrn v. Tausch.“ Auf meine weitere Frage, woher Herr v. Tausch dies habe, wurde mir gesagt: von einem sehr wertvollen Vertrauensmann, den man aber nicht nennen dürfe. Es ist von Interesse, daß die Vertrauensmänner trauensmänner der politischen Polizei nachweisbar dieser schon in drei Fällen falsche Nachrichten übermittelt haben. Mir ist es ganz gleichgültig, welche Vertrauensmänner die politische Polizei verwendet, wenn aber diese Vertrauensmänner wagen, mich oder Beamte meines Ressorts zu verleumden, so muß ich mich dagegen wehren. Ich bitte den hohen Gerichtshof um Verzeihung, daß ich soweit auf diese Dinge eingehe, das Treiben gegen das Auswärtige Amt geht aber schon seit Jahren fort; der Gerichtshof wird mir nachfühlen, daß ich jetzt diese Gelegenheit benutze, um die Dinge in voller Öffentlichkeit klarzulegen.

Vors.: Herr v. Tausch, von wem hatten Sie die Nachricht über Herrn v. Huhn?

v. Tausch: Von einem ganz zuverlässigen Agenten, von dem ich bisher noch niemals eine falsche Nachricht erhalten habe.

Vors.: Wollen Sie diesen Mann nennen?

v. Tausch: Nein.

Vors.: Ich nehme an, daß Sie sich dabei auf den § 53 stützen?

v. Tausch: Jawohl.

Vors.: Herr Kommissar, ich weise Sie darauf hin, daß § 53 Ihrer vorgesetzten Dienstbehörde nur in den Fällen das Recht gibt, Ihnen die Erlaubnis zur Aussage zu versagen, wenn Interessen des Reiches oder der Bundesstaaten gefährdet erscheinen. Und nun fordere ich Sie auf, sich sofort zum Herrn Polizeipräsidenten v. Windheim zu begeben und ihm zu sagen: der Gerichtshof erachtet es für notwendig, den Namen Ihres Gewährsmannes zu erfahren.

Kriminalkommissar v. Tausch entfernte sich aus dem Saale.

Journalist v. Huhn erklärte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe den in Frage stehenden Artikel der „Kölnischen Zeitung“ nicht verfaßt und auch in keiner Weise inspiriert. Er stehe zu dem Artikel in keinerlei Beziehung.

Schriftsteller v. Vangerow bestätigte im allgemeinen den Inhalt der Zeugenaussage des Oberstleutnants Gäde. v. Lützow habe sich bei ihm mit der Frage eingeführt, ob er dem Kriegsminister einen Gefallen erweisen wolle. Da er (Zeuge) ein Verehrer des Kriegsministers sei und bezüglich der Militärstrafprozeßordnung auf demselben Boden stehe wie der Kriegsminister, so habe er sich bereit erklärt, den Artikel, den v. Lützow ihm mit der Versicherung gegeben habe, daß der Minister dessen Veröffentlichung gern sehen würde, bei den nationalliberalen Zeitungen unterzubringen.

Dies sei bei der „Nationalzeitung“ und dem „Hannoverschen Kurier“ geschehen.

Oberstaatsanwalt: Nachdem Sie nun den Verlauf der Verhandlung gelesen haben, haben Sie dann nicht den Eindruck gewonnen, daß Ihnen der Artikel gewissermaßen nur als Lockspeise gegeben wurde, und daß es Lützow nur darum zu tun war, den Namen des Verfassers zu erfahren, der den Artikel in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ und dem „Hannoverschen Kurier“ geschrieben hatte?

Zeuge: Ja, jetzt ist mir ja alles klar, nachdem ich erfahren, daß v. Lützow im Dienste des Kriminalkommissars v. Tausch stand. Der Angeklagte fragte mich im Laufe des Gesprächs, ob ich nicht den Verfasser der fraglichen Artikel kenne, was ich verneinte.

Oberstaatsanwalt: Nun ja, das war für ihn die Hauptsache, es war so eine Art Kunststück, welches er angezettelt hatte. Wenn er von Ihnen den Namen des Verfassers erfahren hätte, würde er ihn sofort an den Kriminalkommissar v. Tausch verraten haben.

Zeuge: Ja, ja, das ist mir auch klar, zumal Herr v. Tausch bereits in derselben Angelegenheit bei mir gewesen war.

Lützow: Aber Herr Oberstaatsanwalt, ich war es doch nicht, der das Kunststück angezettelt hatte, sondern mein Auftraggeber, der mir sagte, ich sei nur die Mittelsperson.

Oberstaatsanwalt: Und wer war das?

Angekl.: Herr v. Tausch.

Oberstaatsanwalt: Das genügt mir, ich wollte nur feststellen, daß Sie im Dienste der Polizei standen und unter der Maske eines Mannes erschienen, der vorgab, nur journalistische Zwecke zu verfolgen.

Hierauf trat eine Pause von einer halben Stunde ein. Nach Wiedereröffnung der Sitzung teilte der Vorsitzende mit, daß Umstände eingetreten seien, welche die Anordnung einer weiteren hause von einer Stunde notwendig machen. Während der Pause fuhren Oberstaatsanwalt Drescher, Rechtsanwalt Lubczynski und der Angeklagte v. Lützow vom Gerichtsgebäude in einer Droschke weg. Nach Wiedereröffnung der Sitzung nahm das Wort Oberstaatsanwalt Drescher: Ich möchte gern Aufschluß geben über die Notwendigkeit, die die Pause veranlaßt hat. Der Verteidiger des Herrn v. Lützow, Herr Rechtsanwalt Dr. Lubczynski, hatte uns mitgeteilt, daß sein Klient jetzt bereit sei, die volle Wahrheit zu sagen und vollständige Auskunft über Verhältnisse zu geben, die bisher noch nicht zur Sprache gekommen seien. Sein Klient müsse aber in seine Wohnung geführt werden, damit er von dort eine Anzahl Dokumente holen könne. Ich habe mich im Einverständnis mit dem Herrn Vorsitzenden veranlaßt gesehen, die Fahrt nach der Wohnung des Herrn v. Lützow zu machen, und wir haben von dort eine Anzahl Schriftstücke mitgebracht. Ob diese für die Verhandlung wesentlich sein werden, habe ich noch zu prüfen; ich behalte mir Erklärungen darüber vor. Inzwischen hat v. Lützow seinem Verteidiger eine Erklärung abgegeben, die ich vorzutragen bitte.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Unter dem niederschmetternden Ereignis von gestern abend und im Andenken an die Ehre seiner Familie hat Herr v. Lützow sich veranlaßt gesehen, mir die ganze Wahrheit einzugestehen. Dies Geständnis ist zu Protokoll gebracht worden und lautet: Am 27. September hat Lützow die Information von Leckert erhalten (und zwar mit der Spitze gegen Eulenburg und der Quelle Marschall). An demselben Abend habe ich es der „Welt am Montag“ gegeben. In der nächsten Woche bin ich mehrere Male bei Tausch gewesen und habe ihm auf seine Frage gesagt, daß ich die Sache gebracht und von Leckert erhalten hätte. Er nahm die Sache auf wegen der Quelle Marschall, und zwar deswegen, weil, wie ich weiß, Tausch von jeher eine große Animosität gegen Marschall besitzt. Er sagte mir, ich solle diese Sache nochmals haarklein zu Papier bringen, weil er die Absicht habe, diese ganze Sache an den Botschafter Grafen Philipp Eulenburg mitzuteilen, um ihm dadurch wieder einmal zu zeigen, wie Exzellenz v. Marschall gegen die Umgebung des Kaisers konspiriere, v. Tausch hat mich über die Sache bis zum äußersten „ausgequetscht“, und ich habe ihm alles so haarklein erzählt bzw. geschrieben, weil ich fest von der Wahrheit der Leckertschen Information überzeugt war. Tausch hat dann auch an den Grafen Philipp Eulenburg, burg, wie er uns sagte, nach Liebenberg geschrieben und ihm mitgeteilt, daß er eine wichtige Sache für ihn habe. Eulenburg hat ihm, wie ich gesehen habe, geantwortet, er komme nächstens nach Berlin und freue sich, ihn dann begrüßen zu können. Inzwischen animierte mich Tausch sehr, recht den Leckert auszufragen, um genau über die Gewährsmannschaft Bescheid zu wissen und die Fortsetzung am nächsten Montag zu bringen, damit die Sache nicht einschliefe. Inzwischen sollte ich mehrfach berichten, was ich auch getan habe. Dann wolle er dafür Sorge tragen, daß der Kaiser durch Eulenburg alles erfahre, damit wir endlich dann den Marschall beim Wickel hätten. Um Tausch nun gefällig zu sein, und weil ich mich vollständig in seinen Händen befand, im übrigen aber an die Wahrheit der Sache auch glaubte, habe ich mich auch um die Unterbringung des zweiten Artikels bemüht. Am Montag, nachdem der zweite Artikel erschienen war, ließ er mich zu sich holen und erzählte mir, der Teufel wäre los im Auswärtigen Amt, und der Polizeipräsident wäre hinbefohlen worden. Es wäre letzterem nichts übriggeblieben, als mich zu nennen. Ich solle nun nochmals ihm einen eingehenden Bericht geben, um damit zu Philipp Eulenburg zu gehen. Er werde mich decken und schützen. Ich solle ganz beruhigt sein. Die ganze nächste Woche ließ er mich rufen und erzählte mir, das Auswärtige Amt sei ganz versessen darauf, die Sache weiter zu verfolgen. Am Sonnabend ließ er mich durch einen Wachtmeister nach dem Polizeipräsidium sistieren und sagte mir, er müsse mich verhaften. Ich solle nicht sagen, daß ich mit ihm in Verbindung gestanden habe. Zwischen uns bliebe es wie bisher. Er war in fürchterlicher Angst. Am Sonntag sagte er mir: Die Sache wird für uns alle sehr schlimm; die Sache mit Kukutsch kommt auch heraus. Bleiben Sie aber nur fest. Am 15. gab er mir 100 Mark, und von da an sahen wir uns sehr wenig. Bei der zweiten Verhaftung war Tausch wieder in fürchterlicher Angst. (Lützow wurde nach seiner ersten Verhaftung wieder in Freiheit gesetzt.) In Sachen Kukutsch habe ich zu erklären: Als der Artikel in den „Münchener N. Nachr.“ erschienen war, bestellte mich Tausch zu sich und sagte, Kriegsminister Bronsart habe ihm (Tausch) gesagt, daß Bronsart den Minister Köller für den Informator des Artikels halte. Er (Tausch) möchte sich bemühen, das herauszubekommen und ihm dafür Beweise zu liefern. Hierauf machte mich Tausch „scharf“ und beauftragte mich, bei den Angestellten des Literarischen Bureaus das auszuforschen. Ich versuchte nun innerhalb der nächsten 8-14 Tage, Kukutsch hinten herum für die Sache zu interessieren und sagte das auch Tausch. Fast täglich sagte mir Tausch, der Kriegsminister habe das größte Interesse; es könne kosten, was es wolle, das bei Kukutsch kutsch herauszubekommen. Diese Versuche waren vergeblich. Tausch aber hatte sich inzwischen schon engagiert, da er bei Herrn v. Bronsart den Namen Kukutsch schon genannt hatte. Darauf veranlaßte mich Tausch, einen anonymen Brief an das Kriegsministerium zu schreiben folgenden Inhalts: „Wollen Sie wissen, wer gegen Sie putscht, so fragen Sie Hammann, Eckart und Kukutsch.“ Diesen Brief hat Herr v. Bronsart erhalten. Ich habe diesen Brief von einem Hausdiener schreiben lassen. Dann erzählte er, daß eine Untersuchung gegen „Unbekannt“ eingeleitet sei, in der die drei (eigentlich vier) Personen als Zeugen vernommen wurden. Hierüber geriet v. Tausch in große Angst, weil auf diese Weise sein Vorgesetzter v. Köller von der Sache erführe und er ihm noch nichts gemeldet habe. Um nun seine Auskunft bezüglich des Kukutsch Herrn v. Bronsart gegenüber aufrechtzuerhalten und glaubhaft zu machen, sagte er mir: Geben Sie mir eine Quittung mit dem Namen „Kukutsch“, und da ich bei allen Quittungen, die ich im Laufe der Jahre gegeben, immer irgendeinen falschen Namen auf Wunsch des v. Tausch im politischen Interesse gegeben hatte und er mir immer gesagt hatte, es sei ganz gleichgültig, welcher Name darauf stände, so ließ ich diese Quittung durch einen Dritten mit dem Namen Kukutsch unterzeichnen. Auf die Ähnlichkeit kam es mir gar nicht an, da ich noch niemals die Schrift von Kukutsch gesehen hatte. Ich hatte bei der ganzen Sache nur den Auftrag Tauschs ausgerichtet. Welche Feindschaft dieser gegen v. Marschall hatte, geht daraus hervor, daß er mich am 29. Oktober bei meiner letzten Verhaftung aufforderte. bei der Verhandlung anzugeben, daß Hoenig, der v. Tausch schon damals bekannte Verfasser des Artikels in der „Köln. Ztg.“ „Flügeladjutanten-Politik“, vom Prinzen zu Hohenlohe empfangen werde, wodurch der Verdacht erweckt werden sollte, daß diese Artikel doch aus dem Auswärtigen Amte kämen. Ich mußte Tauschs Aufträgen schon deshalb nach jeder Hinsicht folgen, da ich in meiner Existenz vollständig von ihm abhängig war. Ich bekam 200 Mark von ihm monatlich. Er drohte mir fast jeden Monat, mir das Gehalt zu entziehen, wenn ich nicht durch Bringen von Nachrichten sein Interesse mehr berücksichtigte. Ich hatte mich bisher in der Verhandlung gebunden erachtet, von diesen Verhältnissen nicht zu reden, da ich ihm mein Ehrenwort gegeben hatte, das Verhältnis nicht zu berühren. Da ich aber jetzt in der Öffentlichkeit, insbesondere durch die angebliche Fälschung so gebrandmarkt bin, so sehe ich mich im Interesse der Gerechtigkeit genötigt, alles aufzudecken.

Soweit die protokollarische Erklärung des Angeklagten v. Lützow, die begreiflicherweise eine furchtbare Erregung im Gerichtssaale hervorrief. Auf die Frage des Vorsitzenden an v. Lützow, ob er sich der Schwere seiner Beschuldigung, die einen bis dahin als ehrenhaft geltenden Mann aus der Reihe der Ehrenmänner streichen würde, voll bewußt sei, erklärte v. Lützow, daß er die volle Wahrheit sage.

Vors.: Herr v. Tausch, seit wann stehen Sie in Beziehungen mit dem Angeklagten v. Lützow?

Zeuge: Seit 1891 oder 92. Er war bei uns Agent.

Vors.: War die Verbindung sehr enge?

v. Tausch: O ja, er kam oft, aber dann auch mal wochenlang nicht.

Vors.: Ist einmal die Rede davon gewesen, daß Sie Polizeirat werden sollten?

v. Tausch: Zu meinem Bedauern.

Vors.: Haben Sie jemals dem Angeklagten v. Lützow die Aufforderung zukommen lassen, Ihre Verdienste in den Zeitungen herauszustreichen?

v. Tausch: Das ist mir nicht in Erinnerung. Bei einem Landesverratsprozeß hat er mir sogar direkt Verlegenheiten durch einen Artikel bereitet.

Vors.: In den Papieren ist ein Schriftstück vorhanden. Haben Sie das geschrieben?

v. Tausch: Das kann ich nicht sagen. So ganz wie meine Schrift sieht es nicht aus.

Der zur Verlesung gebrachte, aus Köln datierte Brief beginnt: „Sie haben doch die Sache nicht in den ?Lokal-Anzeiger? gebracht? Das würde gefährlich sein.“ Dann heißt es: „Ein bißchen können Sie mich herausstreichen, aber so, daß man es nicht merkt und nicht auf Sie als Quelle kommt. Schreiben Sie, daß Kriminalkommissar v. Tausch in dem Landesverratsprozeß sich große Verdienste erworben habe.“

Vors.: Nach dem Inhalte dieses Briefes scheint v. Lützow von Ihnen nicht bloß zu polizeilichen Ermittelungen benutzt worden zu sein, sondern auch, um im Interesse Ihrer Karriere Sie und Ihre Verdienste herauszustreichen.

v. Tausch: Ich habe ihm die Nachrichten über den Landesverrat gegeben, weil er sie gern journalistisch verwerten wollte.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ist der Zeuge v. Marschall denn animos gegen Sie?

v. Tausch: Ja, es ist ja bekannt, daß Herr v. Marschall der politischen Polizei nicht sehr zugetan war, und alle Versuche, ihn davon zu überzeugen, daß er im Irrtum sei, wenn er denke, die Polizei treibe Politik, mißglückten, weil er mich als Vertreter der politischen Polizei nicht empfing.

Staatssekretär v. Marschall: Ich weise es zurück, daß ich persönlich animos gegen den Kriminalkommissar gestimmt sei. Allerdings hatte ich Verdacht gegen ihn aus dem Grunde, weil es mir auffiel, daß die geheime Polizei Vertrauensmänner sich auswählt, die geflissentlich Beamte des Auswärtigen Amtes heruntersetzten, untersetzten, verdächtigten und verleumdeten. Ich habe v. Tausch allerdings niemals empfangen. Ich habe einen begründeten Verdacht, daß Herr v. Tausch bemüht gewesen ist, die Beamten des Auswärtigen Amtes herabzusetzen, und ich muß einräumen, daß ich zu der geheimen Polizei kein Vertrauen habe. Mein Mißtrauen datiert schon aus der Zeit des Herrn Normann-Schumann, den ich wohl, ohne ihm nahezutreten und ohne Bedenken als einen recht gefährlichen Menschen bezeichnen darf. Als Herr v. Caprivi ins Amt gelangte, erschienen in der „Saale-Zeitung“ heftige Angriffe gegen ihn und bald darauf gegen Seine Majestät den Kaiser, Herrn v. Caprivi und mich Artikel, welche höchst tendenziös abgefaßt waren. Wir wandten uns an die politische Polizei, aber ohne Erfolg. Da erhielten wir, wenn ich nicht irre, Anfang 1891 von einem Herrn Fritz Brentano, der sich als Mitredakteur der „Saale-Zeitung“ bezeichnete, einen Brief, worin er anzeigte, daß er dem Auswärtigen Amt den Namen des Verfassers der Skandalartikel mitteilen könne. Wir baten Herrn Brentano, nach Berlin zu kommen; er folgte der Aufforderung. Hier verhandelte im Auftrage des Auswärtigen Amts Hauptmann Ebmeier mit ihm. Brentano sagte, alle diese Skandalartikel rühren von einem Beamten der geheimen Polizei her. Wir gaben der geheimen Polizei den Brief des Herrn Brentano und baten um Ermittelungen. Wenige Tage darauf erhielt das Auswärtige Amt einen Brief von Brentano, in welchem dieser sich bitter darüber beschwerte, daß man ihn verraten habe; man habe ihm seitens der politischen Polizei denselben Brief vorgelegt, den er an das Auswärtige Amt gerichtet habe. Dieser Umstand mußte naturgemäß das Vertrauen zu der geheimen Polizei erschüttern, und das Auswärtige Amt brach von nun ab alle Beziehungen zu der politischen Polizei ab. War doch schon die Verwendung des Normann-Schumann höchst sonderbar. Dieser Herr wurde im Auftrage der politischen Polizei nach Leipzig geschickt, um die Bewegung der antisemitischen Partei zu überwachen. Und was tat Herr Normann-Schumann? Er schrieb selbst die Skandalartikel, deren Verfasser zu ermitteln er dann beauftragt wurde. Natürlich haben seine Ermittelungen dann keinen Erfolg gehabt. Ich habe nun in der Person des Herrn v. Lützow eine gewisse Ähnlichkeit mit Herrn Normann-Schumann gefunden. Deshalb hat sich bei mir eine Stimmung herausgebildet, die nicht Animosität ist, die man aber auch nicht Vertrauen zu nennen pflegt. Ich halte die ganze Geschichte mit den Vertrauensmännern für eine verfehlte, denn die Leute erhalten, wenn sie damit betraut werden, Verfasser von Artikeln zu ermitteln, eine Aufgabe, die sie nicht lösen können. Ich muß sagen, daß ich nach meiner Kenntnis von den Vertrauensmännern zu der Überzeugung zeugung komme, daß sie Berichte erstatten, die von A bis Z falsch sind. So sind doch namentlich auch die Vertrauensmänner des Herrn v. Tausch, die in den in diesem Prozeß zur Sprache gebrachten Fällen in Tätigkeit getreten sind, von Anfang bis zu Ende unwahr gewesen. Wenn Herr v. Tausch glaubt, Vertrauensmänner haben zu müssen, so ist das seine Sache. Wenn aber die Vertrauensmänner des Herrn v. Tausch sich erdreisten, mich, meine Beamten und das Auswärtige Amt zu verleumden, so flüchte ich mich in die Öffentlichkeit und brandmarke dies Treiben. (Große anhaltende Bewegung.)

Vors.: Herr v. Tausch, ist denn die Behauptung des Angeklagten wahr, daß Sie ihm Ihre Freude über das Erscheinen des Artikels ausgedrückt haben?

Zeuge: Nein.

Vors.: Glauben Sie denn, daß v. Lützow sich so etwas rein aus den Fingern gesogen haben kann?

v. Tausch: Jawohl. (Herr v. Marschall rief dazwischen: Ah, nun auf einmal!) v. Tausch behauptete, daß er nicht seine Befriedigung über den Artikel ausgedrückt, sondern im Gegenteil gesagt habe, wie der Angeklagte solchen Unsinn schreiben könne. Er selbst habe nur den Artikel der „W.a.M.“ dem Botschafter in Wien, Grafen Philipp Eulenburg, zugeschickt, den er in Abbazia kennengelernt, und dem er zu Dank verpflichtet war.

Der Vorsitzende machte Herrn v. Tausch nunmehr darauf aufmerksam, daß er unter dem Eide stehe und dem Zuchthause verfallen sei, wenn er Falsches sage.

Der Vorsitzende ließ darauf Satz für Satz die Erklärung des v. Lützow durchgehen und hielt sie dem Zeugen v. Tausch vor. Dieser gab zum Teil sehr weitschweifige Erklärungen, zum Teil erklärte er die Behauptungen des Lützow für Unwahrheiten, „Lügen“ usw. An den Fragen beteiligten sich auch wiederholt der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Lubczynski und Oberstaatsanwalt Drescher. Letzterer erinnerte daran, daß v. Tausch ja wohl eine Haussuchung bei Herrn v. Lützow abgehalten habe, wobei nur wenig herausgekommen sei; damit stehe doch im Widerspruch, daß bei dem heutigen Besuch in der Lützowschen Wohnung noch eine ganze Reihe Schriftstücke vorgefunden worden sei. Der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Lubczynski ließ sich bestätigen, daß die erste Haussuchung von zwei durch Herrn v. Tausch entsandte Kriminalbeamte vorgenommen worden sei. v. Tausch suchte über alle in dem Lützowschen Geständnisse enthaltenen Punkte Auskunft zu geben, wurde aber wiederholt vom Vorsitzenden darauf verwiesen, daß seine Ausführungen nicht die Sache träfen. Freiherr v. Marschall: Er erinnere sich, daß er bei seiner Unterredung mit dem Minister v. Bronsart von diesem erfahren habe, daß der Verdacht, die Nachricht der „Münch. N.N.“ stamme aus dem Ministerium des Innern, zuerst von Herrn v. Tausch erhoben worden sei; er erinnere sich aber weiter, daß Herr v. Bronsart bei dieser Gelegenheit auch von einem anonymen Brief gesprochen habe.

Legationsrat Dr. Hammann bestätigte das. Als der Kriegsminister die Hilfe des Auswärtigen Amtes in Anspruch nahm, um den Verfasser des Artikels zu ermitteln, habe der Kriegsminister oder Assessor Sachs, Leiter des offiziösen, zum Ministerium des Innern ressortierenden Königlichen Literarischen Bureaus, davon gesprochen, daß er einen anonymen Brief erhalten habe, durch welchen in ihm der Verdacht gegen das Ministerium des Innern noch verstärkt worden sei.

Vors.: Auffallend ist es hiernach, daß die Angaben, die v. Lützow macht, lebhaft bestritten werden und sich nun doch, wenigstens zum Teil, als richtig erweisen.

v. Lützow: Herr v. Tausch hatte mich ja veranlaßt, den anonymen Brief zu schreiben.

Zeuge v. Tausch: Ja, der Herr Kriegsminister wollte Herrn Kukutsch decken. Es war eine ganz harmlose Schiebung, über die der Oberstleutnant Gäde Auskunft geben kann.

Vors.: Das ist mir nicht recht verständlich.

Vert.: Wie konnte Kukutsch dadurch gedeckt werden? Der Verdacht mußte doch nur noch mehr verstärkt stärkt werden.

Vors.: Es ließe sich vielleicht denken, daß so getan werden sollte, als wolle man durch einen anonymen Brief auf Kukutsch hinweisen.

Zeuge v. Tausch: Jawohl, so war es.

Vors.: Es ist dies immerhin ein eigentümliches Verfahren.

Zeuge v. Tausch: Es bandelte sich auch um recht eigentümliche Verhältnisse. Es ist nicht wahr, daß ich Angst gehabt habe, ebenso unwahr ist die Darstellung des Angeklagten v. Lützow bezüglich des Zustandekommens der Quittung.

Vors.: Ich bitte mir aus, keinen so hohen Ton anzuschlagen. Sie haben nur auf meine Fragen zu antworten, soweit Sie nicht als Anstifter einer Fälschung zur Zeugnisverweigerung berechtigt sind. Ich bitte mir aus, hier im angemessenen Tone zu reden!

Angekl. v. Lützow: Er habe den Auftrag erhalten, bei Kukutsch diskret nach den näheren Umständen Erkundigungen einzuziehen, was er davon wisse, daß ein solcher Artikel ergangen sei. Herr v. Tausch habe gesagt, er habe im Kriegsministerium erfahren, daß der Minister des Innern von der Sache wissen müsse. Er habe später erklärt, daß auch das Literarische Bureau davon wisse. Er (Angeklagter) habe sich deshalb Herrn Kukutsch nähern müssen.

Vors.: Herr v. Tausch, ist es öfter vorgekommen, daß v. Lützow Quittungen mit anderen Namen unterschrieb?

Zeuge: Nein.

Vors.: Die Quittungen müssen doch noch dort sein. Herr v. Lützow soll auch Quittungen mit dem Namen Maschke unterschrieben haben.

Zeuge: Ach ja, wenn er selbst Geld erhielt, schrieb er Maschke, bekam aber ein anderer das Geld durch ihn, dann schrieb er dessen Namen.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Mein Klient bittet mich ausdrücklich, Herrn Kukutsch um Verzeihung zu bitten, daß er sich gestern unter dem Banne des Herrn v. Tausch habe hinreißen lassen, ihn dadurch zu beleidigen, daß er ihn eines Meineides für fähig hielt.

Vors. (zum Zeugen Kukutsch): Ich freue mich, daß Ihnen der Angeklagte loyalerweise diese Genugtuung gibt.

Kriminalkommissar v. Tausch legte noch an ihn gerichtete Briefe des Angekl. v. Lützow vor, worin letzterer allerlei von Kukutsch erzählt, v. Lützow gab zu, diese Briefe geschrieben zu haben, behauptete aber, daß sie bestellte Arbeit seien; Herr v. Tausch habe die Briefe haben wollen, um die einmal gesponnenen Fäden weiterzuführen und um Belege in der Hand zu haben.

v. Tausch bezeichnete diese Behauptungen als unwahr. wahr.

Auf eine Zwischenbemerkung des Oberstaatsanwalts, daß man den jetzigen Geständnissen des v. Lützow auch nicht ohne weiteres rückhaltlos glauben dürfe, da sie doch wohl nur unter dem Eindruck der drohenden Anklage wegen Urkundenfälschung abgegeben seien, bemerkte Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Er könnte zeugeneidlich versichern, daß der Angeklagte v. Lützow schon bei der ersten Unterredung mit ihm gesagt habe: er wolle Herrn v. Tausch so lange halten, wie es irgend gehe, wenn es aber nicht mehr gehe, gebe er ihn preis.

Auch bezüglich der weiteren belastenden Behauptungen des v. Lützow wurde v. Tausch in ein scharfes Kreuzverhör genommen, wobei er immer wieder Behauptungen als „Lügen“ bezeichnete. Dazu gehöre auch die Behauptung, daß ein Brief, den v. Lützow an ihn in Sachen des Artikels der „Welt am Montag“ geschrieben, „bestellte Arbeit“ gewesen sei.

Die weiteren Angaben v. Lützows über den in der „Köln. Ztg.“ enthaltenen Artikel seien von A bis Z unwahr. Da Lützow behauptet, v. Tausch habe ihm die Information erteilt, daß der Artikel von Herrn Hönig herrühre, der von dem Prinzen Alexander Hohenlohe empfangen werde, wurde Prinz zu Hohenlohe vernommen. Er erklärte, daß er Herrn Hönig nicht empfangen habe.

Rechtsanwalt Dr. Lubczynski erklärte sich wiederum zum Eide darüber bereit, daß ihm schon vor drei Tagen v. Lützow gesagt habe: die Seele der ganzen Intrigen gegen Herrn v. Marschall sei Kommissar v. Tausch, der alle Fäden dirigiere. Herr v. Tausch habe sehr wohl gewußt, daß der Verfasser des Artikels Herr Hauptmann Hönig sei, es aber so dargestellt, als ob Herr v. Huhn der Autor sei.

Kriminalkommissar v. Tausch erklärte alles für unwahr.

Staatssekretär v. Marschall: Es ist allerdings wunderbar, daß bis dahin Herr v. Huhn als der Verfasser bezeichnet war, daß ich erst durch mein Schreiben an die „Köln. Ztg.“ den wirklichen Verfasser kennengelernt habe, während v. Lützow, wie er jetzt angibt, schon am. 29. v.M. angegeben hat, Hönig sei der Verfasser.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski beantragte, den Oberstleutnant Gäde und Hauptmann Hönig als Zeugen zu vernehmen.

Oberstaatsanwalt Drescher: Es sei heute eine so große Menge neuer Gesichtspunkte in die Beweisaufnahme hineingezogen worden, daß die Prozeßbeteiligten kaum in der Lage sein werden, alle Rätsel zu lösen. Man müsse doch auch Herrn v. Tausch Gelegenheit geben, sich auf alle die Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben werden, zu verteidigen. Es sei zu befürchten, daß man mit diesem Prozesse nicht zu Ende kommen werde, wenn man die neu zu erwartenden Strafprozesse gewissermaßen schon in diesem Verfahren zum Gegenstande der Beweisaufnahme mache. Darüber verliere man die Pointe dieses Prozesses. Er bedauere, daß er gegen den Angeklagten v. Lützow eine neue Anklage werde erheben müssen. Es könne sich auch fragen, ob Herr v. Tausch nicht wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung und zur Anstiftung der Beleidigung im Falle des zweiten Eulenburg-Artikels zur Verantwortung zu ziehen sei. Deshalb sei es doch im Interesse der Gerechtigkeit geboten, Herrn v. Tausch Zeit zu seiner Verteidigung zu lassen. Allerdings sei es geboten, durch den gegenwärtigen Prozeß soviel Aufklärung wie möglich zu schaffen, aber man dürfe doch nicht soweit über den vorgesteckten Rahmen hinausgehen.

Verteidiger R.-A. Dr. Lubczynski erwiderte, daß er mit dem Geständnisse seines Klienten zu Ende sei und weitere Beweisanträge nicht stellen werde.

Auf eine Frage des Vorsitzenden an den Zeugen v. Tausch erwiderte dieser, daß der Polizeipräsident ihm untersagt habe, den Namen des Gewährsmannes betr. die Angelegenheit v. Huhn zu nennen.

Darauf wurde nochmals Oberstleutnant Gäde vernommen: Der Verdacht, daß die Informationen aus dem Literarischen Bureau gekommen seien, war schon aufgetaucht, habe aber bei ihm keinen Glauben gefunden. Herr v. Tausch sei in dieser Angelegenheit bei ihm gewesen, und habe den Verdacht gegen einige Herren des Literarischen Bureaus aufrechterhalten. Um den Verdacht gegen die betreffenden Herren weniger verletzend zu machen, sei der Plan gefaßt worden, einen anonymen Brief an den Kriegsminister herzustellen und darin die Namen der Herren zu erwähnen. Wer die Idee zu diesem Vorgehen gegeben, könne er nicht sagen. Die ganze Sache sollte gewissermaßen eine Maske, ein Kniff sein, um daraufhin bequemer Recherchen anknüpfen zu können. Am folgenden Morgen sei der Brief bereits im Besitze des Kriegsministers gewesen. Ihm, Zeugen, sei dann später die angeblich von Kukutsch unterschriebene Quittung über 50 Mark gezeigt worden, er habe aber an der Echtheit der Unterschrift gezweifelt. Daß Herr v. Tausch bei dieser Fälschung seine Hand im Spiele gehabt, traue er ihm nicht zu. Dem Brief wollte Herr v. Tausch durch eine andere Person schreiben lassen.

Redakteur Dr. Holländer bestätigte zeugeneidlich die Behauptung des Angeklagten Dr. Plölz, daß v. Lützow zur Aufnahme des Eulenburg-Artikels und des zweiten Artikels gedrängt und dann mit den Worten gedroht habe: „Sie dürfen mich nicht im Stiche lassen, sonst werde ich einen Hexentanz heraufbeschwören, daß Ihnen angst und bange wird; Sie ahnen nicht, welche Mittel mir zu Gebote stehen.“

Der Zeuge wurde vom Vorsitzenden wiederholt darüber befragt, ob er es mit journalistischem Anstande für vereinbar halte, daß eine Zeitung aus geschäftlichen oder sonstigen Gründen solche schwere Beleidigungen enthaltende Sensationsnachrichten veröffentlicht. Dr. Holländer wies darauf hin, daß Herr v. Lützow den Inhalt des Artikels wiederholt als richtig versichert und später gesagt habe: Herr v. Marschall habe sich vor Freude über den ersten Artikel den Bauch vor Lachen gehalten.

