Benutzer:PDD/Projekte/Friedlaender/IKP3


I–VIII

Bearbeiten

[eingestellt]

Die Ermordung des Grafen Komarowski vor dem Schwurgericht zu Venedig

Der Tarnowska-Prozeß

Häßliche Sittenbilder aus den hohen Gesellschaftskreisen sind in den letzten Jahren in den Sälen entrollt worden, in denen Frau Justitia mit Wage und Schwert ihres Amtes waltet. Die Prozesse der Damen Steinheil und Borowska in Paris, des Grafen Pfeil in Thorn, der Frau v. Schönebeck in Allenstein und nicht zuletzt der Prozeß, der im Frühjahr 1910 vor dem Schwurgericht der herrlichen Lagunenstadt geführt wurde, enthüllten einen solchen Abgrund von sittlicher Verworfenheit der hohen Gesellschaftskreise, daß man sich mit Betrübnis eingestehen muß, wir sind trotz unseres fortgeschrittenen Zeitalters von wahrer Kultur noch weit entfernt. Man darf nicht vergessen: es handelt sich hierbei um die Kreise, die auf den Höhen der Menschheit wandeln, die sich anmaßen, über Ausschreitungen in den niederen Volkskreisen sich zu entrüsten und die – ich habe speziell das Milieu der Gräfin Tarnowska im Auge – die Pogrome und die Judenverfolgungen überhaupt sowie die gewaltsame Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen in Rußland aus angeblichen sittlichen Gründen unterstützen und fördern. dern. Die erwähnten Prozesse haben bewiesen, daß in gewissen Kreisen der sogenannten hohen Gesellschaft eine Fäulnis herrscht, von der sich der gesittete Mensch mit Ekel und Abscheu abwenden muß. Leider ist der Chronist, zu dessen Aufgabe es gehört, Zeitgeschichte zu schreiben, trotz allen Widerwillens, nicht in der Lage, stillschweigend an derartigen Zeitereignissen vorüberzugehen. Der Prozeß gegen die Gräfin Tarnowska und ihre Werkzeuge, der im Frühjahr 1910 fast volle drei Monate das Schwurgericht in Venedig beschäftigte, bietet ganz besonders für den Psychologen das größte Interesse. Wohl noch niemals hatte sich vor den Schranken eines Gerichtshofes ein Weib zu verantworten, ein Weib der höchsten Gesellschaftskreise, dessen Wiege in einem feenhaften Schlosse gestanden, das in üppigstem Luxus und Wohlhabenheit erzogen, dessen Taten aber so entsetzlich waren, daß sich Tinte und Feder sträuben, sie niederzuschreiben. Der ergrauteste Kriminalist hat wohl kaum jemals in eine so schwarze Seele gesehen. Spielte sie doch mit Menschenleben geradezu Fangeball, nur um ihrer Laune Befriedigung zu verschaffen. Keine Spur von Reue war, selbst während der dramatischsten Szenen im Gerichtssaal, in den Gesichtszügen dieses weiblichen Wesens zu entdecken, dessen geradezu entzückende Schönheit fast das Tribunal ins Wanken gebracht hätte. Im Laufe der langen Verhandlung handlung äußerte plötzlich ein Geschworener: Sein Gewissen zwinge ihn, sich selbst für befangen zu erklären. Er könne nicht ferner seines Richteramtes mit der Unparteilichkeit walten, die er eidlich gelobt habe, denn er habe sich in die Angeklagte – sterblich verliebt. Der Gerichtshof sah sich infolgedessen genötigt – ein wohl noch niemals dagewesener Fall – den verliebten Geschworenen von seinem Richteramte zu entbinden und einen Ersatzgeschworenen zu ersuchen, in die Reihe der ordentlichen Geschworenen einzutreten. Die Hauptangeklagte, deren Schönheit und Anmut geradezu bezaubernd wirkte, war am 16. Juni 1877 als Tochter des russischen Adelsmarschalls, Grafen O. Rusk in der Nähe von Kiew im väterlichen Schlosse geboren. Sie genoß selbstverständlich die sorgfältigste Erziehung. Kaum 15 Jahre alt, kam sie in ein feines Pensionat, in das nur Töchter des russischen Hochadels aufgenommen werden. Als sie 16 Lenze zählte, war sie eine blendende Schönheit. Ein junger Kosakenoffizier, Graf Tarnowski, verliebte sich sterblich in das auffallend schöne, anmutige Mädchen und hielt um seine Hand an. Der Adelsmarschall wies den Kosakenoffizier ab. Er hielt einmal die Tochter noch für zu jung zum Heiraten, andererseits hatte er mit seiner schönen Tochter, auf die er nicht wenig stolz war, ganz andere Pläne. Graf Tarnowski zählte nämlich nicht zu dem russischen Hochadel. adel. Der alte Adelsmarschall wollte einen Fürsten zum Schwiegersohn haben. Allein die junge, schöne Komtesse dachte anders. Sie ließ sich von dem hübschen Kosakenoffizier entführen und sich mit ihm heimlich trauen. Trotzdem war die Ehe nicht glücklich. Die schöne Komtesse bezauberte unterschiedslos alle Männer, mit denen sie in Berührung kam. Kurze Zeit nach ihrer Hochzeit nahm sich ihr Schwager, Graf Peter Tarnowski, fast noch ein Knabe, das Leben. Man munkelte, sie habe den auffallend schönen jungen Mann, der sich sterblich in seine Schwägerin verliebt hatte, in den Tod getrieben. Ihr Gatte, Graf Wassil Wassilewitsch Tarnowski, duellierte sich in Cannes mit ihrem ersten Liebhaber, dem Grafen Tolstoi. Sie hatte von dem Duell Kenntnis und verlangte, mit dabei zu sein. Hinter einem Busch versteckt, folgte sie dem „interessanten Schauspiel“. Wer wird siegen, der Liebhaber oder der Gatte? Jedoch die holde Gattin fühlte sich enttäuscht. Der Zweikampf verlief unblutig. Sie glaubte, der Erdboden würde sich mit Blut färben. Da das aber nicht geschah, so schien ihr die Wirklichkeit grau, farblos, langweilig. Sie hatte sich das alles „viel amüsanter“ vorgestellt.

Die berückende Schönheit fand immer mehr Anbeter. Ein junger Baron v. Stahl schoß sich eine Kugel durch den Kopf, weil die schöne Frau seinen Gruß verschmähte. Der letzte Wunsch des verliebten Barons rons war: seine Angebetete möge noch einmal mit ihrer Karosse vor seinem Schlosse vorüberrollen. Diesen Herzenswunsch konnte ihm aber die schöne Gräfin nicht mehr erfüllen. Sie war zu sehr beschäftigt. Die Zahl ihrer Verehrer wuchs förmlich unter ihren Händen. Sie eilte von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Fest zu Fest, um eisig kühl die bewundernden Blicke aufzufangen, die ihr und nur ihr galten. Zu ihren Anbetern zählte ein junger Rittergutsbesitzer, Graf Stephan Borgewski. Er, fand Gehör. Sie folgte ihm zu einem verschwiegenen Souper. Der Gatte erhielt Kunde davon, er stellte den Nebenbuhler zur Rede. Letzterer leugnete. Allein Graf Tarnowski hatte Mißtrauen. Er hatte viele erregte Szenen mit seiner schönen Frau. Unter heftigem Weinen bat er seine Frau kniefällig, dem Grafen Borgewski nicht Gehör zu schenken. Als das gräflich Tarnowskische Ehepaar im Sommer auf seine ländlichen Besitzungen übersiedelte, verbot Graf Wassili Tarnowski seiner Frau, den Grafen Borgewski einzuladen. Graf Tarnowski fuhr aber eines Tages in Geschäftsangelegenheiten nach Kiew. Da erhielt er eine Depesche, in der ihm mitgeteilt wurde, seine Frau habe dem Grafen Borgewski mit einer Pistole die Hand zerschmettert. Graf Tarnowski eilte, begleitet von einem Chirurgen, nach Hause. Er machte seiner Frau eine heftige Szene. Die Frau erzählte das dem Grafen Borgewski. Dieser lud Tarnowski zu einer Besprechung in einem separaten Zimmer im Grand Hotel zu Kiew ein. Dort erklärte Borgewski dem Tarnowski: er sei in seine Frau wahnsinnig verliebt. Plötzlich zog Graf Borgewski einen Revolver aus der Tasche und sagte: „Ihre Frau muß mir gehören, oder ich schieße Sie jetzt nieder und erschieße dann mich selbst!“ Borgewski schlug ein Pistolenduell vor, auf zwei oder drei Schritte, „denn“, sagte er, „ich will Ihre Frau und Ihre Kinder von einem solchen Gatten und Vater befreien!“ Dieser dramatischen Szene hatte auch der bereits erwähnte Hauptmann Baron Wladimir Stahl, ein intimer Freund Borgewskis, im selben Zimmer, hinter einem Vorhange versteckt, beigewohnt. Tarnowski war sehr erregt und wollte sich auf jeden Fall schlagen, aber Stahl, der schon selbst in die Tarnowska verliebt war und sie nicht dem Borgewski überlassen wollte, legte sich ins Mittel und verhinderte das Duell. Den Bemühungen Stahls gelang es auch, eine Versöhnung zwischen Tarnowski und Borgewski herbeizuführen. Sie wurde mit einem Diner im Grand-Hotel gefeiert. Bei dieser Gelegenheit kam es aber zur Katastrophe. Tarnowski hatte erfahren, daß seine Frau mit dem Borgewski neuerlich Zusammenkünfte hatte. Den Bitten Stahls nachgebend, ging er zum Versöhnungsmahle mit dem Vorsatze, der Komödie ein tragisches Ende zu bereiten. Das Diner verlief ganz heiter und endete um 1 Uhr nachts. Borgewski half der Tarnowska beim Anziehen des Pelzes; ein Kellner ließ eine „Troika“ vorfahren. Borgewski geleitete die Tarnowska zum Wagen. Während er dies tat, bückte er sich, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Tarnowski, welcher ihnen folgte, erklärte, Borgewski habe seiner Frau einen Kuß gegeben; wie wahnsinnig zog er seinen Revolver und schoß den Borgewski durch den Kopf. Dann stellte er sich sofort der Polizei. Borgewski, schwer verwundet, wurde ins Hotel zurückgetragen. Die Tarnowska folgte ihm und blieb an seinem Bett. Als Borgewski wieder zu sich kam, flüsterte er ihr in französischer Sprache zu: „N’importe pas, je suis heureux, je t’aime.“ („Tut nichts, ich bin glücklich, ich liebe dich!“)

Sie aber erwiderte: „Ne me tutoyez pas, on peut vous entendre.“ („Duzen Sie mich nicht, man kann Sie hören!“) Erst am Morgen kehrte die Tarnowska nach Hause zurück. Als sie dort erfuhr, daß ihr Mann verhaftet worden war, brach sie in lautes Lachen aus und rief: „Nun gut, so werden sie ihn endlich nach Sibirien schicken.“ Borgewski erlag nach kurzer Zeit seiner Verwundung. Tarnowski wurde wegen Mordes angeklagt, vom Schwurgericht zu Kiew jedoch freigesprochen. Nach seiner Freilassung ließ er sich von seiner Frau scheiden. Allein derartige Vorgänge hatten auf die Gemütsbewegung der bezaubernd schönen Gräfin nicht den mindesten Einfluß. Obwohl sie ihrem geschiedenen Gatten einen Sohn und eine Tochter geboren hatte, war sie im Highlife von Rußland, Frankreich und Österreich die unbeschränkte Heldin des Tages. Ihrer bezaubernden Schönheit und Anmut konnte kein Männerherz widerstehen. Was machte es ihr aus, daß ihr angetrauter Gatte, der Vater ihrer Kinder ihrer ehelichen Untreue wegen ins Gefängnis wanderte, wegen Mordes vor die Geschworenen gestellt und womöglich hingerichtet wurde. Was kümmerte sie der von ihrem Gatten durch ihre Schuld in den Kopf geschossene junge Graf Borgewski, der frühzeitig unter heftigsten Schmerzen sterben mußte? Was bedeutete für sie die von ihrem Manne betriebene Ehescheidung? Kleine amüsante Abwechslungen. Das Leben wäre ja zu eintönig und langweilig ohne solche Vorkommnisse. Sie hatte ja auch Anbeter in Hülle und Fülle. Eheliche und Mutterpflichten sind für das niedere Volk, aber nicht für die Crême der Gesellschaft. Welch tolle Nacht, als ihr Gatte den unglücklichen Grafen Borgewski niederknallte! Man trat aus einem vornehmen Hotel. Man hatte gelacht und gesungen. Die prickelnden Klänge eines lustigen Walzers waren kaum verklungen. Auf dem Boden des Festsaals welkten zertretene Blumen. Aus umgestoßenen Gläsern floß der Champagner. Und draußen lag ein junger Mann, dessen Herzblut große, rote Flecke in den bleichen Schnee zeichnete. Es gefiel der schönen Gräfin, die Leidenschaften der Männer gegeneinander zu peitschen. Ihre Phantasie erfand wilde Kämpfe mit Strömen von Blut. Ihr Leben schien verschleiert von Pulverdampf. Ihre Liebhaber waren Gladiatoren. Sie mußten stets bereit sein, zu sterben. Sie spielte mit den Menschen, und kehrte ihnen verächtlich den Rücken, sobald sie ihren Inhalt erraten hatte. Sie wollte erproben, wieweit ihre Macht reichte. Sie riß die Menschen aus ihrem Gleichgewicht. Sie brach die Kraft der Ungestümen und entflammte das Blut der Schüchternen und Zaghaften. Ihre Liebe war anspruchsvoll. Die sie gewinnen wollten, mußten auf jeden eigenen Willen verzichten; sie mußten die stummen Vollstrecker ihrer kaum eingestandenen Wünsche sein. Ihre Liebe verlangte, daß man ihr opfere. Die schöne Circe, von der uns Homer erzählt. war von der schönen Gräfin Tarnowska weit in den Schatten gestellt. Sie begnügte sich nicht mit demütigen Beteuerungen, mit lauten Schwüren, sie bestand auf Taten. Man mußte stehlen und betrügen um ihretwillen, das war die Probe. Als sie kaum 14 Jahre alt war, engagierte der Vater für sie und ihre Schwester eine Pariser Bonne. Die Eltern wohnten zur Zeit in Kiew. Oftmals, wenn die Eltern längst schliefen, verschwand die Bonne, mit ihren beiden Schützlingen durch eine Hintertür. Das Dienstpersonal, das mit einigen Rubeln beln abgefunden wurde, beobachtete strengstes Stillschweigen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen bisweilen schon ins Schlafzimmer, wenn die Bonne mit den beiden Mädchen heimkehrte. Wo die Damen die Nacht verlebt hatten, wurde nicht bekannt. Aber eines Tages wurde der alte Adelsmarschall durch ein anonymes Schreiben benachrichtigt, daß die in seinen Diensten stehende Pariser Bonne eine – berüchtigte Pariser Kokotte sei.

Als Baron Stahl noch der bevorzugte Anbeter der verführerischen Gräfin war, besuchte sie mit diesem eines Abends in Kiew ein Café chantant, das aus Anlaß der kostspieligen. Exzesse, die dort stattfanden, berüchtigt war. Baron Stahl und die Gräfin saßen in einer Loge. Sehr bald gesellten sich mehrere Freunde zu dem Paar. Die Gesellschaft begab sich in eine Chambre separée. Dort floß der Sekt sehr bald in Strömen. Die Tarnowska, in elegantester Toilette, tat es im Trinken allen zuvor. Plötzlich erhob sie sich und begann Gedichte zu deklamieren. Es waren melancholische Verse des schwindsüchtigen Dichters Nadson. Dann brach sie ab und sang ein heiteres Lied. Schließlich sprang sie auf den Tisch und tanzte abwechselnd russische Volkstänze und Kankan, wobei sie sich überaus geschickt zwischen den Gläsern und Flaschen bewegte, ohne sie umzustoßen. Dann sang man Chorlieder unter ihrer Leitung, bis sie auf das Klavier stieg und wieder wie toll zu tanzen begann, wobei sie die „Kamarynskaja“ sang. Schließlich eröffnete sie einen regelrechten Flirt mit dem schönsten der Gäste. Baron Stahl machte ihr erregte Vorwürfe, die sie nur zu weiteren – Ungezwungenheiten anstachelten. Schließlich setzte sie sich auf die Knie des anderen. Stahl zog einen Revolver hervor; bevor er jedoch abdrückte, fiel er ohnmächtig zu Boden. Es war dies eine chronische Krankheit, eine Folge stetiger Nervenüberreizung. Man mußte ihm Schläfen und Hände stark reiben. Kaum schlug er die Augen auf, da rief er: „Mania!“ Die schöne „Mania“ sang noch immer lustige Lieder. Ein neuer Eifersuchtsanfall Stahls und eine neuerliche Ohnmacht. Da sagte die Tarnowska: „Gehen wir!“ Man ließ Stahl im Kabarett, während seine Angebetete mit ihrem neuen Verehrer verschwand. Tags darauf sah man Baron Stahl und Gräfin Tarnowska, elegant und heiter, in einem Wagen dahinrollen – als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Für ihren Ehescheidungsprozeß brauchte die Gräfin einen Advokaten. In Moskau lebte der junge, hübsche Advokat Prilukow, ein Mann von großem juristischem Scharfsinn. Er erfreute sich in juristischen und Laienkreisen eines großen Ansehens und war in allen Schichten der Bevölkerung ungemein beliebt. Seine Praxis brachte ihm eine jährliche Einnahme von 25 bis 30000 Rubel. Advokat vokat Prilukow besaß trotz seiner jungen Jahre eine hinreißende forensische Beredsamkeit. Sein Fleiß kannte keine Grenzen. Er arbeitete von des Morgens 8 bis nachts 2 Uhr fast ununterbrochen. Er war verheiratet und nannte eine liebreizende junge Frau und zwei bildhübsche, muntere Kinder sein eigen. Das Familienleben des jungen Advokaten war ein selten glückliches. Da wollte es das Unglück, daß eines Tages die bezaubernd schöne Gräfin Tarnowska in das Bureau des Moskauer Rechtsanwalts trat. Von diesem Augenblicke ab war es um das Lebensglück der Familie Prilukow geschehen. Rechtsanwalt Prilukow war nicht nur der juristische Beistand der Gräfin, er wurde auch sofort ihr Liebhaber. Was scherte die Gräfin Fleiß, Ehre, Familienglück? Solche Dinge zu zerstören, war ja gerade ihr Fall. Es dauerte nur wenige Tage, und Rechtsanwalt Prilukow lag vollständig im Banne der schönen Gräfin. Er vergaß Frau und Kinder, vernachlässigte seine Praxis und lebte mit der Gräfin in Saus und Braus. Als dem Rechtsanwalt zu dem kostspieligen Leben die Gelder ausgingen und auch die Geldquellen seiner Angebeteten nicht mehr genügend reichlich flossen, vergriff er sich an den ihm anvertrauten Klientengeldern. Er wurde deshalb bestraft und mit Schimpf und Schande aus dem Rechtsanwaltsstande ausgeschlossen. Das war das eigentliche Ziel der Gräfin, denn nunmehr konnte sie den jungen, gen, geistreichen Rechtsanwalt vollständig in ihre Netze ziehen. Fortan war er der Ihrige. Was kümmerte sie es, daß Frau und Kinder des Rechtsanwaltes hungerten. Inzwischen hatte die schöne Gräfin den unermeßlich reichen Rittergutsbesitzer Grafen Komarowski kennengelernt. Selbstverständlich hatte sie das Herz des Grafen Komarowski im Sturm erobert. Ein Blick, ein Augenaufschlag der bezaubernden Schönheit genügte, um jedes Männerherz zu entflammen, ja in Raserei zu versetzen. Das Schicksal fügte es, daß dem reichen Grafen nach einiger Zeit die Frau starb. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, dachte der zum Witwer gewordene Graf. Er bot der geschiedenen Gräfin die Hand zum Ehebunde. Die Gräfin schlug ein. Der große Reichtum Komarowskis lockte. Die Ehe konnte ihrer Liebe ja keine Grenzen ziehen. Graf Komarowski hielt in seiner Einfalt die Liebesbeteuerungen und Liebesbezeugungen seiner entzückend schönen Braut für echt. Wahrend Graf Komarowski mit seiner Braut in Orel bei Kiew weilte, trug er kein Bedenken, der Gräfin den 22jährigen Studenten Naumow vorzustellen. Dieser, am 23. September 1884 als Sohn eines russischen Gouverneurs geboren, war ebenfalls von seltener Anmut und Schönheit. Er war außerdem ungemein geistreich, von stattlichem Wuchs und prächtigem Körperbau. Sein Augenaufschlag mußte jedes Mädchenherz gefangen nehmen. Das schöne, schwarze, wellenförmige Haar, der wundervolle Mund, der ein kerngesundes, lückenloses Gebiß schneeweißer Zähne barg, und das künstlerisch geformte Engelsgesicht, diese Eigenschaften verfehlten auf die schöne Gräfin ihre Wirkung nicht. Der modernen Sirene gelang es selbstverständlich, den bezaubernd schönen Jüngling sofort nicht nur in ihre Netze zu locken, sondern auch, sich ihn vollständig dienstbar zu machen. Naumow gestand der Gräfin schon nach wenigen Stunden, daß er Neigungen huldige, denen der bekannte französische Marquis de Sade bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts gefrönt hatte. Er bat sie, ihn mit einer Zigarette auf den entblößten Arm zu brennen. Er erzählte, daß er bereits seit seinem 16. Lebensjahre mit Frauen verkehre, er könne aber nur solche Frauen aufrichtig und dauernd lieben, die seinen eigentümlichen Neigungen gerecht werden. Er liebe es, gepeinigt zu werden. Die Gräfin, die in den hübschen jungen Mann bis über die Ohren verliebt war, denn er war ein Adonis vom Scheitel bis zur Zehe, verstand es, wie keine zweite, den Jüngling in einer Weise an sich zu fesseln, daß sie ihn geradezu sklavisch zu beherrschen vermochte. Naumow besaß aber trotz alledem keineswegs allein das Herz der schönen Gräfin, obwohl er felsenfest davon überzeugt war. Wie bereits erwähnt, war die Gräfin die „glückliche“ Braut des reichen Grafen Komarowski. marowski. Sie hatte sich mit ihm verlobt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, sie zur Universalerbin seines unermeßlichen Vermögens zu machen und mit einer Lebensversicherungsgesellschaft einen Vertrag abzuschließen, wonach bei seinem Ableben ihr sofort die Versicherungssumme von einer Million Rubel zufallen solle. Graf Komarowski, der in die bezaubernd schöne Gräfin sterblich verliebt war und ihren Versicherungen, daß sie ihn allein liebe, vollen Glauben schenkte, willfahrte sogleich den Bitten der Gräfin. Welcher Mann wäre wohl auch imstande gewesen, der schönen Gräfin eine Bitte abzuschlagen, wenn er obendrein sofort mit heißen Küssen von dem allerliebsten Rosenmündchen belohnt wurde? Das Testament und die Versicherung wurden derartig abgeschlossen, daß die Gräfin das Geld bei einem etwaigen Ableben des Grafen noch im Brautstande sofort anstandslos ausgezahlt erhalten sollte. Nachdem diese Verträge geschlossen waren, sann das dämonische Weib darüber nach, in welcher Weise der Graf am schnellsten und unauffälligsten – beseitigt werden könnte. Sie beriet sich zunächst mit Prilukow. Dieser erklärte sich mit dem teuflischen Plan einverstanden. Wohl war dieser ehemalige Moskauer Rechtsanwalt von Stufe zu Stufe gesunken. Er hatte Ehre, Glück, Frau und Kinder diesem weiblichen Dämon geopfert. Er wußte, er könne sich die Liebe dieser Frau nur erhalten, halten, wenn er ihr vollständig gehorsam war. Allein – einen ihm fremden Mann zu „beseitigen“, seine Hände mit – Blut zu besudeln, diese Zumutung wies der ehemalige Rechtsanwalt mit Entschiedenheit zurück. Ein Fünkchen Ehre war ihm doch noch geblieben. Vor dem schrecklichsten Verbrechen, dem Morde, schreckte er doch zurück. Dann muß die Sache ein anderer besorgen, sagte sich die Gräfin. Wer war wohl leichter zur Ausführung eines Mordes zu bestimmen als der junge Naumow. Dieser leistete ihr längst in allen Dingen geradezu sklavischen Gehorsam. Ein Augenaufschlag der Gräfin, und Naumow war zu allem bereit. Aber ohne weiteres, so meinte Prilukow, wird sich Naumow nicht dazu entschließen, einen Mord zu begehen. Das leuchtete auch schließlich der Gräfin ein, zumal Graf Komarowski der gute Freund Naumows war. Die Gräfin und Prilukow veranlaßten die Absendung folgenden Telegramms: „Ihr Naumow ist ein Nichtsnutz. Es tut mir leid um meine guten Absichten. Sie sind auch nicht viel wert. Komarowski.“ Dieses an die Gräfin adressierte Telegramm zeigte letztere dem Naumow. Die Gräfin war ungemein erregt über das Telegramm und verlangte, daß Naumow ihr Genugtuung verschaffe. Dieser erklärte: er werde den Grafen fordern. Die Gräfin bemerkte ihm jedoch, daß ihr das nicht genüge, das Duell sei etwas Unsicheres, sie werde nicht eher ruhen, bis Graf Komarowski beseitigt sei. Wenn er, Naumow, nicht den Mut habe, ihre Ehre zu rächen, dann würden andere dazu bereit sein. Naumow hatte wohl der Gräfin am Grabe seiner Mutter geschworen, daß er sein ganzes Leben ihr weihe. Diesen Schwur mußte er am Grabe ihres früheren Geliebten, des Barons Stahl, der sich ihretwegen getötet hatte, wiederholen. Die Gräfin erzählte außerdem dem Naumow: Sie werde von dem Grafen Komarowski arg bedrängt. Sie werde schließlich den Grafen, den sie nicht ausstehen könne, heiraten müssen, wenn es ihr nicht bald gelingen sollte, ihn aus der Welt zu schaffen. Naumow stand wohl derartig im Bann der Gräfin, daß er bereit gewesen wäre, für sie zu sterben, allein er hatte noch soviel sittliches Gefühl, um sich nicht als Mörder dingen zu lassen. Die Gräfin hatte sich aber vorgenommen, ihren Willen durchzuführen. Sie hatte ja bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen. Es ist nur ein Opfer mehr, dachte sie. Und wenn dieser Mann beseitigt ist, dann komme ich in den Besitz eines unermeßlichen Vermögens. Wozu bin ich die von der ganzen Männerwelt angebetete schöne Gräfin, der alle Männer zu Füßen liegen? So schwirrte es durch den Kopf der Gräfin. Sie wußte schließlich den willensschwachen jungen Naumow zu bewegen, mit ihr und Prilukow nach Wien zu fahren. Hier an den Ufern der schönen blauen Donau setzte sie ihre Suggestionskünste gestionskünste noch einmal in volle Tätigkeit. Und – es gelang ihr in der Tat, den jungen Studenten zu bewegen, ihr zuliebe zum Mörder zu werden. Naumow fuhr in Begleitung von Prilukow nach Venedig. Am 3. September 1907 traf er in Venedig ein. Er wartete bis Mitternacht vor dem Hause des Grafen Komarowski. Da er sich krank fühlte, begab er sich schließlich in ein Hotel. Am nächsten Morgen ging er zu seinem Opfer ins Haus. Als der Graf ihn freundlich begrüßte, schoß er ihm, ohne ein Wort zu sagen, vier Revolverkugeln in den Leib. Der Graf rief: „Guter, Lieber, warum? Was habe ich dir getan?“ Vier Tage später erlag der Graf den erlittenen Verletzungen. Naumow hat alsdann angeblich sich selbst erschießen wollen, er hatte aber den Mut nicht dazu gefunden. Er ist schließlich nach Verona entflohen und wurde dort verhaftet. Naumow legte sofort ein offenes, reumütiges Geständnis ab. Infolgedessen wurden sofort die schöne Gräfin Mura Tarnowska, der ehemalige Moskauer Rechtsanwalt Prilukow und die Zofe der Gräfin, Kammerfrau Perier, verhaftet. Der furchtbare Mord erregte begreiflicherweise in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen und rief überall eine furchtbare Empörung hervor. Es wurde eine eingehende Untersuchung vorgenommen. Gegen Naumow wurde die Anklage wegen Mordes, gegen die Gräfin Tarnowska und Prilukow die Anklage wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum Morde und gegen die Kammerfrau Perier wegen unterlassener Anzeige erhoben. Unter der größten Spannung Europas begann endlich am 4. März 1910 vor dem Schwurgericht zu Venedig die Verhandlung. Den Vorsitz führte Landesgerichtsrat Tusitano. Die Anklage wurde vom Staatsanwalt Randi vertreten. Die Verteidigung führten die Advokaten Bertaccioli, Driussa und Marigomta für Naumow, die Advokaten Suzzatti, Florian und Caratti für Prilukow, die Advokaten Diena, Vecchini und Gotti für die Gräfin Tarnowska, die Advokaten Jocchia, Albert Musatti und Elias Musatti für die Perier.