Der Vorsitzende erklärte dem Zeugen, daß seine Ansicht über journalistischen Anstand doch sehr wunderbar sei. Er halte es für eine Preßmißwirtschaft, daß ein Zeitungsorgan sich mit aller Freude solcher ganz ins Blaue hinein geschriebenen Sensationsnachrichten bemächtige und gar keine Anstalten treffe, die Wahrheit zu kontrollieren, bloß um der erste mit der Nachricht zu sein.

Der Zeuge erwiderte: Wenn der Artikel sich nicht bewahrheitete, so konnte er jedenfalls dazu beitragen, einen politischen Intriganten zu enthüllen.

Dr. Langen, der Verleger der „Welt am Montag“, bestätigte im allgemeinen die Angaben des Angeklagten Dr. Plötz. Letzterer suchte den Zeugen Holländer von dem Verdacht zu entlasten, als ob er bei der Aufnahme des Artikels irgendwie mitgewirkt habe. Weder bei diesem noch bei ihm selbst sei irgendein geschäftliches Interesse im Spiele gewesen.

Der Verhandlung wohnte der Direktor des Hofmarschallamts Geh. Regierungsrat Rath bei.

Am letzten Verhandlungstage bemerkte Oberstaatsanwalt Drescher: Oberstleutnant Gäde habe den Wunsch, eine Erklärung abzugeben.

Oberstleutnant Gäde: Aus Loyalität gegen die Herren des Literarischen Bureaus habe ich folgendes zu erklären: 1. der Verdacht gegen das Literarische Bureau hat sich darauf beschränkt, daß einer der betreffenden Herren wissen könne, von wem die Notiz in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ herrühre, aber jeder Verdacht der eigenen Täterschaft und Beihilfe erschien von vornherein ausgeschlossen; 2. die Quittung mit der Unterschrift Kukutsch ist im Kriegsministerium von vornherein nicht für echt gehalten worden, so daß der Verdacht, amtliche Schriftstücke preiszugeben, auf Herrn Kukutsch bei seiner Vernehmung nicht mehr bestand.

Oberstaatsanwalt Drescher: Ich habe aus Wien die telegraphische Mitteilung erhalten, daß der Botschafter Graf Philipp Eulenburg den dringenden Wunsch habe, hier vor Gericht Auskunft zu erteilen über einige in der Verhandlung zur Sprache gekommenen Tatsachen. Ich habe diesem berechtigten Wunsche Folge gegeben und den Herrn Botschafter ersucht, sucht, sich hier einzufinden. Außerdem habe ich den Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, Herrn Dr. Arthur Levysohn, als Zeugen geladen, und zwar bezüglich einer Stelle in einem Artikel vom Oktober d.J., laut welcher der Angeklagte Leckert im Auswärtigen Amt empfangen sein soll. Ich möchte Auskunft darüber haben, wie das „Berliner Tageblatt“ zu dieser Notiz gekommen ist, ganz besonders, ob sie nicht auf den Kriminalkommissar v. Tausch zurückzuführen ist.

Oberstaatsanwalt: Ich habe in der „Staatsbürgerzeitung“ gelesen, daß Staatssekretär v. Marschall hier eine Rede gegen die „Staatsbürgerzeitung“ gehalten habe, die tatsächliche Irrtümer enthalte. Danach gewinnt es den Anschein, daß noch der Versuch unternommen werden wird, nachzuweisen, die Hetz- und Skandalartikel seien auf das Auswärtige Amt zurückzuführen. Bisher hat die Verhandlung hierfür nichts ergeben. Es ist auch nicht einmal der schwache Versuch gemacht worden, dies zu beweisen. Ich frage den Angeklagten Berger, ob er sich mit den neuesten Ergüssen der „Staatsbürgerzeitung“ identifiziert. Wenn ja, dann bitte ich, mit den Beweisen endlich einmal herauszurücken.

Vert. R.-A. Glatzel: In der Darstellung des Staatssekretärs v. Marschall sind einige Irrtümer enthalten bezüglich der Zeit, in welcher Minister v. Köller von den Nachforschungen nach dem Urheber des Artikels in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ Kenntnis erhalten hat.

Staatssekretär v. Marschall: Der Herr Kriegsminister v. Bronsart hatte meine Hilfe zur Ermittelung des Urhebers des Artikels erbeten und den Verdacht auf Herrn Minister v. Köller geworfen. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß dieser Verdacht vollständig unbegründet war, hat Herr v. Köller hiervon erfahren und damit die Angelegenheit für erledigt erachtet. Ich habe nie den Verdacht gegen Herrn v. Köller gehabt.

Vert. R.-A. Glatzel: Ich muß dabei bleiben, daß Herr v. Köller Aufklärung über den Namen des Verfassers des Artikels seinerzeit verlangt, aber nicht erhalten hat. Ich beantrage deshalb, die Minister v. Köller und v. Bronsart als Zeugen zu laden.

Oberstaatsanwalt: Ich ersuche, den Antrag abzulehnen. Es kommt doch lediglich darauf an, ob der Angeklagte Berger sich der Beleidigung gegen Beamte des Auswärtigen Amtes im Sinne des § 186 des StGB. schuldig gemacht hat.

Vert. Rechtsanwalt Glatzel: Wenn ich aber beweisen will, daß gerade für eine monarchisch gesinnte loyale Zeitung alle Veranlassung vorlag, immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Verdacht, es bestehe eine offiziöse Preßwirtschaft, nicht beseitigt sei, so ist doch die Vernehmung der von mir vorgeschlagenen Zeugen erforderlich.

Der Gerichtshof behielt sich die Beschlußfassung über den Antrag des Verteidigers vor.

Unter allgemeiner Spannung wurde darauf der Botschafter des Deutschen Reiches am Kaiserlichen Hofe zu Wien, Graf Philipp zu Eulenburg, als Zeuge in den Saal gerufen.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts forderte der Vorsitzende den Kriminalkommissar v. Tausch auf, während der Vernehmung des Botschafters den Saal zu verlassen.

Graf Philipp Eulenburg bekundete: Ich kenne den Kriminalkommissar v. Tausch von Abbazia her; er befand sich dort in dienstlicher Funktion. Ich war in Abbazia als Vertreter des Auswärtigen Amts. Ich bin daselbst Herrn v. Tausch oftmals begegnet; er war von sehr freundlichem Wesen, ich habe ihm dies freundliche Wesen erwidert. Das war im Frühjahr 1894. Seitdem habe ich ihn nur selten gesehen. Ich glaube, ich sah Herrn v. Tausch erst wieder bei der Anwesenheit des Kaisers von Österreich in Stettin und noch einmal bei einer anderen ähnlichen Gelegenheit. Kriminalkommissar v. Tausch spielte in meinem Leben eine so wenig hervorragende Rolle, daß ich mich nicht erinnern kann, wo ich ihn zum letzten Male gesehen habe. Das letzte Lebenszeichen von ihm war ein Brief, den ich im Oktober d.J. nach Liebenberg benberg erhielt. Dieser Brief enthielt einen Zeitungsartikel, der sich mit der Fälschung des Zarentoastes beschäftigte. Herr v. Tausch fragte mich in dem Briefe, ob er mich sprechen könnte, er habe mir in bezug auf diesen Artikel interessante Mitteilungen zu machen. Da ich Herrn v. Tausch als fleißigen und tüchtigen Beamten kannte, habe ich ihm in freundschaftlicher Weise geantwortet, daß er mich vielleicht in Berlin würde sprechen können. Schon damals hatte ich übrigens nicht die Absicht, Herrn v. Tausch zu empfangen, weil das, was ein Kriminalkommissar für interessant hält, mich nur interessiert, wenn es meine eigene Person betrifft. Ich pflege mich nicht um Dinge zu bekümmern, die mich nichts angehen. Der Brief des Herrn v. Tausch wird wahrscheinlich in den Papierkorb gewandert sein. Ich habe mit Herrn v. Tausch absolut keine anderen Beziehungen gehabt, als ganz äußerliche. Eine andere Korrespondenz als diesen Brief hat es zwischen uns nicht gegeben. Ich erkläre hier, wo jedes Wort unter meinem Eide geht: es ist eine Verleumdung und böswillige Erfindung, wenn behauptet wird, ich habe Beziehungen zu Herrn v. Tausch unterhalten, und zwar solche, die mit dem Artikel der „Welt am Montag“ im Zusammenhang stehen. Derartigen Machenschaften intriganter Natur und derartigen Verleumdungen, wie sie in diesen Artikeln zutage treten, stehe ich gänzlich fern. Über die Angelegenheiten dieses Prozesses habe ich mit Exzellenz v, Marschall gesprochen, und zwar in der zwischen uns üblichen vertraulichen Weise. Etwas Weiteres habe ich nicht auszusagen.

Vors.: Herr v. Tausch hat die Übersendung des Artikels damit begründet: er habe sich Ihnen gegenüber zu Dank verpflichtet gefühlt?

Graf zu Eulenburg: Ich kann die Gefälligkeit, die ich Herrn v. Tausch erwiesen, sofort mitteilen. Ich wurde gebeten, mich für eine Dekoration für Herrn v. Tausch zu interessieren. Diese ist ihm verliehen worden, dafür hat er mir gedankt.

Vert. R.-A. Schmielinski: Ist in dem Brief an Sie irgendwie erwähnt gewesen, daß der gleichzeitig übersandte Artikel aus der „Welt am Montag“ aus dem Auswärtigen Amt stamme?

Graf Eulenburg: Nein, auch nicht andeutungsweise.

Vert. R.-A. Dr. Lubczynski: Der Angeklagte v. Lützow behauptet: v. Tausch habe ihm gesagt, Graf Philipp Eulenburg habe ihn aufgefordert, ihm mitzuteilen, wenn er etwas Interessantes habe?

Graf Eulenburg: Ich glaube nicht; es müßte denn sehr weit zurückliegen.

Hierauf wurde Kriminalkommissar v. Tausch wieder in den Saal gerufen.

Oberstaatsanwalt: Herr Kriminalkommissar v. Tausch: Sie hatten behauptet, daß Sie dem Artikel in der „Welt am Montag“ gar keine Bedeutung beigelegt und ihn für lächerlich und dumm gehalten haben. Warum haben Sie sich trotzdem mit dem Artikel an den Botschafter Grafen zu Eulenburg gewendet?

v. Tausch: Der Botschafter hatte mir gelegentlich gesagt: Ich solle ihm mitteilen, wenn ich einmal etwas Interessantes habe. Als nun der Artikel in der „Welt am Montag“ erschien, hielt ich ihn doch für interessant genug, um ihn dem Grafen zu Eulenburg zu schicken. Ich war von vornherein überzeugt, Exzellenz Graf zu Eulenburg werde nicht annehmen, daß ich gegen Herrn v. Marschall hetze.

Vors.: Davon reden wir nicht. Ich frage: Wenn Sie als Beamter dem Herrn Botschafter einen solchen Artikel zusenden, so spricht sich darin schon gewissermaßen die Behauptung aus, daß der Artikel doch „nicht ganz ohne“ ist.

v. Tausch: Ich habe schon vor Wochen dem Herrn Präsidenten v. Windheim, Herrn Geheimrat Friedheim und Herrn Geheimrat Muhl bezüglich meines Briefes an den Herrn Botschafter Mitteilung gemacht und dabei bedauert, daß Graf Eulenburg nicht hier sei; er hätte den Vermittler zur Ausgleichung der Differenzen zwischen Herrn v. Marschall und uns abgeben können, damit die Verdächtigungen gegen die politische Polizei endlich einmal aufhören.

Staatssekretär v. Marschall: Ich frage den Herrn Kommissar, zu welcher Zeit und in welcher Form ich solche Verdächtigungen gegen ihn ausgesprochen haben soll?

v. Tausch: Exzellenz haben ja Vors.; selbst gesagt, daß Sie zu uns kein Vertrauen hatten.

Vors.: Die drei Fälle der Tätigkeit Ihrer Vertrauensmänner, die hier zur Sprache gekommen sind, konnten allerdings nicht dazu beitragen, das Vertrauen zu stärken.

Staatssekretär v. Marschall: Wenn ich hier öffentlich ausgesprochen habe, daß ich zu dem Teil der politischen Polizei, dem Herr v. Tausch vorsteht, kein Vertrauen hatte, so kann doch darin für Herrn v. Tausch keine Veranlassung gelegen haben, Herrn Grafen Eulenburg im Oktober den erwähnten Brief zu schreiben. Wo habe ich Verdächtigungen gegen Herrn v. Tausch ausgesprochen?

v. Tausch: Zu dem Herrn Präsidenten v. Windheim.

Staatssekretär v. Marschall: Herr Präsident v. Windheim hatte allerdings bei seinem Antrittsbesuch gefragt, warum wir nie die politische Polizei in Anspruch nehmen. Da habe ich ihm geantwortet: Seit der Affäre Normann-Schumann haben wir kein Vertrauen mehr zur politischen Polizei.

Vors.: Herr v. Tausch, wo haben Sie denn die Legitimation timation her, die Interessen der politischen Polizei in solcher Art nach außen hin wahrzunehmen? Konnten Sie das nicht Ihren Vorgesetzten überlassen?

v. Tausch: Die Angelegenheiten der Presse waren mir unterstellt.

Oberstaatsanwalt: Also was Sie selbst für lächerlich und dumm hielten, erschien Ihnen doch interessant genug für den deutschen Botschafter?

v. Tausch: Ich hatte die Absicht, dem Botschafter die nackten Tatsachen zu unterbreiten. Ich bin noch heute der Ansicht, daß Leckert Hintermänner hat. Ich wollte auch gern den Herrn Grafen zu Eulenburg sprechen, um die Differenzen mit Herrn v. Marschall auszugleichen.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Ihrem direkten Vorgesetzten, Herrn Polizeipräsidenten v. Windheim, Bericht erstattet, daß Sie die Absicht hatten, den ersten Artikel der „Welt am Montag“ an den Grafen Eulenburg zu schicken?

v. Tausch: Ich glaube, daß der Polizeipräsident davon wußte.

Oberstaatsanwalt: Ich bitte mir eine bestimmte Antwort aus.

v. Tausch: Bericht habe ich dem Herrn Polizeipräsidenten über die Übersendung des Artikels an den Grafen Eulenburg nicht erstattet.

Oberstaatsanwalt: Weshalb nicht?

v. Tausch: Ich hielt das nicht für eine dienstliche Angelegenheit.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Ihren Vorgesetzten von der Kukutschschen Quittungsangelegenheit Mitteilung gemacht?

v. Tausch: Nein.

Oberstaatsanwalt: Und warum nicht?

v. Tausch: Ich hielt es für nebensächlich.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie auch den zweiten Artikel der „Welt am Montag“ an den Grafen Eulenburg gesandt?

v. Tausch: Nein, diesen Artikel hielt ich nicht für wesentlich.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Herrn Chefredakteur Dr. Levysohn vom „Berliner Tageblatt“ erklärt, daß Leckert im Auswärtigen Amt empfangen werde?

v. Tausch: Nein.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie gar nicht darüber gesprochen?

v. Tausch: Ja, ich habe über Leckert gesprochen, aber ich habe etwas Derartiges nie von ihm erzählt.

Oberstaatsanwalt: Ist es Ihnen nunmehr gestattet worden, den Namen Ihres Gewährsmannes zu nennen, der Ihnen Herrn v. Huhn als Verfasser des Artikels in der „Kölnischen Zeitung“ bezeichnete?

Zeuge: Ja, es ist der Journalist Stärk vom „Berliner Tageblatt“ gewesen.

Oberstaatsanwalt: Herr Stärk war gestern abend bei mir; er ist als Zeuge geladen und wird vernommen werden.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ich muß meine Verwunderung aussprechen, daß Kriminalkommissar v. Tausch seiner Mappe immer neue Briefe entnimmt, die er schon am ersten Tage seiner Vernehmung hätte produzieren müssen, da er doch geschworen hat, nichts zu verschweigen. Doch dies nur nebenbei: daß v. Tausch ein besonderes Interesse an der Veröffentlichung des ersten Artikels hatte, halte ich für erwiesen. Herr v. Tausch wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich der Überzeugung Ausdruck gebe, er hat den ersten Artikel schon vor seinem Erscheinen in der „Welt am Montag“ gekannt.

v. Tausch: Ich habe weder diesen, noch sonst einen politischen Artikel inspiriert.

Vert.: Halten Sie es nicht für einen politischen Artikel, wenn Sie Nachrichten über den Gesundheitszustand des Kaisers in die Presse lancieren?

v. Tausch: Das habe ich nie getan.

Vert.: Haben Sie auch niemals einen verletzenden Artikel über einen Ihrer Vorgesetzten, den Polizeirat Graf v. Stillfried, in die Presse gebracht?

v. Tausch: Niemals.

Vors.: Bei dem großen und berechtigten Interesse, welches dieser Prozeß erregt, ist gewiß eine möglichst weitgehende Aufklärung geboten; ich möchte aber doch den Herrn Verteidiger bitten, seine Anträge auf Beweiserhebung zu den von ihm angeregten Punkten vorläufig nicht zu stellen.

Der nächste Zeuge war der Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, Dr. Arthur Levysohn.

Vorsitzender: Herr Doktor! Im „Berliner Tageblatt“ ist eine Notiz erschienen des Inhalts: Leckert werde im Auswärtigen Amt empfangen. Von wem haben Sie diese Notiz?

Zeuge: Von dem Kriminalkommissar v. Tausch.

Vors.: Unter welchen Umständen geschah das?

Zeuge: Eines Abends erschien Herr v. Tausch bei mir und bat mich um die zweite Hälfte des von uns gebrachten Föllmerschen Artikels. Er sagte: er habe nur die erste Hälfte, die zweite sei ihm abhanden gekommen. Diese Unterredung fand am 21. Oktober d.J. statt. Ich wollte jedoch der politischen Polizei keine Dienste leisten; es wurde mir auch sehr bald klar, daß der ganze Besuch des v. Tausch nur ein Vorwand war, wie diese Herren gewöhnlich irgendeinen Vorwand vorschützen. Im Laufe der Unterredung fragte ich Herrn v. Tausch: Wer sind denn eigentlich diese Leckert und Lützow?

Oberstaatsanwalt: Ich beantrage, daß während der weiteren Vernehmung des Herrn Zeugen Kriminalkommissar v. Tausch den Saal verläßt.

Der Gerichtshof gab dem Antrage statt. Kriminalkommissar v. Tausch wurde vom Vorsitzenden aufgefordert, den Saal zu verlassen.

Darauf fuhr der Zeuge Dr. Levysohn fort: Kriminalkommissar v. Tausch sagte hierauf: Leckert ist ein Mann, der in feuilletonistischer Weise und als Theaterreferent für verschiedene Zeitungen, so u.a. für die „Tägliche Rundschau“, tätig ist. Ich fragte weiter: Wie kommt Leckert dazu, sich auch mit Politik zu befassen, und wie kommt v. Lützow zu der Verbindung mit Leckert? v. Tausch antwortete: Leckert hat Beziehungen zum Auswärtigen Amt, v. Lützow ist hierbei nur ein Strohmann und der Düpierte gewesen. Alles dies wurde von mir notiert und veröffentlicht. Der betreffende Artikel wird getreuer als ich die Ereignisse wiedergeben. Ich ahnte damals auch noch nicht die Bedeutung der Sache.

Vors.: Kriminalkommissar v. Tausch hat soeben unter seinem Eide bekundet, daß er nie zu dem Chefredakteur Dr. Levysohn gesagt habe: Leckert wird im Auswärtigen Amt empfangen.

Dr. Levysohn: Ich halte meine Aussage vollkommen aufrecht.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski: Ist Ihnen vielleicht die Veröffentlichung der Unterredung von v. Tausch verboten worden. v. Tausch behauptet: Er habe Ihnen gesagt: Das bleibt unter uns und darf nicht veröffentlicht werden.

Dr. Levysohn: Das ist möglich; ich bezog das aber in der Hauptsache auf die Mitteilungen, die er mir über verschiedene hochgestellte Persönlichkeiten gemacht hatte.

Vors.: Hat dabei v. Tausch auch den Namen des Herrn Staatssekretärs v. Marschall erwähnt?

Zeuge: Das ist mir nicht mehr erinnerlich.

Vors.: Vielleicht hat v. Tausch Sie gebeten, nicht über die Sache, aber über die Quelle zu schweigen?

Zeuge: Ich erinnere mich jetzt, daß Herr v. Tausch sagte: Das bleibt aber unter uns. Ich habe das auf die ungeschminkten Ausdrücke bezogen, die v. Tausch über die Regierung machte. Auf die Mitteilungen bezüglich Leckert, der ich überhaupt damals geringe Bedeutung beilegte, bezog sich das nicht. v. Tausch sprach oft zu mir über die Regierung in den ungeschminktesten Ausdrücken, so daß ich ihm mißtraute und es für eine Provokation hielt. Ich wußte, daß ich einen Beamten vor mir hatte, ich habe deshalb die Mitteilungen niemals für das „Berliner Tageblatt“ benutzt.

Vert. R.-A. Gennerich: Hatten Sie die Empfindung, als ob Kriminalkommissar v. Tausch die Beziehungen Leckerts zum Auswärtigen Amt als eigenes Erlebnis hinstellte oder hatten Sie den Eindruck, als ob er dies von v. Lützow erzählt erhalten hat?

Zeuge: Ich hatte die Empfindung, als ob v. Tausch dies alles aus eigener Wissenschaft erzählte.

Darauf wurde der betreffende Artikel aus dem „Berliner Tageblatt“ verlesen.

Staatssekretär Freiherr v. Marschall: Unmittelbar nach dem Erscheinen des in Frage stehenden Artikels fragte ich Herrn Dr. Levysohn nach dem Entstehen des Artikels. Herr Dr. Levysohn erzählte mir genau dasselbe, was er hier soeben ausgeführt hat, er stellte nur die Sache so dar, als ob er seine Mitteilungen von einem Anonymus habe. Den Namen v. Tausch nannte er nicht; er sagte: er könne den Namen seines Gewährsmannes nicht nennen. Hierauf sagte ich zu ihm: Ich kann Ihnen aber den Namen nennen, es ist Kriminalkommissar v. Tausch. Herr Dr. Levysohn antwortete darauf nicht, ich hatte aber die Empfindung, als wenn das, was ich gesagt hatte, nicht falsch sei.

Oberstaatsanwalt: Angesichts dieser Aussagen ist der Augenblick gekommen, den ich fürchtete, der Augenblick, in dem ich gezwungen bin, den folgenschweren Antrag zu stellen, den Zeugen, Kriminalkommissar v. Tausch, wegen dringenden Verdachts des wissentlichen Meineides zu verhaften. (Große anhaltende Bewegung.)

Vorsitzender: Der Gerichtshof wird über diesen Antrag beraten.

Nach kurzer Zeit trat der Gerichtshof wieder in den Saal. Der Vorsitzende befahl, den Zeugen v. Tausch wieder in den Saal zu rufen.

Vors.: Herr Kriminalkommissar, wollen Sie bei Ihrer Aussage bleiben?

Zeuge: Ich habe nie zu Dr. Levysohn gesagt, daß Leckert im Auswärtigen Amt empfangen worden sei.

Vors.: Haben Sie den Artikel im „Berliner Tageblatt“ gelesen?

Zeuge: Jawohl, ich sagte aber sofort zu Herrn Geheimrat Friedheim: Da sehen Sie doch, da ist ja alles veröffentlicht, und gerade das, was ich gar nicht gesagt habe, ist gesperrt gedruckt.

Vors.: Ihre Vernehmung ist hier zu Ende, und wenn Sie noch etwas zu sagen haben, so ist es jetzt die höchste Zeit dazu. Sie bleiben also bei Ihrer Behauptung, Sie haben nie zu Dr. Levysohn gesagt, daß Leckert im Auswärtigen Amt empfangen werde?

v. Tausch: Jawohl.

Vorsitzender: Der Gerichtshof hat beschlossen: den Zeugen Kriminalkommissar v. Tausch wegen dringenden Verdachts des wissentlichen Meineides zu verhaften. (Große anhaltende Bewegung.) Es steht Ihnen zu, gegen diesen Beschluß Beschwerde beim Königlichen Kammergericht zu führen.

v. Tausch hob noch einmal die Hand in die Höhe und rief: Ich schwöre, was ich gesagt habe, ist wahr.

Vors.: Kriminalkommissar v. Tausch ist in das Untersuchungsgefängnis tersuchungsgefängnis abzuführen.

v. Tausch ersuchte den am Stenographentisch sitzenden Polizeisekretär Lührs, seine Frau zu benachrichtigen und ihr einige Mitteilungen zu machen, er wurde alsdann von zwei Gerichtsdienern abgeführt.

Darauf wurde nochmals Hauptmann Hönig über den in der „Kölnischen Zeitung“ enthaltenen Artikel mit der Überschrift: „Flügeladjutanten-Politik“ vernommen.

Vors.: Herr Zeuge, können Sie uns sagen, wer der Verfasser des am 28. April in der „Kölnischen Zeitung“ erschienenen Artikels ist?

Zeuge: Ich bin der Verfasser dieses Artikels. Ich habe auch niemals ein Hehl daraus gemacht, daß ich der Verfasser des Artikels bin. Ich habe es jedem zugegeben, der mich danach gefragt hat. Bereits am 17. April wurde ich von dem Abgeordneten Eugen Richter in der „Freisinnigen Zeitung“ als Verfasser genannt. Eine große Anzahl anderer Blätter hatte diese Notiz übernommen, es ist mir deshalb vollständig unverständlich, daß Kriminalkommissar v. Tausch nicht auch den Verfasser gekannt haben sollte.

Oberstaatsanwalt: Herr Zeuge: Stehen Sie zum Auswärtigen Amt oder zu einem Beamten des Auswärtigen Amts in Beziehungen?

Zeuge: Nein, ich bestreite unter meinem Eide, daß ich auch nur in der allerentferntesten Weise irgendwelche welche Beziehungen zum Auswärtigen Amt jemals gehabt habe.

Oberstaatsanwalt: Bezieht sich Ihre Erklärung auch auf den von Ihnen verfaßten Artikel im „Hamburgischen Korrespondent“?

Zeuge: Ja gewiß.

Oberstaatsanwalt: Haben Sie Beziehungen zum Kriegsministerium oder zum Kriegsminister General v. Bronsart unterhalten?

Zeuge: Nein, ich nehme dies auch auf meinen Eid. Ich erkläre: Ich habe während des letzten Jahres nicht die Ehre gehabt, mit dem Herrn General zu sprechen.

Es folgte die Vernehmung des Fräulein Adeline Wenz, das auf ein Telegramm des Verteidigers R.-A. Dr. Lubczynski von Breslau nach hier geeilt war, weil sie nach der früheren Angabe des Angeklagten v. Lützow in jenem Café zugegen gewesen sei, wo der Zeuge Kukutsch die Quittung geschrieben haben sollte. Die Zeugin bekundete, daß die Quittung nicht in einem Café, sondern in der Wohnung des Angeklagten v. Lützow zustande gekommen sei. v. Lützow habe gesagt, daß er ihr eine Quittung diktieren möchte, habe sich dann aber eines anderen besonnen mit der Bemerkung, daß Herr v. Tausch, für den die Quittung bestimmt sei, am Ende ihre Handschrift erkennen könne. Er habe deshalb das Dienstmädchen Emma rufen lassen und dieser den Text der Quittung diktiert. Sodann habe er den Hausdiener rufen lassen, der auf seine Veranlassung den Namen „Kukutsch“ unter das Schriftstück setzen mußte.

Vors.: Ist Ihnen dies nicht aufgefallen?

Zeugin: Nein, gar nicht, er sagte, Herr v. Tausch wolle es haben. Ich wußte, daß er von Herrn v. Tausch abhängig und ganz in dessen Gewalt war. Er beklagte sich häufig darüber und gab zu erkennen, daß er sich gern von Herrn v. Tausch befreien möchte, denn er empfinde schwer das wenig Ehrenhafte seiner Tätigkeit.

Vors.: Hat v. Lützow Ihnen gegenüber den Namen v. Marschall erwähnt?

Zeugin: Nein, dessen entsinne ich mich nicht, wohl aber, daß er den Namen des Grafen Eulenburg nannte.

Vors.: Hat der Angeklagte v. Lützow auch mal einen Brief an den General v. Bronsart geschrieben?

Zeugin: Ja, wenigstens hat er einen solchen durch den Hausdiener schreiben lassen, des Inhalts: „Wollen Sie wissen, wer gegen Sie putscht, so fragen Sie Eckert, Hammann, Kukutsch.“

Es folgte die Vernehmung des Journalisten Gingold Stärk, der beim Berliner Tageblatt Redakteur war. Er bekundete: Etwa vor Jahresfrist sei er durch einen Polizeiwachtmeister zum Kommissar v. Tausch gebeten worden, um Auskunft über seine Personalien zu geben. Nachdem er dem Kommissar die gewünschte te Auskunft gegeben, habe er sich entfernen wollen. Der Kommissar habe ihn aber zurückgehalten mit der Bemerkung: Hören Sie mal, Sie scheinen gute Verbindungen zu haben, Sie könnten eigentlich der Polizei einen Dienst erweisen, indem Sie uns Auskunft erteilen. Ich verlange durchaus nichts Unanständiges oder Ehrenrühriges von Ihnen, Sie sollen uns nur den Namen des Verfassers eines Artikels nennen, wenn wir es für nötig halten. Er (Zeuge) habe sich zwei Stunden Bedenkzeit ausgebeten und dann das Anerbieten akzeptiert, weil er fürchtete, Herr v. Tausch würde sich für eine Ablehnung rächen, daß er ihn, da er Österreicher sei, als lästigen Ausländer ausweise.

Vors.: Hat Kommissar v. Tausch sich Ihnen gegenüber über Herrn v. Marschall ausgesprochen?

Zeuge: Ja, er hielt den Herrn Staatssekretär für einen Usurpator, der die Stellung nicht verdiene, die er einnehme. Kommissar v. Tausch hatte eine andere politische Richtung wie Herr v. Marschall. Wie die meisten Gegner des Herrn v. Marschall ist v. Tausch ein enragierter Bismarckianer. Graf Herbert Bismarck schien ihm für den Posten des Staatssekretärs weit mehr als Herr v. Marschall passend. Ich wurde wiederholt von Herrn v. Tausch aufgefordert, mich zu bemühen, in Beziehungen zum Auswärtigen Amt zu gelangen, er nannte mir wiederholt den Namen des Herrn v. Hollstein, an den ich mich wenden sollte. Ich schrieb auch an Herrn v. Hollstein, erhielt aber keine Antwort. Dann wandte ich mich persönlich an Dr. Hammann mit der Bitte, mich durch Auskünfte unterstützen zu wollen. Auch hier erfuhr ich Abweisung.

Während der Vernehmung dieses Zeugen war der Polizeipräsident v. Windheim im Saale als Zuhörer erschienen.

Oberstaatsanwalt zu Gingold Stärk: Wußten Sie, daß Sie in dem Augenblick nicht mehr im Auswärtigen Amt empfangen wurden, als bekannt wurde, daß hinter Ihnen nicht das ?Berliner Tageblatt?, sondern v. Tausch stand?

Zeuge: Das höre ich heute zum ersten Male.

Staatssekretär v. Marschall: Ich kann über den Zeugen folgende Auskunft geben. Ich möchte in bezug auf Herrn v. Hollstein darauf hinweisen, daß dieser hochehrenhafte und hochverdiente Beamte der Mittelpunkt der gehässigen Aktionen gegen das Auswärtige Amt und besonders heftig angegriffen worden ist. An diesen wandte sich zuerst, soviel ich mich erinnere, eines Tages ein neuer Journalist, namens Gingold Stärk, der eine Karte von Dr. Levysohn vom ?Berliner Tageblatt? überbrachte und bat, daß er zur Empfangnahme von Informationen zugelassen werden möge. Der Mann machte nicht einen günstigen Eindruck und sollte nicht empfangen werden. Später erfuhr ich, daß es dem Herrn doch gelungen sei, Zutritt bei zwei Herren verschiedener Abteilungen zu erlangen. Ich bemerkte dies an einigen Notizen, die im ?Berliner Tageblatt? erschienen und gab dem betreffenden Diener den strikten Befehl, den Herrn bei niemand mehr anzumelden. Wir hatten den Eindruck, als ob wir diesem Manne gegenüber sehr vorsichtig sein müßten. Als die ersten Artikel über diesen Prozeß erschienen, bekam ich einen Brief von Herrn Stärk mit einer anonymen Karte, deren Inhalt sich anscheinend gegen Herrn v. Lützow wenden sollte. Ich ließ mir Herrn Dr. Hammann kommen, dieser sagte aber sofort: „Exzellenz, lassen Sie die Finger davon! Das ist sicher eine Falle!“ Es war dann in der Tat ein Verdacht aufgestiegen, daß mit dieser anonymen Karte uns ein Paroli geboten werden und der Beweis konstruiert werden sollte, daß das Auswärtige Amt in Beziehung zu irgendeinem anrüchigen Menschen stehe, während wir bis dahin ganz integer dastanden. Als Herr Stärk eine Antwort erbat, habe ich ihm die anonyme Karte durch den Diener einfach zurückgeben lassen. Ich möchte aber den Zeugen Stärk bitten, mir zu sagen, wie er dazu gekommen ist, Herrn v. Huhn fälschlich als Verfasser des Artikels der „Köln. Ztg.“ zu nennen?

Zeuge Stärk: Ich kann sagen, ich bin auf das peinlichste berührt worden von den Mitteilungen des Herrn Staatssekretärs. Ich kenne die Herren Leckert und Lützow gar nicht, habe auch nie im Auswärtigen Amte einen Besuch zu dem Zweck gemacht, die Herren im Auswärtigen Amte auszuhorchen. Die anonyme Karte habe ich von Herrn Dr. Levysohn empfangen, um sie dem Auswärtigen Amt zu übermitteln und dort mitzuteilen, daß eine solche Karte beim „Berliner Tageblatt“ eingelaufen sei.

(Dr. Levysohn bestätigte das.) Ich hatte keine Ahnung von der Affäre Leckert-Lützow, ich stehe allen Dingen vollkommen fern, habe niemals versucht, für Herrn v. Tausch zu spionieren und nur den Interessen des „Berliner Tageblattes“ zu dienen gesucht.

Staatssekretär v. Marschall: Durch Herrn v. Tausch war amtlich gemeldet worden, daß der Artikel der „Köln. Ztg.“ von Herrn v. Huhn herrühre. Wie kam der Zeuge zu solcher Information?

Zeuge: Ich habe Herrn v. Huhn allerdings genannt, denn ich wußte, daß dieser Herr Korrespondent der „Köln. Ztg.“ ist.

Vors.: Auf Grund einer so dünnen Unterlage konnten Sie doch aber nicht solche Mitteilungen machen.

Zeuge: Ich habe auch nur eine Vermutung ausgesprochen, daß Herr v. Huhn der Verfasser sei.

Vors.: Die „Köln. Ztg.“ hat doch aber viele Korrespondenten; wie können Sie denn einen bestimmten Herrn, von dessen Verfasserschaft Sie nichts wußten, mit Namen nennen?

Zeuge: Ich habe das nur getan unter der ein für alle Male festgestellten Voraussetzung, daß gegen den Herrn nichts unternommen werde.

Vors.: Ein Kriminalbeamter verfolgt doch gewiß bestimmte Zwecke mit einer solchen Frage.

Wirkl. Legationsrat Dr. Hammann: Ich kann nur bestätigen, was Herr Staatssekretär v. Marschall über das Auftauchen des Herrn Gingold Stärk im Auswärtigen Amt gesagt hat. Stärk ist auf dem Auswärtigen Amt erschienen, um angeblich für das „Berl. Tageblatt“ Informationen zu holen. Er ist von Anfang an mit etwas Mißtrauen behandelt worden, weil sein Auftreten nicht ein derartig zurückhaltendes war, wie man es bei einem ersten Besuche verlangen konnte. Er ist deshalb nicht empfangen worden. Der Herr meldete sich nach einigen Wochen wieder, und ich entschloß mich, einen Beamten zu beauftragen, den Herrn doch einmal zu empfangen, um zu wissen, was er wünsche. Der Beamte hatte denselben ungünstigen Eindruck. Ich habe dann Dr. Levysohn bitten lassen, wenn er Informationen von mir wünsche, mir doch einen mir bekannten Herrn zu senden. Es war der dringende Verdacht aufgetaucht, daß Herr Stärk dem Auswärtigen Amt eine Falle stellen wollte und ein Abgesandter des Herrn v. Tausch war. Dieser Verdacht wurde noch bestätigt durch Mitteilungen, die wir von Herrn Direktor Dr. Mantler erhielten, ferner durch Mitteilungen des Dr. Runge vom Wolffschen Telegraphenbureau. Letzterer hatte sich über die Person des Herrn Stärk bei Herrn v. Tausch erkundigt und dabei die glänzendste Auskunft erhalten: er sei ein konservativer Herr, der volles Vertrauen verdiene usw. An einer Fußnote war von Herrn v. Tausch sogar bemerkt: „Geeignet auch zu großen politischen Aktionen.“ Dadurch war für mich der Ring geschlossen, daß Herr Stärk ein Vertrauensmann des Herrn v. Tausch war.

Vors.: Ich will Herrn Dr. Levysohn Gelegenheit geben, sich zu äußern: Haben Sie von den Beziehungen des Herrn Stärk zu Herrn v. Tausch etwas gewußt?

Zeuge: Nicht das geringste. Ich habe nicht ein Sterbenswort davon gewußt, nicht die leiseste Ahnung davon gehabt. Was die anonyme Karte betrifft, so habe ich die natürlich dem Herrn Staatssekretär nicht in der Absicht zugestellt, ihm eine Falle zu stellen, sondern ganz im Gegenteil.

Vors: Das hat auch niemand vermutet.

Auf jede weitere Beweisaufnahme wurde alsdann allseitig verzichtet.

Es nahm hierauf das Wort Oberstaatsanwalt Drescher: M.H. Richter! Wir nähern uns dem Ende eines großen Prozesses, eines Prozesses von hoher, eminent politischer Bedeutung, eines Prozesses, der in den letzten Tagen überreich war an unerwarteten Ereignissen und überreichen Zwischenfällen, an dramatischen Szenen. Der Gipfelpunkt wurde heute erreicht in dem Moment, als ein Mann zur Haft gebracht wurde, der in dieser Sache eine gefahrbringende, eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Es ist nicht meine Aufgabe, auf die Vorgänge, die zu dem Sturze dieses Mannes geführt haben, hier näher einzugehen. Der Mann wird seinem verdienten Schicksal nicht entgehen. Jetzt aber schon ein voreiliges, endgültiges Urteil zu fällen, würde dem obersten Grundsatze der Rechtspflege: „audiatur et altera pars“ widersprechen. Wenn ich also über die Vorgänge, die diesen Mann berühren, hinweggehe, so kann ich doch schon sagen: dienstlich ist er schwer kompromittiert. Ich habe gesagt, daß dieser Prozeß eine eminent hohe politische Bedeutung hat. Allerdings ist diese Bedeutung nicht in den Persönlichkeiten der Angeklagten begründet. Da ist zuerst Leckert jun. Er ist ein junger, unerfahrener Mann von 20 Jahren, der vor drei Jahren noch die Schulbank drückte. Er mag in seiner an Größenwahn streifenden Eitelkeit wirklich geglaubt haben, er habe das Zeug zu einem Journalisten in sich. Richtig ist es ja, daß er als solcher Unglaubliches, Ungeheuerliches geleistet hat. Der zweite Angeklagte ist ein Mann von hohem, berühmtem Namen, ein früherer Offizier. Er steht auf der gleichen Stufe, wie sein Geschäftsgenosse se Leckert. Er besitzt allerdings Lebenserfahrung und Gewandtheit, allzuviel Gewandtheit. Aber auch ihm fehlt die Liebe zur Wahrheit und die Liebe zur Ehre. Ich komme auf die in dem Prozesse viel besprochene Stellung der Vertrauensmänner. Man glaubt augenscheinlich, daß der Behörde durch die Anstellung von Vertrauensmännern ein gewisser Makel anhaftet. Dagegen muß ich die Behörde schützen. Leider sind wir gezwungen, solche Vertrauensmänner zu halten. Eine andere Frage ist allerdings, in welcher Weise die Vertrauensmänner benutzt werden und welche Personen sich dazu hergeben. Werden solche Vertrauensmänner angenommen, dann muß es auch mit großer Vorsicht und großem Takt geschehen, sonst treten derartige Verhältnisse ein, wie sie der Prozeß aufgedeckt hat. Wo liegt denn nun aber die eminent politische Bedeutung des Falles? Sie liegt in den Personen der Beleidigten und in dem Gegenstande der Beleidigung. Beleidigt sind: Graf zu Eulenburg, der Hofmarschall des Kaisers, ein hochgeachteter Mann aus der nächsten Umgebung des Monarchen, an den sich bisher noch niemand herangewagt hat. Beleidigt sind ferner: Staatssekretär v. Marschall, Prinz Alexander zu Hohenlohe und Wirkl. Legationsrat Dr. Hammann in bezug auf ihre Amtsehre. Dem Hofmarschall zu Eulenburg ist der Vorwurf einer Fälschung, eines Vertrauensbruchs, eines Verrats gemacht: Er soll die Intentionen tentionen Sr. Majestät eigenmächtig durchkreuzt haben zum Schaden seines Vaterlandes und englischen Einflüssen gehorchend. Das ist ein Vorwurf, wie er schwerer kaum gedacht werden kann. Es ist bei dieser Gelegenheit wieder das Wort „Nebenregierung“ benutzt worden. Ich muß sagen: mir ist diese Bezeichnung in meinem dienstlichen Leben – darum allein kann es sich handeln, nicht aber um meine persönliche politische Stellung – öfter begegnet, und ich muß sagen: es ist ein nichtsnutziges Wort, das in jedem Falle geeignet ist, die Ehrfurcht gegen Se. Majestät den Kaiser zu verletzen, unter Umständen sogar ein Wort, welches eine Majestätsbeleidigung enthält, insofern als Sr. Majestät Mangel an Willensstärke vorgeworfen und er als gefügiges Werkzeug irgendeiner Clique hingestellt werden soll. Ich würde keinen Augenblick zaudern, gegen jeden mit einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung unter Umständen vorzugehen – mag er einer Partei angehören, welcher er wolle –, der dieses Wort unter besonderen Umständen anwendet. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß vor Jahren dieser Vorwurf gegen den Chef des Zivilkabinetts in dreistester Weise von antisemitischer Seite erhoben, worden ist. Dieses nichtsnutzige Wort ist auch dazu benutzt worden, um Angriffe gegen das Auswärtige Amt und seinen Chef zu erheben. Diese Angriffe sind nicht neu. Der Anklageartikel ist eigentlich lich nur eine Fortsetzung einer langen Reihe anderer Artikel und Vorwürfe, die mehr oder weniger versteckt an die Öffentlichkeit gekommen sind. Da mag irgendein Angriff gegen die Umgebung Sr. Majestät erhoben werden, sofort heißt es: „Die Nebenregierung ist im Spiele,“ alle Ministerveränderungen werden auf die Tätigkeit des Auswärtigen Amtes zurückgeführt, welches als die Brutstätte aller Kabalen und Intrigen geschildert wird, und so sollte man es kaum glauben, daß alles mögliche dem Auswärtigen Amte aufgebürdet wird. Ja, was sind denn das für Zustände? Ist es nicht im Staatsinteresse dringend geboten, einmal Klarheit zu schaffen? Öffentliche Berichtigungen des Staatsanzeigers nutzten nichts, man stürzte sich vielmehr wieder auf diese Berichtigungen. Dagegen hilft nur das eine Mittel: Strafantrag und Gerichtsentscheidung. Es mußte endlich einmal klare Rechnung gemacht werden, es mußte den Leuten, die immer wieder mit ihren versteckten Angriffen hervortraten, zugerufen werden: „Heraus aus dem Busch!“ Aber hat denn dieser große Prozeß den Zweck erreicht? Ich fürchte, daß diejenigen, welche bisher diese unberechtigten Vorwürfe erhoben hatten, mit „Nein!“ antworten werden. Wenn es die Hauptaufgabe des Prozesses sein sollte, die Hintermänner zu ermitteln, welche hinter den beiden Artikeln in der „Welt am Montag“ standen, so mag auch dieser Zweck als verfehlt bezeichnet zeichnet werden. Aber ich glaube gar nicht, daß Leckert einen Hintermann gehabt hat. Ich meine, die Hauptaufgabe dieses Prozesses ist gewesen, den Beweis dafür zu erbringen, daß alle die Vorwürfe, welche seit langer Zeit und systematisch gegen das Auswärtige Amt geschleudert wurden, in nichts zerfallen, daß sie unwahr sind von A bis Z. Und das ist meiner Überzeugung nach im vollsten Umfange erreicht. Was nun die Artikel der „Welt am Montag“ betrifft, so liegt bei Leckert und Lützow Beleidigung wider besseres Wissen vor. Leckert bestreitet seine Schuld und sagt, er hätte dem Lützow keine Information gegeben, die in die Presse kommen sollte, alles sei nur gesprächsweise erzählt worden. Ferner behauptet er, daß er nicht den Namen Eulenburg genannt habe. Aber diese Behauptungen sind Ausflüchte, denn es steht fest, daß Leckert einen wenigstens im Inhalt ähnlichen Artikel vor der Veröffentlichung in der „Welt am Montag“ schon dem Zeugen Rippler zur Veröffentlichung angeboten hat. Ferner ist erwiesen, daß Leckert den Lützow nach dem Erscheinen des ersten Artikels in der „Welt am Montag“, der ja in der gesamten Presse – zu ihrer Ehre sei es gesagt – mit Recht als kecke Erfindung und erlogene Behauptung gebrandmarkt wurde, mittels Postkarte zur Besprechung des weiteren Operationsplanes aufforderte. Er räumte hierdurch seine Täterschaft gewissermaßen ein.

Man muß sich verwundert fragen, kann denn ein nur einigermaßen vernünftiger Mensch solch eine Nachricht für wahr halten, wenn er nicht einen zuverlässigen Gewährsmann hat. Besteht hier aber ein Gewährsmann? Nie und nimmermehr! Es handelt sich vielmehr um den „großen Unbekannten“. Hat der Angeklagte aber keinen Gewährsmann, so hat er sich die Sache eben aus den Fingern gesogen, mag dies noch so unglaubwürdig erscheinen. Bei einem solch hohlen Renommisten ist es schon zu glauben. Welch eine Unverschämtheit von Leckert, zu behaupten, daß er eine Audienz beim Reichskanzler gehabt habe! Und mir scheint, er glaubt noch heute, daß er eine Audienz beim Reichskanzler gehabt hat. Wie hat der Angeklagte nicht Herrn Werle, den Verleger des „Breslauer Generalanzeiger“ angelogen! Ich behaupte, daß Leckert wider besseres Wissen gehandelt hat, und dasselbe will ich mit Bezug auf Lützow nachweisen. Der erfahrene, gewandte v. Lützow soll nicht zu der Überzeugung gekommen sein, daß Leckert ein hohler, leerer Renommist war? Sollte v. Lützow noch nicht aus seinem angeblichen Irrtum herausgekommen sein, als die gesamte Presse seinen ersten Artikel verdammte und den Inhalt als dumm und albern bezeichnete? Seine „Enthüllungen“ sind nicht als bare Münze sofort anzunehmen, denn sie sind doch nur unter dem Eindruck zustande gekommen, daß für ihn nun alles verloren sei. Deshalb hat er Herrn v. Tausch schließlich fallen lassen. Helfen kann ihm dies blutwenig, für seine bona fides ist damit nichts, aber auch gar nichts bewiesen. Zweifellos ist auch, daß beide Angeklagte mündlich den Freiherrn v. Marschall und Beamte des Auswärtigen Amtes verleumderisch beleidigt haben. Lützow hat unter wiederholtem Bruch seines Ehrenwortes dem Dr. Plötz versichert, daß er in Sachen des Artikels vom Freiherrn v. Marschall empfangen worden sei. Er hat dies schließlich zugestehen müssen und ist damit der mündlichen Verleumdung überführt. Dazu tritt die schriftliche Verleumdung in dem an Herrn v. Tausch erstatteten Bericht. Für Dr. Plötz dürfte der § 186 in Anwendung zu bringen sein, zunächst sicher bezüglich des ersten Artikels, den er trotz seiner Ungeheuerlichkeit für wahr gehalten haben mag, da sein Gewährsmann der bis dahin unverdächtige v. Lützow war. Zweifelhaft ist die Sache bei dem zweiten Artikel. Bei diesem hat sich Dr. Plötz in ganz loyaler Weise bei autoritativer Stelle erkundigt, und man könnte sich wundern, daß trotzdem der zweite Artikel erschienen ist. Aber er hat doch Zusätze gemacht, die bekundeten, daß er selbst nicht mehr an die Wahrheit der im ersten Artikel aufgestellten Behauptungen glaubte. Seine Erklärung, die er über die Aufnahme des zweiten Artikels gegeben, klingt immerhin glaubwürdig. Ich muß anheimgeben, den Angekl. Dr. Plötz nur wegen des ersten Artikels aus § 186 zu verurteilen. Föllmer und Leckert sen. werden verantwortlich gemacht für den Passus in der „Staatsbürgerzeitung“: „Auch will man mutmaßen, daß hinter der Sache Freiherr v. Marschall und der Prinz zu Hohenlohe stehen.“ Das sind schwere Beleidigungen dieser beiden Herren. Föllmer hat diese Preßkundgebung gewollt und auch erreicht. Wenn es nun auch sehr leichtfertig und gewissenlos ist, wenn Herren der Presse mit der Ehre anderer so mir nichts, dir nichts umgehen, so mag doch dem Angeklagten Föllmer zugute gehalten werden, daß er mehr aus Unverstand gehandelt hat. Die üble Nachrede aus § 186 bleibt bestehen. Was Leckert sen. betrifft, so halte ich ihn für nichtschuldig, denn er hat nur im Interesse seines Sohnes gehandelt, ohne Kenntnis der Artikel. Der Angeklagte Berger ist verantwortlich für zwei Artikel, die den Vorwurf enthalten, daß alles, was irgendwie Schlechtes passiert, vom Auswärtigen Amte angezettelt werde. Dieser Vorwurf zieht sich durch zahlreiche Artikel der „Staatsbürgerzeitung“. Es ist kaum glaublich, daß ein Blatt wie die „Staatsbürgerzeitung“ sich dazu versteigen kann, in seinem blinden Haß gegen Herrn v. Marschall so schwere Vorwürfe zu erheben. Diese beiden Artikel tragen durchaus den Charakter von Verleumdungsartikeln, ihre Pointe richtet sich deutlich gegen das Auswärtige Amt. Die Redakteure der „Staatsbürgerzeitung“ haben seit Monaten gegen das Auswärtige Amt gehetzt; es wäre loyal, wenn der Vertreter der Zeitung jetzt nach Schluß dieser Beweisaufnahme, die kein Titelchen eines Verdachts gegen das Auswärtige Amt hat bestehen lassen, mit dem Zugeständnis hervorträte: „Ich habe mich überzeugt, ich mich geirrt habe.“ Das wäre loyal und das wäre deutsche Art, die die „Staatsbürgerzeitung“ ja immer zu vertreten behauptet. Bis jetzt hat Herr Berger aber ein derartiges Wort nicht gefunden. Bei der Strafzumessung kommt in Betracht die ungeheuere Schwere der gegen den Staatssekretär Freiherrn v. Marschall geschleuderten Beleidigungen, und daß wir ein ganzes Nest von Verleumdern vor uns haben, in welches man mit fester Hand hineingreifen muß. Leckert muß trotz seiner Jugend einen empfindlichen Denkzettel haben. Ich beantrage gegen Leckert 1 Jahr 6 Monate Gefängnis. Gegen Lützow kommt in Betracht, daß er als ehemaliger Offizier und Träger eines altehrwürdigen Namens mit der Ehre anderer Menschen besonders vorsichtig umzugehen hat, ferner, daß er sich mit Herrn v. Tausch in Verbindung gesetzt hat und recht viele Verbindungen besaß, in welche seine Verleumdungen durchsickern konnten. Trotz seiner „Enthüllungen“ liegen auch bei ihm mildernde Umstände nicht vor. Ich beantrage auch gegen ihn 1 Jahr 6 Monate Gefängnis. Gegen Dr. Plötz beantrage ich mit Rücksicht auf die guten Folgen, die die Sache schließlich gehabt hat, eine Festungshaft von 1 Monat, gegen Berger 2 Monate Festungshaft, gegen Föllmer 300 Mark Geldstrafe, gegen Leckert sen. Freisprechung. Das Ergebnis dieser Verhandlungen muß allgemein als ein glückliches bezeichnet werden. Dem Herrn Staatssekretär persönlich ist an der Bestrafung der einzelnen Angeklagten nichts gelegen, er hatte seine schwergefährdete Ehre zu wahren, deshalb hat er sich in die Öffentlichkeit geflüchtet. Der Gerichtshof wird, denke ich, nicht umhin können, den schwer beleidigten Herren zu sagen: Wir gewähren euch den nachgesuchten Schutz und geben euch euer Recht!

Vert. Rechtsanwalt Dr. Gennerich hielt nicht für ausgeschlossen, daß Leckert einen Hintermann gehabt habe, obgleich dessen Existenz durch die Verhandlung nicht nachgewiesen sei, und bat den jungen und bisher unbescholtenen Angeklagten nur aus dem milderen Beleidigungsparagraphen zu bestrafen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Lubczynski sprach zunächst namens der gesamten Verteidigung dem Vorsitzenden den Dank aus für den Takt und die Umsicht, mit der die Verhandlungen geleitet wurden. Darauf gab der Verteidiger in kurzen Zügen ein Bild von der wechselvollen Vergangenheit des Angeklagten v. Lützow, der auf Grund widriger Geschicke an den Abgrund gelangte, dem Herrn v. Tausch in die Hände fiel, erst dessen Werkzeug und dann dessen Kreatur wurde. Was v. Lützow als Polizeiagent gelitten habe, sei nicht zu sagen. Man muß, so führte der Verteidiger des weiteren aus, sich daran erinnern, daß v. Tausch den Angeklagten zu den sonderbarsten und verwerflichsten Schiebungen mißbrauchte, die sich bis an die Stufen des Thrones heranwagten. Er befand sich in einer entsetzlichen Zwangslage. Sein schließlich abgegebenes Geständnis macht durchaus den Eindruck der Wahrhaftigkeit, denn es ist abgegeben unter der Wucht der Ergebnisse der Beweisaufnahme und unter dem Drucke der Erkenntnis, daß Herr v. Tausch ihn, den Angeklagten, nicht einmal gegen den Vorwurf der groben Fälschung zu schützen unternahm. Der Angeklagte ist sich keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß die beiden Artikel schmähliche Beleidigungen eines hochverehrten, makellos dastehenden Mannes enthalten, er wehrt sich nur mit allen Kräften dagegen, diese Beleidigungen wider besseres Wissen erhoben seien. Nichts ist dafür erwiesen, er erst selbständig den Namen Eulenburg in den Artikel hineingebracht hat. Dem Herrn Oberstaatsanwalt ist darin beizupflichten, daß unter normalen Verhältnissen der Inhalt der Artikel als ein ganz ungeheuerlicher sofort erkannt worden wäre. Die Verhältnisse waren aber nicht normal; die vielen vorhergegangenen Zeitungsartikel und die immerhin noch nicht dagewesene Tatsache, sache, daß ein Berichterstatter des Wolffschen Bureaus einen Kaisertoast auf eigene Hand hierhertelegraphierte, zeigen, daß die Verhältnisse nicht normal waren. Zweifelhaft ist Lützows Schuld in den beiden anderen Fällen. Der Bericht an Herrn v. Tausch ist nicht als bestellte Arbeit anzusehen, v. Lützow hat sich darin doch nur eines – wenn auch unehrenhaften, so doch pflichtgemäßen – Auftrages erledigt, und ihm steht der Schulz des § 193 zu. Dasselbe trifft bei den Bemerkungen zu, die er dem Dr. Plötz gegenüber gemacht hat, eventuell würde hier ein mildes Strafmaß am Platze sein. Ich beantrage deshalb, den Angeklagten nur wegen einer Beleidigung aus § 186 zu verurteilen. Halten Sie dem Angeklagten sein Geständnis zugute, denn es ist doch der Ausgangspunkt geworden zu einer vollständigen Klärung der Situation. v. Lützow ist unter dem dämonischen Einfluß des Kommissars v. Tausch gewesen, dessen Rolle nun ausgespielt ist. v. Lützow wird die ihm aufzuerlegende Strafe ertragen und sich einen neuen Beruf suchen. Erschweren Sie ihm dies nicht durch eine so hohe Strafe. Niemand wird sich eines gewissen Mitgefühls für diesen Angeklagten erwehren können, der nun seinem Schicksale erlegen ist. Rechnen Sie seine Strafe nach Monaten, und bringen Sie einen Teil der Untersuchungshaft in Anrechnung!

Oberstaatsanwalt Drescher: Ich muß meinen Strafantrag vervollständigen und berichtigen. Ich habe bei Dr. Plötz 1 Monat, bei Berger 2 Monate Festungshaft in Antrag gebracht. Das ist nach § 186 nicht zulässig, ich beantrage daher das gleiche Maß von Gefängnis. Ferner beantrage ich Einziehung der Schriften, Unbrauchbarmachung der Platten und Formen und Publikation des Erkenntnisses im „Reichsanzeiger“, in der „Staatsbürgerzeitung“ und der „Welt am Montag“.

Rechtsanwalt Schmielinski führte aus, der Angeklagte Dr. Plötz sehr wohl an die Wahrheit seiner Mitteilungen glauben konnte.

Rechtsanwalt Dr. Braß betonte, daß sein Klient Föllmer abends in größter Eile die kleine Notiz geschrieben und daß ihm dabei nicht die Absicht und das Bewußtsein einer Beleidigung innegewohnt habe.

Rechtsanwalt Glatzel verteidigte die Haltung der „Staatsbürgerzeitung“.

Nach fast dreistündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Roesler, folgendes Urteil: Der Gerichtshof hat als erwiesen angesehen, daß der Angeklagte v. Lützow gegen einen Sold von monatlich 200 Mark im Dienste des Kriminalkommissars v. Tausch stand, daß er diesem nicht nur Auskünfte über Verfasser von Artikeln usw. erteilte, sondern ihm auch zur Förderung seiner (v. Tausch) persönlichen Interessen behilflich war. v. Lützow hat den ersten Artikel der „Welt am Montag“, welcher schwere Beleidigungen auf Grund unwahrer Tatsachen gegen den Oberhofmarschall Grafen August Eulenburg enthielt, auf Grund der Informationen des Leckert geschrieben. Letzterer hat nach Ansicht des Gerichts wider besseres Wissen gehandelt, denn er ist mit seinem angeblichen Gewährsmann nicht herausgekommen. Leckert ist also der verleumderischen Beleidigung schuldig; die Behauptung, daß er einen Gewährsmann gehabt, erscheint unglaubwürdig. Bei v. Lützow hat der Gerichtshof hinsichtlich des ersten Artikels nur eine Beleidigung im Sinne des § 186 für vorliegend erachtet. Es ist ja befremdlich, daß er einem jungen Menschen so ungeheuere Behauptungen geglaubt hat, aber das Gegenteil läßt sich nicht beweisen. Auch der zweite Artikel ist vollständig aus der Luft gegriffen und enthält schwere Beleidigungen. Bezüglich des Angekl. Dr. Plötz hat der Gerichtshof nur eine Beleidigung, begangen durch die Veröffentlichung des ersten Artikels, für vorliegend angesehen und angenommen, daß Dr. Plötz die in den Artikeln enthaltenen Tatsachen für wahr hielt. Es war ferner Leckert wegen verleumderischer Beleidigung des Freiherrn v. Marschall und anderer Beamten des Auswärtigen Amtes zu verurteilen. v. Lützow ist auch in diesen Fällen nur aus § 186 für schuldig befunden; es ist nicht angenommen worden, daß er die Mitteilungen lungen über Freiherrn v. Marschall, Dr. Hammann usw. an Plötz wider besseres Wissen gemacht hat. Wegen der Mitteilungen in seinem Bericht an v. Tausch ist er freigesprochen worden. Angeklagter Berger ist verantwortlich für die in zwei Artikeln der „Staatsbürgerzeitung“ enthaltenen Beleidigungen. Der Gerichtshof hat die volle Überzeugung erhalten, daß in diesen Artikeln die Vorwürfe gegen Freiherrn v. Marschall nicht abgeschwächt, sondern verschärft und weiterverbreitet werden sollten. § 193 StGB. steht dem Angeklagten Berger nicht zur Seite. Von einer angeblichen Preßmißwirtschaft des Auswärtigen Amtes kann hier gar keine Rede sein. Das Gericht sieht für vollständig widerlegt an, daß das Auswärtige Amt mit Hetzartikeln in Verbindung steht, wie es auch erwiesen ist, daß von den Behauptungen, die Leckert und Lützow über die Beziehungen des Freiherrn v. Marschall zu den Artikeln aufgestellt, auch nicht ein Wort wahr ist. Föllmer hat sich einer schweren Beleidigung schuldig gemacht, nicht dagegen Leckert sen. Die Verhandlung hat erwiesen, daß es sich um arge Mißbräuche der Presse durch schwere Verunglimpfungen eines hochstehenden und makellosen Beamten handelt. Man fühlt sich beschämt, wenn man sieht, wie durch einen unreifen Menschen und einen Agenten der politischen Polizei die Ehre von tadellos dastehenden Personen in der frivolsten und leichtsinnigsten nigsten Weise angetastet werden kann. Das ist die Preßmißwirtschaft, das ist der Unfug, gegen den mit aller Schärfe Front gemacht werden muß. Der Gerichtshof hat sich deshalb im allgemeinen den Anträgen der Staatsanwaltschaft angeschlossen und verurteilt: Leckert wegen verleumderischer Beleidigung in drei Fällen zu 1 Jahr, 6 Monaten Gefängnis, v. Lützow wegen wiederholter Beleidigung auf Grund des § 186 zu 1 Jahr, 6 Monaten Gefängnis, Dr. Plötz zu 500 Mark Geldstrafe, Berger zu 1 Monat Gefängnis, Föllmer zu 100 Mark Geldstrafe. Leckert sen. ist freigesprochen worden. Zu einer Anrechnung der Untersuchungshaft lag keine Veranlassung vor.

Angekl. v. Lützow erklärte sich zum Antritt der Strafe bereit, Leckert behielt sich eine Erklärung vor, ebenso der Oberstaatsanwalt bezüglich des v. Lützow.