Die alte Mutter des ermordeten Grafen Komarowski hatte sich der Anklage als Nebenklägerin angeschlossen und mit ihrer Vertretung die Advokaten Feder und Carnelutti betraut. Eine Anzahl Ärzte war sowohl von der Anklagebehörde als auch von der Verteidigung als Sachverständige geladen. Der Andrang des Publikums zu dieser seltenen Gerichtsverhandlung war begreiflicherweise geradezu beängstigend. Ein ungeheurer Fremdenstrom hatte sich in die prächtige Lagunenstadt ergossen. Jeder wollte Zuhörer und Zuschauer dieses schaurigen forensischen Dramas sein. Allein, da der Gerichtssaal verhältnismäßig klein war, und die aus der ganzen Welt in großer Zahl herbeigeeilten Zeitungsberichterstatter, denen vom Vorsitzenden das größte Entgegenkommen men bewiesen wurde, sehr viel Platz einnahmen, so konnte verhältnismäßig nur wenigen Personen aus dem Publikum der Zutritt gewährt werden. Im Mittelpunkt des Interesses stand selbstverständlich Gräfin Mura, genannt Mania Tarnowska. Sie war noch immer von berückender Schönheit. Sie wurde von einer Nonne und zwei Karabinieri in einer Gondel von der Guidecco ins Gerichtsgebäude geleitet. Ihr Gesicht bedeckte ein dichter Schleier. Die Frauenwelt betrachtete auch mit großem Interesse den schönen Naumow, über dessen bleiche Wangen unaufhörlich Tränen flossen. Auch der ehemalige berühmte Moskauer Rechtsanwalt erregte nicht geringes Interesse.

Nach erfolgter Auslosung der Geschworenen, die sehr lange Zeit in Anspruch nahm, wurde mit der Vernehmung des Naumow begonnen. Alle vier Angeklagten hatten während ihrer langen Haft so viel Italienisch gelernt, daß die Verhandlung ohne Dolmetscher geführt werden konnte. Naumow bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden in fließendem Italienisch: Im August 1906 sei er als erster Sekretär beim Gouverneur von Orel eingetreten. Sehr bald darauf habe er im Hause seines Opfers, des Grafen Komarowski, die Bekanntschaft der von ihrem Manne schon damals getrennt lebenden Gräfin Tarnowska gemacht. Die Gräfin machte sofort einen überwältigenden Eindruck auf ihn. Er getraute sich aber nicht, dies ihr zu offenbaren. ren. Deshalb habe er sich dem Grafen Komarowski anvertraut. Mit Hilfe der Zofe Perier entwickelte sich sein Verhältnis mit der Gräfin sehr bald bis zur äußersten Intimität. Die Gräfin reiste mit ihm und lebte mit ihm einige Wochen auf ihrem Landgut, behandelte ihn aber äußerst wetterwendisch, so daß er stets zwischen Himmel und Hölle schwebte und zu ihrem willenlosen Sklaven wurde. Naumow erzählte hierauf ausführlich von seinen Reisen mit der Tarnowska, bei denen sie ihn stets sehr streng behandelte. Infolgedessen war er oftmals der Verzweiflung nahe. Da ihm überdies die Mittel ausgegangen waren und seine Eltern ihm erst kürzlich. Geld geschickt hatten, so wandte er sich an die Schwester des Grafen Komarowski und erhielt von dieser 1500 Rubel. In Wien verpflichtete ihn die Tarnowska dazu, während einer Woche das Hotel, in dem sie ihn allein einquartiert hatte, nicht zu verlassen. Naumow schilderte hierauf in ausführlicher Weise, wie die Tarnowska in ihn gedrungen sei, den Grafen Komarowski zu ermorden. Sie wollte mit aller Gewalt, daß ich ihn ermorden sollte, rief der Angeklagte in höchster Erregung aus. Er weinte bei diesen Worten wie ein Kind und mußte hinausgeführt werden. Nachdem die Sitzung wieder aufgenommen war, fuhr der Angeklagte in seiner Erzählung fort und verbreitete sich darüber, wie er sich mit aller Kraft gegen den Willen der Tarnowska gesträubt sträubt habe, bis er nicht mehr gewußt habe, was er tue. Wieder und wieder habe sie ihn mit Liebkosungen überhäuft, dann mit Anklagen, daß er sie nicht liebe. Schließlich sei sein armer Kopf wüst und leer gewesen, und er habe alles versprochen, was sie gewollt habe. Noch während der Reise habe er gehofft, daß ein Telegramm von ihr ihn von der Tat abhalten werde, aber es seien nur leere Liebesbeteuerungen eingetroffen. Aus seiner Wäsche und seinen Papieren habe er alle Erkennungszeichen entfernen und ihr versprechen müssen, sich eher selbst zu töten, als sie zu verraten. Unter konvulsivischem Schluchzen erzählte der Angeklagte, die letzten Worte Komarowskis an ihn seien gewesen: „Guter, Lieber, warum? Was habe ich dir getan?“ Er habe den Revolver darauf gegen sich selbst gerichtet, der Schuß sei aber nicht losgegangen. Darauf habe er sich dem Grafen gegenüber gesetzt und auf seine Verhaftung gewartet. Die Leute, die gekommen seien, hätten ihn aber ins Hotel geführt, und nun habe ihn eine namenlose Angst gepackt, er sei geflohen und in Verona verhaftet worden. Alsdann wandte sich Naumow an die Geschworenen: „Ich habe in meinem Leben viel gefehlt; aber ich schwöre Ihnen, meine Herren, daß ich nichts hinzugefügt und nichts verschwiegen habe.“ Gebrochen sank er in seinen Stuhl zurück und schluchzte laut und heftig. Unter dem Publikum saß auch der Vater Naumows mows und weinte bitterlich. Prilukow und die Zofe Perier waren offenbar von dem, was Naumow sagte, ergriffen. Sie weinten still. Nur das Gesicht der Tarnowska blieb eisig kalt. Nichts ließ in ihrem Gebärdenspiel oder in der Haltung ihres Körpers vermuten, daß sie ergriffen, ja nur im leisesten bewegt wäre. Nachdem sich Naumow wieder erholt hatte, fuhr er fort: Die Gräfin Tarnowska war so wandelbar und launenhaft, daß ich mir nie darüber klar war, wie ich mich zu ihr stellen sollte. Oft behandelte sie mich schlecht, namentlich in Wien, wo sie mir verbot, mein Hotelzimmer zu verlassen. Ich sah sie dort eines Tages in einer Equipage mit einem Unbekannten vorüberfahren und nahm an, daß dies der Fürst Trubetzkoi sei, denn sie hatte sich oft ihrer Beziehungen zu diesem gerühmt. Darauf schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich ihr sagte, daß ich mir das Leben nehmen werde. Sofort kam sie zu mir ins Hotel und überschüttete mich mit Vorwürfen; sie sagte zu mir: „Du bist ein Kind; du willst dich töten und weißt doch, daß ich dich nötig habe.“ Darauf nahm sie mir den Revolver weg, den mir seinerzeit der Gouverneur von Orel geschenkt hatte. Am 25. August 1907 fuhr ich mit der Gräfin Tarnowska von Wien nach Kiew ab. Während der Fahrt ging uns ein Telegramm mit der Unterschrift „Komarowski“ zu, das höchst beleidigenden Inhalts war; die Tarnowska sagte zu mir: „Man muß ihn töten.“ Der Vorsitzende richtete darauf die Frage an den Angeklagten: „Sind Sie auf dieser Reise zur Gräfin in intime Beziehungen getreten?“ Naumow erwiderte: „Ja, so ist es gewesen.“ Er sagte es mit leiser Stimme und ließ das Haupt sinken, während die Tarnowska in ihrer unbeweglichen und unerschütterlich kühlen Haltung verharrte. Im weiteren Verlauf schritt der Vorsitzende zu der Gegenüberstellung des Naumow und der Tarnowska. Ein Karabinieri stand zwischen beiden. In großer Erregung erklärte Naumow: „Ich bleibe bei dem, was ich seit mehr als zwei Jahren wiederhole. Das gefälschte Telegramm allein und der Wunsch, mich an Komarowski zu rächen, hätten mich nicht dazu gebracht, nach Venedig zu fahren.“

Tarnowska: „Das Telegramm allein hat ihn dazu bestimmt; sonst hätte ich nicht schon am nächsten Tage Prilukow von der erfolgten Abreise Nachricht geben können.“

Naumow: „Sie, Gräfin, haben vor zwei Jahren schon bei einer Konfrontation erklärt, daß ich Lügen rede, und ich tue nun nichts, als daß ich dasselbe von Ihnen sage.“

Tarnowska: „Sagen Sie die Wahrheit, sagen Sie sie!“

Naumow: „Ich sage die reine Wahrheit. Ja, die Gräfin sagte, wenn ich nicht fahren wolle, solle ich bleiben, aber sie werde Trubetzkoi schicken.“

Tarnowska: „Das ist nicht wahr! Ich habe Ihnen sogar von der Reise abgeraten.“

Naumow (schreiend): Das ist kein Abraten, wenn Sie sagten: „Wenn du nicht gehst, werde ich Trubetzkoi schicken.“

Tarnowska: „Ich bleibe dabei, daß ich Ihnen gesagt habe, Sie sollten nicht reisen.“

Naumow: „Nach Ihrer Auffassung.“

Tarnowska: „Nach der Auffassung aller.“

Die Aufregung der Streitenden hatte den Gipfelpunkt erreicht. Naumow brüllte mehr, als er sprach; die Tarnowska zeigte eisige Verachtung und spöttische Überlegenheit. Ihre Stimme klang zischend. Die Erregung der Zuhörer war ungeheuer.

Vors.: „Naumow, hat Ihnen die Gräfin gesagt, Sie sollten die Zeichen aus den Kleidern entfernen?“

Naumow: „Ja.“

Tarnowska: „Das ist nicht wahr, das war erst in Kiew.“

Naumow: „Es war in Kiew, Moskau und Wien.“

Tarnowska: „Es ist nicht wahr!“

Vors.: „Naumow, Sie sagten, nachdem Sie zu trinken aufgehört hatten, lehnten Sie sich dagegen auf, Komarowski zu ermorden; da sei die Gräfin wieder grausam gegen Sie gewesen.“

Naumow: „Es ist wahr, es ist wahr. Ich hatte mich einen Augenblick aufgelehnt. Aber sie fuhr fort, mich anzustacheln.“

Tarnowska: „Es ist nicht wahr, ich stelle es absolut in Abrede.“

Vors. (zu Naumow): Sie hat zu Ihnen beim Abschied gesagt: „Ich sehe, daß du mich mehr liebst als alle, und auch ich liebe dich mehr als alle?“

Tarnowska: „Ich erinnere mich nicht.“

Naumow: „Ich erinnere mich sehr gut.“

Tarnowska: „Wie kommt es, daß Sie sich an alles das erinnern, was gegen mich ist? An die Wahrheit erinnern Sie sich nicht!“

Naumow: „Doch! Ich sage die ganze Wahrheit, ich sagte schon: Ja, ich habe ihn getötet!“

Rechtsanwalt Bertaccioli: „Welche Gespräche wurden am 27. August in Kiew geführt?“

Naumow: Am Grabe Stahls sagte die Tarnowska zu mir: „Wenn Stahl lebte, würde er mich rächen.“

Vors.: „Ist das wahr, Tarnowska?“

Tarnowska: „Ich sagte ihm, Stahl würde Komarowski eine Lektion erteilen.“

Vors.: „Was wurde in der Nacht gesprochen?“

Naumow: „Ich war betrunken; ich erinnere mich nicht gut.“

Tarnowska: „In den früheren Verhören wußte Naumow sich zu erinnern, er sei bis drei Uhr nachts bei mir geblieben.“

Naumow: „Kann sein; aber das ist lange her.“

So endete die erregte Zwiesprache zwischen den Schuldgenossen, die das „Du“ von einst im Gerichtssaale mit dem „Sie“ der erbittertsten Feindschaft vertauschten. Sehr eingehend war die Vernehmung Prilukows. „Ich lernte die Eheleute Tarnowski kennen,“ sagte er, „als sie auf dem Landgut Ostrada in der Provinz Poltawa, nicht weit von Kiew, wohnten. Es ging damals bereits das Gerücht, daß sie nicht glücklich miteinander lebten, und daß das Verhalten der Gräfin an dem Zerwürfnis schuld sei. Es kam dann auch zu der Affäre, als der Graf aus Eifersucht einen seiner Freunde erschoß. Damals forderte mich die Gräfin auf, sie zu besuchen; sie wünschte meinen Rat als Rechtsanwalt darüber zu hören, wie sie sich nach diesem Vorfall am besten zu verhalten habe.“ Prilukow erzählte dann die Geschichte seiner Beziehungen zu der Angeklagten. Letztere habe ihm in einem Brief ihre Liebe erklärt. Darauf habe er ihr geschrieben, daß er aus Rücksicht auf seine Kinder es ablehnen müsse, ihr Geliebter zu werden. „Allein,“ so etwa fuhr der Angeklagte fort, „die Empfindungen für sie hatten bereits in mir Wurzel geschlagen und wuchsen stetig; in Moskau hat dann unser inniges Verhältnis seinen Anfang genommen.“ Die Tarnowska bedeckte, als Prilukow so sprach, mit der Hand die Augen, als ob sie weinte. Sie zeigte sich erregt und war auffallend bleich. Prilukow erzählte weiter: Alsbald hat die Gräfin mich aufgefordert, daß ich Frau und Kinder im Stiche lasse. Ich leistete ihr aber Widerstand. Da nahm sie, es war Ende 1905, eine starke Dosis Kokain, um sich zu vergiften. Ein herbeigerufener Arzt vermochte sie zu retten. Bei dieser Bekundung Prilukows wurde die Angeklagte von einer Nervenkrise ergriffen; sie verließ plötzlich ihren Sitz und stürzte wie wahnsinnig aus dem Saal, gefolgt von Gendarmen, den Rechtsanwälten und einem Arzte. Letzterer gab ihr sofort ein Beruhigungsmittel. Gleich darauf wurde sie in den Saal zurückgeführt und erklärte, sie sei davongegangen, weil sie gefürchtet hätte, hinzufallen. Sie erleide jedesmal, sooft sie nur von Kokain sprechen höre, einen Nervenanfall. In der Nachmittagssitzung erzählte Prilukow, wie er in seiner Seelenangst eines Tages Chloralhydrat nahm, um sich zu vergiften. „Ich hatte“, sagte er, „einen Brief an meine Frau hinterlassen, worin ich den wahren Grund der Verzweiflungstat beichtete; auch hatte ich mich zugunsten meiner Kinder in eine Lebensversicherung eingekauft.“ Er wurde gerettet und unternahm dann Reisen mit der Tarnowska nach Wien, Berlin, Paris und Algier. Da die Tarnowska ihm beständig mit Geldanliegen kam, sah er sich genötigt, Klientengelder zu unterschlagen. Mittlerweile reiste die Tarnowska voraus ins Ausland und – (da sie sehr fromm war!) –ließ sie Prilukow vor Heiligenbildern schwören, daß er sofort nachkommen werde, sonst würde sie sich umbringen. Da auch er, Prilukow, sehr fromm sei, so sei er schleunigst nachgereist und habe sie in Wien eingeholt. Oft habe er später die Notwendigkeit erkannt, sich von der Tarnowska zu trennen, wiederholt verließ er sie auch, aber jedesmal kehrte er reuig zurück. Da Prilukow bei dieser Rede von Weinkrämpfen befallen wurde, mußte die Sitzung unterbrochen werden. Er erzählte dann, wie die Tarnowska häufig versuchte, ihn zum Selbstmorde zu verleiten. Beide waren damals in Berlin. In einem lichten Augenblicke beschloß er, mit dem Weibe zu brechen. Er floh nach München, von wo er aber der Tarnowska sofort die glühendsten Liebesbriefe schrieb. Nun reiste das Paar nach Venedig, wo sich Komarowski aufhielt. Eines Abends speiste dort die Gesellschaft im Hotel Lido. Plötzlich stand die Tarnowska auf und ging hinaus. Er folgte ihr, und draußen im Garten des Hotels sagte die Tarnowska zu ihm: „Ich kann diesen Menschen (Komarowski) nicht ausstehen, befreie mich von ihm, er muß vom Erdboden verschwinden.“ Dieselbe Aufforderung wiederholte die Tarnowska zu Prilukow, als sie später mit Komarowski und dessen Sohn und mit der Zofe Perier nach Wien fuhr. Im Wagenabteil, gewissermaßen unter den Augen Komarowskis, beschwor sie ihn, sie doch von ihm zu befreien. Die Tarnowska empfahl indessen, hierzu keinen Revolver zu gebrauchen. Beide erörterten die verschiedenen Methoden, um Komarowski ohne Geräusch zu beseitigen. Damals erwähnte auch die Tarnowska zum erstenmal den Namen Naumows. Dies erregte sofort seine Eifersucht. Im weiteren Verlauf berichtete Prilukow über die Art, wie die Tarnowska mit ihm die Vorbereitungen für die Ermordung des Grafen Komarowski traf. Zuerst war geplant, daß Prilukow selbst den Grafen beiseite schaffen sollte. „Nach langen Unterredungen,“ sagte er, „gelang es der Tarnowska, mir das Versprechen abzunehmen, daß ich den Grafen töten werde, und es wurde weiter vereinbart, daß ich sofort nach der Tat auch mich selbst umbringe. Sie gab mir einen Revolver und erteilte mir genaue Anweisung, wie ich von dem Mordwerkzeug, sowohl bei Komarowski wie bei mir selbst Gebrauch zu machen habe. Ich sollte mich, nachdem ich den Grafen erschossen, durch einen Schuß in den Mund töten, der so ausgeführt werden mußte, daß mein Gesicht durch die Gewalt des Schusses völlig unkenntlich werde, so daß, wenn mein Leichnam gefunden würde, niemand meine Persönlichkeit festzustellen vermöchte. Als wir dann in Wien waren, kam Naumow dazu, und hier änderte die Tarnowska ihren Plan. Sie meinte, es sei besser, wenn Naumow die Mordtat ausführe, da er sich mehr dazu eigne als ich. Jedoch verlangte sie von mir, daß ich von Wien aus eine mit dem Namen Komarowski marowski unterzeichnete beleidigende Depesche an sie absende. Sie reiste danach mit Naumow nach Rußland ab. Die Depesche habe ich ihr, wie verabredet, geschickt. Es ist mir nicht möglich, zu beschreiben, in welcher Seelenverfassung ich mich damals befand. Ich war in Verzweiflung und nicht mehr Herr meines Willens. Ich folgte dem Naumow nach Venedig, weil es der Wunsch der Gräfin war, daß ich sofort nach der Ausführung der Mordtat die Verhaftung Naumows herbeiführen solle. Indem sie mir diesen Plan nahelegte, gab sie mir die Hoffnung, daß sie dann ganz allein die Meine sein werde.“ Bei diesen Worten blickte die Tarnowska ihren Mitangeklagten eine Weile mit funkelnden Augen an; doch gewann sie gleich darauf ihre Ruhe wieder. Der Vorsitzende verlas dann vier Telegramme, die von der Tarnowska an einem und demselben Tage aus Wien an den Grafen Komarowski, an Prilukow und an Naumow aufgegeben wurden und die zeigen, wie sie mit allen drei Männern gleichzeitig ein fürchterliches Spiel getrieben. Alsdann wurde die Reise der Gräfin Tarnowska und Komarowskis nach Wien erörtert, die Prilukow nicht in demselben, sondern in einem anderen Abteil des Zuges mitmachte. Komarowski hatte von der Mitreise Prilukows keine Ahnung. In Wien nahm dann Prilukow den falschen Namen Seiffer an. Er bestritt, gewußt zu haben, daß jenes bekannte apokryphe Telegramm gramm die Aufforderung zur Ermordung des Komarowski enthalten habe. Ihm sei der Sinn der Depesche nicht klar gewesen. Die Tarnowska habe ihn zur Ausführung des Mordplanes nicht für geeignet gehalten, sondern auf Naumows Gefügigkeit mit größerer Sicherheit gerechnet. Bei diesen Aussagen begann Prilukow wieder laut zu weinen. Prilukow erholte sich sehr bald und machte seine weiteren Angaben mit größter Klarheit. Er bemerkte: In dem Augenblick, als das Delikt ausgeführt wurde, sei er herbeigeeilt, nicht um Mithelfer zu sein, sondern in dem Glauben, daß er ein Unglück verhindern könne. Im übrigen sei er sich des Zusammenhanges der Dinge nicht ganz bewußt gewesen, weil die Tarnowska ihn unausgesetzt durch lügenhafte Berichte irreführte. Außerdem sei er, der Quälereien müde, die ganze Zeit mit dem Plane umgegangen, sich selbst das Leben zu nehmen. Zum Schlusse beteuerte er, daß er von der Spekulation der Tarnowska auf die Lebensversicherungsprämie nach Komarowskis Tode nichts gewußt habe.