Fußnote

1 Vgl. den Prozeß Moltke-Harden im 3. Bande.

224 Bearbeiten

Die Vorkommnisse in der Fürsorgeanstalt Mieltschin

Die Züchtigungen des „Pastors“ Breithaupt

Wenn es noch eines Beweises bedurfte, daß unsere vielgerühmte Kultur nur eine ganz oberflächliche ist, daß selbst in Deutschland die Barbarei des finsteren Mittelalters noch lange nicht völlig beseitigt ist, so gab ihn der Prozeß, der im Dezember 1910 fast volle zwei Wochen die erste Strafkammer des Landgerichts Berlin III beschäftigte. Als im Juli 1909 der „Vorwärts“ die Nachricht brachte: in der Fürsorgeerziehungsanstalt Mieltschin (Provinz Posen) werden die Zöglinge in bestialischer Weise mißhandelt, da zögerte der Patron dieser Anstalt, der Berliner Magistrat, auch dann noch, den Leitern dieser Erziehungshölle das Handwerk zu legen, nachdem amtlich festgestellt war, daß die vom „Vorwärts“ geschilderten Vorgänge auf voller Wahrheit beruhten. Man konnte damals von Leuten, die sich zu den Gebildeten zählen und sich liberal nennen, die Äußerung hören: „Die Bengels, die den Abschaum der Menschheit bilden, können gar nicht genug Prügel bekommen.“ Diese zur Zeit nicht seltene Redensart ist für den Menschenfreund geradezu beschämend. Zunächst sei bemerkt, daß die Fürsorgezöglinge sorgezöglinge im allgemeinen keineswegs den Abschaum der Menschheit bilden. Es sind zumeist Kinder, die sich von Kindesbeinen an stets selbst überlassen waren, da Vater und Mutter genötigt waren, tagsüber auf Arbeit zu gehen. Vielfach sind es auch arme Waisenkinder oder uneheliche Kinder, die Elternliebe niemals kennengelernt haben. Derartige bedauernswerte Geschöpfe geraten, insbesondere in den Großstädten, oftmals infolge Not, Verführung oder dergleichen auf eine schiefe Ebene. Ein Familienleben haben diese jungen Menschen in den seltensten Fällen kennengelernt. Angehörige haben sie vielfach auch nicht, es fehlt ihnen somit jeder sittliche Halt. Es ist deshalb ein Gesetz erlassen worden, wonach derartige Personen, Knaben und Mädchen vom 14. bis zum 20. Lebensjahre, von der Gemeindebehörde einer Fürsorgeerziehungsanstalt überwiesen werden sollen. Diese den Gemeinden gesetzlich auferlegte Pflicht scheint vielfach als Last empfunden zu werden, denn die grauenhaften Vorkommnisse in der Fürsorgeanstalt Mieltschin, mit der die Stadt Berlin einen Vertrag geschlossen hatte, stehen keineswegs vereinzelt da. Die Vorkommnisse, die vor einigen Jahren die Strafkammer in Itzehoe gegen den Hausvater einer Fürsorgeerziehungsanstalt für Mädchen, genannt die „Blohmesche Wildnis“, beschäftigten, wobei ebenfalls haarsträubende Dinge zutage gefördert wurden, dürften noch in Erinnerung sein. Auch in einigen anderen Gegenden des Deutschen Reiches haben Prozesse dieser Art stattgefunden, aus denen sich ergab, die „Hausväter“ unmenschliches Prügeln wehrloser Kinder als Haupterziehungsmittel betrachten. Die Gemeindebehörden scheinen also zumeist nicht dafür zu sorgen, daß zu Leitern von Fürsorgeerziehungsanstalten nur pädagogisch vorgebildete Leute gewählt werden, die sich ihrer erzieherischen Aufgabe voll bewußt sind. In Mieltschin war die Leitung in die Hand eines evangelischen Geistlichen gelegt. Dem evangelischen Geistlichen der Nachbargemeinde war die Oberaufsicht übertragen. Und trotzdem sind gerade in Mieltschin von dem Pastor Breithaupt und seinen „Aufsehern“ Greuelszenen gegen arme wehrlose Wesen verübt worden, die zum Himmel schreien. Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein Verkünder des Wortes Gottes, wie der Verteidiger, Justizrat Wronker, in der Gerichtsverhandlung den Hauptangeklagten, Pastor Breithaupt, nannte, ein Prediger der christlichen Nächstenliebe, dem die Aufgabe zugewiesen war, die ihm anvertrauten Knaben zu ordentlichen Menschen zu erziehen, an diesen wehrlosen Knaben Grausamkeiten beging, die aller Menschlichkeit Hohn sprechen. Die Früchte dieser Freveltaten, für die ich, ohne mich einer Beleidigung schuldig zu machen, vergeblich einen passenden Ausdruck suche, traten grell in der Gerichtsverhandlung zutage. Ein recht gutmütig aussehender siebzehnjähriger Zögling, der im Laufe der Verhandlung als Zeuge erschien, weigerte sich, den Eid zu leisten. Er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden unter heftigem Weinen: „Ich war ein gläubiger Christ und hatte für Geistliche die größte Hochachtung. Nachdem ich aber gesehen habe, daß ein Geistlicher wehrlose Kinder ohne jede Ursache, bloß weil sie arm sind, schlimmer wie wilde Tiere behandelt hat, ist meine Hochachtung vor den Geistlichen geschwunden. Ich kann auch nicht mehr glauben, daß ein Gott im Himmel lebt, denn dieser würde solche Greuelszenen nicht zugelassen haben.“ Der Vorsitzende machte dem Knaben klar, daß er gesetzlich verpflichtet sei, den Eid zu leisten, gleichviel, ob er an Gott glaube oder nicht. Der Knabe entsprach schließlich der Aufforderung des Vorsitzenden. Aber welch furchtbare Anklage lag in den Worten des Knaben. Angesichts solcher erschütternden Vorgänge braucht man sich wirklich nicht zu wundern, wenn der Glaube an Gott und an die Autorität des Staates im Volke immer mehr schwindet. Möge man doch endlich zu der Einsicht gelangen, daß Prügel als Erziehungsmittel vollständig zu verwerfen sind; es ist noch ein Überbleibsel aus der Zeit der Barbarei. Friedrich Wilhelm I., von 1713 bis 1740 König von Preußen, Vater Friedrichs des Großen, lief mit einem großen, dicken Stock durch die Straßen seines Landes, insbesondere in Berlin und Potsdam, und prügelte höchst eigenhändig seine „Untertanen“ auf offener Straße, wenn er der Ansicht war, daß sie sich irgendeiner Verfehlung schuldig gemacht hatten.1 In dieser Zeit war das Prügeln an der Tagesordnung. Soldaten und Gefangene wurden von Amts wegen geradezu unmenschlich geprügelt. Ich erinnere an das Spießrutenlaufen. Kinder, selbst im zartesten Alter, wurden von Eltern und Lehrern, Lehrlinge von den Meistern und Gesellen, oftmals wegen geringfügigster Ursache in geradezu barbarischer Weise geschlagen. Männer schlugen ihre Frauen, bisweilen auch umgekehrt. Die Menschen prügelten sich auch unaufhörlich gegenseitig auf offener Straße, und zwar noch lange nach Aufhebung des Faustrechts. Auf den Gesellenherbergen war es ganz selbstverständlich, daß täglich die furchtbarsten Schlägereien stattfanden. Das Prügeln war ja staatlich privilegiert. Selbstverständlich hatten die armen Tiere ebenfalls unter dieser barbarischen Unsitte arg zu leiden. Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als die Arbeiter sich noch nicht solidarisch verbunden hatten und der Branntwein unverstandenerweise noch als Verdauungs- und Ernährungsmittel galt (bekanntlich hat der Branntweingenuß die entgegengesetzte Wirkung) fanden in den Vorstädten Berlins alle Sonnabendabend die ärgsten Schlägereien statt. In anderen Großstädten und Industrieorten war es nicht besser. Leider ist diese Unkultur in unserem fortgeschrittenen Zeitalter noch lange nicht beseitigt. Die Menschheit sollte endlich einmal zur Einsicht gelangen, daß durch Prügel nichts zu erreichen ist, daß eindringliche ermahnende Worte und vorbildliches Handeln bedeutend wirksamer sind. „Ohne Prügel können Kinder nicht groß werden.“ Diese einfältige Redensart hört man noch vielfach. Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Kinder, die von ihren Eltern und Lehrern heftig geschlagen wurden, oftmals arg entartet sind. Die vielen Schülerselbstmorde werden zumeist von sogenannten Pädagogen verschuldet, die sich nicht entblöden, erwachsene Schüler höherer Unterrichtsanstalten, selbst Obersekundaner, zu prügeln. Derartige Lehrer, die durch ihre sogenannte Schneidigkeit ihre Unwissenheit und pädagogische Unfähigkeit verdecken wollen, werden noch obendrein von den Gerichten, auch Geschworenengerichten, in unbegreiflicher Weise geschützt. Vor einigen Jahren wurde in Elberfeld Oberlehrer Deditius an der Barmer Oberrealschule wegen Mißhandlung eines 13jährigen Schülers angeklagt. Der arme Junge ist infolge der erlittenen Mißhandlung nach einigen Tagen gestorben. Die Elberfelder Strafkammer, unter Vorsitz des damaligen Landgerichtsdirektors Dr. Felix Aschrott, erklärte sich nach längerer Verhandlung für unzuständig, dig, da der Gerichtshof die Überzeugung gewonnen hatte, daß die Mißhandlung den Tod des Knaben verursacht habe. Oberlehrer Deditius hatte sich deshalb Mitte Januar 1904 vor dem Schwurgericht zu Elberfeld zu verantworten. Obwohl meiner Überzeugung nach – ich war als Berichterstatter anwesend – die Schuld des Angeklagten nicht zweifelhaft war, sprachen die Geschworenen den Angeklagten frei. Dieses Vorkommnis steht keineswegs vereinzelt da. Selbst in Berlin wurden derartige Prügelpädagogen schon mehrfach freigesprochen. Ein arger Mißstand ist es, daß eine große Anzahl der jüngeren akademisch gebildeten Lehrer sich in erster Reihe als Reserveoffiziere und in zweiter Reihe als Lehrer fühlen. Noch weit mehr tadelnswert sind die Volksschullehrer und Volksschullehrerinnen, die die ihnen anvertrauten kleinen Wesen, die vielfach hungernd und frierend in die Schule kommen, weil es im Elternhause an dem Nötigsten fehlt, wegen kleinster Vergehen in barbarischer Weise schlagen. Es wäre höchste Zeit, diesen Zuständen durch entsprechende Gesetzesbestimmungen ein Ende zu bereiten. Das Züchtigungsrecht der Eltern und selbstverständlich auch der Lehrer müßte gesetzlich auf das geringste Maß beschränkt, das Züchtigungsrecht der Lehrherren und die Gesindeordnung von 1810, diese mittelalterliche Gesetzesruine, die den „Herrschaften“ noch heute das Recht einräumt, räumt, ihre Dienstboten zu züchtigen, müßte gänzlich aufgehoben werden.

Die Greueltaten des Pastors Breithaupt und seiner Helfershelfer, die den Hauslehrer Dippold in den Schatten stellten, riefen schließlich in der Öffentlichkeit eine derartige Empörung hervor, daß der Berliner Magistrat Veranlassung nahm, die der Anstalt überwiesenen Zöglinge zurückzurufen. Einige Eltern der mißhandelten Knaben erstatteten Strafanzeige. Aus diesem Anlaß wurde Pastor Breithaupt und seine „Aufseher“ schließlich vom Amte suspendiert, die Mieltschiner Anstalt geschlossen und die Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung mittels gefährlicher Werkzeuge und in einer die Gesundheit und das Leben gefährdenden Weise und wegen Freiheitsberaubung gegen sie erhoben. Zuständig wäre die Strafkammer in Gnesen gewesen. Da jedoch fast sämtliche ehemaligen Mieltschiner Fürsorgezöglinge in Berlin und Umgegend wohnten, so wurde die Sache im fiskalischen Interesse an das Landgericht Berlin III verwiesen. Außer Breithaupt waren angeklagt: Kaufmann Julius Engels, Schneider Karl Wrobel, Bautechniker Martin Wendland, Tischler Adolf Brosinsky, Waschmeister Emil Schüler, früherer Erziehungsbeamter Max Riemschneider, Schneidergeselle Georg Lang und Kutscher Richard Habedank. Diese sollen, da bei den vielen Schlägen den Erziehern bzw. Aufsehern hern oftmals der Arm erlahmte, sich bei der Prozedur abgelöst haben. Es waren zu der Verhandlung Magistratsrat Dr. Voigt (Berlin), Pastor Matthies (Witkowo), Pastor v. Bodelschwingh (Bethel bei Bielefeld), Baron v. Lepel (Freystadt), mehrere andere Geistliche, Lehrer, Oberförster, Ärzte und über 70 Fürsorgezöglinge als Zeugen und mehrere Sachverständige geladen. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Dr. Gockel; die öffentliche Anklage vertraten Staatsanwalt Dr. Reiner und Gerichtsassessor Dr. Simon. Die Verteidigung führten die Justizräte Leonhard Friedmann und Wronker, Rechtsanwalt Dr. Hirschfeld und Rechtsanwalt Dr. Illch. Rechtsanwalt Dr. Kurt Rosenfeld hatte sich im Auftrage einiger Eltern der Mißhandelten der Anklage als Nebenkläger angeschlossen. Der Angeklagte Breithaupt, ein mittelgroßer, schlanker, finster dreinschauender Mann mit schwarzem Vollbart, gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er sei 1877 als Sohn eines Pastors geboren. Er habe zunächst das Gymnasium bis zur Obersekunda besucht und sei alsdann Fahnenjunker geworden. Da er aber einen Herzfehler habe, sei er sehr bald vom Militär wieder abgegangen. Er habe alsdann nochmals das Gymnasium besucht, das Abiturientenexamen gemacht und Theologie studiert. Nachdem er das erste geistliche Examen bestanden hatte, sei er in der Bodelschwinghschen Anstalt Bethel bei Bielefeld, alsdann im Evangelischen Johannisstift in Plötzensee bei Berlin und darauf in der Bodelschwinghschen Arbeiterkolonie in Hoffnungsthal bei Berlin tätig gewesen. Einige Tage sei er in der Kolonie Wietingsmoor gewesen, um die Behandlung von Fürsorgezöglingen kennenzulernen. Er sei, nachdem er das erste geistliche Examen bestanden, in Vertretung seines Vaters und auch in Hoffnungsthal als Seelsorger tätig gewesen. Während seines Aufenthaltes in Hoffnungsthal bereitete er sich auf sein zweites Examen vor, wozu er zweimal in der Woche nach Berlin fuhr, um an einem Repetitorium teilzunehmen. Eines Abends ging er in Berlin ein Glas Wein trinken. Als er das Restaurant verließ, bekam er plötzlich einen Hieb über den Schädel, fiel bewußtlos um, wurde nach einer Unfallstation gebracht und von da zur Polizeiwache sistiert. Als Bodelschwingh davon erfuhr, habe er ihn entlassen. Der Vorsitzende bemerkte hierzu, die Polizei habe damals den Vorfall anders dargestellt, doch wolle er nicht weiter darauf eingehen. Im Frühjahr 1909, so fuhr Breithaupt fort, habe er das zweite geistliche Examen gemacht. Alsdann habe ihn Pastor Matthies zum Vorsteher der neuen Anstalt Mieltschin gewählt. Er wußte, welche Aufgabe seiner harrte. Allerdings habe er darauf gerechnet, daß ihm nicht ein schwer, sondern ein leicht erziehbares Material überwiesen werden würde. Die nötige Fähigkeit zu seinem Amt habe er sich zugetraut, obgleich er bis dahin noch in keiner Fürsorgeanstalt tätig gewesen war. Matthies habe vorher mit ihm über die Erziehungsgrundsätze gesprochen. Dabei habe er (Breithaupt) dessen Auffassung über den Erfolg milder Behandlung nicht teilen können, vielmehr habe er den Standpunkt eingenommen, daß man, wo mit Milde nichts zu machen sei, von Strenge mehr Erfolg zu erwarten habe. Bezüglich der Strafarten sei ihm nur gesagt worden, daß die Disziplinarvorschriften der Berliner Anstalt Lichtenberg anzuwenden seien. Gekannt habe er sie allerdings nicht; vergeblich habe er Pastor Matthies und auch den Inspektor Buth von der Anstalt Lichtenberg um Beschaffung eines Exemplares gebeten. „Wie stellten Sie sich denn,“ fragte der Vorsitzende, „das nun vor, wie Sie da zu verfahren hätten?“ „Wie ich es für recht hielt,“ versetzte der Angeklagte. Er behauptete, auf alle Fälle sei es seine Pflicht gewesen, auf strenge Disziplin zu sehen, um die auf Flucht sinnenden Zöglinge festzuhalten. Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten vor, daß er nicht nur wegen Fluchtverdachts strenge Strafen verhängt habe.

Angekl.: Getan mußte etwas werden, Vorschriften hatte ich nicht, da tat ich, was ich nach bestem Wissen und Gewissen für recht hielt.

Der Angeklagte Engels gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er war anfänglich Kaufmann. Von 1900 an arbeitete er in Bodelschwinghs Anstalten in Bethel als Diakon, dann in Wietingsmoor als Erziehungsgehilfe. Strafen durfte dort nur der Hausvater verhängen, 10-15 Schläge mit dem Rohrstock auf das Gesäß, in schlimmsten Fällen 20 Schläge. Dieses Maximum sei aber später vom Landeshauptmann verboten worden. Später ging er nach Hoffnungsthal. Nach Mieltschin wurde er durch Breithaupt als Aufseher engagiert; er zweifelte nicht, daß er diesem Posten gewachsen sei, er habe auch Breithaupts Befähigung für sein Amt nicht bezweifelt. Der Verteidiger, Justizrat Wronker, ließ feststellen, daß Engels sowohl beim Militär als auch in Bethel das Zeugnis vorzüglicher Führung erhalten habe.

Wrobel war Schneider. Er führte, so gab er in seiner Vernehmung an, einen unordentlichen Lebenswandel. Er ergab sich dem Trunk, wurde wegen Nervenzerrüttung in die Charité in Berlin aufgenommen, rettete sich nach Hoffnungsthal als Kolonist – und wurde von dort durch Breithaupt nach Mieltschin berufen. Er sei als Schneider und Aufseher engagiert worden, habe aber von Erziehung bis dahin nichts verstanden. Das habe auch Breithaupt gewußt. Der Vorsitzende richtete an Wrobel und zugleich an die übrigen Angeklagten die Mahnung, sich nicht von einer Mißstimmung gegen Breithaupt leiten zu lassen, die bei ihnen vorzuliegen scheine.

Auch Wendland, der der Sohn eines Regierungsbaumeisters war und das Bauhandwerk erlernt hatte, gab zu, daß er heruntergekommen sei und in Hoffnungsthal Zuflucht gesucht habe. Von da sei er nach Bethel als Wärter und später von Breithaupt nach Mieltschin als Aufseher und Erzieher für Fürsorgezöglinge berufen worden.

Aus geordneten Verhältnissen kam Brosinsky, der Tischler war und wegen Kränklichkeit Stellung in Mieltschin annahm, um in der Anstalt als Tischlermeister tätig zu sein. Daß das eine Aufseherstellung sein sollte, hatte er nicht gewußt. An Breithaupt war er durch Wrobel, den er kannte, empfohlen worden.

Auch Schüler brachte keinerlei Vorkenntnisse für das Amt eines Erziehungsgehilfen mit. Er verließ, ebenso wie Brosinsky, die Anstalt schon nach kurzer Zeit wieder.

Riemschneider hatte ziemlich am längsten in der Anstalt ausgehalten. Er war anfänglich Handschuhmacher, brachte es später zum Polizeibeamten in Friedrichshagen, wurde Versicherungsagent, nahm Aufenthalt in Bodelschwinghs Gnadenthal als Kolonist – und landete durch Breithaupts Gnade in Mieltschin.

Habedank, ein gelernter Holzbildhauer, war Landarbeiter geworden, ging als Arbeitsloser nach Bodelschwinghs Lobethal – und wurde von Breithaupt als geeignet zum Posten eines Erziehers für Mieltschin befunden. Der Vorsitzende verlas alsdann die Dienstvorschrift für den Inspektor der Anstalt Lichtenberg, die auch für Mieltschin hatte gelten sollen. Sie setzte fest, daß nach vorheriger Anhörung des Zöglings über ihn verhängt werden können: Versagung des Besuches Angehöriger; Strafarbeit; Entziehung der Arbeitsbelohnung; Entziehung des Urlaubs; Arrest; bei Versagen aller anderen Strafmaßregeln körperliche Züchtigungen mit einem Rohrstock bis zu 10, in besonders schweren Fällen bis zu 20 Hieben. Bei Schwächlichkeit oder Kränklichkeit des Zöglings sowie bei der Bestrafung mit mehr als 10 Hieben muß vorher der Arzt gehört werden. Nur mit dessen Zustimmung darf Arrest von mehr als 1 Tag verhängt werden, Arrest von mehr als 5 Tagen bedarf der Genehmigung des Vorsitzenden der Waisendeputation.

Vors.: Nun, Angeklagter Breithaupt, was für Strafen haben Sie aus eigener Machtvollkommenheit festgesetzt?

Angekl.: In erster Linie straften wir mit Schlägen.

Vors.: In erster Linie mit Schlägen!?

Angekl.: In zweiter Linie mit Einsperrung, in dritter Linie mit Kostentziehung.

Vors.: Wäre es nicht zweckmäßiger gewesen, erst in dritter Linie mit Schlägen zu strafen? Als Pädagoge mußten Sie doch wissen, daß man mit den weniger strengen Strafen beginnt.

Angekl.: Das mag sein. Wir haben ja zuerst auch alles in Güte versucht. Dann haben wir zunächst wenig Hiebe gegeben.

Der Angeklagte gab weiter an: Zum erstenmal sei nach 14 Tagen einer geschlagen worden, und zwar der Zögling Pekel, der Zigaretten gestohlen und Fluchtabsichten geäußert hatte. Er, Breithaupt, habe da geglaubt, mit Strenge vorgehen zu sollen.

Vors.: Mit Stock oder Peitsche?

Angekl.: Ich glaube, mit der Peitsche.

Der Vorsitzende zeigte zwei Reitpeitschen und eine Klopfpeitsche, die als Überführungsstücke vor ihm lagen. Die geflochtene Klopfpeitsche habe, so bemerkte der Angeklagte, anfänglich zum Kleiderreinigen gedient. Er selber habe im Vaterhaus manchmal mit solcher Klopfpeitsche Schläge bekommen, es habe ihm nichts geschadet. Als die Untersuchungskommission nach Mieltschin kam, war von dieser Peitsche zunächst gar nicht die Rede, erst später kam sie zum Vorschein. Er habe auch zweimal mit seinem Spazierstock geschlagen, einmal den Zögling Ehrlich, der sich bücken mußte, und einmal den Zögling Vollbrecht, bei dem er „hinschlug, wo es traf“. Daß auch Gummiknüppel in Gebrauch waren, gebe er zu. Sie seien für die Aufseher für den Fall einer Zöglingsrevolte angeschafft worden, auch zum Schutz gegen Angriffe griffe der polnischen Bevölkerung, die ihn schikaniert und sogar nachts Schüsse gegen seine Wohnung abgefeuert habe. Auch über Schikanen durch Arbeiter, die bei den Bauarbeiten in der Anstalt beschäftigt waren, beklagte er sich. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte Breithaupt: Er habe bis 50 Schläge geben lassen, daß bis 100 Schläge gegeben seien, bestreite er. 50 habe er nicht für zuviel gehalten. Daß er einmal „200 Schläge“ angeordnet habe, erkläre er für möglich, doch habe er nicht damit rechnen können, daß sie wirklich gegeben würden. 100 Schläge für Entwendung eines Hühnereies seien allerdings gegeben worden, aber gerade hier habe er Strenge für nötig gehalten, weil der Bestohlene der Lehrer Wendler war, der ihm nicht wohlgesinnt gewesen sei und sich sonst vielleicht beklagt hätte. Anfangs pflegte er (Breithaupt) selber zu schlagen, dann mußte Engels heran, weil es ihm „direkt widerwärtig“ gewesen sei. Bedenken über die Härte der Strafe und ihre Folgen hatte er nie. Außer Striemen und blauen Flecken habe er keine Folgen bemerkt; wenn später an Zöglingen schlimmere Verletzungen festgestellt worden seien, dann müßten sie diese anderswo, aber nicht in Mieltschin erlitten haben. Der Vorsitzende fragte, wie alt der jüngste gewesen sei. Breithaupt: 16 Jahre.

Die Arreststrafen wurden anfangs in einem finsteren Hauskeller verbüßt, erst später in einer auf dem Boden angelegten Zelle. In verschärften Fällen mußten die Arrestanten während der Nacht ohne Decke auf dem bloßen Fußboden schlafen. Bis zu 14 Tagen mußten manche diese Pein erdulden. Der Vorsitzende hob das hervor, Breithaupt versicherte, er habe das für nötig gehalten. Staatsanwalt Dr. Reiner wies darauf hin, daß in manchen dieser alten Hauskeller eine dumpfe Luft zu finden sei. Breithaupt rühmte seine Keller als luftig. Der Vorsitzende zeigte eine leichtere Fußkette und die sogenannte große Kette, mit der eine Hand und ein Fuß gefesselt und der Zögling an die Wand gekettet wurde. Diese Fesselungen sollen dazu gedient haben, Fluchtversuche zu verhindern. Der Vorsitzende stellte fest, daß weder aus dem Keller noch aus der auf dem Boden eingerichteten Zelle eine Flucht zu erwarten war. Die Beköstigung im Arrest war Wasser und Brot; nur an jedem dritten Tag sollte die gewöhnliche Kost eingehalten werden, aber auch das unterblieb zuweilen, so daß manche Jungen während des ganzen Arrestes nichts als Wasser und Brot, und dies auch noch in ungenügender Weise, bekamen. Herausgelassen wurden sie nicht zu einem Spaziergang, sondern nur zur Verrichtung ihrer Bedürfnisse. Straflisten wurden nicht geführt.

Assessor Dr. Simon als Vertreter der Staatsanwaltschaft ließ feststellen, daß auch in der Strafkolonne die angeblich Fluchtverdächtigen Ketten trugen, und zwar bei der Arbeit.

Auf Befragen des Vertreters der Nebenklage, Rechtsanwalts Dr. Rosenfeld, erwiderte Breithaupt: Er habe wohl gewußt, daß bei diesen Jungen individuelle Erziehung nötig sei; er habe sich persönlich um sie gekümmert, ihre Personalakten studiert, Briefe an die Eltern geschrieben usw. Einen eigentlichen Unterricht gab es noch nicht, auch eine Bibliothek fehlte, aber „geeignete“ Zeitungen waren vorhanden, außerdem wurden Andachten abgehalten und am Sonntag regelrechter Gottesdienst, auf den dann eine Sonntagserholung oder auch ein Spaziergang folgte. Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld ließ schließlich noch eine Nachtragsfeststellung über die Bastonade machen. Breithaupt sagte, als Strafmittel sei sie nicht angeordnet worden, aber den Zögling Schwarzenberg habe er auf die Fußsohlen schlagen lassen, weil er mit den Füßen die Schläge abzuwehren suchte.

Die anderen Angeklagten stimmten im allgemeinen den Angaben Breithaupts über das in Mieltschin übliche Straf- und „Erziehungs“-System zu. Sie selber seien sich, indem sie die angeordneten Züchtigungen vollzogen, nicht bewußt gewesen, daß sie sich strafbar machten. Breithaupt habe sie über diesen Punkt beruhigt, und auf ihn habe man sich verlassen.

Engels bemerkte: Er habe Pastor Breithaupt wegen seiner Erziehungsmethode einmal Vorhaltungen gemacht. macht. Der Pastor habe ihn darauf nicht wenig „angehaucht“ mit dem Bemerken: das sei nicht seine Sache, mit Humanität und Menschenliebe sei bei den Knaben nichts auszurichten. Im weiteren bestätigte Engels, daß Breithaupt einmal den Zögling Schwarzenberg, weil dieser strampelte, auf die Fußsohlen schlagen ließ. Gegenüber seiner in der Voruntersuchung gemachten Angabe, daß Breithaupt für den Zögling Manthe ausdrücklich 200 Schläge angeordnet habe, erklärte er jetzt, so genau wisse er das nicht. Übrigens seien dann tatsächlich „nur“ 60 bis 70 Schläge gegeben worden. Geschlagen habe er (Engels) zuweilen auch aus eigener Machtvollkommenheit, weil er Breithaupts Zustimmung stillschweigend voraussetzte. Er hatte die Klopfpeitsche anschaffen müssen. In wessen Auftrag und zu welchem Zweck der Erziehungsgehilfe Listander diese angeblich zum Kleiderreinigen bestimmte Peitsche habe zusammendrehen müssen, stehe nicht fest. Der Vorsitzende bedauerte, daß der Zeuge Listander nicht zu finden sei.

Wrobel bemerkte: Er habe auf seine Bedenken sich einmal von Breithaupt sagen lassen müssen: „50 Hiebe können die Jungen vertragen.“ Im Arrest wurden die Zustände erst anders, als die Untersuchungskommission dagewesen war.

Wendland: Er habe nie Bedenken gehabt. Über Mauthe hörte er Breithaupt sagen: „Und wenn er 200 bekommt!“

Brosinsky soll, wie Breithaupt angab, entlassen worden sein, weil er sich zum Erzieher nicht geeignet und besonders bei der Abstrafung Schwarzenbergs ihm sehr mißfallen habe. Brosinsky versicherte, seine Entlassung sei durch seine Beschwerde über schlechtes Essen veranlaßt worden. Geschlagen habe er nie.

Der Angeklagte Schüler gab an: Er habe aus Furcht, entlassen zu werden, die Prügelbefehle Breithaupts befolgt. Bedenken habe er nicht gehabt, weil Engels ihm gesagt habe: „Der Pastor verantwortet alles.“

Der Angeklagte Riemschneider erzählte, daß am Abend vor Ankunft eines Trupps von Fürsorgezöglingen aus Berlin Breithaupt in einer Besprechung mit seinen Gehilfen gesagt habe, er werde sich morgen einen Jungen herausgreifen und ihm den Ernst der Sache zeigen. Am anderen Tage habe er dann sogleich den Zögling Pekel, obwohl dieser nicht das geringste begangen hatte, als ersten verprügelt. Breithaupt bestritt dies. Riemschneider wiederholte seine Angabe unter Beteuerungen. Keiner der anderen Angeklagten erinnerte sich jenes Vorfalles, aber Riemschneider blieb mit größter Bestimmtheit dabei, er müßte gegen sein Gewissen sprechen, wenn er es anders sagte.

Auch der Angeklagte Habedank versicherte, daß er sich der Strafbarkeit nicht bewußt war.

Es wurde alsdann mit den Zeugenvernehmungen begonnen.

Magistratsrat Dr. Voigt berichtete über die Gesichtspunkte, welche bei Abschiebung der Zöglinge aus Lichtenberg nach Mieltschin maßgebend gewesen seien, und über das Material, welches in Frage komme. Es wurde dabei auch die Frage erörtert, ob man nicht einen Fehler begangen hatte insofern, als man nach Mieltschin Zöglinge geschickt habe, die wenig geeignet waren zum Aufenthalt in einer offenen Anstalt. Die Jungen, die nach Lichtenberg kommen, seien schon nicht die besten. Wie die Auswahl der Jungen, die nach Mieltschin kamen, stattgefunden, wußte der Zeuge nicht. Dagegen bekundete er, in allen Vorverhandlungen sei immer darauf hingewiesen worden, daß in Mieltschin die Disziplinarbestimmungen der Lichtenberger Anstalt sinngemäße Anwendung finden sollen. Es sei kaum denkbar, daß der Leiter der Anstalt nicht in den Besitz der betreffenden Anweisung gekommen sein sollte.

Der Vorsitzende wies in einer Zwischenbemerkung auf die Flucht des Zöglings Ruppert hin, auf die an die Waisenverwaltung gerichtete Beschwerde seiner Eltern, auf die Veröffentlichungen im „Vorwärts“, die zur Entsendung einer Untersuchungskommission führten. Magistratsrat Dr. Voigt war im Auftrage der Waisenverwaltung zusammen mit dem Stadtverordneten ten Dr. Bernstein in Mieltschin. Da er wußte, daß er bei der Zeugenvernehmung mit Zeugen zu tun hatte, die nicht gerade die besten seien, habe er nur das als festgestellt in seinem Bericht angenommen, was mit den eigenen Angaben der Angeklagten übereinstimmte und was der Anblick an Ort und Stelle selbst bestätigte. So habe der Anblick der mit Fußketten herumlaufenden Zöglinge geradezu ungeheuerlich auf ihn gewirkt. Breithaupt habe ihm selbst zugegeben, daß er 50 Hiebe habe erteilen lassen. Breithaupt habe bei den Untersuchungsmaßnahmen den Eindruck eines seelisch gebrochenen Mannes gemacht. Er (Zeuge) habe den Eindruck gehabt und auch in seinem Bericht wiedergegeben, daß Pastor Breithaupt wohl nicht gehauen habe, um zu hauen, daß er sich vielfach nicht bewußt gewesen, durch seine Maßnahmen die Grenzen des erlaubten Züchtigungsrechts zu überschreiten und daß er, wenn ihm das Unangemessene dieser Erziehungsmethode streng klargemacht würde, er vielleicht noch weiter an seiner Stelle bleiben könnte. Der Betrieb in Mieltschin sei damals leider noch nicht vollständig hergestellt gewesen, es wurde noch gebaut; Pastor Breithaupt klagte darüber, daß die Bauarbeiter häufig den Fluchtplänen der Zöglinge Vorschub leisteten.

Inspektor Buth, der früher die Anstalt Lichtenberg leitete und jetzt pensioniert ist, bekundete über die Auswahl der nach der offenen Anstalt Mieltschin zu sendenden Zöglinge, daß kein Zögling „abgeschoben“ worden sei, nur um ihn loszuwerden. Er (Buth) wurde vom damaligen Vorsitzenden der Waisenverwaltung nach Mieltschin geschickt, um sich die Anstalt anzusehen. Er habe aber mit Breithaupt nicht eingehend über Erziehungsfragen gesprochen, weil das „Mißverständnisse hätte hervorrufen“ können und ihm „unter Umständen einen Rüffel von der Waisenverwaltung eingebracht“ hätte. Er habe Breithaupt nur ans Herz gelegt, daß nicht die Aufseher die Zöglinge schlagen dürfen. Er erinnere sich, daß Breithaupt brieflich um die Lichtenberger Instruktion gebeten habe.

Vors.: Wie kam es, daß sie nicht geschickt wurde?

Zeuge: Ich hatte gar keine Befugnis dazu.

Die Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Illch und Rechtsanwalt Dr. Hirschfeld wiesen auf die Qualität der aus Lichtenberg überwiesenen Zöglinge hin. Buth erwiderte, Breithaupt selber habe sich im ganzen über die ihm zugewiesenen Zöglinge lobend geäußert und nur zwei oder drei als „böse Burschen“ bezeichnet.

Der erste Lehrer in der Lichtenberger Anstalt und Vertreter des Erziehungsinspektors Hentschel bestätigte, daß bei der Auswahl der nach Mieltschin zu schickenden Zöglinge nicht der Gedanke vorgewaltet habe, die schlimmsten Elemente loszuwerden. Als er die Mieltschiner Anstalt besichtigte, habe er gefunden, daß sie äußerlich einen „ausgezeichneten“ Eindruck machte. Er habe verschiedene Zöglinge gefragt, ob es ihnen dort gefällt und die Antwort erhalten: „Sehr gut.“ Einzelne erklärten, sie möchten nicht wieder zurück, sondern möchten dort bleiben; keiner habe gesagt, daß er gezüchtigt worden sei. Pastor Breithaupt, mit dem er sich unterhalten, schien ein äußerst warmes Herz für die Jungen zu haben. Er äußerte sich u.a. dahin, daß er ihnen hohe Löhne gutschreiben wolle, damit sie sich nach einigen Jahren ein Anwesen kaufen könnten. Er habe wiederholt gesagt, daß für ihn die Dienstvorschriften in Lichtenberg maßgebend seien. In Lichtenberg sei ein regelmäßiger Unterricht von täglich zwei Stunden erteilt worden.

Vors.: Als Sie aber Mieltschin besuchten, war in dieser sogenannten Fürsorgeanstalt davon keine Rede?

Zeuge: Damals war kein Lehrer dort angestellt. Soviel ich mich erinnere, sagte mir Breithaupt: Es solle später ein Lehrer hinzugezogen werden. In der Anstalt Lichtenberg seien einige zum Schutz der Anstalt angestellte Aufseher bewaffnet, Gummiknüppel gebe es aber in Lichtenberg nicht. Nur Leute von tadelloser Führung werden angestellt, vorbestraft dürfen keine sein.

Vors. (zu Breithaupt): Sie hatten also die Disziplinarvorschriften narvorschriften nicht, obwohl Ihnen bekannt war, daß Sie danach handeln mußten. Wonach handelten Sie denn nun?

Angekl.: Ich habe mir von verschiedenen anderen Anstalten Hausordnungen und Vorschriften geben lassen.

Vors.: Was für Anstalten waren das?

Angekl.: Es waren keine Fürsorgeanstalten.

Vors.: „Da gab es wohl auch keine Prügel.“

Der Angeklagte schwieg.

Vertreter der Nebenkläger Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld: Herr Hentschel: Würden Sie es für angemessen halten, Zöglinge zu fesseln?

Zeuge: Wir in Lichtenberg tun das nicht.

Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld: Wie steht es mit der Prügelstrafe in Lichtenberg? Es wird doch darüber eine Statistik geführt. 1907 sollen 7,9%, 1908 8,1% der Zöglinge geprügelt worden sein?

Zeuge: Das kann richtig sein, im letzten Jahre wurden wohl nur drei Zöglinge geprügelt.

Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Hirschfeld erklärte der Zeuge es für möglich, daß die Lichtenberger Zöglinge auf dem Transport nach Mieltschin gefesselt waren. Dies sei wohl deshalb geschehen, weil die Zöglinge sich ungern aus der Nähe von Berlin wegbringen ließen und daher Flucht zu besorgen war.

Pastor Matthies: Als er die Anstalt Mieltschin einrichten sollte, sah er sich zunächst andere Anstalten, auch Hoffnungsthal, an. In Hoffnungsthal habe er Breithaupt kennengelernt. Dieser schien ihm geeignet zur Leitung der neuen Anstalt. Als Breithaupt ihm später schrieb, er wünsche sich in einer Arbeit zu betätigen, die so recht für eine Manneskraft paßt, wurde er aus den Bewerbern ausgewählt.

Vors.: Sprachen Sie mit ihm über das Wesen der Fürsorgeerziehung?

Zeuge: In Hoffnungsthal sagte er mir, er habe sie in Bethel kennengelernt.

Vors.: Ja, er ist zweimal in Wietingsmoor gewesen!

Zeuge: Ich habe angenommen, Breithaupt sei seiner Aufgabe gewachsen, auch habe ich die Anwerbung der Erziehungsgehilfen ihm überlassen. Unterricht der Zöglinge war geplant; der Zusammenbruch führte dazu, daß schließlich überhaupt kein Lehrer angestellt wurde. Bezüglich der Disziplin und im besonderen der Züchtigungen hatte Breithaupt mir gesagt, er werde seine Erfahrungen aus dem Johannesstift zugrunde legen. Im Johannesstift sollen aber nur drei bis fünf Schläge gegeben werden. Daß für Mieltschin die Lichtenberger Vorschriften gelten sollten, wußte Breithaupt, weil es ja in dem ihm bekanntgegebenen Vertrag mit Berlin stand. Um Erlangung der Vorschriften hat sich Breithaupt vergeblich bemüht. Auch ich habe sie nie zu sehen bekommen. In Mieltschin ist mir über Breithaupt nie eine Beschwerde zu Ohren gekommen, nie habe ich etwas von übermäßigen Züchtigungen gehört, bis der Artikel des „Vorwärts“ erschien. Als ich dann Breithaupt darüber befragte, antwortete er: „Was geschehen ist, kann ich verantworten.“ Auch beantragte Breithaupt selber gegen sich eine Disziplinaruntersuchung.

Vors.: Was war denn geschehen? Was gab er zu? 50 Hiebe? 100?

Zeuge: Die im „Vorwärts“ angegebene Zahl der Schläge hielt ich von vornherein für Übertreibung. Ich hatte den Eindruck, als ob Breithaupt nicht recht wußte, wie er zu der Verhängung solch hoher Strafen gekommen war. Sonst ist Breithaupt freundlich mit den Burschen umgegangen, das ist mir auch auf Befragen der Burschen bestätigt worden.

Vors.: Wie erklären Sie es sich dann, daß die vorgekommenen Dinge Ihnen verborgen blieben?

Zeuge: An der Stimmung der Burschen habe ich nie etwas bemerkt, vielleicht deshalb, weil sie die körperliche Strafe wohl nicht so schwer empfanden. Daß Breithaupt leicht erregt war, kann ich nicht sagen, doch hat Breithaupt allerdings Widerspruch nicht vertragen können. Eine ärztliche Aufsicht ist für die Anstalt geplant gewesen, vorerst hatte ich nur privatim mit Kreisarzt Dr. Boehnke (Witkowo) abgemacht, macht, daß er sich um Mieltschin kümmern möchte, wenn es seine Zeit erlaubte.

Pastor v. Bodelschwingh (Bethel bei Bielefeld), ein Sohn des „alten Bodelschwingh“, berichtete über Breithaupts Aufenthalt in Lobetal, wo er die Stellung eines pflegenden Bruders gehabt habe und als „Vorarbeiter“ tätig gewesen sei. Br. habe sich dort seiner Aufgabe, so hatte der Vater des Zeugen erklärt, mit großem Eifer und mit vieler Hingabe gewidmet. Allerdings sei bei Br. damals eine gewisse Neigung zur Erregtheit und zur Unklarheit des Urteils zu bemerken gewesen. Große Menschenkenntnis habe er nicht gehabt, wohl aber ein selbstbewußtes Auftreten, das den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprach. Br. wäre weder dem Vater des Zeugen noch ihm selber als der geeignete Mann für Mieltschin erschienen; beide hätten ihn nicht empfohlen, wenn sie gefragt worden wären. Aus Lobethal wurde Br. entlassen wegen eines Konfliktes mit der Polizei. Er war in Berlin, so bemerkte der Zeuge, „betrunken und verkehrshindernd aufgefunden und zur Polizei gebracht worden“.

Staatsanwalt Dr. Reiner fragte, warum denn dann Br. so gute Zeugnisse aus Hoffnungsthal usw. habe.

Zeuge: Die wurden von meinem Vater ausgestellt, aber vor jenem Vorfall. Nach Br.s Entlassung haben übrigens die Gnadentaler Kolonisten um seine Wiederanstellung gebeten.

Über den Angeklagten Engels, den der Zeuge gleichfalls kennengelernt hatte, äußerte er sich nicht ungünstig. Auch der Angeklagte Wendland sei ihm bekannt, er sei jetzt sogar wieder in Bethel, doch könne er kein bestimmtes Urteil über ihn abgeben. Auf eine Frage des Vorsitzenden nach der Prügelstrafe in Bethel erklärte der Zeuge: Sein Vater sei fälschlich als ein „großer Verfechter der Prügelstrafe“ hingestellt worden. Das Gegenteil sei der Fall, doch habe er allerdings gemeint, daß für einen Jungen ein Schlag manchmal besser als einsperren sei.

Ansiedler Fletemeyer aus Mieltschin bekundete, auch in der Bevölkerung sei bekannt gewesen, daß Br. mit Peitschenhieben und Arrest die Jungen zu hart strafte. Von einer besonderen „Voreingenommenheit“ der Polen gegen Br. wisse er nichts, wenn es auch richtig sei, daß die Polen nicht gut auf die Deutschen zu sprechen seien. In der Voruntersuchung habe er (Zeuge) gesagt, Br. sei ihm sehr heftig vorgekommen, „wie ein Barbar“. Einmal habe er gesehen, wie Br. einen Jungen mit der Faust auf den Kopf schlug, da habe er (Zeuge) gerufen: „Gnade! Gnade!“ Br. aber habe geantwortet: „Ach was, Gnade!“ (Das war im September 1910.) Breithaupt bemerkte zu jenem Vorfall: Es handle sich um den Zögling Fisahn, den er damals wegen dummer Redensarten wohl mit der Faust geschlagen habe. Zu Fletemeyer habe er nur gesagt, er solle seine Nase nicht hineinstecken. Auf eine Frage des Justizrats Wronker bemerkte der Zeuge: Er habe Br. mit den Jungen der Anstalt auch mal am Sonntag einen Ausflug machen sehen. Auf eine Frage des Rechtsanwalts Illch bekundete der Zeuge, daß nach Aufdeckung der Mieltschiner Zustände er und andere Mieltschiner dem Breithauptschen Anstaltsgottesdienst ferngeblieben seien, doch sei das nicht auf Anstiften des Lehrers Wendler geschehen.

Oberförster Redlich, Mitglied des Aufsichtsrats der G.m.b.H. „Fürsorgestift Mieltschin“, hatte wohl Gerüchte über Vorkommnisse in der Anstalt Mieltschin vernommen, ihnen aber nicht geglaubt, bis die Zeitungsmeldung kam. Nacher habe Br. ihm gesagt, er habe geglaubt, der Stadt Berlin einen Gefallen zu tun, wenn er ihre Zöglinge nicht entfliehen lasse und ihr Kosten erspare.

Bauunternehmer Göldner war bei dem Bau der Anstalt tätig. Zöglinge haben ihm gesagt, es gefalle ihnen trotz der Schläge in Mieltschin besser als in Lichtenberg. Breithaupt habe ihm geklagt, daß die Jungen so schwer zu behandeln seien, auch habe er gebeten, die Arbeiter möchten sich nicht hineinmengen. Maurerpolier Wittig habe sich über Mißhandlungen aufgeregt, doch der übertreibe sehr. Wittig und auch Lehrer Wendler seien dem Pastor feindlich gesinnt gewesen.

Auch dem Pastor Voit, einem Mitglied des Aufsichtsrats der Anstalt Neu-Zedlitz, war nichts über Mißhandlungen in Mieltschin zu Ohren gekommen. Bei Besuchen hatte er den Eindruck, daß Breithaupt „nicht despotisch“ war. Das Verhältnis zu den Zöglingen war „nett“, und einen redete Br. mal „Mein Junge!“ an.

Maurermeister Gerhard aus Gnesen, der Bauarbeiten für die Anstalt übernommen hatte, führte alles auf einen Racheakt des Poliers Wittig zurück, über den Breithaupt Klage geführt habe, sowie auf die Intrigen des mit Wittig verbündeten Lehrers Wendler. Der Vorsitzende sagte ihm, es seien ja tatsächlich vorgekommene Mißhandlungen festgestellt, z.B. 100 Peitschenhiebe für einen Einbruchdiebstahl. Der Zeuge bemerkte, ihm sei davon nichts bekannt gewesen. Er habe nur fürchterliches Geschrei manchmal gehört. Mit Breithaupt hatte er oft und eingehend über seine Erziehungsmethode gesprochen. Dabei habe Br. Strenge für nötig gehalten und gesagt: „Mit Prügeln habe ich in einer früheren Anstalt sehr gute Erfolge gehabt.“

Angekl. Breithaupt: Ich entsinne mich dessen nicht.

Vors.: In kritischen Fällen kommen Sie immer mit der Erwiderung: „Ich entsinne mich nicht.“

Breithaupt hat gegenüber dem Zeugen geklagt, Berlin schicke ihm den Auswurf der Menschheit, sogar Halbidioten.

Polizeikommissar Schnee (Witkowo) hat „nichts Ungehöriges erfahren“. Von diesem Polizeikommissar hatte Br. die „große Kette“ entliehen. Der Vorsitzende meinte: „Das müßte dann schon ein schwerer Mörder gewesen sein.“

Angekl. Brosinsky fragte, ob Zeuge sich erinnert, daß er einmal den Zögling Schwarzenberg nach einer Abstrafung zu sehen bekam und diese nicht für zu stark hielt. Der Zeuge erinnerte sich nicht.

Regierungsbaumeister Drescher: bekundete: Er war in Mieltschin überrascht, „wie wenig zuchthausmäßig die Anstalt und die ganze Behandlung war“.

Vors.: Gingen Sie davon aus, die Behandlung von Fürsorgezöglingen müsse zuchthausmäßig sein?

Zeuge: Das nicht. Aber körperliche Mißhandlungen sah ich nicht. Ich hatte den Eindruck, daß Br. an seine Aufgabe mit großer Begeisterung heranging.

Ing. Heinschke, der als Beauftragter der Deutschen Lagerhausgesellschaft in der Anstalt Mieltschin Bauarbeiten ausführte, hat „die Jungen sehr vergnügt“ gefunden. Polier Wittig und Monteur Fleischer seien dem Pastor feindlich gesinnt gewesen, letzterer habe ihm auch mal mit einem Verwandten in Berlin gedroht, der „bei der Sozialdemokratie eine führende Stellung habe, und dem er alles mitteilen werde.“

Vorsitzender: „Lassen wir die partei-politischen Erörterungen aus dem Spiel.“

Die Erörterung der Einzelfälle begann mit dem Fall Auders, an dem die Angeklagten Breithaupt und Engels beteiligt waren. Der Schneiderlehrling Auders hatte bei seiner Einlieferung am 4. Mai 1909 im Stiefel einen Brief für einen anderen Zögling mitgebracht und entfloh dann. Nach seiner Wiederergreifung ließ Breithaupt ihm durch Engels 50 Peitschenhiebe geben. Einige Zeit später soll Auders zu einem bei dem Umbau der Anstalt beschäftigten Maurer gesagt haben: „Lassen Sie nur erst die kessen Jungens aus Berlin kommen, dann spielen wir die Herren und hauen den Meistern die Jacke voll.“ Die Frau des Aufsehers Wrobel, die das angeblich gehört hat, hinterbrachte es dem Pastor, und der verordnete die üblichen Hiebe. Wieviel waren es, fragte der Vorsitzende. „Es werden wohl 50 gewesen sein,“ meinte Engels. Breithaupt mußte dem Gericht vormachen, wie er mit der Peitsche geschlagen habe. Er bemerkte dazu: „Mit aller Wucht, aber nicht mit voller Körperkraft.“ Der Vorsitzende stellte fest, daß Auders früher an Kniegelenktuberkulose gelitten und daher ein verkürztes Bein habe.

Als erster Zeuge unter den geladenen Fürsorgezöglingen hinkte Auders in den Saal. Der jetzt 19jährige junge Mann, den der Vorsitzende nochmals eindringlich lich zur Wahrheit ermahnte, bekundete: Er sei sogleich in der ersten Nacht mit Zögling Graske aus Mieltschin entflohen, weil Graske ihm gesagt habe: „Hier gibt’s Keile!“ Schon in Gnesen habe er sich freiwillig auf der Polizei gestellt. Nach seiner Wiedereinlieferung in Mieltschin habe Breithaupt ihm durch Engels 50 Hiebe geben lassen. Wrobel habe ihm das Hemd höher ziehen müssen, Breithaupt habe die Uhr gehalten, Engels habe geschlagen und sich alle Mühe gegeben, tüchtig zu schlagen, er selber habe die Schläge zählen müssen. Es habe sehr weh getan, so daß es schien, einzelne Stellen seien wund geschlagen worden. Etwa 3 Wochen später sei er von einem polnischen Arbeiter gefragt worden, ob er „Keile gekriegt“ habe. Da habe er erklärt, wenn erst andere Jungen kämen, die sich nicht schlagen ließen, werde es hier anders werden. Von „kessen Jungen“, von „Herren spielen“ und „den Meistern die Jacke voll hauen“, habe er nicht gesprochen. Bald darauf habe Breithaupt, der wohl gelauscht haben müsse, ihn am Kragen gepackt und ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er habe ihn zum Herrenhaus geführt, vor dessen Tür Schwester Olga und Gutsinspektor Bartz stand, und im Hause ihm erst einen Hieb über den Kopf und dann mit der Peitsche oder dem Stock 50 und mehr Schläge übers Gesäß gegeben. Als er (Auders) im August über die erduldeten Mißhandlungen vernommen wurde, sagte er dem Pastor Matthies nichts von dieser zweiten Abstrafung, weil bei der Vernehmung Breithaupt zugegen gewesen sei. Erst später machte er in Lichtenberg genaue Angaben darüber. Nach der Bestrafung sei er um die Frühstückszeit in den Kartoffelkeller gesperrt worden, in dem er ohne Nahrung bis zum Abend habe bleiben müssen. Abends sei er nach der Station gebracht worden, und nun habe Breithaupt ihn nochmals geschlagen, zunächst mit dem Weichselstock, dann mit der Reitpeitsche; 50 Hiebe oder mehr seien es im ganzen gewesen.

Vors.: Warum haben Sie hiervon bisher nichts gesagt?

Zeuge: Ich wollte immer noch nicht so schlecht handeln. Ich wollte die Sache verheimlichen. Ich dachte ja nicht, daß ein so großer Prozeß daraus werden würde.

Breithaupt und Engels erklärten, daß sie von dieser Bestrafung nichts wissen.

Auders hielt seine Angaben aufrecht. Im übrigen erklärte er, daß Breithaupt sonst immer gut zu ihm gewesen sei, nur gestraft habe er sehr streng. Breithaupt habe auch Ausflüge mit seinen Zöglingen unternommen und dabei alles mitgemacht. Über seinen Beinschaden bekundete Zeuge, daß er ihn seit seinem 9. Jahre habe. Er sei durch „Kniewasser“ nach einem Sprung entstanden, und er habe deshalb zwei Jahre im Krankenhaus zubringen müssen. Dem Pastor Breithaupt habe er das sogleich am Tage seiner Einlieferung nach Mieltschin gesagt. Auf die Frage des Vorsitzenden, wie oft er entflohen sei, antwortete Auders, beim zweitenmal sei er nach Berlin gelangt. Doch habe dann ein Herr vom „Vorwärts“, der zu seinen Eltern gekommen sei, ihn gesehen und ihm geraten, sich lieber wieder der Waisenverwaltung zu stellen, das habe er getan.

Zögling Rietz schilderte eine Mißhandlung von Auders, bei der er (Zeuge) 71 Hiebe gezählt habe.

Die „Schwester Olga“, jetzt Frau Schrader geb. Redwanz, die in Mieltschin dem Wirtschaftsbetrieb vorstand, konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie meinte zunächst, nicht dabei gewesen zu sein, wenn geprügelt wurde. Erst auf Vorhalten fiel ihr ein, daß sie wenigstens zweimal dabei war. Aber gekümmert habe sie sich um nichts, nur schreien habe sie die Jungen gehört. Gesehen habe sie weder, wie Auders durch Breithaupt ins Herrenhaus geführt wurde, noch einen anderen Fall, bei dem der Zögling Mauthe an einen Baum gebunden und geschlagen worden sein soll. Der Vorsitzende mahnte: Sie dürfen unter keinen Umständen mit der Wahrheit zurückhalten. Schonung gibt es hier nicht. Haben Sie nun noch etwas mitzuteilen?

Zeugin: Die Zöglinge haben eine Sparbüchse mit Geld gestohlen; ich nehme wenigstens an, daß es Zöglinge waren.

Dem Vert. Justizrat Friedmann bestätigte die Zeugin noch, daß Breithaupt selber bedauert habe, streng sein zu müssen.

Vernommen wurde noch ein Maurer Ibrand, der in der Anstalt Mieltschin an den Umbauten gearbeitet hatte. Er hörte und sah schlagen, und auch andere erzählten ihm, daß dort viel und kräftig geschlagen werde. Von Polen sei gesagt worden, wenn das einer ihrer Leute wäre, so würden sie dagegen vorgehen. Einmal habe er gesehen, wie ein Junge vor einem Speicher sich sogleich über das Treppengeländer legen mußte und von Breithaupt 20 bis 25 Hiebe mit dem Handstock bekam. Breithaupt bemerkte, das sei Ehrlich gewesen, der sich an Drenske vergriffen hatte. Dafür habe er ihn auf frischer Tat gestraft; 20 bis 25 Hiebe, das könne stimmen.

Es gelangte alsdann der Fall des Zöglings Graske zur Verhandlung. Breithaupt bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Graske war ein gefährlicher Bursche. Er war bereits wegen Erpressung und widernatürlicher Unzucht bestraft. Er ist eines Tages mit dem Zögling Auders nach Berlin entwichen und hat dort in homosexuellen Kreisen verkehrt. Er hatte sich ganz besonders in Berlin in derartigen Cafés aufgehalten, und dort Herrenbekanntschaften gemacht. Als er nach vier Wochen zurückgebracht wurde – er kam in feiner Kleidung – habe ich befohlen, ihm 50 Hiebe zu versetzen.

Vors.: Graske behauptet, es seien ihm während der Züchtigung Fußfesseln angelegt worden?

Breithaupt: Ich bin bei der Züchtigung nicht dabei gewesen, ich halte das aber für ausgeschlossen, da die Zöglinge nochmals in gefesseltem Zustande Prügel bekamen.

Vors.: Graske soll alsdann mit einer Kette an die Wand geschlossen worden sein?

Breithaupt: Auch das ist falsch.

Es wurde hierauf der 20jährige Fürsorgezögling Ernst Graske, der wegen Diebstahls eine längere Gefängnisstrafe verbüßte, als Zeuge vorgeführt. Er bekundete: Er sei im Mai 1909 von Lichtenberg nach Mieltschin gekommen. Das Essen war recht gut, nur die Behandlung, ganz besonders von seiten des Pastors Breithaupt und des Inspektors Engel, war sehr schroff. Eines Tages habe ihm der Zögling Auders, den er von Lichtenberg aus kannte, einen Brief überbracht, in diesem wurde ihm mitgeteilt, daß, wenn er ausrücken wolle, er bei einer Frau Schmidt in Berlin Unterkunft finden könne. Er sei deshalb am folgenden Morgen mit Auders zusammen ausgerissen. Als er nach Mieltschin zurückgebracht wurde, habe ihm zunächst nächst Pastor Breithaupt einige Faustschläge ins Gesicht versetzt. Alsdann mußte er alles bis auf Hemd und Hose ablegen, es wurden ihm an beiden Beinen Fesseln angelegt, und darauf habe er von Engel 50 wuchtige Schläge mit einer Reitpeitsche erhalten. Er habe laut geschrien.

Vors.: Haben Sie noch heute wunde Stellen?

Zeuge: Jawohl, ich habe tiefe Narben. Ich wurde alsdann vom Meister Wrobel in die Arrestzelle gesperrt und mit einer eisernen Kette, die an einem Ring in der Mauer befestigt war, angeschlossen. Außerdem blieben die Fußketten an beiden Beinen.

Vors.: Konnten Sie sich hinlegen?

Zeuge: Nein, das angeschlossene Bein konnte ich nicht ganz bis zum Erdboden herunter bekommen. Ich war infolgedessen genötigt, mich auf einen Wassereimer zu setzen und habe so in sitzender Stellung geschlafen. Während der ganzen 12 Tage habe ich nur morgens, mittags und abends je ein Stück Brot und je ein Liter Wasser bekommen.

Vors.: Haben Sie erhebliche Folgen von der Züchtigung davongetragen?

Zeuge: Nein, aber ich habe noch heute sehr oft Reißen, weil ich in Mieltschin auf den Feldern vielfach stundenlang im nassen Schlamm arbeiten mußte. Ich gehörte zur Strafkolonne. Nach der zweiten Züchtigung wurde ich an die Bettstelle angeschlossen. Sechs Wochen lang habe ich Tag und Nacht die Fußfesseln tragen müssen.

Angekl. Breithaupt bestritt, daß Graske an die Wand gefesselt worden sei.

Angekl. Wrobel gab als möglich zu, den Zeugen an die Wand gekettet zu haben. Wenn dies geschehen, dann habe dies unbedingt Breithaupt angeordnet.

Graske zeigte alsdann auf Auffordern des Vorsitzenden, mit Hilfe der Ketten, die auf dem Gerichtstisch lagen, wie er gefesselt worden sei.

Der frühere Leiter der Lichtenberger Anstalt, Buth, und Lehrer Hentschel (Lichtenberg) bemerkten: Es sei kein Anlaß vorhanden, an den Worten Graskes zu zweifeln.

Gerichtsarzt Med.-Rat Dr. Hoffmann: Die Behandlung des Graske, in Verbindung mit der Kostentziehung, der Fesselung und der mangelhaften Möglichkeit der Lagerung während der Nacht, sowie das Schlafen mit durchnäßten Hosen bedingen, zusammen genommen, eine arge Gefährdung der Gesundheit und des Lebens. Er sei lange Zeit Zuchthausarzt gewesen, und zwar zu einer Zeit, als im Zuchthaus noch geprügelt wurde. Es seien im Höchstfalle 15 Hiebe verabreicht worden. 50 Hiebe sei eine geradezu ungeheuerliche Strafe.

Der Zeuge Graske bekundete auf Befragen: Er sei später einmal beim Rauchen ertappt worden. Er habe deshalb 25 Hiebe erhalten und die Fußkette angelegt bekommen. Wegen eines dritten Vergehens habe er nochmals 50 Hiebe erhalten.

Es erschien alsdann als Zeuge der ehemalige Fürsorgezögling Schwarzenberg: Er sei in Hamburg bei der Heringsfischerei gewesen und mit einem Schiffe nach Brasilien gefahren. Als er nach Berlin zurückkam, wurde er in die Lichtenberger Anstalt und von dort nach Mieltschin übergeführt. Eines Tages sei Pastor Breithaupt überbracht worden, daß er mit anderen Zöglingen ausreißen wolle. Obwohl das nicht wahr war, habe ihn Breithaupt mit der Faust ins Gesicht geschlagen und ihn in die Station gebracht, wo er 50 Hiebe erhalten sollte. Er habe sich gesträubt mit dem Bemerken, daß er unschuldig sei. Darauf haben sofort acht Wärter mit Gummiknüppeln auf ihn losgeschlagen. Er habe versucht, zu entkommen, und habe ein Fenster eingeschlagen, durch das er hinausspringen wollte. Die Wärter haben ihn jedoch mit Gewalt gefesselt, ihn über den Stuhl gelegt, ihm das Hemd heraufgezogen, und nun habe er von Inspektor Engels 50 Hiebe auf den Gesäßteil erhalten. Darauf habe Breithaupt gerufen: „Nun ist’s genug, jetzt auf die Fußsohlen!“ Darauf habe er 30-40 Hiebe auf die Fußsohlen erhalten. Er sei alsdann 3 Tage in die Arrestzelle gesperrt worden. Pastor Breithaupt habe auch später eingesehen, daß er unschuldig war.

Vors.: Haben Sie dies nicht dem Herrn Pastor vorher gesagt?

Zeuge: Ich suchte mich zu verteidigen, der Herr Pastor hat mich aber gar nicht angehört, sondern sofort drauflosgeschlagen.

Die Angeklagten bestritten, daß der Zeuge während des Prügelns gefesselt worden sei, sie gaben jedoch zum Teil zu, auf den Zeugen mit Gummiknüppeln eingeschlagen zu haben, da eine Revolte der Zöglinge befürchtet worden sei. Der Zeuge habe nämlich gerufen: „Ein alter Seemann läßt sich doch nicht schlagen, helft mir, Kameraden!“ Pastor Breithaupt hatte angeordnet, daß alle Zöglinge der Prozedur beizuwohnen hatten.

Der Zeuge blieb mit voller Entschiedenheit bei seiner Bekundung.

Der 17jährige Fürsorgezögling Vollbrecht hatte wegen derselben Sache 50 Peitschenhiebe, die ihm Engels und Wrobel appliziert hatten, auf das Gesäß erhalten. Bald darauf hatte Vollbrecht zu einem Maurer geäußert: Gegen Pastor Breithaupt schwebe ein Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung, er sei deshalb in Witkowo vernommen worden. In Wahrheit war Vollbrecht wegen eines Diebstahls vernommen worden. Der Zeuge bekundete: Breithaupt habe ihn deshalb furchtbar mit der Faust und einem Stock über den Kopf geschlagen; alsdann habe er 50 Hiebe auf das Gesäß erhalten, es sei ihm die Kette angelegt worden, und er sei fast vier Wochen lang bei Wasser und Brot eingesperrt worden, daß er sich nicht hinlegen konnte.

Der Angeklagte Riemschneider bemerkte: Der Zeuge, der am Abend gebadet wurde, habe infolge der Züchtigung ausgesehen wie ein tätowierter Indianer.

Breithaupt bestritt, daß Graske 12 Tage lang nur Wasser und Brot erhalten habe.

Angekl. Riemschneider: Den Zöglingen wurde mehrfach lange Zeit nur Wasser und Brot gegeben. Oft gab ich dann den Jungen aus Mitleid mein Frühstück, deshalb wurde Pastor Breithaupt sehr aufgebracht gegen mich. Ich sah einmal, wie der Zögling Winkler, der in der Strafkolonne war, Getreide aß.

Auf Befragen des Verteidigers, Justizrat Wronker, wer Kostschmälerungen anzuordnen hatte, sagte Riemschneider: Wir konnten niemals selbständig handeln, sondern nur immer im Auftrage des Pastors Breithaupt.

Fürsorgezögling Drenske, ein 16jähriger skrofulöser Junge, erhielt 50 Peitschenhiebe, weil er mit einem anderen Zögling über Ausreißen gesprochen hatte.

Der Fürsorgezögling Clemens hatte Zwiebeln aus dem Beet gerissen, um sie auf die Stullen zu legen. Er hat dafür von Breithaupt 25 Peitschenhiebe erhalten. Darauf wurde er gefragt, ob er wisse, weshalb er geschlagen worden sei, als er dies verneinte, bekam er von Engels nochmals 25 Peitschenhiebe. Das ganze Gesäß sei ihm infolgedessen geschwollen, er habe furchtbare Schmerzen gehabt.

Fürsorgezögling Lenig hat wegen Lügens und Zigarettenrauchens ebenfalls 50 Peitschenhiebe erhalten.

Es wurden hierauf noch mehrere Zeugen vernommen, die die Angaben der Zöglinge bestätigten und außerdem bekundeten: Sie seien an Händen und Füßen gefesselt von Lichtenberg nach Mieltschin transportiert worden. Dies habe auf den Bahnhöfen in Posen und Gnesen große Entrüstung hervorgerufen.

Zögling Vollbrecht bekundete noch: Er sei zum zweiten Male geschlagen worden, weil er sich zu Maurern ungünstig über Breithaupt geäußert und ihn für einen rohen Patron erklärt hatte. Breithaupt habe ihm mit seinem Stock 20 Hiebe versetzt. Dann habe ihm im Stationshause Engels auf Befehl des Pastors noch 50 Peitschenhiebe auf das Gesäß verabfolgt, die ihn sehr schmerzten. Hierauf sei er in die Arrestzelle gebracht und dort angeschlossen worden, und zwar in der ersten Nacht mit der großen Kette. Bei Tage habe er gearbeitet, und zwar in der Strafkolonne. In dieser Strafkolonne sei er vier Wochen gewesen und habe die leichtere Fußkette getragen. Während der ganzen vier Wochen habe er nur Wasser und Brot als Kost erhalten, niemals Fleisch und niemals Suppe, doch habe ihm manchmal der Meister Albrecht, bei dem er arbeitete, etwas Fleisch heimlich zugesteckt. Er sei dann zwei Tage aus der Strafkolonne genommen, nachher aber wieder hineingesteckt worden und habe wieder die Kette tragen müssen. Nachdem die Kommission und Dr. Bernstein in Mieltschin gewesen, habe er den dritten Tag immer die richtige Kost erhalten.

Vors.: Nach den Akten haben Sie bisher niemals etwas davon gesagt, daß Sie vier Wochen lang bei Wasser und Brot haben zubringen müssen. Wie ist das zu erklären?

Zeuge: Ich bin nicht danach gefragt worden.

Vors: Ist das aber auch wirklich wahr? Überlegen Sie es sich ganz genau, ob Sie sich nicht irren, und es sich doch vielleicht um eine wesentlich kürzere Zeit handelt.

Zeuge: Ganz genau kann ich es nicht sagen, es mögen aber drei bis vier Wochen gewesen sein. Es war noch unter dem Kommando des Angeklagten Riemschneider.

Vors.: Riemschneider, Sie hören, was der Zeuge sagt. Wie stellen Sie sich zu der Sache!

Angekl. Riemschneider: Wie lange Zeit die Diät bei Wasser und Brot dauerte, weiß ich nicht. Richtig ist, daß bei einzelnen Arrestanten Wasser und Brot angeordnet wurde, doch glaube ich nicht, daß es vier Wochen gedauert haben kann.

Justizrat Wronker wünschte genaue Angaben über die Quantitäten von Brot und Wasser, die täglich verabfolgt sein sollen.

Der Zeuge erklärte: Morgens zwei Stullen und ein Becher Wasser, mittags ebenso und abends ebenso.

Justizrat Wronker verwies darauf, daß nach den Wiegelisten der Zeuge in Mieltschin an Gewicht zugenommen habe. Das würde doch wohl unmöglich sein, wenn er wirklich vier Wochen lang nur Wasser und Brot genossen hätte. Nach verschiedenen Vorhalten kam der Zeuge damit heraus, daß er sooft wie möglich Gelegenheit gesucht und gefunden habe, sich heimlich Nahrungsmittel zu beschaffen und sich auf die Weise satt zu essen. Er blieb aber dabei, daß die offizielle Beköstigung mit Wasser und Brot doch länger als drei Wochen gedauert habe.

Lehrer Hentschel gab an, daß Vollbrecht am 26. April 1909 in Lichtenberg 54 Kilogramm wog, im Alter von 16 Jahren.

Der Vors. stellte aus den Akten fest, daß Vollbrecht in Mieltschin im Juni 57 Kilogramm, im Juli 58 Kilogramm gewogen habe. Vollbrecht erklärte diese Zunahme daraus, daß ihm oft heimlich andere Kost zugesteckt worden sei. In Mieltschin habe er von allen diesen Dingen der Untersuchungskommission nichts gesagt, weil er Furcht gehabt habe.

Eine Zeugin aus der polnischen Bevölkerung, Frau Matuscharska aus Mieltschin, wurde mit Hilfe eines Dolmetschers vernommen. Sie habe gesehen, wie Jungen vom Pastor und auch vom Inspektor geschlagen wurden. Im besonderen habe sie gesehen, wie der Pastor mit dem Stock zuhieb.

Ein früherer Zögling Blechschmidt bekundete: Er sei nie geschlagen worden. Andere seien übermäßig geschlagen worden, wenn sie sich des Ungehorsams schuldig machten, der meist im Ausrücken bestanden habe. Der frühere Zögling Knopf schilderte eine Bestrafung Drenskes, bei der dieser sich in die Hosen gemacht habe. Drenske erklärte dazu, er habe nicht mehr austreten können, als die Bestrafung vorgenommen wurde.

Breithaupt bemerkte: solche Beschmutzungen seien ein paarmal vorgekommen, er sei aber fest überzeugt, daß das nur geschah, um die Bestrafung zu verhindern.

Eine „anständige Behandlung“ hat der frühere Zögling Jahn genossen. Er bekundete: Wer bestraft wurde, „betrug sich danach.“ Er habe aber gefunden, daß die Strafen doch ein bißchen zuviel waren.