Es wurde darauf die Gräfin Tarnowska vernommen. Sie habe, so bemerkte sie, in Wien bei der Polizei die volle Wahrheit gesagt; aber im Kerker habe sie, nachdem sie einen Brief von Prilukow erhalten hatte, falsch ausgesagt. Jetzt, so fuhr sie fort, vor Ihnen, meine Herren (die Geschworenen apostrophierend), will ich die volle Wahrheit sagen. Meine Erzählung zählung wird lang und peinlich sein. Es wird die Geschichte meiner Leiden sein, die ich erzähle, und die Geschichte der schrecklichen Anklage, unter der ich stehe, werde ich nicht verheimlichen. Ich habe die ersten Jahre meines Lebens bei meinen Eltern verbracht. Mit fünfzehn Jahren wurde ich in einem Pensionat für adlige Kinder untergebracht. Mit sechzehn Jahren lernte ich den Grafen Tarnowski kennen, der bei uns zu Besuch weilte und mit meinen Eltern befreundet war.

Vors.: Tarnowski hatte sich in Sie verliebt?

Angekl.: Im Sommer 1894 hat er sich um meine Hand beworben. Mein Vater war dagegen und der Vater meines zukünftigen Mannes auch; um diese Hindernisse zu überwinden, ließen wir uns heimlich in einem Dorfe bei Kiew trauen. Gleich darauf begaben wir uns nach Petersburg. Mein Mann drückte sehr oft den Wunsch aus, eine Tochter zu bekommen. Er begann dann einer Dame den Hof zu machen, die von ihm auch ein Kind erhielt. Tarnowski erzählte mir später, daß er diese Dame verlassen habe; doch erfuhr ich, daß die Dame von ihm fort sei.

Vors.: Was für ein Leben haben Sie mit Ihrem Manne geführt?

Angekl.: In Petersburg hat mich mein Mann immer in Restaurant – oder Cafékonzerte geführt, wo mir viele den Hof machten. Einmal erklärte mir ein Freund meines Mannes, daß er mich liebe. In meiner Offenheit erzählte ich es meinem Manne wieder. Er meinte, er sei nicht mein Wächter, und es würden mir noch andere den Hof machen. Eines Tages hatte ich den Einfall, einen Besuch bei der ehemaligen Geliebten meines Mannes zu machen. Sie sagte mir, ich müßte mit meinem Manne ein sehr trauriges Leben führen, denn es sei bei seinem Charakter nicht anders möglich.

Vors.: Sie behaupten, daß Ihr Mann Sie zu einem liederlichen Lebenswandel geführt habe?

Angekl.: Nachdem ich im Pensionat und auch bei meinen Eltern ein Klosterleben geführt hatte, war mein späteres Leben lasterhaft. Eines Tages besuchte mein Mann seine Tochter, das Kind jener Dame, und erzählte mir davon. Dies ekelte mich an, und ich verließ Petersburg, um mich nach Kiew zu begeben. Mein Mann kam dann zu mir. Als ich eines Tages ins Zimmer trat, sah ich meinen Mann, wie er das Dienstmädchen umarmte. Ich habe ihm verziehen, weil ich immer hoffte, Mutter zu werden und ihn dadurch an mich zu fesseln. Aber es ist leider nicht so gekommen. Nach drei Jahren bekam ich ein Kind. Es war ein Knabe. Aber mein Mann kam nicht zu mir zurück, sondern führte sein liederliches Leben weiter. Mein Mann war sehr unzufrieden, da er sich eine Tochter gewünscht hatte. Ich hegte die Hoffnung, daß er mit der Zeit doch seinen Sohn liebgewinnen werde. Ich täuschte mich aber. Im nächsten Jahre brachte mich mein Mann nach Mailand, weil er dort Gesangsstudien machen wollte. Von dort gingen wir nach Venedig und von da nach Pegli an der Riviera, wo ich an Typhus erkrankte. Als ich 40 Grad Fieber hatte, wurde ich in das Krankenhaus nach Genua transportiert. Mein Mann verließ mich dort und kam nicht wieder. Ich war krank bis zum Monat Oktober. Dann begab ich mich nach Florenz und Rom, wo ich wieder die Geliebte meines Mannes sah. Am 15. April 1898 bekam mein Mann ein Telegramm von seiner Schwester, welches ihm mitteilte, daß Peter Tarnowski, mein Schwager, sich erhängt habe. Man sagte damals, daß ich die Schuld an dem Selbstmord trüge. Es werden aber Zeugen aussagen, daß ich zu jener Zeit gar nicht in Italien war und seit dem Monat Oktober meinen Schwager nicht gesehen hatte. Als wir nach Kiew kamen, wurde uns die traurige Geschichte des jungen Grafen erzählt. Er hatte einen Selbstmord begangen, weil er Prüfungsdokumente gefälscht hatte. Ein Jahr später – 1899 – brachte mich mein Mann nach Moskau. Die Mutter meines Mannes stellte mir das Ehepaar Prilukow vor. Ich erinnere mich, daß sich Prilukow von Anfang an auffällig gegen mich benahm. Er vertraute mir an, daß er in seiner Ehe unglücklich lebe. Er trank viel, und eines Abends sah ich ihn vollständig ständig betrunken ein Gasthaus verlassen. Dann sah ich ihn nicht mehr, bis zum Jahre 1904. Damals erfuhr ich, daß Prilukow der Liebhaber der Frau des Advokaten Karzew war. Eine Freundin meines Mannes erzählte mir auch, daß Prilukows Frau oft weinte und sich sehr unglücklich fühlte. Die Ursache ihres Kummers war ihr Mann.

Vors.: Ich möchte Sie wieder bitten, etwas lauter zu sprechen und sich etwas kürzer zu fassen.

Frau v. Tarnowska (mit kaum vernehmbarer Stimme): Ich bitte um etwas Wasser, ich fühle mich unwohl. Der Vorsitzende rügte das Verhalten des weiblichen Publikums und erklärte, daß er die Damen schon mit Rücksicht auf ihre großen Hüte von der nächsten Verhandlung ausschließen werde.

Gräfin v. Tarnowska (fortfahrend): Im Jahre 1899 starb mein Schwiegervater. Nach dem Testament bekam mein Mann zwei Teile der Erbschaft. Wir weilten damals in Kiew, wo ich erfuhr, daß mein Mann einer mir bekannten Dame den Hof mache. Ich nahm daraufhin mein Kind und ging von ihm fort. Später rief er mich jedoch zurück. Um diese Zeit bekam ich eine Tochter. Ich mußte nun eine neue Enttäuschung erleben. Mein Mann flüchtete mit seiner Geliebten nach Petersburg, und infolge der Aufregungen litt ich seit jener Zeit an Herzkrämpfen. 1901 machte ich in Nizza, wo ich zur Kur weilte, die Bekanntschaft kanntschaft des Ehepaares Komarowski. 1902 hatte mein Mann in Nizza ein Duell mit einem russischen Offizier, einem Grafen Tolstoi. Der Grund des Duells war eine Auseinandersetzung wegen einer Geliebten meines Mannes. Dieser Offizier stand mir nie nahe, er hat sich nie für mich interessiert, und trotzdem behauptete man, daß ich die Ursache des Duells gewesen sei. Übrigens hat mein Mann bei diesem Duell nur eine leichte Wunde am rechten Arm erhalten. Nach Franzensbad ging ich mit meinem Kinde und der Perier, die sich sowohl mir als auch meinem Kinde gegenüber überaus geduldig und herzlich zeigte. Die Perier begann bei diesem Lobe ihrer Herrin zu weinen.

Vors.: Und später sind Sie nach Kiew zurückgekehrt?

Angekl.: Ja, nach der Franzensbader Kur begab ich mich wieder nach Kiew, wo ich erfuhr, daß mein Mann eine neue Geliebte hatte – eine russische Dame. Ich bat ihn, mit mir ins Ausland zu fahren. Nach einer Woche reisten wir in eine kleine Station bei Toulouse. 1905 kamen wir nach Kiew zurück, wo mir das Ehepaar Stahl Herrn Borgewski vorstellte. Dieser verliebte sich gleich in mich, und ich liebte ihn ebenfalls. Eines Abends vertrieben wir uns auf dem Strande die Zeit mit Scheibenschießen. Borgewski legte nun, als ich eben im Begriffe war, loszudrücken, die rechte Hand vor die Mündung meines Gewehres. Es war zu spät, ein Unglück zu verhindern. Ich hatte losgedrückt, und Borgewskis Hand wurde zerschossen.

Vors.: Und wer hatte die Kugel in Ihr Gewehr gegeben?

Gräfin v. Tarnowska: Borgewski, weil er mir erklärt hatte, daß er mich liebe. Ich antwortete ihm, daß ich seine Worte für einen Scherz halte. Er entgegnete jedoch, er werde mir zeigen, daß er keinen Scherz mache. Ich nahm die Flinte, feuerte und – wie gesagt – Borgewski wurde an der Hand schwer verletzt. Das war der Beweis, daß er mich liebte, wahnsinnig liebte! Ich wurde dann seine Geliebte. Ich habe gewiß Unrecht getan, aber nach acht Jahren so höllischen Lebens mußte ich in die Arme eines so guten und offenherzigen Mannes fallen. Einmal fand beim Ehepaar Stahl ein Ball statt. Mein Mann begleitete mich dahin. Plötzlich nahm er mich im Ballsaal an Hals und zerrte mich hinaus. Es war ein solcher Skandal, daß wir am nächsten Tage ein Dejeuner geben mußten, um zu zeigen, daß wir noch beisammen lebten. Bei dieser Gelegenheit warf mir mein Mann eine Schatulle mit Silbergeräten nach, die mich am Fuße traf, dann schlug er mich. Ein gewisser Semenzow, der gleichfalls in mich verliebt war, hatte, um sich zu rächen, meinem Mann von meinen Beziehungen zu Borgewski erzählt. Es kam zu einer Forderung, doch fand das Duell nicht statt. Mein Mann kam zu mir und bat mich, ihn mit Borgewski wieder zu versöhnen. Die Versöhnung fand am nächsten Tage in Kiew statt. Mein Mann und Borgewski umarmten sich. Dann gingen wir zum Souper, das Borgewski bezahlte. Am Ende des Soupers umarmten sich die beiden Männer wieder und küßten sich. Borgewski küßte mir die Hand und begleitete mich zum Schlitten. Ich war noch nicht eingestiegen, als ein Revolverschuß ertönte, der mir eine Feder auf meinem Hute durchlöcherte. Mein Mann hatte geschossen; Borgewski fiel. Mein Mann lachte laut und rief: „So ist’s gut!“ Borgewski mußte wegen der Schußwunde zweimal operiert werden. Mein Mann nahm sich dann die Tochter und ich behielt mir den Sohn. Bald darauf ging ich mit der Perier und meinem Kinde nach der Krim. Während der Reise begegnete ich auf einem Bahnhofe Borgewski und Stahl. Sie sagten mir, sie würden mich verteidigen und mit mir nach der Krim gehen. Ich ersah daraus, daß Borgewski mich nicht verlassen wollte. Ich habe ihn geliebt, aber ich habe mir gedacht, wenn mein Mann bereit wäre, wieder zu mir zurückzukehren, würde ich Borgewski verlassen. Mein Mann antwortete mir jedoch in einem Telegramm: „Mit uns beiden ist es für immer aus!“ Ich ging dann mit Borgewski. Dieser erkrankte schwer infolge der Wunde, und die Ärzte konstatierten Meningitis. Nach 36stündiger diger Agonie starb er in meinen Armen. Ich habe Borgewski geliebt. Es ist falsch, daß Stahl dazu beigetragen hat, Borgewski den Todesstoß zu versetzen. Gräfin v. Tarnowska erklärte nun, sie könne absolut nicht weitersprechen und begann heftig zu weinen. Während ihrer Rede verfolgten Naumow und Prilukow ihre Worte mit der größten Aufmerksamkeit. Am folgenden Tage wurde kein weibliches Publikum mehr in den Verhandlungssaal gelassen. Die Angeklagte, Gräfin Tarnowska, setzte ihre Aussage fort: Ich kam nach Kiew zurück. Stahl war in den Russisch-Japanischen Krieg gezogen. Ich erbat von meinem Gatten die Erlaubnis, meine Tochter sehen zu dürfen, was mir aber nicht gestattet wurde. Während meines Aufenthaltes auf dem Lande gab mir ein Freund meines Mannes den Rat, ich solle meine Beziehungen zu diesem regeln. Daraufhin schrieb ich an Prilukow, daß ich in den nächsten Tagen nach Moskau kommen würde, um bei ihm als Anwalt Rat zu suchen. Allein ein wütender Hund biß mich damals, so daß ich sehr lange krank daniederlag. Ich schrieb dies dem Prilukow und bat ihn, er möge zu mir nach Kiew reisen. Er kam auch wirklich; er war sehr aufmerksam, brachte mir Blumen, und eines Tages sagte er mir, daß er blinden Gehorsam von seinen Klienten verlange. Im weiteren Verlauf ihrer Vernehmung erzählte die Gräfin Tarnowska ausführlich, wie sich das Liebesverhältnis zwischen Prilukow und ihr entwickelt habe. Es ist nicht wahr, bemerkte sie, daß ich Prilukow genötigt hätte, seine Familie zu verlassen, oder daß er durch mich finanziell ruiniert worden wäre. Im Gegenteil, er hatte nichts, während ich in behaglichem Wohlstand lebte. Ich hatte mich zu jener Zeit an starke Kokaingetränke gewöhnt, und unter dem demütigenden Eindruck der Vorgänge, die mich in eine zweideutige Lage gebracht hatten, machte ich den Versuch, mich zu vergiften. Ich wurde gerettet, blieb aber leidend. In Moskau gab mir ein Arzt den Rat, zu meiner Erholung ins Ausland zu reisen. Ich fuhr nach Wien und dann nach Berlin, wohin mir Prilukow nachreiste. Er übergab mir dort eine große Summe, ich glaube 120000 Kronen. Woher das Geld kam, wußte ich nicht. Wir fuhren dann zusammen nach Paris, wo ich meinen Sohn in einem Internat unterbrachte. Dann fuhren wir, während die Perier nach Neuchatel ging, zusammen nach Marseille und Algier. Dort blieben wir zwei Monate und kehrten dann nach Marseille zurück. Prilukow hatte mir inzwischen gestanden, daß die Summen, die er mir übergab, aus Veruntreuungen herrührten, und schlug mir vor, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Ich wollte jedoch nicht. In Paris traf ich mit dem Grafen Komarowski zusammen, der seine Gattin kurz vorher durch den Tod verloren hatte. Ich nahm meinen Sohn aus der Pariser Anstalt wieder heraus und reiste mit dem Grafen Komarowski nach Rußland zurück, während Prilukow in Frankreich blieb. In Orel stellte Graf Komarowski mir den jungen Naumow vor. Dieser erklärte mir sogleich, daß er von Leidenschaft für mich ergriffen sei. Am ersten Abend unserer Begegnung sagte er mir, daß er Masochist sei. Er bat mich, ihn mit einer Zigarette auf den Arm zu brennen. Er brachte auch mir mit seiner Zigarette eine Brandwunde am Arm bei, wovon die Spur noch zu sehen ist. Ich begab mich dann mit Komarowski nach Petersburg, um von dort aus meine Scheidung vom Grafen Tarnowski zu betreiben. Es ist nicht wahr, daß dort Graf Komarowski im Hotel nachts auf mein Zimmer gekommen ist. In Petersburg empfing ich einen Brief von der Perier, die mir mitteilte, daß Naumow aus Liebessehnsucht nach mir sich dem Trunk ergeben habe. Ich telegraphierte ihm darauf: „Mein Teurer!“ und er antwortete: „Meine Teure!“ Dann sandte ich ihm ein neues Telegramm, in dem ich ihm das Trinken untersagte und hinzufügte: „Du bist mein!“ Während die Tarnowska diese Worte sprach, errötete sie leicht und ließ den Kopf sinken. Naumow blickte sie unverwandt an. In Orel, so etwa fuhr die Angeklagte fort, gab mein Gatte ein Diner, an dem Naumow teilnahm. Es machte mir Freude, Naumow zu verhätscheln, denn er gefiel mir immer mehr wegen seines ritterlichen Charakters, der mich an den getöteten Borgewski erinnerte. Komarowski begab sich dann auf seine Güter, und ich ging mit Naumow nach Kiew. Es ist richtig, ich habe ihn schwören lassen, daß er mir immer treu sein werde, nicht aber, daß er immer meinem Willen untertan sein werde.

Vors.: „Sie haben also mit Naumow, Prilukow und Komarowski eine Art Triole gebildet?“

Tarnowska: „Ja, Exzellenz.“

Vors.: „Und warum?“

Tarnowska: „Weil ich eine Person suchte, die mir als Stütze dienen konnte.“

Vors.: „Aber sind drei Liebhaber auf einmal nicht ein wenig zuviel?“ (Heiterkeit.)

Tarnowska: „Ich suchte mein Ideal!“

Vors.: „Und Komarowski bat inzwischen um Ihre Hand?“ Auf weitere Fragen des Vorsitzenden schilderte dann die Angeklagte die folgenden Vorgänge bis zur Ermordung Komarowskis in dem Hause am Campo San Giglio in Venedig. Ihre Erzählung stimmte im großen und ganzen mit den Angaben Prilukows überein. Nur behauptete sie in direktem Widerspruch zu seinen Aussagen, Prilukow sei es gewesen, der ihr die Idee mit der Lebensversicherung und dem Testament Komarowskis eingab! Ebenso versicherte sie, wieder im Gegensatz zur Darstellung Prilukows, letzterer habe sie dazu gedrängt, den Mord durch Naumow ausführen zu lassen. Sie habe schwachen Widerstand stand geleistet, aber sich dann dem Willen Prilukows gefügt. Mit dem Geständnis ihrer Mitschuld an dem Verbrechen schloß die Gräfin ihren langen Bericht unter ungeheurer Bewegung im Zuhörerraum. In ihrer fortgesetzten Vernehmung erklärte die Angeklagte

Tarnowska: Als ich dem Naumow das Telegramm mit der angeblichen Unterschrift Komarowskis zeigte, hegte ich immer noch die Hoffnung, Prilukow habe seinen Gedanken, daß Komarowski getötet werden müsse, wieder aufgegeben. Daß ich an Prilukow telegraphiert habe, er solle sein möglichstes tun, um Naumow zur Ausführung des Mordes zu bewegen, ist richtig. Aber ich habe auch, als ich in Moskau dem Naumow genaue Anweisungen gab, wie die Mordtat vollbracht werden soll, nur dem Willen Prilukows gehorcht. Und es ist nicht wahr, daß ich in Moskau eine Nacht mit Naumow zugebracht hätte. Als Naumow von Moskau nach Venedig unterwegs war, um dort das verabredete Verbrechen auszuführen, habe ich ihm nach Warschau und Wien Telegramme mit den Beteuerungen meiner Liebe gesandt; aber auch das geschah nur auf den Rat Prilukows.

Vors.: Da Sie die Gefahr kannten, die über Komarowski schwebte, warum haben Sie ihn nicht gewarnt?

Tarnowska: Weil ich ganz und gar der Gewalt von Prilukows Willen untertan gewesen bin und nur tat und unterließ, was er wollte. Ich habe aber bis zum letzten Augenblick geglaubt, Naumow werde die Tat nicht ausführen.

Vors.: Aber Prilukow hatte Ihnen doch telegraphiert, wenn Naumow den Grafen nicht ermorde, werde er selbst es tun.

Tarnowska: Alles war eine Folge des Verbrechens. Die Ärzte werden es erklären. Die Angeklagte gab auch zu, daß sie bis zum letzten Augenblick an Komarowski Telegramme gesandt hatte, in denen sie ihn mit Versicherungen ihrer Liebe überhäuft habe.

Vors.: Wer hat zuerst von der Beseitigung des Grafen Komarowski gesprochen?

Tarnowska: Prilukow. Am letzten Tage meines Aufenthaltes in Wien sagte er mir, es wäre gut, den Grafen umzubringen. Er würde selbst die Mordtat begehen, aber er fürchte, daß ich ihn dann nicht mehr lieben werde, wenn er einen Menschen umgebracht habe. Deshalb sei es besser, wenn Naumow die Tat begehe. Diesem seinem Plane entsprachen auch seine Briefe und Telegramme an mich, in denen er Naumow mit dem Namen „Berta“ und Komarowski mit dem Namen „Adele“ bezeichnete. Ich reiste dann ab. Die Angeklagte erklärte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe den Ratschlägen Prilukows blind gefolgt. So mußte sie Naumow die falsche beleidigende Depesche zeigen. Sie habe Naumow nie gesagt, daß er sie von Komarowski befreien solle. Er habe auch nie davon gesprochen, daß er den Grafen zum Duell herausfordern wollte. Die Depesche an Prilukow: „Das Telegramm hat glänzende Wirkung gehabt“, bedeutete, daß die anonyme Depesche Naumow gegen Komarowski sehr aufgebracht habe. Prilukow war es auch, der die Depesche an Naumow durchsetzte, des Inhalts, daß sie entschlossen sei, Komarowski zu heiraten. Es ist nicht wahr, so fuhr die Angeklagte fort, daß ich mit Naumow am 23. August nach dem Theater die Nacht verbracht habe. Aber an diesem Tage unterrichtete ich ihn, wie er den Komarowski in Venedig antreffen und ermorden könnte. Dann sollten wir uns in Zürich treffen; in Moskau war Naunow bereits mit dem ganzen Plan einverstanden, und ich gab ihm ein heiliges Kreuz, das ich am Halse trug.

Alsdann wurde der Briefwechsel zwischen Komarowski und der Tarnowska verlesen. In einem Telegramm des Komarowski ist das Wort „keusch“ enthalten. Die Tarnowska wußte darüber keine Aufklärung zu geben. Auf die wiederholte Frage des Vorsitzenden, warum sie den Komarowski von der bevorstehenden Gefahr nicht benachrichtigt hatte, erwiderte die Tarnowska, sie glaubte immer, Naumow würde den Mord nicht begehen. Der Vorsitzende verlangte von der Angeklagten Aufklärung über einige Telegramme, gramme, die sie nach Podwoloczyska an Naumow gerichtet hatte. Sie sagte, sie habe Naumow ersucht, sich den zur Überschreitung der russischen Grenze notwendigen Paß zu besorgen; denn sie habe befürchtet, wenn sie die Sache verzögere, werde Naumow sich umbringen. Der Vorsitzende warf ein: Es sei anzunehmen, daß Sie den Paß haben wollten, um schnell mit Naumow nach Rußland zurückkehren zu können, um dort das Komplott zu beenden. Sie haben sich von Prilukow entfernen wollen, um auf diese Weise jeden Verdacht von sich abzulenken. Die Angeklagte gab zu, daß diese Telegramme von Prilukow nach ihrem Diktat geschrieben waren. Weiter erklärte die Angeklagte: Es sei Naumow wohl bekannt gewesen, daß Komarowski gleichzeitig mit ihm und ihr in Wien weilte. Ebenso habe er gewußt, daß sie mit dem Grafen nach Venedig gefahren war. Auch Prilukow sei stets über ihre Beziehungen zu den beiden anderen Männern auf dem Laufenden gewesen.

Es wurde alsdann eine Anzahl Briefe verlesen, die Graf Komarowski Ende August und Anfang September 1907 an die Tarnowska geschrieben hat. Sie waren reich an Ausdrücken der größten Zärtlichkeit, enthielten aber auch viele indezente Stellen. Die Angeklagte schien bei der Verlesung einigermaßen in Verlegenheit zu geraten. Sie ließ den Kopf etwas sinken und suchte ihren großen schwarzen Schleier mehr über das Gesicht zu ziehen.

Vors.: Warum sind Sie nicht sofort abgereist, als Sie die Nachricht von der Verwundung des Grafen Komarowski erhielten?

Tarnowska: Der Zug war schon abgegangen, auch war mein Paß nicht in Ordnung. Ich mußte daher warten.

Vors.: Es wird behauptet, Sie hätten auf Instruktionen von Prilukow gewartet.

Tarnowska: Das ist nicht richtig. Ich erhielt dann von Prilukow die Mitteilung, daß er nach Wien gehe.