Stadtverordneter Dr. med. Bernstein: Auch schwer zu behandelnde Zöglinge könne man in offenen Anstalten stalten unterbringen, aber dazu bedürfe es der geeigneten Erzieher, und daran habe es in Mieltschin gefehlt. Nach der Aufdeckung der dortigen Zustände sei er von der Waisenverwaltung nach Mieltschin entsandt worden. Bei den Verhören gewann er den Eindruck, daß die Jungen im wesentlichen bei der Wahrheit blieben. Er konnte auch Spuren der Mißhandlungen feststellen. Breithaupt, dessen ganze Persönlichkeit unter der Last der Beschuldigungen zusammenzubrechen schien, habe alles Wesentliche zugegeben. Vom Standpunkt des Arztes erkläre er die Strafen von 50 Peitschenhieben für grausam und barbarisch. In der Waisenverwaltung sei allmählich die Meinung durchgedrungen, daß die Prügelstrafe bedenklich sei. Durch Schläge auf das Gesäß werde das geschlechtliche Triebleben angeregt und oft in falsche Bahnen gelenkt.

Medizinalrat Dr. Hoffmann: In den Schlägen auf die Fußsohlen sehe er nicht eine lebengefährdende Behandlung. Er glaube, daß sie nicht sehr schmerzhaft gewesen sein können, da doch die Sohle härter als das Gesäß sei. Auch die Kostschmälerung hatte er nicht für gefährlich, wenn sie nicht gerade einem sehr schwächlichen Zögling auferlegt werde. Eine direkte Lebensgefährdung nehme er in keinem der erörterten Fälle an.

Die Anklage behauptete weiter, daß der Zögling Ehrlich, weil er Fluchtabsichten geäußert hatte, 75 Hiebe erhalten habe. Ehrlich soll zunächst 25 Hiebe von Breithaupt mit dem Spazierstock, alsdann 25 Peitschenhiebe von Engels und darauf 25 Peitschenhiebe von Wrobel erhalten haben.

Vors.: Angekl. Breithaupt: Kamen Ihnen denn keine Bedenken, mit dem Spazierstock zu schlagen?

Breithaupt: Nein. Ich habe Ehrlich, weil er den Zögling Drenske geschlagen hatte, später nochmals mit dem Spazierstock geschlagen, es waren aber höchstens 25 Hiebe.

Ein drittes Mal erhielt Ehrlich nach einer Flucht 50 Peitschenhiebe, die Engels und Wrobel verabreichten.

Daß Ehrlich im Arrest, der dann über ihn verhängt wurde, zwei Nächte mit auf dem Rücken gefesselten Händen zugebracht habe, bestritt er. Auch den Vorwurf, daß er Ehrlich, nachdem er bei der Arbeit einen Bruch eines Mittelfußknochens erlitten hatte, sogleich habe weiter arbeiten lassen, sei unwahr. Ehrlich selber habe es im Bett nicht aushalten wollen, und auf eigenen Wunsch habe Ehrlich erklärt, dem Kalfaktor bei der Arbeit helfen zu wollen.

Engels gab die Richtigkeit dieser Ausführungen zu.

Fürsorgezögling Ehrlich, der hierauf als Zeuge vernommen wurde, bekundete: In Mieltschin wäre es „ja soweit ganz gut gewesen, wenn nicht die Hiebe gewesen wären.“ Nach seiner Bestrafung wegen Fluchtabsichten sichten habe er zwei Tage im Arrest nichts zu essen gehabt, weil er das ihm gereichte Brot nicht habe essen können. Während der Nacht habe man ihm mit einer „Acht“ die Hände auf dem Rücken gefesselt, so daß er nicht hätte liegen können, wenn er nicht, die Beine anziehend, die gefesselten Hände unter ihnen hinweg nach vorn gezwängt hatte. Als ihm später ein Fluchtversuch mit Winkler und Karnal zunächst gelungen, sie aber dann wieder ergriffen worden seien, habe Breithaupt sie schon am Bahnhof mit Prügeln empfangen und mit seinem Weichselstock gehauen, so daß er Winkler unter dem Auge traf. Bei einer früheren Züchtigung habe er 50 Hiebe bekommen sollen, habe aber bei 26 falsch gezählt, und nun sei von vorn angefangen worden, so daß er 76 Hiebe bekam. Seine Prügelei mit Drenske sei weiter nichts als eine Backpfeife gewesen, für die dann Breithaupt ihn mit dem Weichselstock auf das Gesäß geschlagen habe. Bezüglich des Bruches eines Mittelfußknochens bekundete Ehrlich, Kreisarzt Dr. Boehnke (Witkowo) habe den Bruch eines Mittelfußknochens, den er erlitten, für nicht schlimm erklärt und einen Verband angelegt. Schon nach drei bis vier Tagen habe er (Zeuge) wieder aufstehen und dem Kalfaktor helfen müssen. Allerdings habe er nicht gesagt, daß er noch Schmerzen hatte.

Vors.: Warum nicht?

Zeuge: Weil ich fürchtete, daß ich Hiebe kriegen würde wegen Arbeitsverweigerung. Der Angeklagte Brosinsky sei gut zu den Jungen gewesen, er habe ihnen sogar manchmal seine Stulle gegeben.

Sachverständiger Dr. med. Bernstein hat in Mieltschin bei Ehrlich Narben gefunden, er vermag aber nicht zu sagen, ob die Verletzungen durch Stockhiebe oder durch Peitschenhiebe entstanden seien.

Sachverständiger Dr. Steinbrück, der den später nach der Anstalt Warsow (bei Stettin) überwiesenen Ehrlich dort behandelt hat, hatte gleichfalls noch Narben bemerkt; er fand vor allem den Bruch des Mittelfußknochens noch ungeheilt.

Lehrer Hentschel hat in Lichtenberg Ehrlich nicht für gewalttätig, sondern für einen rührigen Menschen gehalten, der nach Ausweis der Akten allerdings zum Umhertreiben geneigt habe.

Im weiteren erklärte Breithaupt auf Befragen des Vorsitzenden: Er gebe zu, daß er dem Zögling Karnal wegen Flucht durch Engels 50 Peitschenhiebe habe geben lassen, und daß Karnal noch mehrfach und von ihm selber geschlagen worden sei. Aber es sei ausgeschlossen, daß er ihm, wie die Anklage behauptet, einmal 50 Stockhiebe gegeben habe. „Ich nehme,“ sagt er, „ja ganz gerne auf mich, daß ich 20, auch 25 Stockhiebe gegeben haben kann, aber über 25 niemals.“ Für Karnal, der ein flinker Junge sei, habe er immer eine besondere Sympathie gehabt, und es habe ihm „immer weh getan, wenn Karnal gezüchtigt werden mußte.“ Karnal habe ihm einmal unmittelbar nach einer Züchtigung gesagt: „Herr Pastor, ich danke Ihnen, ich habe es verdient, ich will wieder artig sein.“ Als er Zweifel äußerte, habe Karnal erklärt: „Herr Pastor, ich wette mit Ihnen um eine Kiste Zigarren.“ Breithaupt versicherte, er habe überhaupt zu seinen Jungen, mit wenigen Ausnahmen, in einem durchaus vertraulichen Verhältnis gestanden.

Brosinsky bestritt, daß er bei einer Abstrafung Karnals mitgeschlagen habe; er habe ihn nur gehalten, um ihn am Entweichen zu hindern.

Zögling Karnal, der alsdann als Zeuge erschien, bekundete: Es sei ihm in Mieltschin immer schlecht gegangen. Er wurde mehrfach geschlagen, im besonderen nach dem Fluchtversuch mit Ehrlich und Winkler. Bei der Wiedereinlieferung habe Breithaupt auf dem Wege vom Mieltschiner Bahnhof nach der Anstalt „mit seinem Spazierstock immer von oben runter gehauen, auf den Kopf und überall hin.“ Bei einer Abstrafung, die Engels in Breithaupts Auftrag an ihm vornahm, sei er vor Angst unter einen Tisch geflüchtet, aber Engels habe immer weiter auf ihn eingehauen, ob hierbei Brosinsky mitgehauen habe, wisse er nicht. Breithaupt habe ihn allerdings gern gehabt. Auch habe er dem Pastor tatsächlich mal gesagt: „Ich habe die Prügel verdient.“ Als der Vorsitzende fragte, es sei am Ende doch wohl nicht so böse in Mieltschin gewesen, brach Karnal plötzlich in Tränen aus.

Vertreter der Staatsanwaltschaft, Assesor Dr. Simon: Sie sind wohl überhaupt nicht gerne in einer Anstalt?

Zeuge: Nein.

Assessor Simon: Wie oft sind Sie schon weggelaufen?

Zeuge: Zwölfmal.

Es wurde aus den Akten festgestellt, daß Karnal schon früher aus der Anstalt Rokitten einmal seinen Eltern geschrieben hatte: „In der weiten Welt kann aus mir nichts werden, wenn ich nicht bei Euch bin.“

Lehrer Hentschel bezeichnete Karnal als keineswegs bösartig, vielmehr als ganz zugänglich, zugänglich aber auch dem Schlechten. Aus der ihm verderblichen Nähe Berlins habe man ihn wegbringen wollen, darum sei er nach dem abgelegenen Mieltschin überwiesen worden.

Vorsitzender: Haben Sie dem Pastor Breithaupt gesagt, daß es ein von Freiheitsdrang beseelter Junge war?

Zeuge: Die Akten sind wohl mit nach Mieltschin gegangen.

Zögling Ehrlich schilderte jene Züchtigung, bei der Karnal sich unter den Tisch flüchtete. Schon vorher sei er vom Stuhl gefallen, so daß er mit dem Kopf auf den Fußboden schlug. Wrobel habe mit dem Gummischlauch zugehauen; ob auch Brosinsky dabei einen Gummischlauch gehabt habe, wisse er nicht.

Angeklagter Schüler: Karnal sei immer „ein sehr gewandter Schauspieler“ gewesen und könne „sich sehr verstellen“.

Sachverständiger Dr. Seelig: Er habe gegen Karnals Glaubwürdigkeit keine Bedenken. Er habe ihn auch körperlich untersucht und dabei Narben gefunden nicht nur auf dem Gesäß, sondern auch auf der Vorderseite des Oberschenkels. Offenbar habe die Peitsche mit ihrer Spitze so weit herumgereicht.

Staatsanwalt Dr. Reiner: Ich vermute, daß die Peitschen unten geknotet waren.

Breithaupt bestritt das.

Bei dem Fall Winkler handelte es sich um acht Akte der Körperverletzung und eine Freiheitsberaubung, die dadurch begangen sein sollte, daß Winkler im Keller eingesperrt und mit der großen Kette angeschlossen wurde. Breithaupt bezeichnete Winkler als einen sehr aufsässigen und ganz verlogenen Burschen. Schon bei seinem ersten Eintreffen in Mieltschin habe er sich herausfordernd benommen. Als Breithaupt ihn bewillkommnete mit der Frage: „Bist du der Max Winkler, von dem in den Zeitungen stand, daß er wegen Raubmordverdachts verhaftet worden war?“ habe Winkler ihm höhnisch geantwortet: „Jawohl, der bin ich, das kann ich mir leisten.“ Winkler ist tatsächlich mal unter diesem Verdacht festgenommen, aber sofort wieder freigelassen worden, weil sich seine vollständige Schuldlosigkeit ergab. Nach dem Fluchtversuch habe Breithaupt ihn bei der Wiedereinlieferung begrüßt: „Na, da bist du ja!“ Da Winkler unverschämt geantwortet habe: „Na, Mensch, was machst du denn?“ habe er ihm in seiner aufwallenden Erregung einen Stockhieb auf die Schulter geben wollen, der unter das Auge getroffen habe. Daß er bei anderer Gelegenheit Winkler wegen einer Kirsche habe prügeln lassen, bestreite er; da werde es sich wohl um einen anderen Anlaß gehandelt haben. Obst sei für die Zöglinge in Fülle vorhanden gewesen; Winkler sei aber wegen seines Verhaltens von Vergünstigungen ausgeschlossen worden. Nach seiner ersten Flucht sei Winkler im Keller eingesperrt, aber nicht mit der großen Kette geschlossen worden. Diese sei ja erst vom Bezirksamt Wilkowo geliehen worden, nachdem Winkler mit einem Selbstmordversuch gedroht hatte. Es sei unwahr, daß Winkler sechs Tage im Keller bei Wasser und Brot habe aushalten müssen. Es sei auch unwahr, daß er dem Winkler einmal 25 Hiebe auf die Fußsohlen habe geben lassen. Bestraft sei Winkler auch mal worden, weil er nachts die Arrestzelle beschmutzt hatte, damit der Urin durch die bretterne Decke in den darunter befindlichen Schlafraum zweier Aufseher fließen sollte.

Vors.: Wieviel Hiebe waren es?

Angekl.: Ich entsinne mich nicht.

Vors.: Da werden es wohl 50 gewesen sein.

Angekl.: Hm, die werden’s gewesen sein.

Angekl. Wrobel: Ja, der Herr Pastor sagte: „Zählen Sie ihm 50 über die Jacke!“ Das tat ich.

Breithaupt bemerkte noch: Er bestreite, daß er dem Winkler einmal 100 Hiebe habe geben lassen. „Über 50 habe ich nie angeordnet.“

Engels bestritt ebenfalls, daß Winkler hundert Hiebe erhalten habe.

Vors.: Wendland und Riemschneider haben bei dem Untersuchungsrichter angegeben, daß es hundert waren.

Engels: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Es ist Ihnen wohl nicht mehr in Erinnerung, weil Sie sich dabei in die Arbeit geteilt haben. Engels schwieg.

Wendland erklärte, damals habe er im Gefühl des Hasses gegen Breithaupt so gesagt. Mehr als fünfzig seien es allerdings wohl gewesen. Dem Winkler habe man übrigens 200 geben können, ohne daß es etwas ausmachte.

Riemschneider: Ich weiß mit Bestimmtheit, daß es hundert waren; Engels und Wrobel gaben sie. Winkler ler hat im übrigen gern gearbeitet. Dagegen erklärte Wendland, der Winkler länger in seiner Kolonne hatte, letzteren für böswillig. Schüler nannte Winkler verlogen; er besitze außerdem große Verstellungskunst. Auch Brosinsky äußerte sich ungünstig über Winkler.

Sehr eingehend wurde alsdann der Zögling Winkler vernommen. Nach der Flucht sei er bei seiner Wiedereinlieferung schon von Engels gequält worden, der ihm die Handfessel so fest zugedreht habe, daß heute noch eine Narbe zu sehen sei. Er zeigte sie dem Gerichtshof. Dann schilderte er den Empfang, den der Pastor mit seinem Weichselstock den Ausreißern bereitet habe, wobei Winkler die Verletzung unter dem Auge erlitt. Im Arrestkeller habe er 10 Tage gelegen und täglich nur einmal Wasser und Brot erhalten. Der Vorsitzende hielt ihm vor, daß er früher nur von 6 Tagen Kellerarrest gesprochen habe.

Winkler: Er habe noch einige Tage in einer anderen Arrestzelle zugebracht. Im Kartoffelkeller habe man ihm für die Nacht keine Decke gegeben, so daß er fror. Die Hände seien ihm auf dem Rücken gefesselt gewesen, in die Kartoffeln habe er sich so eingewühlt, daß er auf der Seite liegen und den Kopf auf einem Brett betten konnte. In dem anderen Arrest habe man ihm Fußketten angelegt, aber ihm eine Decke und von nun an täglich dreimal Wasser und Brot gegeben. Erst nach Beendigung der Arresthaft sei er geprügelt worden. „Engels stieß,“ sagte er, „die Tür auf und rief: Komm! Ich folgte ihm, der Schemel stand bereit, er kommandierte: Leg dich über!“ Er habe dann 50 Hiebe bekommen, ohne daß seine Bitte um eine Pause beachtet wurde. Ihm sei schwindlig geworden, er habe aber sofort an die Arbeit gehen müssen, die er in Fußketten verrichten mußte. Einmal sei er geschlagen worden, weil er infolge Kostschmälerung hungrig gewesen war und eine Stulle gestohlen hatte. Zunächst habe er gestritten, als aber Riemschneider mahnte: „Sage die Wahrheit, du bekommst keine Schläge,“ habe er eingestanden. Da aber habe Aufseher Lang ihn geohrfeigt und am anderen Tage habe Engels ihm 50 Peitschenhiebe verabreicht, weil er (wie Wrobel ihm sagte) gelogen, d.h. nicht sofort eingestanden habe. Einmal habe er hintereinander 149 Peitschenhiebe erhalten. Er hatte eine heimlich zugesteckte Stulle bei der Arbeit gegessen, da sei Wrobel gekommen: „Ach, schon morgens willst du essen. Na, komm mal rüber nach dem Schloß.“ Im „Schloß“ war Breithaupts Wohnung, und dort gab es nun 75 Hiebe, mit dem Stock, und zwar 25 von Breithaupt selber, mit der Peitsche 25 von Engels und 25 von Wrobel. Beim 74. Hieb zählte er voreilig: „75“. Da wurde von vorn angefangen – und so wurden es 149 Hiebe. (Große Bewegung und halblaute Ausrufe der Entrüstung im Zuhörerraum.)

Die Angeklagten bestritten das.

Vors.: Das ist ja gar nicht denkbar?

Winkler: Doch, Herr Vorsitzender, ich habe hintereinander 149 Hiebe erhalten.

Justizrat Wronker bezweifelte, daß W. nach 149 Hieben sofort habe weiterarbeiten können. Er hielt ihm auch vor, daß er sich gegenüber dem Pastor ungezogen benommen habe, indem er ihn bei seiner Wiedereinlieferung nach einem Fluchtversuch anredete: „Na, Mensch, was machst du denn?“ Als Winkler sich dessen zunächst nicht erinnerte, rief Justizrat Wronker: „Sie stehen vor dem Pastor, dem Verkünder des Wortes Gottes“ – hier unterbrach ihn Lachen der Zuhörer.

Vert.: Ach, ich bitte doch sehr! – und da halten Sie das für angemessen? Aber so etwas vergißt man doch nicht!

Zeuge: Ich will es nicht in Abrede stellen, es kann sein.

Der Vorsitzende richtete nach diesem Zwischenfalle an die Zuhörer mit einer scharfen Rüge die Drohung, den Zuhörerraum räumen zu lassen.

Vors.: In welcher Weise wurden die Hiebe erteilt?

Zeuge: Es wurde von oben herunter mit voller Manneskraft geschlagen. Ich schrie fürchterlich, und flehte um Gnade. Haben Sie doch Erbarmen, Herr Pastor, stor, ich halte es ja vor Schmerzen nicht aus, schrie ich mehrere Male. Der Pastor sagte lächelnd: Wir kennen weder Erbarmen noch Gnade. (Große allgemeine Bewegung.) In der weiteren Vernehmung äußerte Zeuge Winkler sich auch über die Beschmutzung der Arrestzelle. Er bestreite, daß das aus Böswilligkeit geschehen sei. Es habe ihm das Nachtgeschirr gefehlt, aber Prügel habe er doch bekommen.

Angekl. Breithaupt: Mir sagte man, es sei Niederträchtigkeit gewesen.

Winkler: Einmal habe er, weil er furchtbaren Hunger hatte, Kartoffeln, die zum Schweinefutter bestimmt waren, essen wollen. Der Zögling, der das Futter zu besorgen hatte, habe das gemeldet – in Mieltschin mußte jede Ungehörigkeit angezeigt werden –, und wieder habe es Prügel gegeben. Diesmal habe es sogar so weh getan, daß er annehme, es müsse noch etwas in der Peitsche drin gewesen sein. Wegen Lügens habe er einmal 100 Hiebe bekommen. Wendland habe geschlagen und habe schließlich einen Weichselstock genommen, weil „die Peitsche wohl keinen Zug mehr hatte“. Von Engels habe er, weil er beim Kartoffelschälen sich gesetzt hatte, 10 Hiebe über die Fußsohlen bekommen. Sich zu setzen, sei ihm verboten gewesen, auch sprechen habe er nicht dürfen, sonst seien ihm Prügel zudiktiert worden. Er habe gegen 888 Hiebe in Mieltschin erhalten.

Vors.: Sie haben früher 660 Hiebe angegeben.

Winkler: Manche der erlittenen Züchtigungen sind mir erst nachträglich eingefallen.

Auch über großen Gewichtsverlust klagte Winkler. Mit 150 Pfund sei er nach Mieltschin gegangen, schon nach 4 Wochen habe er nur noch 127 Pfund gewogen. Als er nach dieser Feststellung zu Engels gesagt habe: „Dann habe ich also 25 Pfund abgenommen!“ habe letzterer geantwortet: „Das ist besser als eine Entfettungskur.“

Vors.: Es ist schon möglich, daß langdauernde Ernährung nur mit Wasser und Brot zu einer Gewichtsabnahme führt.

Aus den Akten wurde festgestellt, daß W. im Juli 1909 tatsächlich 127 Pfund gewogen habe.

Breithaupt behauptete: Bei dem ganzen Wesen Winklers sei es nötig gewesen, ihn in dem verschlossenen Keller zu verwahren und ihm auch noch eine Kette anzulegen. Tatsächlich sei auch so noch die Entweichung eines Zöglings möglich geworden.

Staatsanwalt Dr. Reiner erklärte: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei wohl nur Arrest und nicht Freiheitsberaubung anzunehmen. Der Vorsitzende ließ, um sich durch den Augenschein zu überzeugen, Winkler durch Engels und Wrobel die große Kette anlegen und ihm Hände und Füße fesseln. Winkler mußte dann die Haltung annehmen, die ihm im Arrestkeller restkeller möglich gewesen ist. Er kauerte sich auf den Boden nieder, der Vorsitzende meinte, es müsse ihm möglich gewesen sein, zu stehen und auch zu liegen. Schließlich wurde noch die Frage aufgeworfen, ob Breithaupt nach Aufdeckung der Mieltschiner Zustände dem ihm unbequemen Winkler, wie dieser behauptet, die Flucht zu erleichtern gesucht habe, um ihn aus der Anstalt loszuwerden. Breithaupt stellte das aufs entschiedenste in Abrede.

Über Winklers Verhalten in Lichtenberg bekundete Lehrer Hentschel, daß er „sogar stets besonders höflich“ gewesen sei. Nur einmal habe er gegenüber Angestellten sich unziemliche Redensarten erlaubt.

Assessor Dr. Simon stellte fest, daß Magistratsrat Voigt den Winkler als den schlechtesten der Mieltschiner und als ganz unglaubwürdig bezeichnet habe;

Auch Inspektor Buth äußerte sich nicht günstig über ihn.

Es wurden alsdann die Fürsorgezöglinge Ehrlich und Karnal vernommen, mit denen Winkler einen Fluchtversuch unternommen hatte. Die Zöglinge bestätigten im allgemeinen die gestrigen Bekundungen Winklers. Als Winkler die 149 Schläge erhalten hatte, seien sie nicht dabei gewesen, Winkler habe es ihnen aber erzählt. Die Züchtigung Winklers habe ungemein lange gedauert. Winkler habe geschrien, daß es im ganzen Dorfe gehört werden mußte. Winkler bemerkte te noch, daß er nach der Züchtigung, in der er 149 Schläge erhielt, in die Zelle auf dem Boden mit geschlossenen Händen gesperrt wurde. Da er geäußert hatte, er werde sich das Leben nehmen, habe Pastor Breithaupt ihn mit dem Ende eines zerbrochenen Stockes – die Stöcke waren sämtlich bei den Züchtigungen entzweigeschlagen worden – auf das Gesicht und über die Hände gehauen, so daß er laut geschrien habe.

Fürsorgezögling Kreilich: Er habe mehrere heftige Züchtigungen des Winkler mit angesehen, zweimal habe er ihn, während er gepeitscht wurde, halten müssen. Ein Zögling habe einmal dem Winkler, weil dieser stets hungerte, – er bekam wochenlang nicht einmal satt Brot zu essen – ein Stück Brot zugesteckt. Deshalb bekam der Brotgeber und auch Winkler 75 Peitschenhiebe. Ein zweites Mal wurde Winkler gezüchtigt, weil er bei der Arbeit gesprochen, ein drittes Mal, weil er beim Kartoffelschälen sich hingesetzt hatte. Bei dieser Gelegenheit sei mit einer neuen Peitsche geschlagen worden. Schwester Olga und die Meister haben dabei zugesehen, wie die neue Peitsche eingeweiht wurde.

Vors.: Angekl. Breithaupt, wie dachten Sie es sich denn, wenn die Jungens bei Versetzung in die Strafkolonne sich weder beim Essen, noch bei der Arbeit, noch nachher setzen durften?

Breithaupt: Auch in den schärfsten Fällen hatten die Zöglinge vielfach Gelegenheit, sich zu setzen, die Anordnung des Nichtsetzens sei getroffen worden, damit die Zöglinge müde wurden und des Nachts nicht auf Fluchtgedanken kommen sollten.

Der Angekl. Wrobel hatte Anzeige über die Züchtigungen erstattet und dabei auch Angaben über das Schlagen auf die Fußsohlen gemacht. Er erklärte heute, daß er in dieser Anzeige übertrieben habe.

Fürsorgezögling Krüger: Der gezüchtigte Zögling Schwarzenberg habe auch heftige Schläge auf die Fußsohlen erhalten. Inspektor Engels habe, als er einmal Winkler schlug, gerufen: „Dich schlage ich so lange, wie ich nur den Arm rühren kann!“ Eine Anzahl anderer Zöglinge bestätigte die Bekundungen Winklers, auch daß Winkler auf Befehl Breithaupts Schläge auf die Fußsohlen erhalten habe.

Kreisarzt Dr. Böhnke (Witkowo): Er habe schon vor den bekannten Veröffentlichungen in der Presse Gelegenheit genommen, mit Breithaupt über Erziehungswesen zu sprechen. Letzterer habe gesagt: „Ohne Prügel geht es nicht!“ Er (Dr. Böhnke) habe darauf erwidert, daß er das Prügeln als Methode verwerfe.

Breithaupt: Wenn er Gelegenheit hätte, wieder Leiter einer Fürsorgeanstalt zu werden, dann würde er wohl ohne das Zuchtmittel der Prügel auskommen.

Kreisarzt Dr. Böhnke bekundete ferner: Breithaupt sei immer sehr selbstbewußt aufgetreten. Als die Vorfälle in der Öffentlichkeit besprochen wurden, sei Breithaupt sehr deprimiert gewesen. Er habe sich aber mit den unfertigen Zuständen in Mieltschin entschuldigt. Breithaupt sei ein Mann von leicht erregbarem Nervensystem. Er habe am 27. Juli 1909 Winkler untersucht und am Gesäß blaue und grüne Striemen, heftige Anschwellungen und noch andere Spuren äußerer Gewalt festgestellt. Bei Beurteilung der Frage, ob die Züchtigung im Sinne des § 223a des StGB., d.h. als eine das Leben und die Gesundheit gefährdende Behandlung anzusehen sei, müsse zunächst festgestellt werden die Zahl und die Wucht der Schläge.

Magistratsrat Dr. Voigt: Winkler habe auf ihn den allerschlechtesten und am wenigsten glaubwürdigen Eindruck gemacht.

Gerichtsarzt Med.-Rat Dr. Hoffmann: Das Einsperren und Anschließen in der Zelle, die Kostbeschränkung waren nicht lebensgefährlich. 30 Hiebe seien auch nicht lebensgefährlich, dagegen seien 50 schon bedenklich; 100 seien zweifellos lebensgefährlich, 149 Schläge wären selbstverständlich im höchsten Grade lebensgefährlich. Er halte aber diese Bekundung für unwahr. Winkler hätte, wenn er wirklich 149 Schläge erhalten, auf keinen Fall arbeiten können.

Dr. med. Bernstein: Winkler sei im höchsten Grade Psychopath und hätte infolgedessen milde behandelt werden müssen. Psychopathen neigen gewöhnlich zu Übertreibungen. Jedenfalls sei Winkler, wie die von ihm vorgenommene Untersuchung ergeben, in unerhörter Weise gezüchtigt worden, die nur vom Standpunkte des § 223a des Strafgesetzbuchs beurteilt werden könne. Er halte 50 Hiebe, ganz besonders, da sie mit voller Manneskraft und der vorliegenden Reitpeitsche verabfolgt wurden, im höchsten Grade für lebensgefährlich.

Alsdann wurde der Fall Piaskowski-Bünger erörtert. Diese beiden Zöglinge haben einmal zwei Eier gestohlen und aufgegessen. Dafür wurden sie zunächst von Pastor Breithaupt mit dem Stock über Kopf und Arme geschlagen und alsdann bekam jeder mit der Reitpeitsche 100 Hiebe.

Vors.: Angekl. Breithaupt, hielten Sie diese Strafe dem doch immerhin nur geringfügigen Verbrechen gegenüber wirklich für angemessen?

Breithaupt: Ich ärgerte mich, daß die Jungens zunächst den Diebstahl in Abrede stellten und außerdem gerade Eier gestohlen hatten, die dem Lehrer Wendler gehörten. Ich stand mit diesem auf Kriegsfuß und sagte sofort: „Das wird eine schöne Geschichte werden.“

Zögling Piaskowski bekundete: Er habe, als er sich das Ei nahm, wirklich nicht gedacht, daß er ein so großes Verbrechen begangen habe. Er habe die 100 Hiebe kaum aushalten können und hatte viele Wochen die heftigsten Schmerzen. Sein Gesäßteil und die Oberschenkel seien viele Monate angeschwollen gewesen. Er habe heute noch Schmerzen, die Narben seien noch zu sehen.

Darauf erschien Zögling Bünger, ein kleiner 17jähriger, sehr schwächlicher Knabe. Dieser bekundete unter Tränen über die ihm zugefügten Züchtigungen. Einige Zeit darauf sei er entlaufen, aber sehr bald wieder zurückgebracht worden. Da habe ihn Pastor Breithaupt mit einem dicken Stock über Kopf und Hand geschlagen und verfügt, daß er 200 Hiebe erhalten solle. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Er habe darauf 75 Hiebe erhalten. Auf sein flehentliches Bitten, daß er es doch nicht länger aushalten könne, sei er darauf in die Zelle gesperrt und derartig angeschlossen worden, daß er weder stehen noch liegen konnte. So habe er zwei Nächte bei Wasser und Brot zubringen müssen. Dann habe man ihn wiederum heruntergeholt und ihm nochmals 75 Hiebe versetzt. Die übrigen, so habe Inspektor Engels gesagt, sollen ihm geschenkt werden. Er sei alsdann in die Strafkolonne gekommen und mußte stets mit einer Fußkette gehen. Da er sich einmal beim Kartoffelschälen hinsetzte, habe er wiederum 50 Hiebe bekommen.

Darauf wurde Lehrer Wendler vernommen: Breithaupt habe ihn einmal eingeladen, einer Züchtigung beizuwohnen. Breithaupt sagte: Früher habe er zwecks abschreckenden Beispiels die Zöglinge zusehen lassen. Dies tue er aber nicht mehr, es genüge, wenn die Zöglinge das Schreien hören. Nach Beendigung der Züchtigung, der er (W.) beigewohnt, sagte er zu Breithaupt: Das ist doch aber eine furchtbare Gemütsroheit. Da habe Pastor Breithaupt gesagt: „Wenn Sie dies erst mehrfach gesehen haben, dann läßt Sie das kalt, man gewöhnt sich daran.“ Er (Zeuge) habe schon damals die Vorgänge der Behörde anzeigen wollen.

Fürsorgezögling Ehrlich bekundete noch: Als sie nach ihrer Flucht bei ihrer Wiedereinlieferung in Mieltschin ankamen, habe sie Pastor Breithaupt auf dem Bahnhof in Empfang genommen. Breithaupt habe sofort mit einem Spazierstock auf sie eingehauen, besonders auf Winkler, obwohl sich Winkler bei dieser Gelegenheit keineswegs frech benommen habe. Winkler habe einmal, weil er beim Kartoffelschälen sich gesetzt hatte, von Engels über 50 Hiebe mit der Klopfpeitsche erhalten, die damals noch länger gewesen sei.

Zögling Karnal machte über den Empfang nach der Wiederergreifung dieselben Bekundungen. Winkler habe gelacht, als er den Pastor kommen sah, aber keine freche Äußerung getan, und dennoch habe der Pastor auf ihn eingehauen. Im Arrest sah er den Winkler, wie er mit der großen Kette angeschlossen war. W. habe weder sich setzen noch sich legen können.

Verteidiger Rechtsanwalt Hirschfeld: Fanden Sie es nicht in Mieltschin immer noch besser, als in Ihrem jetzigen Aufenthalt?

Zeuge: Ja, besser war’s da, bis auf die Prügel. Ich bin jetzt in der Anstalt Ricklingen. Da kriegen sie auch Keile, aber nur, wenn sie nicht arbeiten wollen.

Der Zögling Pekel hatte gesehen, daß Winkler noch bei seiner Entlassung aus dem Arrest ein blaues Auge hatte. Bei einer Bestrafung habe Winkler um Innehalten gebeten, Breithaupt aber habe gesagt: „Ach was, immer weiter!“

Vors.: Aus den Schlägen machte Winkler sich wohl nicht viel?

Zeuge: Er biß die Zähne zusammen und krümmte sich dann immer noch ein bißchen.

Pekel bemerkte noch In Mieltschin sei es „sonst ganz gut“ gewesen, bis auf die Schläge. Er selber sei als erster geschlagen worden; die gebrauchte Peitsche wurde nach ihm „Pekel“ genannt.

Winkler schilderte noch eine Züchtigung, die im Arrest an ihm vollzogen wurde, während ihm die Hände gefesselt waren. Der Pastor habe mit einem Stock ihn ins Gesicht und über die Hände geschlagen, so daß er laut aufschrie.

Breithaupt erklärte das für unwahr.

Zögling Keilich: Auch er sei gezüchtigt worden, einmal mit 25 Peitschenhieben wegen Sprechens bei der Arbeit, und dann: „Man mußte das immer mit ansehen!“ Als Winkler mit einer neuen, vom Aufseher Lostander gefertigten Peitsche gezüchtigt wurde, kamen Pastor Breithaupt und Schwester Olga und „sahen sich das an.“

Vors.: Da wurde wohl die neue Peitsche eingeweiht?

Zeuge: Ja. Es war eine zusammengeflochtene Klopfpeitsche. Winkler schrie.

Angeklagter Schüler: Sie sagten mir mal, in Mieltschin gefalle es Ihnen schon deshalb besser, weil hier die Beamten mehr Autorität hätten, in Lichtenberg aber seien die Aufseher eigentlich gar keine Aufseher.

Zeuge: Das bestreite ich.

Staatsanwalt Dr. Reiner: Die Frage nach den Schlägen auf die Fußsohlen sei ihm besonders wichtig.

Keilich hat solche im Fall Winkler nicht beobachtet.

Wrobel sagte: Wenn so etwas vorgekommen ist, so ist es „gewissermaßen nur wegen Strampelns“ geschehen.

Vors.: Gewissermaßen nur wegen Strampelns? Soll das heißen, daß Sie dachten: Nun, wenn er es nicht anders haben will, dann kriegt er es auf die Fußsohlen?

Wrobel: Jawohl.

Wrobel hatte im Oktober 1909 Anzeige gegen Breithaupt eingereicht und darin auch von Schlägen auf die Fußsohlen gesprochen. Im Dezember hatte er vor dem Untersuchungsrichter erklärt, das habe er nur im Ärger angegeben.

Zögling Krüger bekundete, daß mehrfach auf die Fußsohlen geschlagen worden sei. Das habe nicht nur Winkler, sondern auch Schwarzenberg erdulden müssen. Schwarzenberg habe nicht die Füße gehoben, dennoch habe der Pastor befohlen: „Nun auf die Fußsohlen!“ Winkler sei einmal in der Scheune gepeitscht worden, wobei er sich über die Krippe legen mußte. Auch ihn selber habe der Pastor wegen unbegründeten Fluchtverdachts schlagen lassen, und zwar durch Brosinsky.

Letzterer bestritt das und hob hervor, daß er hier von Anfang an erklärt habe, nie geschlagen zu haben.

Vors.: Dieser Fall steht gar nicht zur Anklage. Für Sie handelt es sich wohl nur um Ihre Ehre?

Brosinsky: Jawohl.

Daß auch Winkler einmal Schläge auf die Fußsohlen bekam, bestätigte Zögling Mertens. Er hatte den Eindruck, daß Winkler, wenn er etwa die Füße hob, dies nur deshalb tat, weil die Schläge auf das Gesäß ihn sehr schmerzten.

Zögling Vollbrecht sah, daß Winkler wegen verbotenen Sprechens mehr als 30 Peitschenhiebe auf die Fußsohlen bekam.

Zögling Schwarzenberg: Er habe derartiges nicht bemerkt. Winkler sei aber wegen jeder Kleinigkeit geschlagen worden, z.B. einmal wegen eines Stückes Brot.

Vors.: Wie wirkte das auf ihn?

Zeuge: Er hat schön gebettelt.

Fürsorgezögling Eggert: Als die Untersuchungskommission angekündigt war, habe ihn Pastor Breithaupt ersucht, den anderen Fürsorgezöglingen zu sagen: wenn sie von der Kommission gefragt werden, sollen sie angeben, sie wissen nicht mehr, wieviel Schläge sie erhalten haben; es können höchstens 25-30 gewesen sein. Der Pastor habe ihm ferner anempfohlen, zu tun, als ob er dies den Zöglingen aus sich selbst heraus und nicht im Auftrage des Pastors sage. Alsdann sei bei ihm alle Hochachtung für den Pastor verschwunden gewesen, vorher habe er viel von ihm gehalten. Der Pastor habe einmal geschrieben: „Sollen Dich die Dohlen nicht umschreien, mußt Du nicht Knopf am Kirchturm sein.“ Er habe daraus entnommen, daß der Pastor glaube, recht zu handeln.

Pastor Breithaupt bestritt die Bekundungen des Zeugen, die Erziehungsbeamten der Anstalt Lichtenberg bezeichneten den Zeugen als nicht glaubwürdig.

Es gelangte darauf der Fall des Fürsorgezöglings Preußer zur Erörterung. Dieser hatte eines Tages in Mieltschin zu dem Fürsorgezögling Auders geäußert: wenn sie am folgenden Tage reine Hosen erhalten, wollen sie ausrücken. Breithaupt hatte davon Kenntnis erhalten, er hatte deshalb den Befehl gegeben, Preußer mit 100 Schlägen zu züchtigen. Engels, Wrobel und Wendlandt vollzogen diesen Befehl, wobei Bünger und Piaskowski den Preußer halten mußten. Als letzterer den ersten Schlag erhielt, sprang er auf und erklärte: er dürfe nicht weiter geschlagen werden, da er einen Bruch habe. Preußer wurde mit Gewalt wieder über den Schemel gelegt und weiter geschlagen. Er fiel schließlich zur Erde, er wurde wieder aufgehoben, über den Schemel gelegt und alsdann nochmals von Engels und Wendlandt mit Reitpeitschen abwechselnd geschlagen. Wrobel schlug den Zögling, sobald er strampelte, mit einem Gummiknüppel auf die Waden und Fußsohlen. Alsdann wurde Preußer in den im Speicher befindlichen Arrestraum mit der schweren Kette an dem Ring an der Wand angeschlossen, so daß er sich in der Zelle nicht auf den Boden legen konnte. Er habe alsdann auch beim Arbeiten, außer der leichten Fußkette, noch einige Zeit die schwere Kette tragen müssen. Er habe im Arrest drei Tage gefesselt, bei Wasser und Brot zubringen müssen. Der Zeuge zeigte dem Gerichtshof die Verletzungen an den Knöcheln des Fußes, die er durch die Fesselung erhalten habe. Er habe 200 Hiebe erhalten und furchtbare Schmerzen ausgestanden. Er empfinde jetzt noch Schmerzen.

Breithaupt: 200 Hiebe habe der Zeuge nicht erhalten. Preußer sei ein sehr gefährlicher Bursche gewesen, der auch des wiederholten Diebstahls verdächtig war.

Wrobel bestritt, daß er Preußer mit dem Gummiknüppel geschlagen habe.

Staatsanwaltschaftsassessor Dr. Simon: War Ihnen nicht bekannt, daß Preußer im März 1909 in Lichtenberg einen Oberschenkelbruch erlitten hatte?

Breithaupt: Nein.

Es wurde darauf eine Anzahl Fürsorgezöglinge vernommen, die die Angaben des Preußer bestätigten.

Es folgte der Fall des Fürsorgezöglings Wulf. Dieser war bereits seinem Meister und verschiedenen anderen Erziehungsanstalten entlaufen. Nachdem er wegen schweren Diebstahls mit sechs Monaten Gefängnis bestraft worden war, wurde er Mitte Mai 1909 nach Mieltschin gebracht. Schon nach zwei Tagen entlief er mit dem Zögling Bein. Als er wieder zurückgebracht wurde, erhielt er auf Befehl Breithaupts haupts von Engels eine sehr große Anzahl Hiebe. Bein kam mit wenigen Schlägen davon. Nach der Exekution wurden beiden Zöglingen die Hände auf dem Rücken und die Füße gefesselt. Alsdann wurden beide in dunkle Arrestzellen gesperrt. Nach Beendigung des Arrestes wurde Wulf wiederum über den Schemel gelegt und erhielt 80 Peitschenhiebe, weil ein Stück Meißel bei ihm gefunden wurde, das er augenscheinlich zum Sprengen seiner Fessel verwenden wollte. Später erhielt Wulf nochmals 50 Peitschenhiebe, weil er sich beim Kartoffelschälen gesetzt hatte.

Hierauf wurde der Fürsorgezögling Bein als Zeuge aufgerufen. Er erklärte: Ich kann nicht schwören, denn ich soll doch bei Gott schwören. Infolge der schrecklichen Behandlung, die ich von einem Pastor erlitten, kann ich aber nicht mehr an Gott glauben. (Große Bewegung.)

Vors.: Sie sind verpflichtet, auch wenn Sie nicht an Gott glauben, den vorgeschriebenen Eid nachzusprechen und daran zu denken, daß es eine niederträchtige Gemeinheit wäre, wenn Sie vor Gericht die Unwahrheit sagten. Bein wurde hierauf vereidigt. Er bekundete alsdann: Als er mit Wulf geflohen war und wieder zurückgebracht wurde, habe Pastor Breithaupt angeordnet, daß eine Waschleine herbeigeholt werde. Er habe darauf versetzt: „Herr Pastor, wenn wir gezüchtigt werden sollen, dann brauche ich nicht gefesselt zu werden, ich werde mich auch ohne Fessel schlagen lassen, denn ich weiß, daß ich die Züchtigung verdient habe.“ Der Pastor habe darauf erwidert: „Ich will euch nur fesseln und ein paar Tage fasten lassen, damit euch die Lust vergeht, wiederum zu entlaufen.“ Nachdem sie gefesselt waren, habe Inspektor Engels gefragt, ob die Strafen sofort vollzogen werden sollten. Der Pastor bejahte. Er erhielt auf Fürsprache von Engels etwa 30 Hiebe. Wulf dagegen 120 Hiebe. Er wurde alsdann gefesselt in die Arrestzelle gesteckt und bekam an diesem Tage überhaupt nichts mehr zu essen. Vor Müdigkeit sei er mehrmals vom Schemel heruntergefallen. Am folgenden Tage habe ihm ein Zögling eine trockene Stulle und einen Topf Wasser in die Zelle gebracht. Der Zögling mußte ihm das Brot stückweise in den Mund stecken, da seine Hände gefesselt waren. Nach einiger Zeit habe er wiederum einen Fluchtversuch unternommen, der ihm geglückt sei. Er habe seiner Mutter in Berlin die Spuren der Fesselung gezeigt.

Die Mutter dieses Zöglings bestätigte die Bekundungen ihres Sohnes: Sie habe eines Tages ihren Sohn auf der Straße getroffen. Sie sei ganz entsetzt stehengeblieben und habe geglaubt, einen Geist vor sich zu sehen.

Fürsorgezögling Wulf bekundete: Als er von seinem Fluchtversuch zurückgebracht wurde, habe ihm Pastor Breithaupt zunächst mit seinem Spazierstock auf den Kopf geschlagen, so daß er zu Boden gefallen sei. Alsdann habe er einige Faustschläge erhalten und sei darauf über den Schemel gelegt worden. Er habe mindestens 120 Hiebe bekommen.

Hierauf wurde ein ehemaliger Fürsorgezögling vernommen, der derartig stotterte, daß seine Vernehmung große Schwierigkeiten bereitete. Der Zeuge bekundete: Er sei einmal von Engels gezüchtigt worden, weil er infolge seines Sprachfehlers ein Wort nicht herausbekommen konnte. Engels habe ihn so lange geohrfeigt, bis er das Wort heraus hatte.

Dr. med. Bernstein und Dr. med. Steinbrück bezeichneten die Züchtigungen bei beiden Zöglingen als lebensgefährlich.

Med.-Rat Dr. Hoffmann: Er sei der Ansicht, daß wohl bei Wulf, aber nicht bei Bein eine lebensgefährdende Verletzung vorliege.

Der Zögling Mauthe wurde auf Befehl Breithaupts eines Tages heftig mit Gummiknüppeln geschlagen, an einen Baum gebunden und an den Füßen gefesselt. Auf Flehen des Zöglings lockerte Wrobel die Fesseln, der Junge fiel darauf in Ohnmacht. Breithaupt sagte: „Hund verfluchter, du willst dich wohl verstellen!“ und goß dem Jungen einen Kübel kalten Wassers über den Kopf. Der Knabe wurde von neuem gefesselt. Nach einigen Stunden wurde er in erschöpftem tem Zustande nach der Station gebracht, um ausgepeitscht zu werden. Breithaupt hatte 200 Peitschenhiebe angeordnet. Engels, Wrobel und Wendlandt schlugen darauf los. Sie gaben an: Der Knabe werde wohl 90 bis 100 Schläge erhalten haben, gezählt sei nicht worden. Der Befehl Breithaupts sei nicht vollständig ausgeführt worden, da sie befürchteten, der Knabe werde ihnen unter den Händen bleiben. Mauthe wurde alsdann gefesselt, in die Arrestzelle gesperrt und dort mehrere Tage bei Wasser und Brot gefangen gehalten. Die Angeklagten gaben diese Züchtigungen im allgemeinen zu. Mauthe sei wohl ein sehr williger Junge gewesen, er soll aber die Äußerung getan haben, er werde dem Nachtwächter den Revolver stehlen, alsdann ausreißen, und wenn er verfolgt werde, auf die Verfolger schießen.

Angekl. Riemschneider: Er habe sich an der Mißhandlung des Mauthe nicht beteiligt, da dieser ein sehr sympathischer Junge war, der Reveille und Retraite geblasen habe. Wenn er selbst den Revolver genommen hätte, so konnte er damit nicht schießen, da er (Riemschneider) die Patronen eingeschlossen hatte.

Engels: Mauthe hatte tatsächlich keinen Revolver genommen, das sei ihm aber nicht bekannt gewesen, als sie daran gingen, ihn zu überwältigen.

Vors.: Hatten Sie wirklich alle vor dem Jungen Angst? Es scheint mir bald, als ob fortgesetzt auf den Knaben eingeschlagen worden sei?

Engels: Wir waren so aufgeregt, da wußte überhaupt keiner mehr, was er getan hat.

Engels und Breithaupt bestritten, daß Mauthe, nachdem er angebunden, über einen Schemel gelegt und aufs neue geschlagen worden ist.

Wrobel: Das ist aber wahr.

Vors.: Dann ist also doch richtig, was die Jungen gesagt haben! Wer schlug?

Wrobel: Der erste war, wie immer, Engels – und der zweite war ich.

Vors.: Wieviel gab’s auf dem Schemel? 50?

Wrobel: Es können 50 gewesen sein, es können vielleicht noch mehr gewesen sein.

Vors.: Wieviel bekam Mauthe im ganzen?

Wrobel: Vielleicht 120.

Vors.: Wieviel hatte Breithaupt angeordnet?

Wrobel: Angeordnet wohl nichts.

Vors.: 200?

Wrobel: Es kann möglich sein, aber in dem Tumult habe ich nichts gehört.

Vors.: Blutete Mauthe im Gesicht, als er abgeführt wurde?

Wrobel: Er hatte Schrammen an der Stirn.

Auf die Frage, ob Mauthe dann mit der großen Kette gefesselt und in den Keller gesperrt worden sei, antwortete Wrobel: Nicht eigentlich in den großen Keller, sondern in das Loch.

Vors: Also Loch nennen Sie das jetzt?

Wrobel: Ich meine den fensterlosen Kellerteil, der als Arrest gedient hatte.

Wendlandt hatte die Exekution am Baum nur vom Fenster aus beobachtet und sich erst später an der Exekution auf dem Schemel beteiligt. Er sagte: Die ganze Sache am Baum war eigentlich nur ein Vorspiel. Nachher schlugen Engels, Wrobel und ich, jeder gab 25-30 Schläge.

Vors.: Das wären also noch bis 90.

Wendlandt: Gezählt wurde nicht. Der Pastor sagte: „Hören Sie auf!“ Der Betreffende hörte dann auf, gab die Peitsche dem nächsten, und der schlug weiter. Er hatte vom Fenster aus gehört wie Breithaupt sagte: „Es ist ganz egal, und wenn es 200 sind.“ Es war gar keine richtige Strafe meiner Ansicht nach.

Vors.: Nein, es war noch schlimmer. Der Junge war angebunden und wurde geschlagen von vorn und von hinten. Bei einer richtigen Strafe macht man das nicht; insofern kann ich Ihnen nur beistimmen.

Riemschneider, der an diesen Mißhandlungen nicht beteiligt war, sagte: Er sei durch sie überaus schmerzlich berührt worden, das sei das Schlimmste gewesen, was er dort gesehen habe. Es sei auf Mauthe eingeschlagen worden, daß das Blut runterlief. Sein (Riemschneiders) Revolver habe sich unberührt in seinem Zimmer vorgefunden, geladen sei er nicht gewesen, und an die unter Verschluß gehaltenen Patronen habe Mauthe nicht herangekonnt.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Assessor Dr. Simon stellte fest, daß Wrobel im Herbst 1909 in seiner gegen Breithaupt erstatteten Anzeige mitgeteilt habe: Breithaupt habe bei Mauthes Züchtigung geschrien: „Mag er krepieren wie ein Hund!“

Wrobel: Ich war damals in Aufregung, ich möchte das jetzt vollständig zurücknehmen.

Auch Riemschneider hat von einer ähnlich rohen Äußerung erzählt. Vor dem Untersuchungsrichter hat er bekundet: „Du verfluchter Hund, du willst dich wohl verstellen?“

Riemschneider: Was ich damals gesagt habe, ist wahr, ich halte das mit vollster Entschiedenheit aufrecht.

Der ehemalige Fürsorgezögling Mauthe, der einen sehr guten, intelligenten Eindruck machte, bekundete darauf als Zeuge: Als er an den Baum gebunden werden sollte, habe der Pastor sofort auf ihn losgeschlagen; ein Schlag traf das Gesicht, so daß es blutete. Als eine Zeitlang auf ihn geprügelt worden war, habe Schwester Olga gesagt, man solle ihn doch nach der anderen Körperseite umwenden. Das sei auch geschehen, und nun habe er die Schläge auf den Rücken erhalten. Der Pastor habe dabei zu den Aufsehern gesagt: sagt: „Schlagen Sie so lange wie Sie können.“ Da habe er Schläge auf den Kopf, auf die Füße und auf das Gesäß erhalten. Es schlugen drei oder vier Mann mit Peitschen oder Gummiknüppeln zu gleicher Zeit auf ihn los. Als er am Baume niedergesunken war, habe ihm der Pastor kaltes Wasser über den Kopf gegossen und alsdann über den Schemel gelegt. Darauf habe Engels einen Fuß auf seine Brust gesetzt und auf ihn losgeschlagen. Engels habe in größter Wut gerufen: „Den Hund schieße ich nieder!“ Als er über dem Schemel lag, habe er Peitschenhiebe und Schläge auf die Fußsohlen erhalten. Alle Einzelheiten könne er nicht mehr angeben, denn er sei schließlich nicht mehr richtig bei Verstand gewesen. Er wurde alsdann krumm geschlossen und in einen dunklen Keller gesperrt. Eine ganze Woche habe er des Nachts keine Decke gehabt und nur Wasser und Brot erhalten. Alsdann sei er in die Strafkolonne gekommen und habe 4 Wochen und zwei Tage nur Wasser und Brot erhalten. Infolge des Durchscheuerns mit der schmalen Kette habe er kranke Füße bekommen. Auf seinem Schienbein habe sich ein Schorf gebildet.

Angekl. Breithaupt: Der Zeuge übertreibt. Der Zeuge ist ein ganz durchtriebener Mensch, der gut zu schauspielern versteht.

Angekl. Wrobel: Die Darstellung des Zeugen ist im allgemeinen richtig. Eine Anzahl Zöglinge, die hierauf auf vernommen wurden, bestätigten die Aussagen in jeder Beziehung.

Erziehungsinspektor Buth aus Lichtenberg bekundete: Mauthe sei aus der Lehrstelle weggelaufen und ebenso vom Rieselfeld bei Falkenberg. Er habe sich einige Zeit verborgen gehalten und sei alsdann nach Lichtenberg zurückgebracht worden. Er sei ein intelligenter Mensch, anständig und wurde zu Dienstleistungen verwandt. Er verübte aber sehr bald bei einem Aufseher einen Einbruch und entwendete diesem seinen Revolver und ein Sparkassenbuch über 1800 Mark. Außerdem schrieb er sich einen Passierschein und fälschte seine (des B.) Unterschrift. Damit kam er unbehindert bei dem Pförtner vorbei. Da das Sparbuch gesperrt war, schickte er es zurück. Nach kurzer Zeit kam er selbst wieder nach Lichtenberg. Er legte sich eine Schlinge um den Hals, und da dies als Manöver festgestellt wurde, erhielt er eine Züchtigung. Nach Mieltschin wurde er unter der Voraussetzung geschickt, daß er dort von einem vorgebildeten Pädagogen in Empfang genommen werden würde. Von Mieltschin ist er nach Warsow gebracht worden. Von dort lief er weg. Er fragte eines Tages telephonisch bei ihm an, ob er ihn nicht wieder aufnehmen wolle. Er kam nach Lichtenberg zurück und trat nun noch unverschämter auf.

Lehrer Hentschel gab dem Mauthe ein bedeutend besseres Zeugnis. M. sei entlaufen, weil er gern in eine Musikerlehrstelle wollte. Als er weggelaufen war, fand man bei ihm einen Brief an einen anderen Zögling, der den Verdacht der Perversität erregen mußte, denn er floß von Liebesbeteuerungen über.

Fürsorgezögling Lessinski: Er habe die Züchtigung des M. nicht mit ansehen können, es sei ihm schwarz vor den Augen geworden.

Wirtschaftsbeamter Bartsch bekundete: Er habe die Züchtigungen, die dem M. am Baum zuteil wurden, nicht mit ansehen können. Als M. infolge der Schläge ohnmächtig zusammengesunken war, wurde ihm ein Eimer Wasser über den Kopf gegossen und alsdann weitergehauen.

Fürsorgezögling Ruppert, dessen Vater sich als Nebenkläger angeschlossen hatte und vom R.-A. Dr. Kurt Rosenfeld vertreten wurde, wurde einmal im Besitz zweier Hosen gefunden. Er wurde deshalb als fluchtverdächtig angesehen. Breithaupt schlug ihn mit einem Stock auf Kopf und Rücken und befahl, ihm sämtliche Knöpfe von den Hosen abzuschneiden. Eines Abends war der Knabe verschwunden, er wurde des Nachts auf dem Boden des Beamtenhauses versteckt vorgefunden. Er wurde beschuldigt, einem Maurer ein Messer gestohlen zu haben. Breithaupt versetzte ihm deshalb 25 Peitschenhiebe auf das Gesäß und forderte ihn auf, den Maurer um Entschuldigung digung zu bitten. Er beteuerte jedoch, daß er das Messer nicht gestohlen habe, deshalb erhielt er nochmals 10 Hiebe. Alsdann erhielt er von Engels 50 Hiebe.

Angekl. Engels gab zu, daß er dem Jungen schon am Abend vorher 25 bis 30 Hiebe versetzt habe.

Auf Vorhalten des Nebenklägers R.-A. Dr. Rosenfeld gab Breithaupt zu, daß die Mutter des Ruppert ihm mitgeteilt habe, ihr Sohn sei schwächlich und geistesschwach.

Erziehungsinspektor Buth: Ruppert sei der Jüngste der Zöglinge gewesen, die nach Mieltschin übergeführt wurden. Er habe einen ruhigen und stillen Eindruck gemacht.

Lehrer Hentschel.: Ruppert war von sehr geringer Intelligenz, so daß es zweifelhaft erscheine, ob er das volle Verständnis von der Bedeutung des Eides habe. Gegen die Glaubwürdigkeit Rupperts seien jedoch niemals Bedenken aufgetaucht.

Der Vater des Ruppert bestätigte auf Befragen, daß sein Sohn etwas geistesschwach sei. Er sei in die Hände von Verführern geraten, deshalb habe er ihn der Fürsorgeerziehung überwiesen. Als sein Sohn plötzlich aus Mieltschin nach Hause kam, habe er ausgesehen wie ein geschundener Raubritter. Er sei vollständig abgerissen und zerschlagen gewesen, in einzelne Wunden habe man einen Finger hineinlegen können. Die Striemen und Wunden seien am Gesäß, an der Brust und an den Füßen gewesen. Es sah alles braun und blau aus. Der Junge erklärte: Er sei ausgerückt, weil er in Mieltschin halbtot geschlagen wurde, er gehe unter keinen Umständen wieder zurück, lieber nehme er sich das Leben. Er sei jetzt Arbeitsbursche in einer elektrischen Fabrik und sei sehr ordentlich. In der ersten Zeit nach seiner Rückkehr war er Straßenfeger; er litt offenbar an Verfolgungswahnsinn, denn er fing oftmals ohne jede Veranlassung an, laut zu schreien und sah überall Pastor Breithaupt.

Frau Ruppert bestätigte die Bekundungen ihres Gatten.

Es wurde darauf der 16jährige Ruppert in den Saal gerufen. Er war ein kleiner, sehr schwächlicher Mensch, der jedoch einen anständigen Eindruck machte. Er erzählte, oftmals vom Weinen unterbrochen: Sofort als er nach Mieltschin kam, wurde er schon auf dem Bahnhof von Breithaupt mit argen Scheltworten empfangen. Es sei in Mieltschin im allgemeinen nicht schlecht gewesen, aber vor Prügel habe er es nicht ausgehalten. Er habe schon am ersten Tage der Züchtigung eines anderen Zöglings beiwohnen müssen und habe dabei laut geweint. Er konnte das nicht mit ansehen. Da habe der Pastor gesagt: „Hund, wenn du nicht still bist, dann bekommst du auch 50 Hiebe.“ Er habe stets zwei Paar Hosen getragen und hatte keineswegs die Absicht, zu entlaufen. Er habe auch das Messer dem Maurer nicht genommen. Er sei jedoch so viel geschlagen, angekettet und in den dunklen Keller gesperrt worden und habe nur Wasser und Brot bekommen, daß er schließlich fälschlich zugab, das Messer gestohlen zu haben. Es gelang ihm schließlich, sich aus dem Keller zu befreien und mit den Ketten zu entlaufen. Er habe sich zunächst ins Korn gelegt und dort sich von den Fesseln befreit. Alsdann habe er sich bettelnd bis Berlin durchgeschlagen. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Er sei unterwegs von der Polizei aufgegriffen worden, und als er dieser sagte, daß er vom Bau komme, habe ihm die Polizei Fahrgeld nach Berlin gegeben. Eine Anzahl Fürsorgezöglinge bestätigten die Bekundungen des Ruppert. Vernommen wurde dann Dr. med Dönitz, der in der Königlichen Poliklinik Ruppert zuerst am 7. Juni untersucht hatte. Gefunden hatte er damals alte Wunden in der Gesäßgegend, Striemen auf dem Rücken und Hautabschürfungen an den Armen, grüne Flecke an den Schenkeln usw. Beide Gesäßbacken seien ganz hart geschwollen gewesen. Lebensgefährlich sei die Züchtigung nicht gewesen, aber außerordentlich schwer und roh. Dr. Bernstein, der Ruppert noch an demselben Tage untersuchte, nachdem der Junge auch ihm zugeführt worden war, war entsetzt über seinen Zustand. Er schilderte den Befund ähnlich und hob hervor, daß er sofort am nächsten Tage der Waisendeputation Mitteilung machte. Medizinalrat Dr. Hoffmann hielt in den Fällen Ruppert und Mauthe die Schläge wegen ihrer großen Zahl für geeignet, das Leben zu gefährden. Besonders unter Peitschenhieben platze leicht die Haut, das habe er in Zuchthäusern gesehen.

Es folgte noch ein Gutachten des Barons von Lepel, der als Sachverständiger für Pädagogik zugezogen worden war, weil er im Fürsorgewesen der Bodelschwinghschen Anstalt Bethel tätig war. Er bekundete, daß es dort nicht erlaubt sei, über 10 Hiebe zu geben, und auch das tue man nur im äußersten Notfall. Dem Pastor Breithaupt habe jede Qualifikation für seinen Posten gefehlt, da er die Fürsorgeerziehung nie kennengelernt habe. Aus einer gewissen Forsche heraus habe er sich dazu befähigt geglaubt, aber es gehöre dazu nicht nur Entschiedenheit, sondern auch Besonnenheit. Engels habe in Bethel sich als im allgemeinen tüchtig, aber wankelmütig gezeigt, darum habe man ihn nicht behalten, sondern nach Hoffnungsthal gehen lassen. Auch die übrigen Aufseher in Mieltschin seien ganz ungeeignet gewesen. Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld stellte durch Befragung des Sachverständigen noch fest, daß letzterer nur in einem oder zwei Fällen eine körperliche Züchtigung für zulässig gehalten hätte, daß er dieses Drauflosschlagen mit der Peitsche überhaupt verwerfe und es für besonders unrecht recht halte, die Jungen selber zählen zu lassen.

Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld: Und wie denken Sie darüber, daß, wenn sie sich verzählt hatten, von vorn angefangen wurde?

Sachverständiger von Lepel (den Kopf schüttelnd): Dafür habe ich keine Worte!

Am vorletzten Verhandlungstage nahm das Wort Staatsanwalt Dr. Reiner: Um das Verhalten der Angeklagten richtig beurteilen zu können, muß man nach Mieltschin selber blicken. In der erst entstehenden Anstalt war alles noch unfertig, es fehlte noch eine Arrestzelle, ebenso eine Badeeinrichtung, eine Bibliothek, auch eine Instruktion hatte man noch nicht. Leiter wurde Pastor Breithaupt, dem man übrigens den Titel „Pastor“ zu Unrecht gibt, da er nie ordiniert worden ist. Er selber suchte sich seine Gehilfen, und er machte es wie der König im Evangelium, der die Gäste von der Straße lud, gute und schlechte. Was Breithaupt fand, waren vielleicht Männer von gutem Willen, aber keine Erzieher. Schiffbrüchige waren darunter, Leute, die durch Trunk oder Straftaten nach Hoffnungsthal geraten waren und von da als Erzieher für Mieltschin geworben wurden. An ihre Spitze trat Breithaupt, von den Unfähigen der Unfähigste, ein Mann, der keinerlei Vorbildung für sein schweres Amt mitbrachte, weil er nie im Fürsorgeerziehungswesen ausgebildet worden war. Auch seiner ganzen Persönlichkeit nach war er ungeeignet. Zu solchem Beruf gehört viel Geduld und gar keine Nerven. Bei Breithaupt aber war es umgekehrt, er hatte gar keine Geduld und viel Nerven. Er ließ sich von seinem Temperament hinreißen, und so sind die Mißhandlungen zu erklären. Er beging sie im Jähzorn und in Wut. Dem ganzen Fürsorgewesen hat er unersetzlichen Schaden zugefügt, denn die Vorgänge in Mieltschin sind unverdient auf alle anderen Fürsorgeerziehungsanstalten zurückgefallen. Unverdient haben auch die Anstalten Bodelschwinghs sich Breithaupt und Engels an die Rockschöße hängen lassen müssen. Beide hatten mit Bodelschwinghs Anstalten nicht das geringste zu tun, denn sie waren längst aus ihnen entlassen, als sie nach Mieltschin gingen. Breithaupt wurde entlassen wegen eines nicht ganz aufgeklärten Vorkommnisses, und Engels schied aus, weil ihm die Freudigkeit zu seinem Berufe fehlte. So waren die Zustände in Mieltschin und die leitenden Personen, als die ersten Lichtenberger schweren Jungen kamen. Die Anstalt Lichtenberg beherbergt die üppigsten Pflanzen aus dem Sumpf der Großstadt. Wenn auch nicht gerade die schlimmsten für Mieltschin ausgesucht wurden, so wurde doch bei der Auswahl sehr wenig sorgfältig verfahren. Böse, böse Burschen waren darunter, Burschen, die als Päderasten und Erpresser bestraft worden waren, Zuhälterei versucht hatten, sich der Bedrohung, der Störung des Gottesdienstes schuldig gemacht hatten – und dann die große Masse schwerer und schwerster Vergehen gegen das Eigentum. Wenn solche Jungen im Alter von 18 bis 20 Jahren noch erziehbar sind, was fraglich erscheint, so sind pädagogische Genies dazu nötig, während in Mieltschin ganz unfähige Dilettanten als „Erzieher“ tätig waren. Pastor Breithaupt hatte gewiß den besten Willen und fühlte sich in Mieltschin als Knopf auf dem Kirchturm, aber im Kampf mit den Jungen unterlag er. Seine einzigen Kampfesmittel waren Hunger, Fesseln, Peitschen. Auch an friedlichen Bildern fehlte es nicht: er ging vielfach gut mit den Jungen um und brachte ihnen mehr Liebe entgegen, wie mancher von ihnen wohl sein Leben lang nicht erfahren haben mag. Kam er aber hiermit nicht durch, so griff er zu gewaltsamen Zuchtmitteln und wurde roh und brutal bis zur Grausamkeit. Er strafte hart aus geringstem Anlaß, ja oft ohne jeden Anlaß. Gewiß war’s ihm nicht zu verdenken, daß gegenüber Burschen, die ihm patzig entgegentraten, ihm die Hand lose wurde und er zu sofortiger Züchtigung einen Jagdhieb gab. Was aber soll man dazu sagen, daß er für einen Zwiebeldiebstahl, für Zigarettenrauchen, für Übertretung des Sprech-und Sitzverbotes 50 und mehr Hiebe austeilen ließ. Und dann der Fall, wo Bünger und Piaskowski zwei gefundene Eier essen, ohne sich etwas dabei zu denken, ken, und jeder 100 Peitschenhiebe erhalten, so daß sie wochenlang nicht sitzen konnten! Breithaupt hat auch ohne Untersuchung gezüchtigt, und wie mancher mag da unschuldig gezüchtigt worden sein. Das ist ja das Unglück, daß Breithaupt auf ganz gewissenlose Denunziationen von Burschen, die sich vielleicht beliebt machen wollten, einging. Richtig wäre es gewesen, solche gewissenlose Lumpen selber zu züchtigen, dann hätte es das kameradschaftliche Gefühl in der Anstalt gefördert. Daß bei all dem, was in Mieltschin vorgekommen ist, kein Menschenleben zu beklagen ist, dafür möge Breithaupt seinem Schöpfer danken. 39 zur Anklage stehende Fälle von Körperverletzung, die gegen 18 Zöglinge begangen worden sind und sich auf nur drei Monate verteilen, bedeuten eine außerordentlich hohe Zahl gegenüber der Belegungsziffer von im Höchstfall 70 Zöglingen. Geprügelt hat man aber noch viel öfter; wie oft, das ist nicht zu ermitteln, weil Straflisten nicht geführt wurden. Es ist anzunehmen, daß im Durchschnitt täglich mindestens eine Züchtigung vorgenommen wurde, während z.B. in der Anstalt Lichtenberg, die doch Jungen derselben Art hatte, trotz sehr viel höherer Belegungsziffer nur ganz vereinzelt geprügelt worden ist. Ein völliges Verbot des Prügelns ist nicht zu empfehlen. Körperliche Züchtigung ist ein durchaus brauchbares und manchmal durchaus erforderliches Erziehungsmittel. Aber wie Kuchen und Zuckerbrot kein tägliches Nahrungsmittel sein können, so dürfen Stock und Peitsche nicht vorwiegendes Erziehungsmittel sein, sonst müssen die Jungen völlig verkommen. Widerwärtig und ekelhaft sind die Fälle von Einsperrungen im Keller und von Fesselungen. Es ist aber zweifelhaft, ob Breithaupt hierfür immer verantwortlich war. Es erscheint fraglich, ob er sich das als Quälerei ausgedacht hatte. Bezüglich der Schläge auf die Fußsohlen ist nicht erwiesen, daß er sie als Strafe anordnete. Nur wenn die Jungen strampelten, ließ er die Schläge auf die Fußsohlen zu. Bezüglich der Glaubwürdigkeit gebe ich im allgemeinen den Angaben der Angeklagten den Vorzug. Die Zöglinge sind vielfach selber mißhandelt worden, mancher denkt mit Bitterkeit an Mieltschin zurück, auch sind unter ihnen sittlich Anfechtbare oder geistig Minderwertige. Andererseits ist zu glauben, daß der Zögling Eggert tatsächlich im Auftrage Breithaupts die am schwersten mißhandelten Jungen dahin beeinflußt hat, daß sie vor der Untersuchungskommission Breithaupt möglichst wenig belasteten. Es ist begreiflich, daß Breithaupt sich wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammerte, aber er hat verwerflich und auch furchtbar dumm gehandelt. Breithaupt hat gegenüber den Fürsorgezöglingen das Züchtigungsrecht gehabt, es aber mit den aus geringen Anlässen verhängten Strafen, den Auspeitschungen, gen, Fesselungen, Hungerkuren gröblich überschritten. Von fahrlässiger Überschreitung kann keine Rede sein. Es handelt sich um vorsätzliche, zum Teil gemeinschaftlich begangene Körperverletzung mit gefährlichen Werkzeugen, um eine lebengefährdende Behandlung und um Freiheitsberaubung. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sind schuldig: Breithaupt in 6 Fällen der gefährlichen Körperverletzung, in 19 Fällen der Anstiftung zu solchen, in 4 Fällen der Freiheitsberaubung, ferner der gefährlichen Körperverletzung in 28 Fällen Engels, in 8 Fällen Wrobel, in je 2 Fällen Wendlandt und Riemschneider, in je 1 Fall Schüler und Lang. Gegen Brosinsky und Habedank ist keine Schuld erwiesen. Ich beantrage Zubilligung mildernder Umstände in weitgehendem Maße, indem ich hinweise auf die Unfertigkeit der Zustände in Mieltschin und auf die Unfähigkeit Breithaupts und seiner Gehilfen. Auch ist Breithaupt wenigstens in seinen Motiven nicht grausam gewesen; er hat nur strafen wollen, sich aber in Strafart und Strafmaß vergriffen. Mildernd ist ferner, daß er es mit widerspenstigen Jungen zu tun hatte. Und schließlich ist auch zu erwägen, daß er keinen dauernden Schaden verursacht hat. Ich beantrage gegen Breithaupt 1 Jahr Gefängnis, gegen Engels 4 Monate Gefängnis, gegen Wrobel 2 Monate Gefängnis, gegen Wendlandt 1 Monat Gefängnis, gegen Riemschneider 60 Mark Geldstrafe, gegen Schüler und Lang je 30 Mark Geldstrafe, gegen Brosinsky und Habedank Freisprechung. Ich beantrage außerdem, den Angeklagten Breithaupt sofort zu verhaften.