Das Verhör der Angeklagten erstreckte sich noch weiter auf die Einzelheiten ihres Verhaltens nach der Mordtat, und es fiel auf, daß die Tarnowska ohne die geringste Gemütsbewegung von dem Tode Komarowskis und ihrem Verhältnis zu ihm sprach. Man hatte den Eindruck, einer Persönlichkeit von eisiger Ruhe und Empfindungslosigkeit gegenüberzustehen. Ihre elegante Figur beugte sich zuweilen ein wenig über die Barre des Anklageraumes, auf die sie sich gestützt hatte. Ihr Blick flog in schwierigen Momenten des Verhörs blitzartig zu den Verteidigern hinüber. Im weiteren Verlauf fragte der Vorsitzende die Angeklagte über die Art, wie das Testament des Grafen Komarowski und die Lebensversicherung zu ihren Gunsten zustande gekommen sei. Die Angeklagte erklärte: In Venedig sei davon kaum gesprochen worden. Darauf wurde ein Brief des Grafen Komarowski verlesen, den dieser in Berlin im Savoy-Hotel geschrieben hatte und in dem er der Tarnowska versprach, daß er ein Testament zu ihren Gunsten errichten werde.

Tarnowska: Das heißt aber nicht, daß das Testament in Berlin gemacht worden wäre. Ich lehnte dort vielmehr den Heiratsantrag Komarowskis ab, und erst in Wien nahm ich ihn schließlich an. Es ist dann auch erst in Wien von der Lebensversicherung gesprochen worden.

Vors.: Über welche finanziellen Hilfsquellen verfügten Sie selbst?

Tarnowska: Ich hatte von meinem Vater eine Jahresrente von zweitausend Rubeln und bekam außerdem von ihm, soviel ich brauchte. Als ich Rußland verließ, hatte ich 70000 Franks bei mir.

Prilukow (unterbrechend): Das ist nicht wahr! Das war mein Geld, Die Tarnowska hatte gar nicht viel, denn in Kiew mußte ich ihre Juwelen auslösen.

Tarnowska: (heftig): Das ist falsch! Die Juwelen wurden mit meinem Gelde ausgelöst.

Prilukow: Ich kann das Gegenteil durch einen Zeugen beweisen.

Der Advokat Bertaccioli, einer der Verteidiger Naumows, fragte die Angeklagte: Haben Sie Prilukow sehr geliebt?

Tarnowska: Ja, sehr!

Bertaccioli: Wie ist es dann möglich, daß Sie zu derselben Zeit die feurigsten Telegramme an Naumow und an Komarowski gesandt haben?

Tarnowska: Weil ich in meinem Wanderleben Prilukows ein wenig überdrüssig geworden war. Naumow gefiel mir durch sein Betragen, und als ich den Grafen Komarowski kennenlernte, ergriff mich der Gedanke, daß ich bei ihm ein ruhiges Leben würde führen können. Wie ich aber Prilukow wieder sah, lebte die Liebe zu ihm in mir wieder auf.

Vors.: Hat Prilukow in Venedig Ihnen gegenüber die Absicht geäußert, Komarowski zu ermorden?

Tarnowska: Ich erinnere mich nicht mehr. Er hat nur in dem Zuge, der mich nach Venedig brachte, gesagt, er habe für mich und den Grafen Komarowski chloroformierte Zigaretten hergestellt. Auf weitere Fragen des Vorsitzenden erwiderte die Angeklagte immer wieder: Ich habe ja alles eingestanden, warum sollte ich lügen.

Vors.: Ist es wahr, daß Sie vor der Abreise von Moskau Prilukow schwören ließen, daß er Ihnen nach dem Auslande folgen werde?

Tarnowska: Ich habe ihn nur das Tedeum in der Kirche mitsingen lassen, wie es Brauch ist; aber er hat keinerlei Eid geleistet. Die Verteidiger der Gräfin beantragten darauf, es sollen die anatomischen und die chemischen Spezialwerke über Giftkunde, wie auch die Albums mit obszönen Photographien zur Stelle geschafft werden, die bei Prilukow beschlagnahmt wurden.

Der Vorsitzende schritt nun zum Verhör der vierten Angeklagten, der Kammerfrau Perier. Die kleine Schweizerin, die den Eindruck einer höchst verschlagenen Person von großer Intelligenz machte, erzählte ihre Erlebnisse im Dienste der Gräfin Tarnowska. Sie sagte: die Gräfin sei ihr immer eine sehr gute Herrin, aber eine unglückliche Frau gewesen. Sie erzählte, wie die Gräfin die Bekanntschaft Prilukows, dann die des Grafen Komarowski und Naumows gemacht habe. Sie glaube, daß die Beziehungen der Gräfin zu diesen Männern intimer Natur gewesen seien. Die Perier schloß: „Ich liebe die Gräfin, weil sie eine gute Dame ist, und ich würde glücklich sein, wenn ich an ihrer Stelle verurteilt werden könnte.“ Bei diesen Worten ihrer Dienerin brach die Tarnowska in Tränen aus. Alsdann kam die Sprache auf die etwas seltsamen Nervenkrisen der Tarnowska, die die Kammerfrau und eine andere Zofe dadurch lindern mußten, daß sie die Hände und Füße der Angeklagten massierten. Während dieser Prozedur pflegte die Tarnowska dann in einen höchst seltsamen Zustand zu verfallen, währenddessen sie allerlei konfuse Reden führte. Diese Krisen kehrten periodisch alle Monate wieder.

Vors.: Wer bestritt die Haushaltungskosten in Moskau?

Perier: Das Geld wurde stets durch einen Vertrauensmann Prilukows überbracht. Alsdann fragte Prilukow die Perier über die bekannten sadistischen Akte, wobei die Tarnowska ihre Liebhaber peinigte.

Vors.: Tat die Dame dies auch mit Ihnen?

Perier: Ja.

Vors.: Warum?

Perier: Aus Laune.

Vors.: Tat es Ihnen weh, wenn Ihnen die Tarnowska die Zigarette auf den Arm stieß?

Perier: Gewiß tat es mir weh! (Heiterkeit.) Im weiteren Verlauf erbat sich das Wort

Angeklagter Prilukow: Ich war nicht darauf gefaßt, daß die Gräfin sagen werde, alles, was sie tat, habe sie meinem Willen gehorchend getan. Aber die zwei Männer, die mit mir im Gefängnis in Wien zusammen waren, müssen bestätigen können, daß ich nur ihre Wünsche zu erfüllen strebte. Sie machte mir vom Fenster nach dem Hofe Zeichen, ich solle alles leugnen. Ich beschloß, mich zu töten. Ich hängte mich auf; meine Zellengenossen retteten mich. Von dem einen von ihnen, dem Photographen Bergmann, der seiner Freilassung entgegensah, erbat ich Zyankalium. Ich erhielt es nicht. Es ist nicht wahr, daß das gefälschte Telegramm mit Komarowskis Unterschrift von mir ersonnen worden wäre. Ich kannte Naumow nicht und konnte die Wirkung des Telegramms auf ihn gar nicht ermessen; aber die Gräfin konnte es. Sie sagte auch schon vorher immer zu mir: „Naumow ist bereit, er ist bereit, nur du hast Bedenken.“

Vors.: Die Tarnowska will von Ihnen zwei Briefe empfangen haben, in denen Sie sagten, es sei töricht, Komarowski zu heiraten, ohne sich ökonomisch zu sichern.

Prilukow: Ich weiß nichts von diesen Briefen.

Tarnowska: Ich schwöre, daß er mir die beiden Briefe mit diesem Inhalt gesandt hat.

Prilukow: Die Gräfin hat mich einmal um meinen Rat über diese Dinge gefragt, weil Stahl eine Lebensversicherung aufnehmen sollte.

Tarnowska: All das sagt Prilukow nur, um die ganze Schuld auf mich abzuwälzen.

Prilukow: Sie wußte sehr wohl mit Versicherungen Bescheid. Sie sagte mir, Stahl sei mit fürchterlichen Absichten gekommen. Er wolle ihren Gatten töten und die Versicherung abschließen. Sie beauftragte mich auch während der Reise, eine Gesellschaft zu finden, die so schnell als möglich eine Versicherung abschließe.

Vors.: Sie haben gesagt, die Gräfin habe angefangen, Widerwillen gegen Komarowski zu äußern, nachdem sie bemerkt hatte, daß sie Sie nicht zum Selbstmord bringen und dadurch die 55000 Rubel Ihrer Versicherung einheimsen konnte?

Prilukow: Das ist wahr.

Tarnowska: Ich habe nie gesagt, daß ich Komarowski hasse; nie habe ich Prilukow zum Selbstmord gedrängt, und er hat auch nie einen Selbstmordversuch gemacht.

Vors.: Prilukow, Sie sagten, die Tarnowska suchte Sie allmählich zu der Mordtat zu treiben. Wie stellte sie das an?

Prilukow: Ganz allmählich, mit zahllosen kleinen Mitteln der Aufreizung. Im Garten des Lido sagte sie zu mir: „Befreie das Antlitz der Erde von dem da!“

Tarnowska: Die Wendung habe ich nie gebraucht und bis zu diesem Augenblicke nie gekannt. Man frage die Perier!

Stimme aus dem Publikum: O, die Perier!

Vors.: Wie konnten Sie sich der Tarnowska auf ihrer Reise mit dem Grafen Komarowski nähern?

Prilukow: Die Perier trat an mich heran und forderte mich auf, in dasselbe Abteil zu steigen. Im Zuge weinte die Tarnowska, und unter dem Weinen bat sie mich, Komarowski zu beseitigen.

Tarnowska: Das ist nicht wahr. (Unruhe im Zuhörerraum.) Prilukow sagte mir im Zuge, er wolle Chloroformzigaretten benutzen.

Prilukow: Die Gräfin riet mir zum Dolche, den ich vergiften solle.

Tarnowska: Ich weiß nicht einmal, wie man einen Dolch vergiftet!

Vors.: Ist es wahr, Prilukow, daß die Gräfin Ihnen einen Revolver geschenkt hat?

Prilukow: Ja, sie hat mir einen Revolver gekauft; vielleicht, weil ich nichts davon verstand, sie aber wohl; sie wies mich auch an, die Patronen einzukerben; die Perier war dabei.

Tarnowska: Das war nicht in Wien, sondern in Rußland; den Revolver hatte ich für meinen Vetter gekauft.

Vors.: Prilukow, Sie sagten, Sie hätten vor dem Morde der Tarnowska einen Brief schreiben wollen, in dem Sie die ganze Schuld auf sich nahmen?

Prilukow: So ist es.

Die Vernehmung der Angeklagten war darauf in der Hauptsache beendet, und es wurde zur Beweisaufnahme geschritten. Obergefängniswärter Damico bekundete als Zeuge: Prilukow habe sich im Gefängnis bisher immer sehr ruhig verhalten. Er sei aber nervenleidend und konnte bei dem Versuch, im Gefängnis mit Chloraliumhydrat Selbstmord zu begehen, nur mit Mühe gerettet werden.

Frau Achmatowa (Kiew) bekundete: Ich lernte Naumow in seiner Jugendzeit, als er ein Knabe von etwa zehn Jahren war, kennen. Er war ein liebes Kind von einer geradezu krankhaften Herzensgüte; alle liebten ihn. Bereits im Alter von zwölf Jahren schrieb er Verse und Novellen, die von einer ganz übertriebenen Überschwenglichkeit des Gefühls zeugten. In jenem Alter erlebte er einen schweren Unfall. Er fiel in die Wolga, wobei er sich den Kopf aufschlug, und wurde nur mit Mühe gerettet. Nach diesem Ereignis hatte er fortwährend unter schweren Kopfschmerzen zu leiden. Sein Temperament änderte sich, und der früher so zugängliche Knabe zeigte ein verschlossenes, düsteres Wesen. Er ging dann nach Moskau und erlebte dort abermals einen Sturz, bei dem er sich wiederum eine Kopfverletzung zuzog. Er wurde nun vollkommen melancholisch. Zu jener Zeit war es, wo seine Freunde hypnotische Experimente mit ihm vornahmen, bei denen er sich als ein außerordentlich geeignetes Medium erwies. Unter anderem befahlen sie ihm, er solle die ganze Summe von zweihundert Rubeln, die ihm von seinem Vater gesandt worden war, für Blumen ausgeben und dann alle diese Blumen nach einem bestimmten Zimmer bringen lassen. Naumow führte den Befehl pünktlich aus. Während der Vernehmung dieser Zeugin wurde Naumow von einer Ohnmacht befallen und mußte aus dem Saal gebracht werden. In der Nachmittagssitzung wurde der russische Regierungsingenieur Alexis Chaffalowitsch vernommen. Dieser, ein Jugendfreund von Naumow, entwarf von seinem Charakter ein im ganzen nicht unsympathisches sympathisches Bild. Er bestätigte die Bekundung der Zeugin Achmatowa in allen Einzelheiten. Das Leben Naumows teilte er in drei Perioden ein: Die fröhliche Kinderzeit bis zum zwölften Jahre, sodann eine Anzahl unglücklicher Erlebnisse, bis er ein junger Mann von 16 Jahren geworden war. Um diese Zeit fing er an, an den Frauen Gefallen zu finden. Er war dabei in der Liebe so absurd, daß seine Leidenschaft desto toller wurde, je schlimmer ihn die angebetete Dame mißhandelte. Eine junge Dame amüsierte sich zum Beispiel damit, Naumow wie einen Hund hinter ihrer Equipage herlaufen zu lassen. Naumow liebte diese Dame genau so lange, wie sie ihn quälte. Als die Dame schließlich mit dem Quälen aufhörte, da hörte auch seine Verliebtheit wie durch einen Zauberschlag auf. Seine erste Liebe war ein junges Mädchen von 17 Jahren, die ihn in dieser Weise behandelte. Er hatte dann eine Anzahl weiterer Liebesverhältnisse, aber, wie der Zeuge glaubte, rein platonischen Charakters. Er (Zeuge) machte damals schon die Beobachtung, daß es Naumow anscheinend Vergnügen bereitete, physische Schmerzen zu erleiden. Auch seelische Leiden brachten bei ihm gerade einen auffällig ruhigen Gemütszustand zuwege. Er trank bereits damals, ohne jedoch Alkoholist zu sein. Am meisten trank er, wenn er traurig war. In späteren Jahren wurde er sehr schweigsam und verließ seine Wohnung nur selten. Als er die Tarnowska kennenlernte, fing er ein sehr ungeordnetes Leben an. „Als ich dann die Nachricht von der Mordtat erhielt,“ sagte der Zeuge, „fing ich an, wie es meinem Beruf entspricht, mir die Angelegenheit logisch zurechtzulegen. Ich konnte aber keine logische Erklärung für Naumows Verhalten finden. Es war mir ohne weiteres klar, daß ein starker äußerer Einfluß auf ihn gewirkt haben mußte.“ Darauf wurde noch einmal die Achmatowa vernommen, die bekundete, daß in der Familie Naumow die Geistesgestörten und Epileptiker sehr zahlreich waren. Korvettenkapitän Alberto Rossi bekundete alsdann als Zeuge: Ich stand in den besten Beziehungen zu dem Grafen Komarowski. Dieser war nach dem Tode seiner Gattin in überaus trauriger Stimmung, die sich aber bald darauf, als die Gräfin Tarnowska in Venedig eingetroffen war, vollkommen aufheiterte. Die Tarnowska gab sich als die Kusine des Grafen aus. Ich erinnere mich, daß eines Abends im Hotel des Bains am Lido der Graf durch ein Versehen ein Telegramm erhielt, das an die Tarnowska adressiert war. Diese gab nicht zu erkennen, daß ihr an dem Telegramm etwas gelegen sei und zeigte es auch mir. Es war augenscheinlich von einer Person gesandt, die auf das heftigste in die Gräfin verliebt war und sich nach ihr erkundigte. In jenem Hotel sah ich auch Prilukow, von dessen Anwesenheit Graf Komarowski sicher keine Kenntnis hatte. Die Tarnowska benahm sich mir gegenüber stets durchaus korrekt. Ich konnte gleichwohl wahrnehmen, daß sie von äußerst gebieterischem Wesen war, und auch, daß sie auf jeden, der in sie verliebt war, einen Reiz eigener Art ausüben mußte. Der Graf machte mir von seiner Verlobung mit der Tarnowska Anzeige. Er sagte, sie habe 100000 Lire Rente. Der Graf war augenscheinlich außerordentlich verliebt in die Gräfin, während diese sich gegen ihn kalt zeigte. Nach ihrer Verhaftung schrieb mir die Tarnowska von Wien aus, ich möchte ihr die Adressen der tüchtigsten Verteidiger in Italien mitteilen.

Großes Aufsehen machten die Aussagen des Krankenhausarztes Dr. Magno über die letzten Lehenstage des Grafen Komarowski nach seiner Verwundung. Am dritten Tage, nachdem Komarowski die Schüsse erhalten hatte, so äußerte sich Dr. Magno, und nach der Operation war sein Befinden außerordentlich gut. Er lag halbaufgerichtet im Bett, las in der Zeitung und lachte darüber, daß das Blatt sein Bild brachte. Er bemerkte auch, er fühle sich so wohl, am nächsten Tage wollte er eine Zigarette rauchen. Am andern Tage wurde der Graf zu Zwecken der Behandlung nach einem anderen Saal im oberen Stock gebracht. Gleich darauf verschlimmerte sich sein Befinden und er starb, während ich ihn noch am Tage vorher für außer Gefahr befindlich erklärt hatte. Bei der Vernehmung dieses Zeugen zeigte sich Naumow sehr ergriffen und brach wiederholt in Tränen aus. Prilukow hatte ein geradezu leichenhaftes Aussehen, die Tarnowska war niedergeschlagen, sie saß mit geneigtem Kopfe und verbarg, so gut es ging, ihr Gesicht. Eine Gefängniswärterin bekundete: Das Verhalten der Tarnowska sei stets gleichmäßig ruhig und tadelfrei, ihr Benehmen gegenüber den Schwestern gut und freundlich gewesen. Sie habe die Angeklagte oftmals bitterlich weinen sehen.

Eine andere Zeugin beschrieb das Zimmer, das die Tarnowska im Gefängnis bewohnte, und das unter anderem mit einem Büchertisch und einem Schrank ausgestattet war. Auf dem Nachttischchen hatte die Angeklagte eine Anzahl Photographien stehen; die Bilder zeigten den Grafen Tarnowski mit der Tochter, ferner den Sohn und die Eltern der Angeklagten; daneben stand die Photographie des ermordeten Grafen Komarowski. Die „Zelle“, die einen gewissen eleganten Eindruck machte, erfüllte ein intensiver Duft von Parfümerien.

Darauf beantragte der Verteidiger der Tarnowska, Rechtsanwalt Drena, die nicht erschienenen russischen Zeugen in ihrer Heimat kommissarisch vernehmen zu lassen. Von siebenundzwanzig geladenen russischen Zeugen waren nämlich nur drei erschienen. Unter den ausgebliebenen Zeugen befanden sich acht Ärzte, auf deren Aussagen über den psychischen und den körperlichen Zustand der Angeklagten die Verteidigung das größte Gewicht legte. Der Gerichtshof vernahm sodann den Polizeikommissar Caruß, der Naumow in Verona festgenommen hatte. Als er Naumow in einem Kupee erster Klasse sitzend antraf, war dieser außerordentlich ruhig. Er war eben im Begriff, Blumen für eine Dame zu kaufen, die sich im Zuge befand. Naumow gab sich für einen Belgier aus und behauptete, Henry Duran zu heißen. Als er trotzdem verhaftet und in Gewahrsam abgeführt wurde, bekam er bald darauf einen Weinkrampf. Er küßte ein kleines Goldkreuz, das er am Halse befestigt hatte und das, wie sich herausstellte, ein Geschenk der Tarnowska war. Er rief den Namen seiner Mutter, kurz, er gebärdete sich so, daß er (Zeuge) annahm, die Aufregung könnte ihn töten. Beim Verhör gab Naumow dann zu, auf Komarowski geschossen zu haben. Den Grund weigerte er sich anzugeben, er erklärte aber sofort ausdrücklich, daß politische Motive dabei nicht im Spiele seien. Als Naumow das Protokoll über die erste Vernehmung zu unterzeichnen hatte, mußte der Zeuge ihm die Hand führen, damit er überhaupt schreiben konnte. Dabei rief Naumow aus: „Das ist die Hand, die einen Menschen getötet hat!“ Während der Vernehmung dieses Zeugen machte Naumow den Eindruck eines völlig niedergeschmetterten und gebrochenen Menschen.

Der folgende Zeuge war der Zenstrow-Präsident Wladimir Pisarew: Er kenne Prilukow seit 25 Jahren. Er war sein Kamerad auf dem Gymnasium und der Universität. Prilukow sei als Rechtsanwalt sehr fleißig gewesen; er nahm auch gelegentlich die Nacht zu Hilfe, um seine Arbeiten zu erledigen. Dabei habe er nicht nur wegen des Geldes gearbeitet, sondern gelegentlich auch seinen Rechtsbeistand umsonst gewährt. Mit seiner Frau lebte Prilukow zwölf Jahre sehr glücklich zusammen. Erst als er die Tarnowska kennenlernte, änderte er sich. Einmal war er (Zeuge) gerade bei Prilukow, als ihn die Tarnowska telephonisch zu sich rief. Prilukow habe ihm gesagt: „Mit dieser Frau kann man nicht arbeiten, sie erlaubt es einfach nicht.“ Übrigens sei Prilukow schon als Knabe sehr nervös und leicht zu beeinflussen gewesen. Die Tarnowska brachte ihn vollends in Unordnung; sie begleitete ihn auf seinen Geschäftswegen und wartete dann auf ihn, bis er seine Angelegenheiten erledigt hatte.

Ein in Petersburg ansässiger, aus Dalmatien stammender Journalist namens Tabrno, kannte Prilukow seit vielen Jahren und hielt ihn eines Verbrechens für unfähig. Um die große Ehrlichkeit Prilukows zu beweisen, erzählte der Zeuge folgende Begebenheit: Als die revolutionären Unruhen in Moskau ausbrachen, hatten die Revolutionäre ein sicheres Depot für ihr Geld nötig. Man vertraute es Prilukow an, da er nicht der Partei angehörte und es daher bei ihm sicherer vor der Polizei war. Als die Unruhen vorüber waren, gab Prilukow das Geld aus freien Stücken zurück, obwohl aus begreiflichen Gründen die Revolutionäre nicht gewagt hätten, ihren Anspruch geltend zu machen. (Der Zeuge machte diese Aussage nur zögernd, da sie ihm viele Ungelegenheiten bereiten könnte.)

Rechtsanwalt Mankowsky aus Moskau, ein Sohn des Generalanwalts am Senatsgericht, bekundete: Prilukow hat als besonders tüchtiger Rechtsanwalt gegolten, und um in sein Bureau als Gehilfe einzutreten, habe ich die Richterlaufbahn verlassen. Prilukow war außerordentlich fleißig und arbeitete von 8 Uhr morgens gelegentlich bis 2 Uhr in der Nacht. Als häufiger Gast in der Familie Prilukows kann ich sagen, daß das Verhältnis zwischen den Gatten sehr gut war. Frau Prilukow selbst ermutigte ihren Mann, der Tarnowska im Prozesse wegen der Tötung Borgewskis beizustehen, aber sie erhielt einen sehr peinlichen Eindruck durch eine Zeugenaussage, daß Borgewski gesagt hatte, er würde die Tarnowska geheiratet haben, wenn er eine halbe Million besessen hätte. Prilukow erhielt viele Briefe, in denen die Tarnowska ihn aufforderte, nach Kiew zu kommen. Prilukow widerstand, derstand, und darauf suchte ihn die Tarnowska in Moskau auf. Vor seinem Selbstmordversuche hatte Prilukow einen Brief an den Rechtsanwalt Löwenstein geschrieben, in dem er sagte, er sei nicht stark genug gewesen, das Verhältnis mit der Tarnowska zu lösen; er gehe in den Tod, da er sich sonst nicht mehr so halten könnte wie bisher. Auch Rechtsanwalt Kaiser riet Prilukow sehr ernst, von der Tarnowska zu lassen; die Wirkung dieses Gesprächs dauerte aber nur so lange, bis Prilukow die Tarnowska wiedersah. Periodisch machte er dann wieder Versuche, sich dem Zauber zu entziehen; er antwortete auf die Briefe der Tarnowska nicht, er ging nicht nach Kiew und stellte sich krank. Die Ärzte befürchteten, daß der Vergiftungsversuch mit Chloral einen schlechten Einfluß auf Prilukows Gehirn habe. In der Tat änderte er sich danach: er wurde zerstreut, fing an zu trinken, ging nicht mehr aufs Gericht und führte mit der Tarnowska ein Leben in Saus und Braus. Auf einige Fragen bekundete der Zeuge: Die Tarnowska ließ den Borgewski auf ihr Landgut kommen und behielt ihn dort bei sich, bis ihr Mann eintraf. Stahl selbst hat im Prozeß wegen der Tötung Borgewskis folgende Aussage gemacht: Borgewski forderte Tarnowski und sagte ihm, er hasse ihn und liebe seine Frau; Stahl mußte, hinter einem Vorhang verborgen, dieser Szene beiwohnen, um Zeuge der Herausforderung zu sein. Die Tarnowska ka habe, wie Prilukow nach den Akten des Prozesses erzählte, jede Gelegenheit benutzt, um ihren Mann auf Borgewski eifersüchtig zu machen. Sehr wichtig für die Bildung eines Urteils, wie sich das Verhältnis Prilukows zur Tarnowska entwickelt hatte, waren 28 Briefe und Telegramme, die der Zeuge, Rechtsanwalt Mankowsky, im Bureau Prilukows unter den die Tarnowska betreffenden Briefen gefunden hatte. Die Tarnowska bestritt, daß diese Briefe von ihr geschrieben seien, Prilukow dagegen behauptete es auf das bestimmteste. Die Briefe wurden darauf, obwohl die Verteidigung der Tarnowska sich widersetzte, dem früheren Bureauvorsteher Prilukows, Wassili Schmajewsky gezeigt. Dieser erkannte alle als von der Tarnowska herrührend; sie waren alle durch seine Hand gegangen, und er hatte sie zum Teil mit Nummern versehen. Schmajewsky bestätigte die Aussage Mankowskys: sobald Prilukow mit der Tarnowska in Beziehungen trat, ging es mit ihm abwärts. Als er einmal Prilukow telephonisch ersuchte, er solle eilig ins Bureau kommen, antwortete eine weibliche Stimme: „Ich lasse ihn nicht fort!“ (Heiterkeit.)

Ein früherer Schreiber des Angeklagten Prilukow bekundete, als ihm die 28 Briefe der Tarnowska vorgelegt wurden: Er erkenne sie bestimmt wieder; er habe sie persönlich registriert, sie seien unzweifelhaft von der Tarnowska geschrieben.

Ein fernerer Zeuge war Advokat Naum Alperi (Petersburg): Er kenne Prilukow seit zwölf Jahren, seitdem sich dieser an ihn wandte wegen der Vertretung bei der Führung der Prozesse in Petersburg, die ihm in Moskau übertragen wurden. Er könne Prilukow das Zeugnis eines ernsten, gewissenhaften und intelligenten Mannes ausstellen, der in den ersten Jahren ungeachtet seiner großen Einkünfte bescheidene Lebensgewohnheiten gehabt habe. Als er aber 1906 wieder nach Petersburg gekommen sei, habe er, statt wie sonst in einem einfachen Gasthause, in einem der ersten Hotels Wohnung genommen und mit einer Dame (der Angeklagten Tarnowska) mehrere elegante Salons bewohnt. Der Zeuge bestätigte, daß von den 65000 Rubel Depositen, die sich der Angeklagte angeeignet, 35000 von ihm, dem Zeugen, herrührten. Weitere 25000 Rubel seien Eigentum des Generals Rhil gewesen. Aber weder er selbst, noch der General Rhil hätten Strafanzeige erstattet. Falls Prilukow gewollt hätte, würde es ihm ein leichtes gewesen sein, sich sehr bedeutend höhere Summen anzueignen.

Eines Nachmittags wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die Vertreter der Presse mußten den Saal verlassen. Dem Vernehmen nach hatte die Tarnowska in der nichtöffentlichen Sitzung behauptet: sie habe mit Prilukow, Naumow und dem Grafen Komarowski rowski nicht intim verkehrt; sie hätte Abscheu vor solchem Verkehr empfunden. Prilukow und Naumow bemerkten jedoch mit großer Entschiedenheit: es habe sehr häufig zwischen ihnen und der Tarnowska intimer Verkehr stattgefunden. Naumow bemerkte: Er habe sich oftmals vor dem Liebesgirren der Tarnowska gar nicht retten können. Die Aufforderung zum intimen Verkehr sei fast immer von der Tarnowska ausgegangen.

Vors.: Angeklagte Tarnowska, die gesamten Umstände sprechen mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, daß Prilukow und Naumow in dieser Beziehung die volle Wahrheit sagen? Die Angeklagte schlug die Augen zur Erde und schwieg. Die weiteren Erörterungen über diesen Punkt waren derartig, daß sie nicht einmal angedeutet werden können.

Einige Pflegeschwestern bekundeten: Eine so hochgradige Hysterie, wie bei der Gräfin Tarnowska, hätten sie noch bei keiner Gefangenen beobachtet. Ein kleines Erdbeben, das im Anfang 1909 in Venedig verspürt wurde, verursachte ihr einen heillosen Schrecken.

Es wurde alsdann ein in der Hinterlassenschaft des ermordeten Komarowski gefundener Brief verlesen. In diesem bezeichnete sich die Tarnowska als seine „keusche Braut“.

Auf Befragen des Vorsitzenden gab die Tarnowska zu, daß zwischen ihr, Naumow und dem ermordeten Komarowski einige Male Unterhaltungen über Sadismus stattgefunden haben.

Professor Dr. Trajon: Die Tarnowska werde ganz besonders während ihrer monatlichen Perioden von nervösen Störungen befallen. Gewisse Schmerzerscheinungen lassen auch auf innere Verletzungen schließen. Die Zeugen Dr. Tommasini und Dr. Degni stellten bei der Angeklagten ein häufiges Vorkommen von Schlägen im Gehirn (tonfi al cervello) fest. Zur Kur haben sie Eisenpräparate und Elektrizität angewendet, aber mit geringem Erfolge. Der Gemütszustand der Angeklagten sei sehr schwankend, bald äußerst niedergedrückt, bald heftig. Der Zeuge Prof. Giordano bestätigte diese Mitteilungen und fügte hinzu, daß er zur Kur einen chirurgischen Eingriff für nötig halte. Die Krankenschwester Priorin Elena Conta berichtete von schweren Nervenkrisen der Angeklagten. Bei einer solchen sei sie einmal kalt und steif geworden und habe eine Viertelstunde lang mit offenen Augen und Mund dagelegen, so daß man sie für tot gehalten habe. Auf die Frage des Staatsanwaltes, ob derartige Krisen auch bei anderen Gefangenen vorkämen, antwortete die Zeugin: „Ja!“ Der Sachverständige Prof. Rossi rief dazwischen: „Was will das bedeuten? Es beweist nur, daß man hysterische Frauen verurteilt hat!“ Schwester Bonisola bezeugte, daß die Tarnowska in den Pausen während des Prozesses Nervenkrisen hatte, wobei auch einmal ein Arzt gerufen werden mußte. Die Zeugin gab ferner nicht wiederzugebende Einzelheiten über die nervösen Anfälle der Angeklagten, die so eigentümlich und schwer waren, wie sie ihr bisher unter den Gefangenen noch niemals vorgekommen seien. Während der Verhandlung halte sie sich gewaltsam aufrecht, breche dann aber in der Zelle vollständig zusammen. Ihre Willenskraft sei äußerst schwankend, bald sei sie fest und energisch und bald schwach und lenksam wie ein gutes Kind. Unter den Sachverständigen entspann sich darauf eine Erörterung über die Suggestionierbarkeit der Tarnowska und über ihre Kraft, andere zu suggestionieren. Auf Befragen erklärte Prof. Tommasini: Der Angeklagten sei von ihrem Selbstmordversuch mit Kokain die Nachwirkung geblieben, daß sie, wenn sie nur von Kokain reden höre, aufgeregt und von Unwohlsein befallen werde. Die Sachverständigen gingen hierauf mit ihren Fragestellungen zum intimen Verkehr der Angeklagten mit ihren beiden Mitangeklagten über. Die Tarnowska wiederholte und erläuterte ausführlich, wie sie sich immer, aus natürlichem Widerwillen und angeborener Kälte und auch wegen physischer Störungen ihren Liebhabern verweigert habe. Die physische Liebe habe ihr immer nur Widerwillen, Schmerz und Ekel verursacht. Demgegenüber genüber blieb der Angeklagte Naumow unter einigem Zögern dabei, mit der Angeklagten sehr häufig intimen Umgang gepflogen zu haben, und Prilukow erklärte mit dem Tone des in solchen Dingen vielerfahrenen Mannes, daß die Gräfin im Gegenteil eine in der physischen Liebe leidenschaftliche Frau sei. Auf die Frage nach dem von ihr erwähnten Gespräch über Masochismus erklärte die Tarnowska: Eines Tages haben Naumow, Komarowski und ein masochistischer Dichter in ihrer Wohnung über Masochismus gesprochen. Naumow habe ihr Gedichte zum Lesen gegeben und gesagt, der Mann müsse die Frau bis zu seinem Tode lieben und jede Art physischer und moralischer Schmerzen für sie zu leiden bereit sein. Komarowski habe aber Naumow wegen dieser Ansichten verhöhnt. Der Angeklagte Naumow erhob sich hierauf und erklärte, daß jener Dichter Masochist im physischen Sinne sei, er selbst sei es aber nur im geistigen. Er habe auch masochistische Gedichte verfaßt. Die Tarnowska wurde hierauf gefragt über den Sinn der Unterschrift in ihrem Briefe an Komarowski: „Deine keusche Braut“, sowie über den Widerspruch, der darin liegt, daß sie behauptet, niemals intimen Verkehr mit Komarowski gehabt zu haben, während dieser in einem Briefe an sie geschrieben hat: „Seit dem Augenblick, da ich Dich besessen habe, bist Du meine Frau vor Gott!“ Die Angeklagte entgegnete: Die Worte Komarowskis haben keine Bedeutung. Ich kann nur wiederholen, daß mein Verkehr mit Komarowski, ebenso wie mit Naumow, nur äußerlich gewesen ist.

In der Sitzung am 5. April 1910 teilte der Vertreter der Nebenkläger mit, daß die Mutter des Ermordeten, die alte Gräfin Komarowski, als Zeugin erschienen sei. Der Vorsitzende ordnete ihre sofortige Vernehmung an. Unter großer allgemeiner Spannung erschien hierauf die 63 Jahre alte, sehr vornehm, aber ungemein vergrämt aussehende Dame. Sie war vollständig in Trauer gekleidet. Ein dichter schwarzer Schleier fiel ihr bis auf die Schultern. In leisem, ruhigem Tone bekundete sie in fließendem Italienisch: Als sie die telegraphische Nachricht von der Verwundung ihres Sohnes erhielt, hatte sie keine Ahnung von deren Ursache. Sie reiste sofort ab, fuhr 3 Tage und Nächte hindurch, traf ihren Sohn aber schon tot an, und die Ärzte verwehrten ihr die Ansicht des Leichnams. Mit größter Verwunderung vernahm sie die Verhaftung der Gräfin Tarnowska. Sie kenne Naumow und sei der festen Überzeugung, daß dieser ihren Sohn nur unter der suggestiven Einwirkung der Tarnowska ermordet habe. Alle Blicke richteten sich auf die Angeklagte, aber diese blieb unbeweglich. Im Zuhörerraum hörte man das Schluchzen des Vaters Naumows. Der Vater der Angeklagten, Adelsmarschall O’Rurch, sah beunruhigt ruhigt um sich, denn obgleich er kein Wort Italienisch verstand, wußte er doch, daß etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Die Zeugin weinte heftig. Auf weiteres Befragen erklärte sie, daß sie die Tarnowska seit etwa sechs oder sieben Jahre kenne. Im Juni 1907 schrieb ihr ihr Sohn von seiner Absicht, die Tarnowska zu heiraten, und bat um ihren Segen. Sie antwortete: Ich will Deinem Glück nicht entgegenstehen, aber bist Du, mein Sohn, wirklich überzeugt, daß diese schöne Frau mit ihrer stürmischen Vergangenheit bereit sein wird, ein neues Leben zu beginnen und sich Dir und Deinem Sohne zu widmen? Wenn sie dazu imstande ist, so möge Gott mit Dir sein; ich werde nicht dagegen sein. Aber ich fürchte außer dem übrigen, daß die Gesellschaft von Orlow sie, und folglich auch Dich, ausschließen wird. Verstehe mich wohl; ihr trauriges Vorleben, der Prozeß ihres Mannes haben so viel Gerede verursacht, daß es leicht unangenehme Folgen für sie haben kann. Nehmen wir aber an, daß sie mit soviel gesundem Menschenverstande und Taktgefühl ausgerüstet ist, um zu begreifen, wie sie sich zu benehmen hat, um die Leute für sich zu gewinnen, dann ist ja alles gut. Wenn nur Du und Granja (der kleine Sohn des Ermordeten) glücklich seid. Ein weiterer Brief der Zeugin gelangte zur Verlesung, in dem sie die jetzige Angeklagte und damalige Braut ihres Sohnes in mütterlich herzlichen Worten zu sich aufs Landgut einlud, zur selben Zeit, als schon der Plan zur Ermordung ihres Sohnes gefaßt war. Die Tarnowska, so etwa fuhr die Zeugin fort, besitze nach ihrer Überzeugung eine außerordentliche Macht über andere. So habe sie über den Sohn ihres Sohnes eine Macht besessen, daß der Knabe bald nach dem Tode seiner heißgeliebten Mutter diese vergessen und nur noch von der Tarnowska gesprochen habe. Auch in ihrer Abwesenheit habe er überall ihre Augen auf sich gerichtet gesehen. Er betete sie an. Als er dann erfuhr, daß sie die Ursache des Todes seines Vaters wäre, erschütterte eine furchtbare Krise das kindliche Gemüt. Er warf alle Geschenke der Tarnowska ins Feuer und wollte nie mehr ihren Namen hören, er, der bis dahin tagtäglich mit Enthusiasmus von ihr gesprochen hatte. „Und denken zu müssen“, sagte weinend die alte Dame, „daß, während das Kind die Tarnowska umarmte und küßte, diese daran dachte, ihm den Vater zu töten!“ (Große, anhaltende Bewegung, Ausrufe der Entrüstung.) Auf Befragen erklärte die Zeugin weiter: Es sei richtig, daß Naumow sich von ihrer Tochter 1500 Rubel geliehen habe, die er angeblich zur Tilgung einer Ehrenschuld benötigte; sie selbst habe dazu 1000 Rubel beigesteuert. Nachdem die Zeugin nochmals feierlichst wiederholt hatte, daß ihre feste Überzeugung und diejenige aller ihrer Familienmitglieder dahingehe, daß nur die Suggestion der Tarnowska nowska Naumow zum Mörder gemacht habe, wurde sie entlassen.

Auf Antrag des Verteidigers, Rechtsanwalts Diena, wurden einige im Bureau des Prilukow gefundene Briefe verlesen, die die Tarnowska an Prilukow gerichtet hatte. Es hieß in den Briefen: Ihr Mann sei schwach, und man könne durch suggestive Einwirkung ihn im Prozeß Borgewski aussagen und handeln lassen, wie man wolle. In einem anderen Briefe redete sie davon, daß sie von ihrer Mutter 20000 Rubel verlangt habe, um ihre Schulden in den Geschäften zu bezahlen. Bekomme sie diese Summe nicht, so müsse sie ihre Gläubiger zusammenrufen lassen. An einer anderen Stelle erwähnte sie, daß Stahl gesagt habe, man müsse das schlechte Subjekt von ihrem Manne ertränken. Endlich fand sich in einem Briefe vom 28. Dezember 1904 ihre Liebeserklärung an Prilukow. Dieser letzte Befund bestätigte die von Prilukow in seinem Verhör gemachte Angabe. Der kommissarisch vernommene Gouverneur von Orel hatte bekundet: die Eltern Naumows haben geglaubt, ihr Sohn habe denselben Geist wie sein großer Verwandter Turgeniew.

Die kommissarisch vernommene Frau Prilukow hatte bekundet: Ihr Mann sei, ehe er die Tarnowska kennenlernte, ein guter Familienvater, leidenschaftsloser Mann und fleißiger Arbeiter gewesen. Er habe wiederholt den Versuch gemacht, sich dem Zauber der Tarnowska zu entziehen. Einmal blieb er ihr trotz aller telegraphischen Aufforderungen zwei Monate fern und gab vor, an Lungenentzündung erkrankt zu sein. Die Tarnowska kostete ihrem Mann, der früher bescheiden gelebt hatte, ungeheures Geld. Sie (Zeugin) habe Diner-Rechnungen gesehen, die sich auf 600 Rubel per Abend beliefen. Nach einem Selbstmordversuch verlor ihr Gatte auch seine letzte Widerstandskraft gegen die Tarnowska. Staatsrat Samentzow (Kiew) hatte bei seiner kommissarischen Vernehmung bekundet: Er habe es getadelt, daß die Tarnowska mit Vorliebe französische Bücher gelesen habe und häufig zu wissenschaftlichen Vorträgen und Konzerten ging, augenscheinlich nur, um sich zu zeigen.

In einem amtlichen Schreiben wurde bezeugt, daß Maria Nikolajewna Mura Tarnowska im Adelsregister von Poltawa eingetragen sei.

Es gelangte ferner ein Brief zur Vorlesung, in dem Von Son an seinen Schwager Komarowski schrieb. „Ich habe Deine wunderschöne Braut (die Tarnowska) gesehen. Du wirst glücklich sein, wie ein Fisch im Wasser, mit einer solchen Lebensgefährtin, wie sie Deine zukünftige Frau ist.“ Der Brief ist datiert vom 30. August 1907, sechs Tage vor dem tragischen Tode Komarowskis. Über die finanziellen Verhältnisse der Tarnowska hatte der Adelsmarschall Zimbalistof stof von Kiew bekundet. Ihr Vater, Graf O’Rurch, gab ihr ein Monatsgeld von 300 Rubeln, und beim Tode der Mutter erbte sie zusammen mit der Schwester ein Landgut, das ihr eine Jahresrente von 4 bis 5000 Rubeln abwarf. Die Mutter der Tarnowska war gebildet und religiös, und ihre Tochter erhielt von ihr den ersten Unterricht. Letztere war von gutem Charakter und gefälligem Wesen und liebte es, als Kind reicher Eltern, ohne Beschränkung zu leben. Aus mehreren Zeugnissen ging hervor, daß verschiedene Familienmitglieder der Tarnowska mütterlicherseits im Irrenhause leben. Alsdann wurde Kinderfräulein Mathilde Skopin aus Kiew vernommen: Sie sei Kinderfräulein bei der Gräfin Tarnowska gewesen. Diese sei eine vorbildliche Mutter gewesen und habe ihr Personal sehr gut behandelt, so daß sie sehr geliebt wurde. Die Tarnowska hielt auch nach dem Streit mit ihrem Mann ihre Kinder an, für ihn zu beten. Auch diese Zeugin hat nervöse Krisen bei der Tarnowska während der Schwangerschaft beobachtet.

Der Student Zolotariew, der Hauslehrer bei den Kindern der Tarnowska war, bestritt energisch, daß er ein Geliebter der Tarnowska gewesen sei.

Frau Orerowsky, eine entfernte Verwandte der Tarnowska, schilderte diese als eine gute und anhängliche, aber launenhafte Person. Manchmal habe sie viel Energie entfaltet, und dann sei sie wieder ganz willenlos los gewesen. Auch diese Zeugin führte die neuropathische Anlage der Tarnowska auf ihre Abstammung zurück.

Eine englische Lehrerin, die gleichfalls im Hause der Tarnowska tätig war, bestätigte die Aussagen von Fräulein Skopin und sagte, es sei rührend gewesen, wie die Kinder jeden Morgen und jeden Abend das Bild ihres Vaters küßten.

Ingenieur Toburno bekundete als Zeuge: Als seinerzeit der Geliebte der Gräfin, Graf Borgewski, von dem Grafen Tarnowski erschossen wurde, berichteten die Zeitungen, die Gräfin habe ihren Mann zu der Mordtat angestiftet, damit dieser nach Sibirien verschickt und sie dadurch von dem verhaßten Gatten befreit würde; die Gräfin sei damals von den Zeitungen als eine Kurtisane geschildert worden. Später seien noch andere der Gräfin ungünstige Gerüchte im Umlauf gewesen, darunter die Behauptung, daß die Gattin des Grafen Komarowski von ihr vergiftet worden sei.

Es folgte die Aussage eines früheren Kammerdieners der Gräfin Tarnowska, Eulampio. Dieser schilderte die Gräfin als eine stets gütige Herrin und als ein Opfer der Schlechtigkeit ihres Gatten. Er wußte, daß sie Borgewski liebte. Von anderen Liebesverhältnissen der Gräfin hatte er nichts bemerkt. Prilukow sei ihm wohl bekannt, aber er habe ihn stets nur als juristischen Berater der Gräfin angesehen. Er wisse auch, daß Prilukow oftmals Geld von der Gräfin erhalten habe. Der Graf Wassili Tarnowski habe nach der Trennung von seiner Gemahlin ein regelloses Leben geführt, das ihn schnell vollständig ruinierte, die Gräfin aber sei von ihrem Vater, der sehr reich sei, stets ausgiebig mit Mitteln versehen worden.

Es wurde sodann das amtliche Leichenschauprotokoll verlesen, das sogleich nach dem Tode des Grafen Komarowski im Krankenhause aufgenommen wurde. In diesem hieß es, der Graf sei an einer durch die Schüsse verursachten Bauchfellentzündung gestorben; von einem Einfluß der Behandlung auf das Ableben des Grafen war nicht die Rede. Während der Verlesung dieses Aktenstückes bemächtigte sich des Angeklagten Naumow große Niedergeschlagenheit.

Tatjana Natschenka, eine Kammerzofe bei der Mutter der Gräfin, war voll Lobes über die Tarnowska. Diese habe ihre Leute stets aufs humanste behandelt. Sie bestätigte dann, daß Prilukow alle Augenblicke ins Haus kam oder jemanden schickte, um sich von der Gräfin Geld geben zu lassen.

Vors.: Kam Ihnen die beständige Anwesenheit Prilukows am Tische der Gräfin nicht seltsam vor?

Zeugin: Nicht im geringsten; ich glaubte, der Herr wäre bei der Gräfin in Pension. (Heiterkeit.)

Vors.: Aber Prilukow schlief doch auch im Hause der Gräfin Tarnowska?

Zeugin: Ja, weil die Gräfin Angst hatte, man könnte ihr ihren Sohn rauben!

Vors.: Kannten Sie den jungen Bruder des Grafen Tarnowski, der sich das Leben nahm?

Zeugin: Es war ein Schüler, der trotz seiner großen Jugend sich amüsierte wie die großen Leute und übermäßig trank.

Vors.: Warum beging er Selbstmord?

Zeugin: Weil er Examenzeugnisse gefälscht hatte.

Vors.: Hörten Sie, daß die Tarnowska diesen jungen Mann verführt oder zu verführen versucht habe?

Zeugin (mit großem Pathos): Niemals! Frau Gräfin wäre dazu nicht imstande gewesen!

Es wurden alsdann die medizinischen Sachverständigen vernommen. Professor Dr. Biardin faßte sein Gutachten über Naumow dahin zusammen: Er halte Naumow als absolut unverantwortlich für das von ihm begangene Verbrechen, weil er es als Neurastheniker unter gänzlich aufgehobener Willensfreiheit und bei stark vermindertem Bewußtsein begangen habe.

Ein bekannter Frauenarzt Professor Dr. Bossi (Genua) äußerte sich über die kriminelle Verantwortlichkeit der Tarnowska: Die Angeklagte leidet an einer schweren Krankheit der Gebärmutter, die sie sich durch zu frühe Verheiratung, im 17. Jahre, als ihre Menstruation noch nicht eingetreten war, zugezogen hat. Die Tarnowska stellt einen typischen Fall von Frauenkrankheit dar, bei dem das Strafrecht ebenso für die Frauen, wie bei der Trunksucht für die Männer einen Strafmilderungsgrund in Anrechnung bringen sollte. Die näheren Ausführungen, die der Gutachter durch Zeichnungen auf einer großen Tafel erläuterte, können aus Schicklichkeitsgründen nicht einmal angedeutet werden.