Staatsanwalts-Assessor Dr. Simon erörterte die Ergebnisse der Beweisaufnahme und bezeichnete die Handlungsweise der Angeklagten als widerwärtig und roh, im Falle Ruppert als geradezu unqualifizierbar.

Vertreter der Nebenkläger Rechtsanwalt Dr. Kurt Rosenfeld: Breithaupts Prinzip war von Anfang an die Schneidigkeit. Schläge waren seine Erziehungsmittel, und rücksichtslos gebrauchte er die Peitsche, die selbst in Zuchthäusern kaum noch gebraucht wird. Grausam waren auch die Arreststrafen und die Fesselungen, bei denen die mit geradezu mittelalterlichen Schließwerkzeugen gefesselten Knaben sich oft nicht hinlegen konnten, oder durch Entziehung der Decken und des Strohsacks gequält wurden. Er strafte bei dem geringsten Anlaß und ohne Untersuchung ganz nach Gutdünken. Er entschuldigte sich mit der Bemerkung: In Mieltschin herrschte Kriegszustand. Er sah also in den ihm anvertrauten Zöglingen nicht junge Leute, die er erziehen sollte, sondern einen Feind, den es zu vernichten galt. Über der Mieltschiner Anstalt konnte der Willkommensgruß stehen: „Ihr, die ihr eintretet, laßt alle Hoffnung draußen.“ In diese Anstalt trat Ruppert ein, ein stiller Junge, dessen psychopathische Veranlagung lagung dem Pastor Breithaupt unmöglich verborgen geblieben sein kann. Die ganze Roheit Breithaupts zeigte sich schon in der Äußerung, mit der er den beim Anblick von Züchtigungen weinenden Knaben schreckte: „Wenn du nicht still bist, bekommst du auch 50 Hiebe.“ Sehr bald behandelte er den armen Knaben selber so. Entsetzlich waren die sich immer wiederholten Züchtigungen nach den Fluchtversuchen und die Erpressung eines Geständnisses bezüglich des vermeintlichen Messerdiebstahls. Bei der nach einigen Tagen vorgenommenen neuen Auspeitschung wegen Fluchtverdachts schlug Breithaupt auf den Jungen, als dieser mit dem Schemel umgestürzt war, sehr heftig ein. Das kennzeichnet Breithaupt, und deshalb ist ihm auch zuzutrauen, daß Schläge auf die Fußsohlen von ihm ausdrücklich angeordnet waren. Mit Unrecht bringt die Staatsanwaltschaft den Aussagen der Fürsorgezöglinge Mißtrauen entgegen. Die Darstellung Rupperts ist durch den Maurerpolier Wittig bestätigt worden. Auch die in Berlin festgestellten Mißhandlungen sprechen für die volle Glaubwürdigkeit Rupperts. Noch heute leidet der Knabe unter den Folgen. Gerade mit Bezug hierauf ist es unbegreiflich, daß der Staatsanwalt mildernde Umstände beantragen kann, weil dauernder Schaden nicht vorhanden sei. Wenn nicht die Presse und nachher die Behörden eingegriffen hätten, dann wäre vielleicht nicht einer der Zöglinge gesund den Händen des Pastors entronnen. Es kann zweifelhaft sein, ob dem Anstaltsleiter Breithaupt, den nicht die Stadt Berlin, sondern die Gesellschaft „Fürsorgestift Mieltschin“ angenommen hatte, überhaupt das Züchtigungsrecht zustand. Stand es ihm aber zu, so hat er es in schwerster Weise überschritten. Der Herr Staatsanwalt sagte: Seine Beweggründe sind nicht schlecht gewesen. Ich behaupte, daß Breithaupt aus Lust am Prügeln geprügelt hat. Während der neuntägigen Dauer der Verhandlung hatte er kein Wort des Bedauerns über seine zum Himmel schreienden Roheiten. Sein ganzes Verhalten ist geradezu ein Hohn auf die Fürsorgeerziehung. Nur die äußere Disziplin suchte er aufrecht zu erhalten, und zwar mittels der Folter. Allerdings ist auch der Berliner Waisenverwaltung der Vorwurf zu machen, daß sie es zuließ, einen solchen Mann auf einen solchen Posten zu stellen. Die Schuld trifft aber auch die Leiter jener Gesellschaft, die keinerlei Aufsicht übte. Es handelte sich eben nur um Proletarierkinder, weshalb sollen die nicht bestialisch behandelt werden? Allein alles dies entlastet den Pastor Breithaupt nicht im mindesten. Das Bewußtsein der ihm eingeräumten Selbständigkeit hätte sein Verantwortlichkeitsgefühl steigern müssen. Ich wiederhole: es ist mir rätselhaft, daß der Herr Staatsanwalt angesichts derartiger unerhörter Freveltaten noch mildernde Umstände beantragen gen konnte. Der Umstand, daß Breithaupt ein Geistlicher ist, macht ihn um so strafwürdiger. Ich habe das Vertrauen zu dem hohen Gerichtshof, daß er die entsetzlichen Missetaten in entsprechender Weise zu sühnen wissen und zum mindesten dem Pastor Breithaupt mildernde Umstände versagen wird.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Illch schilderte die Entwickelung der Persönlichkeit Breithaupts, sein „Interesse für die großen Aufgaben der Zeit“ und suchte den Nachweis zu führen, daß Breithaupt wohl glauben durfte: er sei den Aufgaben in der Mieltschiner Fürsorgeerziehungsanstalt gewachsen. Daß die Lösung mißlang, lag an all den äußeren Umständen, die ihm hindernd entgegentraten. Die Strafmittel, zu denen er griff, waren nicht zulässig, er hielt sie aber für zulässig. Ihre Wirkung war im übrigen nicht so schlimm, wie es scheinen könnte. Auch haben die Jungen dem Pastor die Züchtigungen gar nicht so sehr nachgetragen. Jedenfalls war Breithaupt vom besten Willen beseelt. Es könne keine Rede davon sein, daß er aus Lust geprügelt habe. Er habe jedenfalls nur ein Züchtigungsrecht ausüben wollen. Die Frage, ob die Behandlung lebensgefährlich war, sei nur von Dr. Bernstein, dem prinzipiellen Gegner der Prügelstrafe, bejaht worden; der Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Hoffmann, habe die Frage verneint. Der Verteidiger schloß: Breithaupt hat sich nicht strafbar gemacht, weil er sich niemals bewußt war, etwas anderes zu tun, als wozu er berechtigt, ja sogar verpflichtet war.

Vert. Justizrat Leonhard Friedmann: Es sei unverkennbar, daß in weiten Kreisen des Publikums sich gegen Breithaupt eine große Entrüstung kundgegeben habe; diese sei auch aus den Ausführungen des Vertreters des Nebenklägers zum Ausdruck gekommen. Entrüstung sei ja leicht, aber hier handle es sich lediglich um Rechtsfragen, und in dieser Beziehung sei von der Staatsanwaltschaft die Beweisaufnahme so gewürdigt worden, wie es dem Standpunkt der Verteidigung entspricht. In ausführlichen juristischen Darlegungen erörterte darauf der Verteidiger den Begriff des Züchtigungsrechtes, das eine Negation der Widerrechtlichkeit der Körperverletzung sei, und den Begriff der strafbaren Freiheitsberaubung, durch den das Einsperrungsrecht des Erziehers nicht berührt werde. Bezüglich des Züchtigungsrechts wies er auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und auf einen Aufsatz des Kammergerichtsrats Havenstein hin. Wenn auch objektiv zuzugeben sei, daß Breithaupt in der Anwendung von an sich zulässigen Strafmitteln zuweit gegangen sei, so müsse man ihm doch in subjektiver Hinsicht glauben, daß er sich einer Überschreitung nicht bewußt war. Zweifellos wollte er erziehen, aber sein Prinzip war, erst den Willen zu brechen. In dieser ihm „großartig“ scheinenden Erkenntnis nis blickte er mit souveräner Verachtung als „großer Pädagoge“ auf alle herab, die anderer Meinung waren. Was er getan, habe er sich wohl überlegt, darin könne man nicht einmal Fahrlässigkeit annehmen. Es könne vielleicht als ein trauriges Resultat erscheinen, daß ein Mann, dem man nichts weniger als Sympathie entgegenbringen könne, freigesprochen werden müsse. Aber das Gesetz bestimme doch nun einmal, daß, wer nicht widerrechtlich züchtige, straffrei sei. Das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit fehle eben dem, der mit einer Züchtigung eine pädagogische Maßregel zu treffen glaube. Dauernder Schaden sei nicht entstanden. Alle seien mit ganzen Knochen davongekommen, mancher laufe sogar recht gesund umher, und bei einigen könne man annehmen, daß ihnen die Prügel jetzt wenigstens eine fast angenehme Erinnerung seien. Breithaupt habe aus grundfalschen Prinzipien, aber in bestem Willen gehandelt, er habe in Überschätzung und Überhebung, obwohl er kaum in die Fürsorgeerziehung hineingerochen hatte, alles zu können sich eingebildet. Gesellschaftlich möge man von ihm abrücken, hier aber stehe er vor Gericht. Auf die Leute, die (auf den Zuhörerraum zeigend) da hinter der Barriere sitzen, mache es ja Eindruck, wenn über „Die Hölle von Mieltschin“ geschrien werde, wie es in der Presse geschehe. Ihnen werde es möglicherweise auch unbegreiflich scheinen, wenn das Gericht richt zu einem Freispruch komme oder mindestens nicht auf Freiheitsstrafe erkenne.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Hirschfeld führte aus: Engels sei ein Opfer der Autorität Breithaupts geworden, den er vergeblich darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Strafen doch zu hart seien.

Vert. Justizrat Wronker bezeichnete als den besten Verteidiger für Breithaupt und zugleich für Engels und die anderen Aufseher den Zögling Eggert, der vor Gericht erklärt habe, da habe es eben an der pädagogischen Vorbildung gefehlt. Das gelte auch für Engels, der erst unter Breithaupt sich zu seinen Ungunsten verändert habe. Nach einer kurzen Erwiderung des Staatsanwalts Dr. Reiner, der es als ungewöhnlich bezeichnete, daß von der Bank der Anwälte aus einmal die Versagung mildernder Umstände gefordert werde, nahm noch einmal der Nebenkläger, Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld, das Wort, auf den diese sarkastische Bemerkung abzielte. Er kennzeichnete noch schonungsloser als zuvor die „Erziehungstätigkeit“ Breithaupts, forderte mehrjährige Gefängnisstrafe und schloß: „Ließe das Gericht hier Milde walten, so würde man sagen können, daß Fürsorgezöglinge vogelfrei sind, und ein Freibrief für Mißhandlungen ausgestellt worden ist.“

Angeklagter Wrobel: Ich habe zu meiner Verteidigung nichts weiter anzuführen, als daß ich damals unter dem Druck der Verhältnisse gestanden habe. Ich hatte keine Mittel und war von Pastor Breithaupt aufgefordert worden, nach Mieltschin zu kommen. Wenn ich gewußt hätte, daß ich mich durch die Handlungen strafbar machte, so können Sie überzeugt sein, daß ich derartiges nicht getan hätte. Durch die Anzeige, die ich damals erstattet habe, bin ich in meiner Existenz so bedroht worden, daß ich mindestens zwei bis drei Jahre gebrauchen werde, um mich wieder zu dem zu machen, was ich gewesen bin. Ich bitte, von einer Geldstrafe abzusehen, weil ich sie doch nicht bezahlen könnte.

Angeklagter Wendlandt: Was ich getan habe, habe ich nur im Pflichtbewußtsein getan. Ich mußte es tun. Hätte ich mich geweigert, so wäre ich meine Stellung losgeworden. Ich hätte mich dann – eine halbe Stunde von der russischen Grenze entfernt – mittellos herumtreiben müssen. Die Strafbarkeit meiner Handlungen habe ich damals nicht erkennen können. Da ich jetzt wieder in Stellung bin, möchte ich den Gerichtshof bitten, die vom Staatsanwalt beantragte Gefängnisstrafe in eine Geldstrafe umzuwandeln.

Angeklagter Riemschneider: Ich habe die ganze Sache vom militärischen Standpunkt angesehen. Hätte mir mein Rittmeister etwas befohlen, so wäre ich seinen Befehlen gefolgt. Die Verantwortung hätte natürlich der Vorgesetzte tragen müssen. Von diesem Gesichtspunkte sichtspunkte bin ich auch ausgegangen bei meiner Tätigkeit in Mieltschin. Eine Geldstrafe wäre für mich gleichbedeutend mit einer Freiheitsstrafe. Als alter ehemaliger preußischer Beamter würde ich meinem erbärmlichen Leben eher ein Ende machen, als daß ich auch nur einen Tag in Gefängnismauern zubringen möchte.

Angeklagter Brosinsky, für den der Staatsanwalt Freisprechung beantragt hatte, erklärte, daß er schwer finanziell geschädigt sei dadurch, daß der Vertreter der Anklagebehörde ihn gezwungen habe, zehn Tage lang diese Bank zu zieren. Zu Hause säßen Frau und Kinder am Tage des Festes mit verweinten Augen. Er sei nun nicht in der Lage, ihnen durch Geschenke irgendwelche Freude zu machen; er beantrage daher, ihm eine Entschädigung zukommen zu lassen. Der Vorsitzende belehrte den Angeklagten, daß eine Entschädigung gesetzlich nicht zulässig sei; das Gesetz kenne eine Entschädigung nur für unschuldig in Untersuchungshaft befindliche Personen; da er keinen Verteidiger habe, so seien ihm notwendige Auslagen nicht entstanden. Die übrigen nicht durch Verteidiger vertretenen Angeklagten verzichteten auf das Wort. Sodann wendete sich der Vorsitzende zu dem Angeklagten Breithaupt.

Angeklagter Breithaupt: Mir ist es sehr darauf angekommen, daß aus der Verhandlung ein klares Bild der tatsächlichen Verhältnisse geboten würde. Ich betone auch meinerseits, daß ich nie Pastor gewesen bin. Ich habe mich gerade mit Rücksicht auf meinen Beruf in Mieltschin nicht ordinieren lassen, obgleich mir die Ordination mehrfach nahegelegt wurde. Ich habe mich für die soziale Aufgabe, der ich dienen will, vollständig frei gehalten und habe auf eine Lebensstellung und Pensionsberechtigung verzichtet, was doch auch ein Opfer ist. Dann möchte ich betonen, daß meine Arbeit in Mieltschin nicht mit den Bodelschwinghschen Anstalten zu vergleichen ist. Es ist mir mehrfach gesagt worden, ich sollte mich damit entschuldigen, daß ich die Dinge in den Bodelschwinghschen Anstalten gelernt hätte, ich habe dies aber abgelehnt. Mich haben die besten Absichten geleitet und ich sowohl wie die Mitangeklagten haben alle unsere Schuldigkeit getan. Ich habe mich unfertigen Verhältnissen gegenüber befunden, habe mich bemüht, tüchtige Erzieher zu gewinnen und mit einer ganzen Anzahl verhandelt. Das Fundament war da, und ich bin überzeugt, daß wir bei einer Konsolidierung der ganzen Verhältnisse zu einer anderen Praxis und zu einer nüchternen Beurteilung der Dinge gekommen wären. Ich habe wiederholt die Staatsgewalt gebeten, mir zu helfen in der furchtbar schweren Arbeit, die ich zu bewältigen hatte; aber unser Wachtmeister war beurlaubt, der nächste Wachtmeister wohnte weil entfernt von Mieltschin. Da war es eine schwere Arbeit, allen Verhältnissen gerecht zu werden. Ich war mir nie bewußt, etwas Unrechtes zu tun, glaubte vielmehr, meine schwere Pflicht zu erfüllen. Ich bedauere, daß ich dem ganzen Fürsorgeerziehungswesen Schaden zugefügt haben soll, ich bedauere, daß Überschreitungen des Züchtigungsrechts vorgekommen sein sollen. Ich bitte Sie, das harte Urteil des Herrn Staatsanwalts abzuschwächen und meinen guten Willen in Rechnung zu ziehen.

Der Angeklagte Engels erklärte, daß er sich den Ausführungen seiner Verteidiger anschließe.

Nach siebenstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Gockel, folgendes Urteil: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß der Angeklagte Breithaupt der gefährlichen Körperverletzung in fünf Fällen, davon in einem Falle in Idealkonkurrenz mit Freiheitsberaubung, ferner der Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung in 27 Fällen und Freiheitsberaubung in einem Falle schuldig und deshalb zu acht Monaten Gefängnis und 990 Mark Geldstrafe, im Nichtbeitreibungsfalle für je 15 Mark noch einen Tag Gefängnis zu verurteilen sei, der Angeklagte Engels der gefährlichen Körperverletzung in 31 Fällen schuldig und deshalb zu drei Monaten Gefängnis und 460 Mark Geldstrafe, eventuell für je 10 Mark noch 1 Tag Gefängnis, der Angeklagte Wrobel der vorsätzlichen Körperverletzung in 9 Fällen schuldig und deshalb zu einem Monat Gefängnis und 130 Mark Geldstrafe, eventuell für je 10 Mark noch 1 Tag Gefängnis, der Angeklagte Wendlandt der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen schuldig und deshalb zu einem Monat Gefängnis, der Angeklagte Schüler der gefährlichen Körperverletzung in einem Falle schuldig und deshalb zu 30 Mark Geldstrafe, im Nichtbeitreibungsfalle für je 5 Mark einen Tag Gefängnis, der Angeklagte Lang der gefährlichen Körperverletzung in einem Falle schuldig und deshalb zu 30 Mark Geldstrafe, im Nichtbeitreibungsfalle für je 5 Mark einen Tag Gefängnis, der Angeklagte Riemschneider der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen schuldig und deshalb zu 50 Mark Geldstrafe, im Nichtbeitreibungsfalle für je 5 Mark einen Tag Gefängnis zu verurteilen, die Angeklagten Brosinsky und Habedank dagegen freizusprechen seien. Die Kosten des Verfahrens haben, soweit Verurteilung erfolgt ist, die Angeklagten, soweit Freisprechung erfolgt ist, die Staatskasse zu tragen. Die Kosten der Nebenklage sind den Angeklagten Breithaupt, Engels und Wrobel auferlegt worden. In objektiver Hinsicht ist durch die Beweisaufnahme festgestellt, daß Breithaupt als Vorsteher der Anstalt Mieltschin in einer Reihe von Fällen ihm untergebene Zöglinge mit zwei Reitpeitschen, einer Klopfpeitsche und einem Stock geschlagen hat, und daß mehrere dieser Zöglinge nach den Züchtigungen in Ketten gelegt worden sind. Breithaupt hat diese Bestrafungen in einzelnen Fällen selber besorgt, in einer größeren Anzahl von Fällen hat er die Mitangeklagten dazu durch die ihnen gegebenen Befehle veranlaßt. Breithaupt macht geltend, daß er sich der Widerrechtlichkeit nicht bewußt gewesen sei und in Ausübung seines Züchtigungsrechtes so gehandelt habe, wie er in Rücksicht auf die gegebenen Verhältnisse habe handeln müssen. Die übrigen Angeklagten sagen, daß sie die Rechtsgültigkeit der Anordnungen nicht bezweifelt, aber doch gegen die Ausführung zuweilen Bedenken gehabt haben. Sie haben indes geglaubt, sich den Anordnungen ihres Meisters fügen zu sollen. In allen Fällen ist das eine sicher: Breithaupt hat nur gezüchtigt, wenn Fälle gegeben waren, die nach seiner Meinung eine Züchtigung rechtfertigten. Als Anstaltsvorsteher hatte er auch das Züchtigungsrecht; denn wer erziehen soll, muß das Züchtigungsrecht haben. Den Fürsorgezöglingen gegenüber hatte es die städtische Verwaltung, und mit ihrem Wissen und Willen ging es auf Breithaupt über. Dabei sollte die Lichtenberger Disziplinordnung auch in Mieltschin sinngemäß Anwendung finden. Breithaupt sagt, er habe diese Disziplinordnung nicht gekannt, und es sei nicht seine Schuld gewesen, wesen, daß sie ihm nicht bekannt wurde. Jedenfalls war er über sie nicht informiert, darum muß von diesem Punkt abgesehen werden. Sein Verhalten im Gebrauch des Züchtigungsrechtes ist dann nur von dem allgemeinen Gesichtspunkt aus zu beurteilen, ob er dasjenige Maß innegehalten hat, von dem man sagen kann, daß es noch eine Ausübung des Züchtigungsrechtes ist. Da hat nun das Reichsgericht wiederholt gesagt, daß das Züchtigungsrecht begrenzt wird durch die Schranken, die ihm das Sittengesetz setzt. Die allgemeine gesunde Sittenanschauung ist es, die hier bestimmt, was zulässig ist und was nicht. Die Frage, ob Breithaupt und seine Gehilfen diese Schranken gewahrt haben, muß entschieden verneint werden. Selbst in den mildesten Fällen, wo nur mit der Reitpeitsche gezüchtigt wurde, sind sie überschritten worden. Reitpeitschen mögen für Pferde und Hunde geeignet sein, für Menschen aber sind sie nicht bestimmt. Dieses Gefühl mußte Breithaupt und auch seine Gehilfen haben. Sie haben aber nicht nur objektiv, sondern auch bewußt die Schranken des Sittengesetzes überschritten. Gegenüber den schlimmeren Fällen, wo die Klopfpeitsche und der Handstock benutzt wurden, mußte selbst der Blödeste sich sagen, daß solche Züchtigungsmittel unzulässig sind. Weder objektiv noch subjektiv sind die Grenzen des Züchtigungsrechts innegehalten worden, vielmehr liegt vorsätzliche sätzliche Körperverletzung im Sinne des § 223 vor. Es ist auch der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gegeben. Die benutzten Werkzeuge sind gefährliche; Reitpeitsche, Klopfpeitsche, Handstock sind nicht auf eine Stufe zu stellen mit dem Rohrstock des Lehrers. In einigen Fällen ist Breithaupt selbständiger Täter, in anderen Fällen sind Täter die Gehilfen, denen gegenüber er Anstifter war, die aber selber sich der Widerrechtlichkeit ihres Tuns bewußt waren. Auch der strafbaren Freiheitsberaubung hat Breithaupt sich in mehreren Fällen schuldig gemacht. Nicht durch die den Züchtigungen sich anschließenden Einsperrungen an sich, sondern durch die Art und Weise dieser Einsperrungen, die gegen das Sittengesetz verstieß und widerrechtlich war, ist der Tatbestand der strafbaren Freiheitsberaubung gegeben. Im wesentlichen sind die Aussagen der als Zeugen vernommenen Fürsorgezöglinge als glaubwürdig erachtet worden. Ihre Angaben waren zuverlässig, abgesehen von kleinen Abweichungen. Die Jungen waren offensichtlich bemüht, die Wahrheit zu sagen. Das war maßgebend für den Gerichtshof, so sehr er sich im übrigen bewußt war, daß auch dann immer noch Vorsicht gegünuber Fürsorgezöglingen geboten ist. Die Angeklagten selber haben mehrfach da, wo sie den Hergang milder darstellten, auf Vorhalten zugegeben, die Aussagen der Jungen würden wohl richtig sein. Sie sind auch bestätigt worden durch andere Jungen, die mit den übrigen Zeugen nicht in Berührung gekommen und nicht von ihnen beeinflußt sein konnten. Was nun die einzelnen Straftaten anlangt, so wird als erwiesen angesehen, daß Winkler von Engels auch Hiebe auf die Fußsohlen erhalten hat. Der Gerichtshof hat sich aber nicht auf den Standpunkt gestellt, daß sie von vornherein als Strafmittel beabsichtigt gewesen seien. Erst wenn die Zöglinge nicht ruhig lagen, kam Breithaupt der Gedanke: „Na, wenn du sie nicht aufs Gesäß haben willst, dann sollst du sie auf die Fußsohlen bekommen!“ Ausgeschlossen erscheint dem Gerichtshof, daß nur Widerstand gebrochen werden sollte. Der Fall Mauthe ist so brutal, daß man ihn nicht für möglich halten sollte, wenn er nicht durch die Erregung Breithaupts zu erklären sei. Hier, wo wahllos auf den Jungen eingehauen wurde, handelt es sich zweifellos um eine das Leben gefährdende Körperverletzung. Auch der Fall Ruppert liegt sehr schwer. Ruppert ist ein in der Tat erbarmungswürdiger Junge, der auf Wunsch seiner Eltern in Fürsorgeerziehung gekommen war, obwohl eigentlich nicht viel gegen ihn vorlag. Er ist dann Breithaupt in die Finger geraten, der ihn als schwächlichen Jungen hätte erkennen müssen. Er hatte ja auch selber gesehen, wie furchtbar die Seelenqualen des Jungen waren, wenn er den Züchtigungen anderer zuschauen mußte. Diesem schonungsbedürftigen Jungen sind von Engels und Breithaupt in der Zeit vom Abend bis zum anderen Vormittag wohl über 100 Peitschenhiebe verabreicht worden.

Bei der Strafzumessung war zu erwägen, daß eine ganze Reihe von Momenten zugunsten Breithaupts und seiner Gehilfen zu berücksichtigen sind. Breithaupt hat subjektiv immer nur geschlagen, wenn er Grund dazu zu haben glaubte. Er schlug, um zu züchtigen, nicht wie ein Peiniger, der quälen will. Auch sonst hat er Liebe zu seinen Zöglingen gezeigt, das haben selbst die Gezüchtigten empfunden. Breithaupt ist herzkrank, darum eignete er sich nicht zum Erzieher, mindestens nicht für Fürsorgezöglinge. Er war in unfertige Verhältnisse hineingekommen, denen er nicht gewachsen war. Er allein sollte und wollte alles leiten, ohne erfahrene Ratgeber, wie Buth oder Hentschel. Im Fürsorgeerziehungswesen hatte er selber nicht die geringste Vorbildung, weder theoretische noch praktische. Gerade im Fürsorgeerziehungswesen ist nicht in erster Linie der Geistliche, sondern der Pädagoge als geeignet anzusehen, er aber hatte von Pädagogik nicht die geringste Ahnung. Als mildernd ist für ihn auch zu berücksichtigen, daß ihm aus Lichtenberg, wenn auch nicht absichtlich, so doch tatsächlich viele recht schwer zu behandelnde Jungen überwiesen wurden, die teils zu Fluchtversuchen neigten, teils unverschämte Burschen waren.

Andererseits fällt gegen ihn erschwerend ins Gewicht sein Eigensinn und sein maßloses Selbstbewußtsein, die ihn verleiteten, trotz der von ihm erkannten Schwierigkeiten alles selber machen zu wollen, statt den Rat erfahrener Leute einzuholen. Schlimmer noch ist zu bewerten, daß seine Straftaten einen gewissen Zug von Roheit in seinem Charakter erkennen lassen, besonders in den Fällen Mauthe, die man nichts als Ergebnis einer momentanen Aufwallung, sondern nur als Ausfluß einer rohen Gesinnung ansehen kann. Ein erschwerender Umstand ist ferner, daß Breithaupt es stets vermied, den Beschuldigten regelrecht zu verhören. Auf Zuträgereien hin glaubte er skrupellos und maßlos züchtigen zu sollen. Endlich müssen auch die Folgen berücksichtigt werden, die zweifellos erhebliche Körperbeschädigung der Jungen und ihre Seelenpein. Und welchen unendlichen Schaden hat Breithaupt durch sein in keiner Weise entschuldbares Verhalten dem ganzen Fürsorgeerziehungswesen zugefügt! Alle Mühen guter, edler Menschen hat er zunichte gemacht. Er mußte sich sagen, daß das sehr schaden würde. Er hat auch die anderen Angeklagten mit hineingezogen, die durch seine Schuld Schlimmes durchgemacht haben. Selbst von Engels muß man annehmen, daß er unter seinem Einfluß gehandelt hat. Der Gerichtshof hat unter Berücksichtigung sichtigung der mildernden wie der erschwerenden Umstände unterschieden, wo eine besondere Roheit vorlag und wo nicht. Er hat deshalb für eine Reihe von Fällen nicht auf Freiheitsstrafen, sondern nur auf Geldstrafen erkannt. Eine besondere Roheit ist angenommen worden in den Fällen Winkler, Wulff und Bünger-Piaskowski, vor allem aber in den Fällen Mauthe und Ruppert.

Das Publikum im Zuhörerraum lauerte allabendlich auf der Straße in der laut ausgesprochenen Absicht, die Angeklagten, insbesondere den Pastor Breithaupt zu verbläuen. Die Angeklagten hatten jedoch rechtzeitig Wind davon erhalten und stellten sich beim Verlassen des Gerichtsgebäudes jedesmal unter den Schutz der Polizei. Das Publikum überschüttete die Angeklagten, insbesondere den Pastor Breithaupt, stets, sobald sie vom Gerichtsgebäude auf die Straße traten, mit lauten Verwünschungen.

Fußnoten

1 Aber nicht minder auch seine eigenen Kinder, wie uns die Markgräfin von Bayreuth, die Schwester Friedrichs des Großen in ihren berühmten „Memoiren“ berichtet. (2 Bände. 11. Auflage. Verlag von Hermann Barsdorf in Berlin.)