Alsdann nahm der Psychiater Prof. Morselli aus Genua das Wort, der zunächst den physischen und psychischen Krankheitszustand der Tarnowska schilderte. Ihre neurotische Veranlagung wurde durch die frühe Verheiratung, aus dem Kloster hinweg, und die unvermittelte Einführung durch ihren Ehemann in ein ausschweifendes Leben schwer verstärkt. Die örtliche Erkrankung der Gebärmutter brachte Blutvergiftungserscheinungen und Nervenerkrankungen mit sich, an denen die Angeklagte chronisch leidet. Überdies hat die Tarnowska eine Wanderniere, die sehr ungünstig ihre Gehirn – und Nerventätigkeit beeinflußt. Dazu kommt noch der zeitweise starke Gebrauch von Arzneigiften, wie Äther, Morphium, Kokain usw., ihre sehr schwere Erkrankung an Typhus und die Folgen des Bisses eines tollen Hundes. Die Tarnowska ist neuro-hysterisch von Geburt, und ihre Krankheit wurde verschlimmert durch ihre Umgebung und ihre Lebensschicksale. Von einer bewußten Beeinflussung dritter Personen könne bei ihrem Zustande keine Rede sein. Ihre Intelligenz ist kaum mittelmäßig, dafür zeugt schon ihre gänzlich verfehlte, kindische Verteidigung. In Betracht zu ziehen ist auch das besondere russische Milieu und die Liebe zum Alkohol, die dort in den höheren Klassen allgemein ist. In dem Käfig sehen wir hier drei Kranke, denn auch Prilukow ist krank, aus Überarbeitung und Trunksucht. Nach den italienischen Gesetzen müsse unbedingt der Paragraph 47 des Strafgesetzbuches für die Tarnowska in Anwendung kommen, der eine Strafminderung wegen physischer und geistiger Schwäche vorsieht.

Während dieses Vortrages wurde die Angeklagte wiederholt von Unwohlsein befallen.

Professor Dr. Cappeletti, Direktor des Irrenhauses zu Venedig, führte aus: Der Körperbau Naumows weist zwar äußerlich keine Anomalien auf, aber seine innere physiologische und psychologische Struktur ist unregelmäßig. Am meisten waren die Anomalien in den Funktionen des Gefühls und der Bewegung nachzuweisen. Wir haben festgestellt, daß Naumow eine ausgesprochene krankhafte psychische Anlage hat. Die freiwillige Aufmerksamkeit ist mangelhaft und wenig widerstandsfähig; seine Phantasie ist so lebhaft, daß er als Kind Geschichten erfand und als Jüngling sich an phantastischen Bildern ergötzte. Sein Gedächtnis ist gut und zeigt nur Lücken für die Zeit, wo er in die Tarnowska verliebt war, weil damals seine ganze Seele in diesem Leidenschaftsfeuer polarisiert wurde. Er ist durchaus moralisch und kein geborener Verbrecher. Sein Wille ist schwach, was ein Zeichen der Entartung ist und abulisch (willensschwach) in der wissenschaftlichen Bedeutung des Wortes. Naumow hat ein starkes Gefühl für seine persönliche Würde, das ihn in der Verhandlung und im Verkehr mit den ärztlichen Sachverständigen bei all seiner Nachgiebigkeit nie verlassen hat. Und diese Würde opferte er den Frauen, die er liebte, und zuletzt der Tarnowska. Im Mangel an Gleichgewicht haben wir die bedeutendsten Stigmata seines Charakters zu finden. Es handelt sich nicht um eine leichte Disharmonie, wie man sie auch bei normalen Menschen findet, sondern um schreiende Widersprüche, die sein Betragen unsicher und kontrastisch machen. Naumow ist ein überempfindlicher, aus dem Gleichgewicht gekommener abulischer Mensch, ein von der Wissenschaft erkannter krankhafter Typus. Zu seiner nervösen Anlage kommen noch die beiden Kopfwunden, die er beim Stoß gegen ein Floß in der Wolga und beim Sprung vom Billard erhalten hat. Naumow hat zunächst eine Anlage zu verminderter Zurechnungsfähigkeit gehabt, die dann voll entwickelt wurde, als er die Tarnowska kennenlernte und dadurch ganz aus dem Gleichgewicht kam. Die Zeugenaussagen lassen keinen Zweifel darüber, daß er suggestiven Einwirkungen schon unter normalen Umständen stark unterworfen war. Ob die Tarnowska eine außerordentliche Suggestionskraft besaß, ist gleichgültig, da es einer solchen gar nicht bedurft hätte, um den Naumow eine Tollheit begehen zu lassen. Naumow war gegenüber der Tarnowska immer Sklave; es ist klar, daß die Tarnowska ihm das Verbrechen erst einredete und es ihm dann befahl. Dies beweisen das gefälschte beleidigende Telegramm, die Reden der Tarnowska bei dem Gange zum Grabe Stahls und die Depeschen, die sie dem Naumow auf der Reise schickte. Naumow hat nicht aus Eifersucht gehandelt und das Verbrechen nur unter der Herrschaft eines fremden Willens vollbracht. Dieser Schluß wird auch durch die Aussage der Mutter des Ermordeten bestätigt.

Prof. Belmondo, Direktor der Klinik für Geisteskrankheiten an der Universität Padua, ergänzte diese Ausführungen gleichzeitig im Namen des Professors Borri dahin, daß Naumow ein konstitutioneller Neurastheniker und Masochist sei. Die Masochisten haben immer einen schwachen und willenlosen Charakter. Naumow habe in einem Zustand gehandelt, der seine Verantwortlichkeit zwar nicht ausschließe, aber sie doch stark einschränke.

Prof. Dr. Bianchi von der Universität Neapel, einer der bedeutendsten Psychiater Italiens und ehemaliger Unterrichtsminister, führte aus: Naumow hat keinen Charakter und ein ganz exzentrisches Gemüt. Seine organischen Funktionen erfolgen ungleich und mit Unterbrechungen, besonders sind Herzklopfen, Sprünge in der Blutzirkulation und Blutandrang nach dem Kopf festzuhalten. Seine Liebeserlebnisse beweisen, bis zu welchem Grade seine Erregbarkeit geht. Alle aus dem psychischen Trauma hervorgehenden Folgen, darunter der Alkoholgenuß, sind an Naumow festzustellen. Er hat nicht die Seele eines Verbrechers, der Gedanke zum Verbrechen ist von außen in sein Hirn eingeführt worden. Eine nicht verbrecherische Anlage braucht sich im hypnotischen Zustande gegen den Gedanken des Verbrechens nicht aufzulehnen. Die Suggestion hat eine ungeheure Macht. Es ist leicht einzusehen, welche Revolutionen im Gefühl Naumows durch die lakonischen Telegramme der Tarnowska „Teurer!“ und „Du bist mein!“ hervorgerufen wurden. Die Tarnowska bediente sich der indirekten Suggestion, die, wie die Versuche beweisen, viel wirksamer ist als die direkte. Die Hysteriker zerfallen in zwei Gruppen, in die der Sklaven, zu der Naumow gehört, und in die der Herrschenden und Erobernden, zu der die Tarnowska zählt. In dem von der Revolution heimgesuchten Rußland ist der Wert des Lebens gesunken, und es sind wirkliche Selbstmord-Epidemien en entstanden. Bei der Beurteilung des Verbrechens muß man den Kreis berücksichtigen, aus dem Naumow kommt.

Professor Dr. Borri, Gerichtsarzt in Florenz, schloß sich vollständig den Ausführungen des Prof. Morselli, soweit sie die klinische Beurteilung des Krankheitszustandes der Tarnowska betreffen, an. Auch für ihn ist die Tarnowska erblich hysterisch belastet, und ihr Zustand hat sich durch die späteren Umstände verschlimmert. Er geht sogar soweit, die Tarnowska eine geistig Kranke im Sinne des Gesetzes zu nennen. Die Handlungen, für die sie hier angeklagt ist, entbehren jedoch des spezifischen hysterischen Charakters, der einheitlichen, momentanen Betätigung. Sie sind vielmehr fortgesetzt und mit Überlegung ausgeführt, und es ist daher nicht der Artikel 47 anwendbar, der von einer bedeutenden Verminderung der Verantwortlichkeit spricht, sondern andere Artikel, die nur eine Verminderung der Verantwortlichkeit im allgemeinen zulassen.

Prof. Dr. Eugenio, Tanzi, Geisteskrankenarzt aus Florenz, begutachtete bezüglich der Tarnowska: Als unreifes, unerfahrenes Mädchen, 16 Jahre alt, aus dem Kloster weg geheiratet und durch einen ausschweifenden Ehemann in das Leben eingeführt, konnte sie sich nur ein Zerrbild vom Werte des Lebens, des Geldes usw. machen. Ihre ganze Umgebung glich einer Gesellschaft sellschaft von Verrückten. Ihr Mann läßt sich von ihr in ihrem Bette mit dem Dienstmädchen überraschen, der Bruder ihres Mannes erhängt sich, Borgewski hält die Hand vor ihren Gewehrlauf und läßt sie sich zerschmettern, um ihr seine Liebe zu beweisen, Stahl tötet sich, weil sie ihn nicht erhören will. Alles dies mußte furchtbar auf ihren Nervenzustand und ihr Gemütsleben einwirken. Ihr Hysterismus wurde hierdurch verschärft und damit ihre Unfähigkeit, sich selber zu beherrschen. Der Hysterismus der Frauen ist auch der Grund ihrer Launenhaftigkeit, und aus dieser entspringen die Lügen. Mit einem solchen Fall pathologischer Launenhaftigkeit haben wir es bei der Tarnowska zu tun.

Der Gutachter mußte hier abbrechen, da die Tarnowska unwohl geworden war. Sie wurde hinausgeführt. Die Ärzte bemühten sich um sie und stellten 150 Pulsschläge in der Minute sowie vollständige Unempfindlichkeit fest. Nach etwa einer halben Stunde war die Angeklagte wieder imstande, ihren Platz einzunehmen. Prof. Tanzi beendigte sein Gutachten, indem er für die Tarnowska die Anwendung des Artikels 47 des Strafgesetzbuches, starke Verminderung der Verantwortlichkeit, forderte.

Es wurden alsdann die medizinischen Sachverständigen über die Ursachen des Todes des Grafen Komarowski vernommen: Dr. Menini vom Hospital in Venedig begutachtete: Die schwerste der Wunden Komarowskis war die am Unterleib. Das Geschoß hatte die Eingeweide gerade an einer Windung getroffen und dadurch acht Löcher geschlagen. Ich glaubte, daß ein Teil der Gedärme nur tangential getroffen worden war. Das Geschoß fand ich dann in einem Muskel. Ich machte eine: dreifache Naht und ließ auf alle Fälle noch einen Zapfen darin. Während der Operation unterhielt sich Komarowski mit dem russischen Konsul und dem Untersuchungsrichter, die anwesend waren. Die Operation wurde ohne Narkose vorgenommen, und der Patient verlangte sogar eine Zigarette. Der zweite Tag verlief recht gut, am dritten wurde die erste Medikation vorgenommen und dem Primarius der günstige Verlauf gemeldet. Am vierten Tag kam der Primarius Professor Cavazzani. Als der Zapfen weggenommen wurde, stellte man einen Erguß fest, und befürchtete eine Bauchfellentzündung. Auf Anordnung des Primarius trennte ich die Naht auf und pumpte dem Patienten den Magen aus, da er an Blähungen litt. Darauf trat eine auffallende Verschlimmerung ein, und der Kranke bekam das Delirium. Auf die Frage eines Verteidigers gab Dr. Menini zu, daß die Krankenwärter während der Medikation bemerkten, wie die Eingeweide überall heraussprangen und sie sie nicht mehr zurückhalten konnten. Als der Vorsitzende dem Dr. Menini mit den Karabinieri drohte, wenn er mit dem Aussagen zurückhalte, gab er zu, daß nach seiner Ansicht die Auspumpung des Magens erst den Austritt der Gedärme verursacht habe. Nach diesem Austritt und der Wiedereinordnung der Därme sei es offenbar gewesen, daß Komarowski verloren war. Er habe auch die ganze Operation beklagt.

Dr. Facta, ein anderer Hospitalarzt, bestätigte diese Aussage. Soweit er sich erinnerte, sagten ihm seine Kollegen, der Tod Komarowskis sei infolge der Auspumpung des Magens eingetreten. Wenn er selbst die Operation hätte vornehmen müssen, so hätte er die durchlöcherten Teile des Darms entfernt, die beiden Enden zusammengenäht und so eine statt acht Wunden gehabt. Aber als untergeordneter Arzt habe er geschwiegen.

Einen höchst eigentümlichen Eindruck machte Professor Cavezzani, der Primarius, der die verhängnisvolle Operation angeordnet hat. Er wollte sich an gar nichts mehr erinnern, nicht einmal daran, überhaupt den Komarowski behandelt oder auch nur je gesehen zu haben. Eine Reihe von Krankenwärtern und Schwestern wurden telephonisch berufen und bestätigten, was die anderen Ärzte schon ausgesagt hatten, nämlich daß Cavezzani nicht nur bei der Operation anwesend war, sondern auch die Auftrennung der Naht und die Auspumpung des Magens angeordnet hatte. Cavezzani sagte darauf: Er bestreite die Aussagen gen aller dieser Zeugen gar nicht, nur habe er selbst die Erinnerung an den Vorgang absolut verloren, da er bei einem Zwischenfall während einer Operation sich ein Leiden zugezogen habe. Sein Gedächtnis habe sich seitdem geschwächt, und seit dem November 1909 habe er sich deshalb von der Praxis zurückgezogen. Ein Krankenwärter, der darüber befragt wurde, hat jedoch nie etwas von dieser Gedächtnisschwäche bemerkt.

Professor Dr. Trevisan kam zu dem Schluß, daß die Wunde tödlich und die ärztliche Behandlung im allgemeinen richtig war. Der operative Eingriff sei unbedingt nötig gewesen, da der Darminhalt auslief. Die Aussage der behandelnden Ärzte, daß sich Komarowski vor der Operation wohlbefand, sei zu unbestimmt. Dr. Coccon hatte erklärt, und auch Dr. Menini hat zugegeben, daß Komarowski Brechreiz empfand. Das beweise, daß Bauchfellentzündung im Anzuge war. Im besonderen verteidigte dann der Sachverständige die vom Professor Cavezzani angewandte Operationsmethode; Cavezzani ließ die Naht auftrennen, damit die giftigen Stoffe leichter aus der erweiterten Wunde austreten konnten. Bei dem vorhandenen Brechreiz sei die Auspumpung des Magens nötig gewesen, und es habe durchaus nicht gegen die Regeln der Heilkunde verstoßen, daß diese Operation bei offenem Bauch vorgenommen wurde. Der anatomische Befund habe keinen Anhalt für die Annahme ergeben, daß Komarowski an einem bei der Operation erlittenen Nervenschlag gestorben sei. Man solle die Unvollkommenheiten der Chirurgie nicht dem Chirurgen zur Last legen. Nur an der von Naumow ihm beigebrachten Wunde sei Komarowski gestorben.

Prof. Dr. Borri schloß sich diesem Gutachten im wesentlichen an. Er ist zwar der Meinung, es wäre besser gewesen, die Bauchnaht vor der Auspumpung nicht aufzutrennen. Doch wäre es ein Irrtum, anzunehmen, diese Unkorrektheit in der Operationsmethode habe den Tod Komarowskis herbeigeführt. Prof. Dr. Giordano, Primärarzt am Hospital von Venedig: Bauchwunden verlaufen meistens tödlich, wenn man operiert, dagegen beweisen die Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges, wie leicht man den Verwundeten durch einfache Unbeweglichkeit heilt. Im Transvaalkriege erhielt man vernichtende Ergebnisse, als man bei Unterleibswunden die Laparotomie anwandte. Professor Cavezzani war an dem Tage, wo er die Operation vornahm, nicht bei Sinnen. Es sei nicht von so großer Bedeutung, daß bei der Operation nach der Versicherung eines Krankenwärters Cavezzanis Hand zitterte. Nicht die unsichere Hand, sondern der unsichere Kopf eines Chirurgen führen zu Unheil. Nicht eine von selbst entstandene Peritonitis führte Komarowski zum Tode, sondern die angewandte Prozedur: zedur: das gewaltsame Einfüllen der Gedärme mit vielleicht nicht allzu reinen Händen habe die Peritonitis erzeugt. Nicht an einem Nervenschlag sei Komarowski gestorben, sondern schlimmer: die chirurgische Behandlung war mehr als die Nebenursache, sie war die eigentliche Ursache zum Tode Komarowskis. Er persönlich glaube, daß Komarowski ohne die begangenen Fehler gerettet worden wäre, denn sein Zustand (Temperatur, Besinnung und Stimmung) ließen das Beste erhoffen.

Professor Dr. Maselli begutachtete noch: Das Abenteurerleben hat die neurotische Anlage der Tarnowska bis zur Störung der Seelenvorgänge gesteigert. Es trat die moralische Anästhesie ein, die sie zum Verbrechen führte. Die Tarnowska leidet an Idiosynkrasie. Ihre Bildung ist von leichtem Gewicht wie gewöhnlich die der Weltdamen. Obwohl die Tarnowska von Natur gutmütig war, wie sie durch ihr Betragen gegen ihre Eltern, ihre Kinder und niedriger Stehende bewies, so hatte doch die Neurose bei ihr die höhere ethische und moralische Sphäre verletzt. Wie alle neuropathischen Frauen, hat auch die Tarnowska eine erotische Psyche und hat nach der Trennung von ihrem Mann, vielleicht unter dem Einfluß romantischer Lektüre, ihr „Ideal“ gesucht. Eine Herrscherin war die Tarnowska nur für die, die sich beherrschen ließen, und vielleicht hat der Neid auf die imponierende Erscheinung viele Urteile über sie pessimistisch gefärbt. Jedenfalls sehen wir auf der Anklagebank nicht etwa eine Bändigerin neben zwei gezähmten Löwen, sondern die Männer haben sich zu verteidigen verstanden, die Frau aber nicht. Die Lebensschicksale haben die Neurose der Tarnowska noch erhöht und ihr Gemüt verändert. Jahrelang spricht man um sie herum von nichts anderem als von Tollheit, Selbstmorden, Morden, Duellen, erotischen Ausschweifungen, Ehebrüchen, Ehescheidungen und Kindesentführungen. Diese ganze slawische Welt um die Tarnowska herum scheint ein Irrenhaus: alles ist im Exzeß. Die Angeklagte hat von der Hysterie alle Erscheinungen: die paroxystischen und die interparoxystischen auf physischem und psychischem Gebiete. Die Liebesabenteuer haben den Lebenslauf der Tarnowska schwer gestört; aber das ist nicht zu wichtig, denn das ist auch der Fall bei vielen Damen, die heute geachtet und geehrt die Salons beleben. Der erste Geliebte, Borgewski, hat der Tarnowska mit seinem Blute eine ganz außerordentliche Liebesprobe gegeben, ihre anderen Liebesabenteurer aber haben nichts Außerordentliches an sich. Die Tarnowska ist keine vollkommen Irrsinnige, sondern sie ist in hohem Grade mit partieller moralischer Anästhesie behaftet. Bei dem pathologischen Zustand Prilukows und der Tarnowska, bei ihrer Jagd nach Zerstreuungen mußte der Plan zum Verbrechen von selbst entstehen, ohne daß irgend jemand bewußt die Initiative dazu ergriffen hat. Hysterie und Verbrechertum hängen eng zusammen, und diese Ansicht der positiven italienischen Schule wird auch von den Geschworenen in Rußland geachtet. Die Tarnowska hat eine Gemütskrakheit, die ihr Bewußtsein und ihre Willensfreiheit einschränkt. Deshalb muß § 47 des italienischen Strafgesetzbuchs (beschränkte Verantwortlichkeit) angewandt werden.

Dr. Coceon vom Hospital in Venedig: Er habe die Überzeugung, daß Komarowski gerettet werden konnte. Er habe noch nie gehört, daß ein Magen bei geöffnetem Unterleib ausgepumpt worden sei.

Professor Dr. Giordano bemerkte noch: Die Krankenwärter haben, als sie in augenblicklicher Abwesenheit des Arztes die Gedärme wieder einfüllten, wahrscheinlich mehr Kraft als erforderlich war, angewendet.

Es folgten die Plädoyers. Es nahm zunächst das Wort der Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Dr. Feder: Die Angeklagten haben durchaus die charakteristischen Linien, mit denen sich das Strafgesetzbuch beschäftigt. Die Psychologen haben ihr Gutachten auf phantastische Erzählungen und schlecht begriffene Tatsachen gegründet. Diese Psychologie eignet sich für das Laboratorium, aber nicht für das Schwurgericht. Zur Entlastung der Tarnowska ist sogar ihr Negativismus herangezogen worden; nach dieser Methode müßten alle Angeklagten, die leugnen, als am Negativismus erkrankte betrachtet werden. Man hat das Verbrechen auch als „slawisch“ entschuldigen wollen, aber dabei nicht bedacht, daß auf dem italienischen Thron eine Slawin sitzt. Der Vertreter der Nebenkläger gab dann ein langes Exposé über den Lebenslauf der Tarnowska und die Geschichte des Verbrechens. Der Tatbestand sei klar und lasse keinen Zweifel, daß alle Angeklagten schuldig seien und vorsätzlich gehandelt hätten. Die durch die sieben Schußwunden hervorgerufene Bauchfellentzündung allein habe den Tod Komarowskis hervorgerufen. Naumow hätte ohne den von der Tarnowska erhaltenen Antrieb nicht gehandelt, Prilukow sei kein Komplize, aber mitschuldig, da er Naumow nicht zurückhielt, als dieser in Komarowskis Haus ging, und die Tat geschehen ließ. Er glaube nicht an die lange Krankheitsgeschichte der Tarnowska; diese Angeklagte sei immer gereist, aber nicht, um Heilbäder aufzusuchen, sondern nach den Orten, wo Neuropathen sich zerstreuen können. Während für den Leumund Prilukows angesehene Zeugen wie der Präsident Pisarew, der Ingenieur Toburno und der Advokat Manowsky eingetreten sind, habe die Tarnowska Entlastungszeugen nur unter ihren Verwandten und Dienern nern gefunden, obwohl sie 20000 Franken für die Kosten der Zeugenvernehmung hinterlegte. Schließlich wandte sich Rechtsanwalt Dr. Feder noch heftig gegen die Perier, die der Tarnowska jedweden Dienst geleistet habe, ohne auch solche Leistungen zu verweigern, denen sich eine Frau mit auch nur einer Spur von Moralität entzogen hätte. Der Lebensversicherungsantrag war das Todesurteil des Grafen. Die Tarnowska hat daraufhin alles in Bewegung gesetzt, um den Mordplan zu beschleunigen. Diese dämonische Frau suchte erst die Männer physisch zu vernichten, um sie willenlos zu machen, und wenn sie dann keinen Widerstand mehr leisten konnten, bediente sie sich ihrer für die eigenen Zwecke. Der Vertreter der Nebenkläger verlas hierauf die zwischen der Tarnowska und Prilukow gewechselten Telegramme, in denen die ersten Fäden des Verbrechens zu finden seien. Er erinnerte an die Details der Zusammenkunft der vier Angeklagten in Wien, bei der die letzten Vorbereitungen zum Mordplan ausgearbeitet wurden. Naumow wollte, als Frau v. Tarnowska ihm die apokryphe beleidigende Depesche vorzeigte, nach Venedig eilen, um den Grafen Komarowski zum Duell zu fordern. Sie überredete ihn jedoch, den Grafen nicht zu fordern, sondern ihn zu ermorden, da sie befürchtete, daß Naumow in dem Duell hätte getötet werden können, worauf ihr Plan, die Lebensversicherungsprämie mie zu erhalten, zu Wasser geworden wäre. Die Tarnowska spielte ein teuflisches Doppelspiel. Sie reiste mit Naumow nach Rußland, um sich ihm hinzugeben, spielte die durch den Grafen Beleidigte und stachelte seine Eifersucht auf, um ihn auf jede mögliche Weise zum Morde zu treiben. Währenddessen schickte sie dem Grafen die zärtlichsten Liebesdepeschen. Die Tarnowska ist also wohl überlegt und mit einer nie dagewesenen zynischen Ruhe bei der Vorbereitung zum Verbrechen vorgegangen. Sie und Prilukow hatten auch vereinbart, daß Naumow nach verübter Tat aus dem Wege geräumt werden solle. Prilukow hat in Wien zwei Detektivs angeworben, um ihn verhaften zu lassen. Die Tarnowska hat auch den Naumow ersucht, jeden Verdacht von ihrer Person fernzuhalten. Dieser Mordplan wurde in Anwesenheit und unter Teilnahme der Perier beraten und vorbereitet.

Die Vertreter der Perier protestierten hier gegen die Behauptungen des Dr. Feder, daß die Perier an dem Morde beteiligt sei. Zwischen Dr. Feder und den Verteidigern der Perier kam es zu einem lebhaften Wortwechsel, dem aber der Vorsitzende bald ein Ende machte. Dr. Feder besprach sodann alle Vorgänge am Vorabende des Verbrechens und das Telegramm der Tarnowska an Prilukow bezüglich der Waffe, deren sich Naumow bei Verübung der Tat bedienen sollte. Er erinnerte daran, daß die Tarnowska in Wien bereits ein Geständnis abgelegt habe, das sie auch hier nicht zurückziehen konnte. Die Geschworenen werden daher die Schuld der Tarnowska bejahen sowie auch bezüglich der anderen Angeklagten annehmen müssen, daß sie das Verbrechen in voller geistiger Klarheit und mit Vorbedacht begangen haben. Nur von Naumow könnte man sagen, daß er das Verbrechen nicht begangen, wenn ihn die Tarnowska nicht dazu getrieben hätte. Man hat um die Tarnowska eine Legende gesponnen, man hat gesagt, sie bezaubere alle; aber wir haben sie jetzt hier über einen Monat vor uns, und sie hat niemand von uns bezaubert, sondern nur Ekel eingeflößt. Sie ist eine Hochstaplerin, voll von Lastern und ohne Skrupel. Dr. Feder kam sodann auf die Perier zu sprechen und sagte: Die Perier ist uns während der Verhandlung wie eine Schlange aus den Händen geglitten. Aber sie war es, welche die Geliebten der Tarnowska zuführte, sie war die Zuhälterin der Tarnowska.

Staatsanwalt Randi beantragte das Schuldig gegen alle vier Angeklagte. Es sind drei Barbaren in europäischer Kleidung, die Elisa Perier die Schmach der menschlichen Gattung. Nicht Laparotomie habe Komarowski ins Jenseits befördert, sondern die acht von Naumow erhaltenen Wunden. In drei Perioden zerfalle das Leben der Tarnowska: die erste gehe bis zum Tode des Borgewski, die zweite bis zum Tode der Gräfin Komarowski und die dritte bis zur Ermordung Komarowskis selbst. Drei Daten, drei Leichen! Wie könne man die Tarnowska als willensschwach bezeichnen, wo sie sich schon mit siebzehn Jahren gegen den Willen ihrer Eltern verheiratet habe! Der Staatsanwalt bezeichnete dann die Tarnowska als eine der Abenteuerinnen, wie man sie mit dem Ellbogen unter den Prokuratien anstoße, und wandte sich darauf scharf gegen Naumow. Dieser Jüngling habe Baudelaire übersetzt und sich literarisch betätigt, er sei sich also seiner Handlungen wohl bewußt gewesen. Er habe nicht in somnambulischem Zustand gehandelt und sei auch nicht hypnotisiert gewesen; er sei für seine Tat voll verantwortlich. Die Sachverständigen haben ihre Untersuchungen an einem durch den Kerker geschwächten Individuum vorgenommen. Auch die Frage der Vorsätzlichkeit sei für Naumow zu bejahen; nicht einmal der lange Zeitraum habe ihn von seiner Tat zurückgehalten. Die Tarnowska, so fuhr der Staatsanwalt fort, ist die moralische Anstifterin des Verbrechens; sie hat zuerst den Gedanken daran in Naumows Seele gelegt und ihm den Plan dazu bis zu allen Einzelheiten vorgezeichnet. Die Frauenkrankheit der Tarnowska kann nicht als Entschuldigung gelten, da Tausende anderer Frauen dieselben Leiden haben, ohne zu Verbrecherinnen zu werden. Für Prilukow haben die Verteidiger keine Psychiater als Sachverständige herangezogen, und trotzdem wollen sie ihn für nicht zurechnungsfähig hinstellen. Es ist einerlei, ob Prilukow oder die Tarnowska zuerst den Gedanken an das Verbrechen gehabt hat; es genügt, daß sie gemeinsam Naumow dazu veranlaßt haben. Auch die Perier ist am Tode Komarowskis mitschuldig. Sie hat um alles gewußt, um die Liebesabenteuer der Tarnowska und um die Geldverlegenheiten; sie hat an dem Mahle teilgenommen, währenddessen Naumow zum Verbrechen gereizt wurde, wie sie schon vorher Prilukow zum Selbstmord reizen wollte. Deshalb ist auf Teilnahme am Verbrechen, wenn auch eine nicht notwendige Teilnahme, zu erkennen.

Verteidiger für Naumow, Rechtsanwalt Marigonda, erinnerte an die Aussage der Mutter des gemordeten Komarowski, daß Naumow das Verbrechen nicht begangen hätte, wenn es ihm nicht von der Tarnowska suggeriert worden wäre. Die Stimme der Toten (Borgewski und Stahl), die Stimme der Lebendigen und die Stimme der Wissenschaft, der Psychiater, sie alle bezeugen die suggestive Kraft der Tarnowska. Schließlich hob der Verteidiger noch hervor, daß auch die ärztlichen Sachverständigen Naumow für unverantwortlich erklärt haben.

Advokat Driussi: Naumow hat sich als zweiundzwanzigjähriger unerfahrener Jüngling, der schon Zeichen von anormaler Geistesverfassung gegeben hatte, in die Tarnowska verliebt. Als er das Verbrechen beging, hatte er nicht die geringste Ahnung davon, daß es nur des Geldes halber geplant worden war. Die Tarnowska beherrschte alle Männer, und selbst Komarowski erklärte sich in einem Briefe an sie bereit, für sie ein Verbrechen zu begehen. Dem ganzen Plan zum Verbrechen stand Naumow fern, ja, er war sogar abwesend, als der Plan gefaßt und ausgearbeitet wurde. Selbst als er aufs höchste gereizt worden war, dachte er nicht daran. Komarowski zu ermorden, sondern wollte ihn fordern. Erst als die Tarnowska ihn auf das Grab Stahls geführt und ihm die Ergebenheit Borgewskis und Trubetzkoys vorgehalten hatte, war er zum Verbrechen bereit. Nach der Tat aber brach er sofort reuevoll zusammen.

Advokat Dr. Luzzatti suchte nachzuweisen, daß Prilukow nur infolge der Künste der Tarnowska gefallen sei. Ehe er sie kannte, war er ein ganz anderer Mensch. Nachdem er schon seine Familie und seine Praxis verloren hatte, wollte er wenigstens seine Ehre retten und machte einen Selbstmordversuch. Er wurde gerettet und kehrte zu seiner Familie zurück, aber die Tarnowska zog ihn wieder an sich und stieß ihn die schiefe Ebene hinunter. Der Verteidiger behauptete dann: 1. die Tarnowska hat den Plan allein ausgedacht und ihn vor Prilukow in der ersten Periode verborgen; 2. Naumow wurde von der Tarnowska zum Verbrechen vorbereitet, ohne daß es Prilukow wußte; 3. die Tarnowska veranlaßte ohne Wissen Prilukows den Komarowski, sich zu versichern und sein Testament zu machen, und 4. wollte die Tarnowska diesen Plan ausführen, auch wenn Prilukow stürbe; ja sie wollte sogar den Tod Prilukows. Die Tarnowska war die „Generalin“, Naumow, Prilukow und sogar Komarowski ihre gehorsamen Soldaten. Dann verlas Advokat Luzzatti den schon vom Advokaten Driussi erwähnten Brief Komarowskis an die Tarnowska: „Um Dich mein zu nennen, bin ich sogar zum Verbrechen bereit, Dein Gatte zu werden und dann ins Zuchthaus zu gehen.“

Rechtsanwalt Dr. Feder: Sagen Sie keine solchen Dummheiten.

Luzzatti: Die Dummheiten sagen Sie.

Man könne, fuhr der Verteidiger alsdann fort, Prilukow auch nicht damit belasten, daß er bei der Vollführung des Verbrechens anwesend war, denn das war nur die Folge davon, daß die Tarnowska Naumow sich zu Willen gemacht hatte. Prilukow sein ein Verrückter, der immer tausend Dinge androhe und nichts ausführe; er sei dem Willen der Tarnowska untertan und wisse bis zuletzt gar nicht genau, wieweit diese gehen wolle.

Rechtsanwalt Dr. Luzzatti erinnerte schließlich daran, daß der kleine Sohn Prilukows seinem Vater geschrieben habe: er bete täglich für ihn und sei überzeugt, daß die Geschworenen Milde üben werden, die die höchste Gerechtigkeit sei.

Der Angeklagte, Rechtsanwalt Dr. Prilukow, weinte bei diesen Ausführungen fürchterlich. Ein Zug tiefster Bewegung ging durch den Saal.

Advokat Florian suchte nachzuweisen, daß Prilukow weder die Tarnowska noch Naumow zum Verbrechen veranlaßt habe. Das aufreizende Telegramm, das Prilukow mit der Unterschrift Komarowskis an Naumow sandte, habe diesen nach seiner eigenen Erklärung nicht zum Verbrechen veranlaßt. Die Hilfe, die Prilukow der Tarnowska zuteil werden ließ, indem er mit ein paar Detektivs Naumow überwachte, sei eine antipathische, aber keine strafbare Handlung. Die Tarnowska habe das Verbrechen ersonnen; das werde durch ihre Persönlichkeit und ihre Motive bewiesen. Der Verteidiger schloß: Es ist juristisch unmöglich, zu behaupten, daß Prilukow als Beauftragter der Tarnowska das Verbrechen der Anstiftung zum Morde begangen habe. Die Tarnowska, die diesen Auftrag erteilt, bleibt immer selbst die Person, welche die Anstiftung verübt hat. Es ist auch völlig falsch, daß Prilukow durch das gefälschte Telegramm Naumow dazu bestimmt habe, den Grafen Komarowski zu erschießen. Alle Schuld fällt vielmehr auf die Tarnowska zurück. Prilukow hat sich nicht einmal dadurch durch strafrechtlich verantwortlich gemacht, daß er keine Anzeige erstattete, nachdem er von dem beabsichtigten Verbrechen Kenntnis erhalten.

Die Tarnowska, die in den letzten Tagen ruhig schien, weinte bei dieser Rede des Verteidigers unaufhörlich.

Der Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Dr. Carnelutti, wandte sich mit der allergrößten Schärfe gegen die Darstellung des Verteidigers Florian. Dieser habe behauptet, die Perier sei ehrenhaft und unschuldig. Prilukow müsse ebenfalls freigesprochen werden, denn er habe sich in der juristischen Lage eines Mannes befunden, der mit den Händen in den Taschen einer Hinrichtung beiwohnte und das Haupt des Verurteilten rollen sah. Die Tarnowska habe unter dem Einfluß Prilukows gestanden, sei hysterisch und schwachsinnig und habe keine Willensfreiheit. Auch Naumow sei ein Hysteriker und ein Instrument in den Händen anderer. Nach Florian sei der Mord einfach zufällig erfolgt! Wie schaue es aber in Wirklichkeit aus? Der Mord sei abzuleiten aus der moralischen Verkommenheit Prilukows und der Tarnowska. Diese wollte den Grafen Komarowski mit Hilfe Prilukows ausbeuten. Die moralische Verkommenheit dieser beiden sei kaum noch nötig zu betonen. Prilukow habe zwar ein einwandfreies Vorleben; die Tarnowska habe aber auf ihrem Gewissen schon Ehebruch, den Tod ihres Geliebten Borgewski und den Selbstmord des Hauptmanns Stahl. Als die Gräfin Komarowska starb, fuhr der Anwalt fort, stand die Tarnowska, die das von Prilukow unterschlagene Geld in Händen hatte, als Diebin da. Die Heirat sollte ihr das Mittel sein, ihre frühere soziale Stellung wiederzugewinnen. Ihren Vorschlag, Prilukow solle dann als Haushofmeister bei dem gräflichen Paare bleiben, lehnte letzterer ab. Daraus entstand jener Konflikt, in dem der Ursprung der verbrecherischen Idee zu suchen ist, den Grafen zu ermorden. Prilukow wurde durch Eifersucht, die Tarnowska durch Geldgier zu der Mordtat getrieben. Wie zynisch und widerwärtig sie sich dabei verhielt, das zeigen die Worte, die sie ausrief, als sie die Todesnachricht empfing: „O wie unglücklich bin ich. Den Mann, den ich heiraten sollte, ermorden sie!“ Das ist keine hysterische Lüge, sondern eine erdachte Lüge, die einen wohlberechneten Zweck hatte. Die Tarnowska und Prilukow haben beide in ihrer Abgefeimtheit wohl gewußt, daß sie ihr Weg zum scheußlichsten aller Verbrechen, dem Morde, führte.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Diena (für die Angeklagte Tarnowska): Ich bitte die Herren Geschworenen, sachlich und ohne Voreingenommenheit die Schuldfragen zu prüfen. Ich fühle mich um so mehr verpflichtet, diesen Appell an die Herren Geschworenen zu richten, da man bereits zur Legende Zuflucht genommen hat. Dadurch kam ein Milieu zustande, das einem gerechten Urteil wenig günstig war. Prilukow und Naumow erschienen als die Quellen der Wahrheit; man bedachte nicht, daß auch sie Angeklagte seien. Allerdings hat die Angeklagte, Gräfin Tarnowska, vielfach Dinge geleugnet, die sie besser zugegeben hätte. Sie kannte z.B. die Herkunft des von Prilukow gestohlenen Geldes, zum mindesten mußte sie die Herkunft vermuten. Sie hätte auch besser getan, unumwunden zuzugeben, daß sie die 28 Briefe an Prilukow geschrieben habe. Die Schuld am Verbrechen selbst hat aber Prilukow. Auffällig ist es jedenfalls, daß in dem Zeugnis der Moskauer Rechtsanwaltskammer nichts über die Moralität und die finanziellen Verhältnisse Prilukows steht. Der Gedanke an das Testament und die Versicherung kann nimmermehr von einem Weibe gekommen sein, sondern nur von einem rechtskundigen Manne. Der Telegrammwechsel beweist, daß Prilukow der herrschende und nicht der beherrschte Teil war, und daß er das Verbrechen geleitet hat. Alsdann ging der Verteidiger zum zweiten Punkte seines Plädoyers über, nämlich daß die Tarnowska als nicht zurechnungsfähig angesehen werden müßte. Selbst die von der Staatsanwaltschaft berufenen psychiatrischen Sachverständigen haben auf verminderte Zurechnungsfähigkeit erkannt. Es gehe doch nicht an, daß der Staatsanwalt nachträglich noch seine eigenen Sachverständigen zurückweise, weil ihm ihre Schlüsse nicht passen. Die Tarnowska sei keineswegs die Medea, als die man sie habe hinstellen wollen; das beweisen auch die Aussagen der sechs Schwestern aus dem Gefängnis auf der Guidecca. Der Verteidiger schloß: Er habe die Geschworenen nicht milde stimmen, sondern sie überzeugen wollen, und verschmähe es deshalb, eine Aufforderung zu einem bestimmten Urteil an sie zu richten.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Alberto Musati führte für die Angeklagte Perier aus: In vierzig Bänden der Prozeßdokumente habe man keinen einzigen Schuldbeweis gegen die Perier finden können. Selbst die Staatsanwaltschaft habe den Rückzug antreten müssen, indem sie die Perier erst wegen notwendiger Teilnahme anklagte und dann ihre Verurteilung nur wegen nicht notwendiger Teilnahme beantragte. In Wien habe sich die Perier selbst belastet, um ihre Herrin zu entlasten. Was konnte sie von dem Verbrechen wissen, wo man nach zweiundeinemhalben Jahre noch nicht habe feststellen können, in wem der Gedanke zum Verbrechen zuerst aufgetaucht ist? Es war nicht nötig, daß die Perier als Verbindungsglied zwischen der Tarnowska und Prilukow diente, da diese beiden genug unter vier Augen zusammen waren. Der Verteidiger schloß mit der Bitte an die Geschworenen, die Schuldfragen bezüglich der Perier zu verneinen. nen. Nach längeren Repliken und Dupliken zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück.

Nach vierstündiger Beratung verkündete der Obmann den Wahrspruch der Geschworenen: Danach wurde Naumow für schuldig des Mordes erachtet, ihm aber verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt. Die Tarnowska wurde der Teilnahme am Morde mit Vorbedacht für schuldig erachtet, ihr aber auch verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt. Prilukow wurde der Teilnahme am Morde mit Vorbedacht für schuldig erachtet. Die Schuldfragen bezüglich der Perier wurden von den Geschworenen verneint. Die Geschworenen bejahten außerdem die Frage, daß die klinische Behandlung mitschuldig an dem Tode des Grafen Komarowski gewesen sei.

Während der Obmann den Wahrspruch verkündete, drang von der vor dem Gerichtsgebäude postierten, nach vielen Tausenden zählenden Menschenmenge ein furchtbarer Lärm in den Saal. Die Fenster mußten deshalb geschlossen werden.

Der Staatsanwalt beantragte gegen Naumow 3 1/2, gegen Prilukow 10, gegen die Tarnowska 8 Jahre Zuchthaus.

Der Gerichtshof verurteilte Naumow zu 3 1/2, die Tarnowska zu 8 1/2, Prilukow zu 10 Jahren Zuchthaus.

Von der nahen Kirche Santi Apostoli ertönte das Ave-Maria-Geläute in den Saal, als der Vorsitzende das Urteil verkündete. Die Angeklagten nahmen das Urteil ziemlich gefaßt auf. Die Tarnowska reichte Naumow zur Versöhnung die Hand! Alsdann wurden die Angeklagten von den Karabinieri einzeln abgeführt.

Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz

Die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts stattgefundene Judenverfolgung hatte in den verschiedensten Städten Pommerns zu argen Ausschreitungen gegen das Leben und das Eigentum der Juden geführt. Die Wohnungen und Läden der Juden wurden teilweise vom Mob arg beschädigt und geplündert, die Juden auf den Straßen schwer mißhandelt. Im Januar 1881 brannte an einem Freitag vormittag in Neustettin die Synagoge ab. Da wenige Tage vorher der Berliner antisemitische Agitator Dr. Ernst Henrici in Neustettin eine Hetzrede gegen die Juden gehalten hatte, wurde von jüdischer Seite der Vermutung Ausdruck gegeben: die Antisemiten haben aus Haß gegen die Juden den Tempel in Brand gesteckt. Die Antisemiten behaupteten dagegen: die Juden haben ihr Gotteshaus selbst in Brand gesteckt, um einmal die Schuld den Christen in die Schuhe zu schieben und andererseits, um durch Erhalt der Versicherungssumme in die Lage zu kommen, ein neues, schöneres Gotteshaus bauen zu lassen. Es wurden in der Tat fünf Juden wegen vorsätzlicher Brandstiftung bzw. Beihilfe, zum Teil auch, weil sie von dem Verbrechen, von dem sie zu einer Zeit, in welcher die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten hatten, die Anzeige unterlassen haben, angeklagt. Das Kösliner Schwurgericht verurteilte im Oktober 1883 vier Angeklagte zu hohen Strafen. Infolge eines formalen Verstoßes gegen die Strafprozeßordnung hob auf Antrag des Verteidigers Justizrats Dr. Sello (Berlin) das Reichsgericht das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Konitz. Dort wurden nach nochmaliger siebentägiger Verhandlung sämtliche Angeklagten freigesprochen.

Das freisprechende Urteil wurde in Neustettin mit einem Krawall beantwortet. Ganz besonders wurden die freigesprochenen Angeklagten, als sie von Konitz nach Neustettin zurückkehrten, vom Neustettiner Pöbel arg behelligt. Während bei der ersten Verhandlung in Köslin mehrfach antisemitische Kundgebungen laut wurden, es ertönten sogar laute Hepp-Hepp-Rufe von der Straße während der Verhandlung in den Gerichtssaal, war bei der im Februar 1884 in Konitz stattgefundenen zweiten Verhandlung von Antisemitismus keine Spur zu entdecken. Nachdem das Ritualmordmärchen in dem im Juli 1892 vor dem Schwurgericht zu Kleve stattgefundenen Xantener Knabenmordprozeß aufs gründlichste widerlegt war (Vgl. Bd. 1 p. 67ff.), hielt man allgemein diese aus dem finstersten Mittelalter stammende Blutbeschuldigung für vollständig abgetan. Da plötzlich, am Dienstag, den 13. März 1900, wurde in Konitz in einem in nächster Nähe der Synagoge befindlichen Bach, genannt der „Mönchssee“, an der „Spüle“ ein angeblich vollständig blutleerer menschlicher Rumpf, in Zeitungspapier eingehüllt, gefunden. Kopf, Hände und Beine fehlten. Letztere waren von den Knien ab kunstgerecht abgeschnitten. Es war begreiflich, daß dieser Fund in dem damals 12000 Einwohner zählenden westpreußischen Kreisstädtchen das größte Aufsehen erregte. Der Befund des Leichnams ließ auf eine jugendliche männliche Person schließen. Es wurde auch sehr bald festgestellt, daß es sich um den Rumpf des seit einigen Tagen vermißten Obertertianers Ernst Winter handelte. Winter, der Sohn eines Bauunternehmers aus Prechlau bei Konitz, war, obwohl bereits 18 1/2 Jahre alt, erst in Obertertia. Er hatte nämlich schon einmal das Gymnasium verlassen und 3 1/2 Jahre das Zimmerhandwerk erlernt. Diese Beschäftigung muß ihm wohl nicht behagt haben, denn er kehrte schließlich auf das Gymnasium zurück. Der Photographie nach zu urteilen, muß er ein häßliches Gesicht gehabt haben. Er wurde jedoch als Mensch von selten stattlichem Wuchs und auffallend schönem, kräftigem Körperbau geschildert. Er soll, obwohl noch Schüler und erst 18 1/2 Jahre alt, ein sehr ausschweifendes Leben geführt haben. Es entstand stand daher der Verdacht: Winter sei von einem beleidigten Gatten, Vater, Bruder oder Bräutigam oder auch von einem eifersüchtigen Liebhaber in einer gewissen Situation betroffen und, vielleicht wider Willen, derartig geschlagen worden, daß er den Tod erlitten habe. Daß Winter in solcher Situation den Tod erlitten hatte, dafür sprachen mit voller Deutlichkeit die in dem Hemd des Ermordeten vorgefundenen Spermaflecke. Es wurde auch der Vermutung Ausdruck gegeben: Winter sei in der erwähnten Situation von einem Zuhälter erschlagen und beraubt worden. In dem Gymnasialstädtchen Konitz soll die Zahl der Dirnen und Zuhälter verhältnismäßig sehr groß gewesen sein. Da, wie die verschiedenen Strafprozesse gelehrt haben, die Zuhälter auf ihre Dirnen ungemein eifersüchtig sind und auch Uhr, Kette und das Portemonnaie des Ermordeten mit 2 M. Inhalt fehlten, war es nicht ausgeschlossen, daß ein Zuhälter, einerseits aus Eifersucht und andererseits, um Uhr, Kette und Portemonnaie zu rauben, den jungen Mann totgeschlagen und um die Spuren des Verbrechens zu verwischen, den Leichnam zerstückelt und die einzelnen Körperteile an verschiedene Orte geschafft hatte. Hände und Füße des Ermordeten wurden auch sehr bald, zumeist auf Kirchhöfen gefunden. Die große Mehrheit der Konitzer Bevölkerung glaubte aber nicht an einen Totschlag aus Rache oder Eifersucht, sondern es wurde sofort behauptet: Ernst Winter sei von den Juden geschlachtet worden, da diese zu dem nahe bevorstehenden jüdischen Passahfest zu ihren Osterkuchen (Mazzes) Christenblut brauchen. Als Beweis wurde die Auffindung des Rumpfes in unmittelbarer Nähe der Synagoge und der Umstand angeführt, daß in der Nähe des Mönchsees der jüdische Schlachter Lewy wohne, und daß der älteste Sohn dieses Schlächters, namens Moritz, als der Rumpf gefunden wurde, an den Mönchsee gelaufen sei und höhnisch gelacht habe. Diese Argumente reichten hin, um nicht nur in Konitz, sondern in einer ganzen Reihe von Städten West- und Ostpreußens und Pommerns eine

Judenverfolgung

zu entfachen, wie sie in diesem Umfange und in dieser Art seit den Zeiten des Mittelalters in Deutschland nicht dagewesen ist. Eine ganze Anzahl regelrechter Judenkrawalle wurden inszeniert. Die Läden und Wohnungen der Juden wurden demoliert und geplündert, die Juden auf offener Straße beschimpft und aufs ärgste mißhandelt. Ja sogar die Synagoge in Konitz wurde demoliert, die Altardecken, die Gold- und Silbergeräte und Leuchter wurden geraubt, die Thorarollen aus der Bundeslade herausgerissen und zerschnitten. Eines Tages wurde der Welt die Kunde mitgeteilt,

die Synagoge in Konitz stehe in Flammen.

Die Erregung der Konitzer Bevölkerung wurde noch durch eine Anzahl antisemitischer Agitatoren, die in das westpreußische Gymnasialstädtchen geeilt waren, bis zur Siedehitze geschürt. Ein sogenanntes Untersuchungskomitee, bestehend aus Berliner und Konitzer antisemitischen Agitatoren, bildete sich. Es wurde eine hohe Belohnung für Entdeckung des Mörders ausgesetzt, die Belohnung wurde von der Regierung allmählich auf 32000 Mark erhöht. Diese hohe Summe lockte eine Anzahl Leute nach Konitz. Herumziehende Gaukler, Wahrsager, Kartenleger und Kartenlegerinnen kamen ins Städtchen gezogen, um durch allerlei Hokupokus die Persönlichkeit des Mörders zu ermitteln Die „Kunst“ dieser Leute hatte auch das Ergebnis, daß ein Jude aus rituellen Gründen der Mörder sein müsse. Den wirklichen Täter konnten sie aber weder mittels Karten, noch durch Entzünden einer Spiritusflamme, noch aus den Handlinien und auch nicht durch anderen Blödsinn feststellen. Trotzdem hatten diese Gaukler einen ungemein groBen Zulauf, denn die erregte, abergläubische Bevölkerung bediente sich aller Mittel, um den verruchten Mörder zu entdecken. Die Gaukler hatten sogar die Frechheit, ihre Hilfe den Berliner Kriminalbeamten, die auf Befehl des Ministers des Innern zwecks Ermittelung des Mörders nach Konitz geschickt waren, gegen Bezahlung anzubieten. In Konitz wohnte zur Zeit ein jüdischer Zahnarzt. Eines Tages erschien bei diesem ein Mann mit dem Ersuchen, ihm seine Zähne zwecks Plombierens nachzusehen. Der Zahnarzt sagte dem Mann: ein Zahn sei krank, der müßte entfernt werden. Der Mann erwiderte: er habe heute keine Lust, sich einer, wenn auch mittels Lachgas bewirkten schmerzlosen Zahnoperation zu unterziehen, er werde in einigen Tagen wiederkommen. Der Mann war aber nur von seinem Wohnort Landsberg a.d.W. nach Konitz gekommen und hatte den Zahnarzt aufgesucht, weil er in diesem den Mörder des Winter vermutete. Sofort nach seinem Weggange erstattete er bei der Polizei gegen den Zahnarzt Anzeige wegen Mordes mit ungefähr folgender Begründung: Ich halte den Zahnarzt für den Mörder des Winter. Einmal ist der Zahnarzt Jude und andererseits ist festgestellt, daß der ermordete Winter schlechte Zähne hatte. Er hat vielleicht den Zahnarzt aufgesucht, und dieser hat ihm, ebenso wie mir, vorgeschlagen, sich einer Zahnoperation zu unterwerfen, die mittels Betäubung vorgenommen wurde. Auf diese Art konnte der Mord mit Leichtigkeit ausgeführt werden. Bereits am folgenden Morgen in aller Frühe, es war noch dunkel auf den Straßen, wurde der damals noch unverheiratete Zahnarzt unsanft aus dem Schlafe geklopft. Sechs Polizeibeamte unter Führung eines Polizeikommissars traten mit brennenden Laternen beim Zahnarzt ein und erklärten ihn wegen Mordverdachts für verhaftet. Selbstverständlich ständlich wurde sofort eine umfassende Haussuchung vorgenommen, die aber nicht das geringste Ergebnis hatte. Nach einigen Tagen wurde, da auch nicht die leiseste Spur für die Täterschaft des Zahnarztes festgestellt werden konnte, letzterer wieder in Freiheit gesetzt.

Aber auch eine Anzahl Privatdetektivs und sonstige existenzlose Leute, sogenannte Journalisten, schlugen in Konitz schleunigst ihren Wohnsitz auf, um den Mörder zu entdecken und sich die hohe Belohnung zu verdienen. Um sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, korrespondierten diese Leute über die Verhältnisse des Städtchens, das damals geradezu in den Mittelpunkt der Welt gerückt war, für alle möglichen Zeitungen. Die einzige in Konitz erscheinende Zeitung, das antisemitische ?Konitzer Tageblatt?, trug auch nicht wenig zur Verhetzung der Bevölkerung bei. Die Verhetzung nahm einen derartigen Grad an, daß die christlichen Schüler selbst auf dem Gymnasium den Verkehr mit ihren jüdischen Mitschülern mieden und sich offen weigerten, mit ihnen auf derselben Bank zu sitzen. Einige Gymnasiallehrer, die dieser Verhetzung Vorschub geleistet hatten, mußten, da der öffentliche Frieden aufs ärgste gefährdet war, an ein anderes Gymnasium versetzt werden. Die Juden in Konitz und weitester Umgebung wurden vollständig gesellschaftlich geächtet und geschäftlich boykottiert. Alle Juden, die es möglich machen konnten, veräußerten ihr Besitztum und kehrten Konitz den Rücken. Das Geschäft sank unter Null. Geschäftsreisende ließen sich in Konitz und den Nachbarstädten nicht mehr sehen. Da die Straßenkrawalle sich wiederholten und einen immer heftigeren Charakter annahmen, so traf

auf persönlichen Befehl des Kaisers

eine Kompagnie Soldaten aus Graudenz in Konitz ein. Das Militär wurde in allen Städten, das es zu passieren hatte, mit dem Rufe: ?Judenschutztruppe? empfangen. In Konitz vermochte das Militär erst, als es mit gefälltem Bajonett vorging, die Ruhe wiederherzustellen. Selbst einem Geheimen Regierungsrat, den der Minister des Innern nach Konitz gesandt hatte, gelang es nicht, die krawallierende Menge zu beruhigen. Auf Anordnung des Ministers des Innern war Kriminalkommissar Wehn, jetzt Kriminalpolizei-Inspektor, später Kriminalpolizei-Inspektor Braun, Kriminalpolizei-Inspektor Klatt und die Kriminalkommissare v. Kracht und v. Bäckmann sowie eine Anzahl Kriminalschutzleute, sämtlich vom Berliner Polizeipräsidium, nach Konitz gesandt worden. Allen diesen Beamten gelang es aber nicht, die Persönlichkeit des Mörders festzustellen. Am Karfreitag, mittags gegen 1 Uhr, wurde in der Nähe des außerhalb der Stadt belegenen Schützenhauses der Kopf des ermordeten Winter aufgefunden. Ein alter, kurzsichtiger Gerichtskastellan stellan namens Fiedler behauptete: er habe am Karfreitagvormittag den jüdischen Handelsmann Israelski mit einem großen Sack auf dem Rücken beim Gerichtsgebäude vorüber nach dem Wege zum Schützenhaus gehen sehen. Die Form des Sackinhalts ließ darauf schließen, daß der Sack einen menschlichen Kopf geborgen habe. Israelski sei nach einiger Zeit mit leerem Sack und beschmutzten Stiefeln zurückgekommen. Israelski bestritt aufs entschiedenste, zu dem Winterschen Morde in irgendwelcher Beziehung gestanden zu haben. Er trage eines Fußleidens wegen überhaupt keine Stiefel. Eine, bei Israelski vorgenommene Haussuchung förderte nicht das geringste zutage. Auch Stiefel wurden bei Israelski nicht gefunden. Obwohl die Behauptungen Fiedlers von niemandem bestätigt werden konnten, wurde Israelski wegen Begünstigung des unbekannten Mörders, auf Grund des Paragraphen 257 des Strafgesetzbuches, angeklagt. Er hatte sich am 8. September 1900 vor der Strafkammer des Konitzer Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Böhnke. Die Anklagebehörde vertrat der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Maschke (Konitz) und Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin). Zu der Verhandlung erschien auch der Vater des ermordeten Gymnasiasten Winter als Zeuge.

Erster Staatsanwalt: Es ist Ihnen ein anonymer Brief zugegangen, in dem Ihnen 50000 Mark geboten wurden? Wie verhält es sich damit?

Zeuge: Das ist richtig, der Brief war in Hammerstein aufgegeben worden, und es hieß darin im Anschluß an die Meldung, daß das Verfahren gegen den Schlächtermeister Hoffmann eingestellt sei: „Wir haben nun schon 200000 Mark weggeworfen und bieten Ihnen jetzt 50000 Mark, wenn Sie in den ?Geselligen? (Graudenz) ein Inserat folgenden Inhalts einrücken: ?Winter schweigt!? Wir Juden haben es getan, wir haben nicht anders gekonnt, das ist unser Trost.“

Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wo ist der Brief hingekommen?

Zeuge: Ich habe ihn dem Herrn Schrader gegeben, der ihn dem Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg übermitteln wollte. Ich sollte den Brief heute zurückbekommen, um ihn hier vorlegen zu können. Leider ist er mir bisher nicht zurückgegeben worden.

Sanitätsrat Dr. Müller bekundete als Sachverständiger: Der Kopf und die einzelnen Körperteile des Ermordeten waren vollständig blutleer. Der Tod müsse infolge Verblutung erfolgt sein, die durch einen Querschnitt durch den Hals herbeigeführt wurde. Der Kopf sah bei der Auffindung vollständig frisch aus und war auch völlig geruchlos. Die Sektion ergab, daß die Speiseröhre und auch die Rachenhöhle mit Mageninhalt vollgestopft war. Demnach muß dem tödlichen Schnitte ein Würgungsakt voraufgegangen sein. Auf Befragen des Justizrats Dr. v. Gordon erklärte der Sachverständige, die Verblutung müsse bei Lebzeiten, nicht bei der Zerstückelung der Leiche eingetreten sein. Auch die übrigen Leichenteile seien frisch und geruchlos gewesen, etwa als wenn sie im Keller aufbewahrt worden seien. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts erklärte der Sachverständige, zwei andere Sachverständige haben erklärt, daß die Zerstückelung von sachkundiger Hand vorgenommen worden sei. Dafür spreche die Auslösung der Schenkel, die wie bei Tieren vorgenommen war.

Der zweite Sachverständige, Gerichtsarzt Privatdozent Dr. Puppe (Berlin), bekundete: Bei der Untersuchung waren die Lungen an der Schnittfläche braunrot, während anämische Lungen blaß sind. Diese Färbung der Lunge spricht gegen Verblutung. Die Blutleere ist nur in inneren Organen erkennbar, diese fehlen aber außer den Lungen. Da der Körper zerschnitten ist konnte sich das Blut auch nach dem Tode entleeren, um so mehr, als der Körper mit Wasser in Verbindung gekommen ist. Auch die Herzklappen, die inneren Wände der Arterien und die Venen des Oberschenkels waren braunrot; ferner spricht gegen Verblutung das Fehlen der Suffusion an der Schnittfläche.

Vors.: Sie meinen, daß der Tod absolut durch Erstickung stickung herbeigeführt worden ist?

Sachverständiger: Nein, es ist nur wahrscheinlich. Aber die für die Verblutung sprechenden Gründe erscheinen unsicher und zweifelhaft. Der Sachverständige hielt es in seinen weiteren Ausführungen für möglich und wahrscheinlich, daß der Kopf mit der Schnittfläche im Wasser gelegen habe und, da der Moorboden bekanntlich desinfizierende und konservierende Eigenschaften besitze, auf diese Art so gut erhalten sei. Die weitere Beweisaufnahme förderte nicht das mindeste für die Schuld des Angeklagten zutage. Der Erste Staatsanwalt hielt trotzdem die Schuld des Angeklagten für erwiesen und beantragte fünf Jahre Gefängnis.

Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wenn der Angeklagte schuldig wäre, so würde keine Strafe hoch genug gegen ihn sein, denn er hätte, indem er den Täter der Strafe zu entziehen suchte, unsägliches Unglück, das über viele andere gekommen, verschuldet. Der Angeklagte ist aber nicht schuldig; ich erwarte daher zuversichtlich seine Freisprechung. Das Eigentümliche an diesem Verfahren ist, daß man keinen Anhalt für den Täter hat. Nach Einsicht der Akten muß jeder ruhig und objektiv Urteilende zugeben, daß sich nach keiner Seite hin Anhaltspunkte für einen Verdacht ergeben haben. Nach dem Gutachten des Dr. Puppe erscheint der Erstickungstod sehr wahrscheinlich. lich. Diese Beurteilung der Todesursache erscheint für die weitere Verfolgung von höhster Bedeutung. Sollten aber, beim Gericht Zweifel über die sich gegenüberstehenden Gutachten bestehen, so würde es sich empfehlen, ein Obergutachten des Medizinalkollegiums einzuholen. Wäre der Tod durch Verblutung eingetreten, so würde es sich vielleicht um einen israelitischen systematischen Mord handeln, den mehrere Personen ausgeübt haben müßten. Anders liegt es beim Erstickungstod, dann wäre mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Es wäre möglich, daß Winter in irgendeiner Situation überrascht wäre, oder daß er aus Fahrlässigkeit bei irgendeinem Scherz oder einer Liebelei unter dem Kissen erstickt sei. Es muß entschieden bestritten werden, daß dem Staatsanwalt der Beweis gelungen sei, daß überhaupt eine strafbare Handlung den Tod Winters verursacht hat. Auch der Versuch, ein Motiv für die Handlungsweise des Angeklagten nachzuweisen, ist der Anklage mißlungen. Zur Zeit, als der Kopf gefunden wurde, waren schon Tausende Mark Belohnung ausgeboten. Also das Motiv des Eigennutzes schwebt ganz in der Luft. Es liegt hier ein Maximum von Unwahrscheinlichkeiten vor, die gegen jeden anderen ebenso belastend angewendet werden könnten. Aus vollster Überzeugung beantrage ich daher die Freisprechung des Angeklagten. Die Freisprechung fällt wie ein reifer Apfel vom Baum. Ich möchte nur wünschen und hoffen, daß die Bevölkerung auf Grund des heutigen Beweisergebnisses den Mann, der wieder in ihre Mitte tritt, nicht als Mörder oder Mordgesellen betrachtet.

Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende folgendes Urteil: Das Gericht hat sich dem Gutachten des Sanitätsrats Müller angeschlossen, welches im wesentlichen mit dem Gutachten der Berliner Gerichtsärzte Mittenzweig und Störmer übereinstimmt. Diese drei Herren standen unter dem frischen Eindruck der Sektion, ohne daß das Gericht damit den wissenschaftlichen Einwendungen des heute gehörten anderen Herrn Sachverständigen zu nahe treten will. Auf Grund dieser drei Gutachten hat das Gericht zu keiner festen Annahme über die Todesursache kommen können, denn die Herren sprechen auch nur von Wahrscheinlichkeiten. Bezüglich des Angeklagten ist als erwiesen anzusehen, was der Zeuge Friedler ausgesagt hat, der Israelski mit einem runden Gegenstand im Sack vorbeigehen gesehen hat. Friedler hat ihn aber nicht weiter gehen sehen, als bis zur Ecke. Es erscheint nicht nachgewiesen, wohin er weiter gegangen ist. Die Aussagen der anderen Zeugen sind zu unsicher gewesen. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Kopf nicht längere Zeit im Graben gelegen haben kann, es fehlt eben jeder Anhalt dafür, was der Angeklagte im Sack gehabt hat. Das Gericht hat ferner nicht als erwiesen angesehen, daß ein Schächtschnitt vorliegt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt: es ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte Israelski dem nicht ermittelten Täter Beihilfe geleistet hat. Er war daher freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen.

Anfang Oktober 1900 hatte sich der siebzehnjährige Präparand Richard Speisiger vor der Konitzer Strafkammer wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Speisiger war ein Freund des ermordeten Winter. Er war beschuldigt, bezüglich des Verkehrs des Winter wissentlich eine Unwahrheit beschworen zu haben. In diesem Prozeß wurde von mehreren als Zeugen vernommenen Gymnasiasten bekundet: Winter habe ihnen viel über seinen unzüchtigen Verkehr erzählt und ihnen noch kurz vor seinem Tode mitgeteilt, daß er mit drei jungen Mädchen fortdauernd intimen Verkehr unterhalte. Er habe aber noch mit anderen Frauen intimen Verkehr, so daß er bisweilen schachmatt sei.

Zwecks weiterer Feststellung des von dem Ermordeten unterhaltenen unzüchtigen Verkehrs wurde am zweiten Verhandlungstage den ganzen Vormittag wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die Vertreter der Presse mußten den Saal verlassen. In dieser unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefundenen Verhandlung wurden mehrere unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Dirnen vernommen.

In der öffentlichen Verhandlung bekundete eine Reihe Zeugen: der Fleischergeselle Moritz Lewy, genannt der „Pincenez-Lewy“, weil er sogar das Vieh mit dem Pincenez auf der Nase durch die Stadt trieb, sei augenscheinlich mit dem ermordeten Winter befreundet gewesen, denn er sei mehrfach mit Winter auf der Straße plaudernd gesehen worden. Moritz Lewy bekundete, als ihm der Vorsitzende die Zeugenaussagen vorhielt: Er kenne viele Gymnasiasten, mit denen er sich unterhalte, ohne ihren Namen zu wissen. Dasselbe werde wohl auch bezüglich des Winter der Fall sein. Es sei sehr leicht möglich, daß er wiederholt mit Winter gesprochen und auch mit ihm zusammengegangen sei, ohne seinen Namen zu kennen. Er erinnere sich wenigstens nicht, Winter gekannt zu haben.

Vors.: Sie haben bei dem Untersuchungsrichter mit voller Entschiedenheit in Abrede gestellt, daß Sie Winter gekannt haben.

Der Zeuge schwieg. Der Gerichtshof beschloß die Aussage des Zeugen Moritz Lewy protokollieren zu lassen. Lewy wurde darauf vereidigt und auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wegen Verdachts des wissentlichen Meineids im Gerichtssaale verhaftet.

Im Plädoyer bemerkte der Erste Staatsanwalt: Die nichtöffentliche Verhandlung hat ergeben, daß der ermordete Winter, obwohl noch Gymnasiast und erst 18 1/2 Jahre alt, mit den verworfensten Dirnen intimen Verkehr unterhalten hat. Der Erste Staatsanwalt erachtete im weiteren die Schuld des Angeklagten Speisiger in drei Fällen für erwiesen und beantragte 2 Jahre 6 Monate Gefängnis. Der Gerichtshof sprach jedoch den Angeklagten wegen mangelnder Beweise frei.

Sehr bald darauf folgten mehrere Prozesse wegen Landfriedensbruchs sowie wegen Auflaufs und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Alle diese Straftaten waren aus Anlaß des Winterschen Mordes in Konitz und verschiedenen Nachbarstädten unternommen worden.

Am 25. Oktober begann vor dem Schwurgericht des Konitzer Landgerichts ein sehr umfangreicher Prozeß wegen wissentlichen Meineids gegen 1. den Gasanstaltsarbeiter Bernhard Maßloff, 2. dessen Ehefrau, geborene Roß, 3. Gesindevermieterin Anna Roß, 4. Frau Auguste Berg geborene Roß. Maßloff hatte vor dem Untersuchungsrichter beschworen: Er sei am Sonntag, den 11. März 1900, abends gegen 10 Uhr, die Danziger Straße entlang gegangen, um sich nach seiner außerhalb von Konitz belegenen Behausung zu begeben. Als er aus seiner Schnupftabakflasche eine Prise nehmen wollte, sei ihm der Pfropfen von der Schnupftabakflasche zur Erde gefallen. Er habe sich gebückt, um den Pfropfen aufzuheben. Bei dieser Gelegenheit sei sein Blick in ein Kellerfenster gefallen. Er habe gesehen, daß mehrere Männer dort in einer Weise wie Schlächter hantierten. Gleichzeitig habe er Winseln und Stöhnen, sowie ein „Gebabber“ und Gurgeltöne vernommen. Obwohl er nicht wußte, wer in diesem Hause wohnte, sei er um die Ecke in die Rähmestraße gegangen. Dort habe er sich auf die Lauer gelegt. Nach etwa dreiviertel Stunden sei ein alter Jude aus dem Keller gekommen. Bald darauf seien noch zwei junge Juden, die ein schweres, langes Paket trugen, aus dem Keller gestiegen. Der alte Jude und die zwei jungen Juden haben das schwere Paket nach dem Mönchsee getragen und dort hineingeworfen. Die Schwiegermutter des Maßloff, Frau Roß, hatte vor dem Untersuchungsrichter bekundet: Ein Knecht habe dieselben Beobachtungen wie ihr Schwiegersohn Maßloff gemacht. Frau Berg und Frau Roß hatten außerdem beim Untersuchungsrichter bekundet: Sie hätten am Sonntag vor dem Morde verschiedene Beobachtungen in der Lewyschen Wohnung gemacht. Frau Lewy und ihre Schwester, die sogenannte „Lappen-Lewy“ seien sehr aufgeregt gewesen. Diese haben auch Gespräche geführt, die sich auf die Ermordung des Gymnasiasten Winter bezogen. Außerdem haben sie in der Lewyschen Wohnung die Wintersche Uhrkette und ein dem Ermordeten gehörendes weißes Taschentuch, gezeichnet E.W., liegen sehen. Frau Maßloff hatte verschiedene Angaben ihres Mannes eidlich bestätigt. Da alle diese Angaben den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen, wurde gegen die vier Personen Anklage wegen wissentlichen Meineids erhoben. Den Vorsitz in dieser Verhandlung, der auch ein Vertreter des Justizministeriums und zum Teil die antisemitischen Reichstagsabgeordneten Liebermann von Sonnenberg und Pastor a.D. Krösell beiwohnten, führte Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertraten der Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Marienwerder Dr. Lantz und der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten, und zwar als Offizialverteidiger die Konitzer Rechtsanwälte Dr. Hunrath, Zielowski, Gebauer und Vogel. Die Vernehmung des Hauptangeklagten Maßloff gestaltete sich ungefähr folgendermaßen: Ich wiederhole, daß ich die von mir angegebenen Vorgänge in dem Lewyschen Keller genau gesehen und auch beobachtet habe, wie die drei Männer das Paket wegtrugen.

Vors.: Wann hatten Sie etwas von dem Verschwinden des Ernst Winter erfahren?

Angekl.: Am Dienstag, den 13. März. Ich war damals arbeitslos und fragte in der Gasanstalt wegen Arbeit nach. Währenddem kam ein Junge auf den Hof und sagte: Es sei ein Rumpf im Mönchssee gefunden worden, der jedenfalls der des vermißten Ernst Winter sei.

Vors.: Wann haben Sie nun Ihre Wahrnehmungen gemacht, die Sie in der Voruntersuchung eidlich bekundet haben?

Angekl.: An dem Sonntag vorher abends.

Vors.: An diesem Tage war Winter verschwunden?

Angekl.: Ja.

Vors.: Was haben Sie nun an diesem Sonntag gemacht?

Angekl.: Gegen 7 Uhr abends besuchte ich meinen Schwager Berg. Wir gingen dann zusammen in einen Gasthof, wo ich 3 bis 4 Glas Bier und auch einige Schnäpse trank; ich war aber vollständig nüchtern, als wir zurückgingen, um noch bei Berg Karten zu spielen. Hier trank ich noch einen Rum und ging dann gegen 10 Uhr abends weg. Als ich die Danziger Straße entlang ging, wollte ich eine Prise nehmen. Dabei fiel mir der Pfropfen des Schnupftabakfläschchens auf die Erde, und ich bückte mich, um ihn zu suchen. Währenddem kam ich mit dem Kopf einem Kellerfenster nahe und hörte dahinter ein Gemurmel. Auch sah ich einen Lichtschimmer durch die Ritze des verhängten Fensters scheinen. Das machte mich stutzig und aufmerksam.

Vors.: Das war doch aber nichts Auffälliges? Solchen chen Lichtschimmer sieht man doch öfter?

Angekl.: Es war doch aber schon nach 10 Uhr, auch war das mehr wie ein Gemurmel, es klang wie eine Art Geheul: Hoh! Hoh! Oh! Oh!

Vors.: Angeklagter Maßloff, überlegen Sie sich genau, was Sie hier sagen. Sie haben sich früher wiederholt widersprochen bei der Erzählung dieser Sachen.

Angekl.: Das ist keine Lüge, das ist die Wahrheit.

Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung vor dem Landrichter Dr. Zimmermann ausgesagt, Sie hätten bei Bergs nicht bloß einen Rum, sondern außerdem 3 Schnäpse getrunken. Es kommt sehr darauf an, ob Sie vielleicht an jenem Abend betrunken waren.

Angekl.: Ich war vollständig nüchtern.

Vors.: Weiter haben Sie in der Voruntersuchung ausdrücklich gesagt: Meine frühere Aussage, daß ich durch den Lichtschimmer auf die Vorgänge im Keller aufmerksam geworden sei, ist falsch.

Angekl.: Jawohl, aber ich habe den Lichtschimmer deutlich gesehen.

Vors.: Was haben Sie dann getan?

Angekl.: Ich horchte am zweiten Fenster.

Vors.: Haben Sie sich dabei niedergebeugt? Überlegen Sie sich das genau.

Angekl.: Ich bin niedergekniet und habe mich auf die linke Hand gestützt. Dann brachte ich mein Ohr in die nächste Nähe des Fensters und hörte darauf ein dumpfes Gebabber aus dem Keller kommen.

Vors.: Von dem angeblichen Geheul haben Sie bisher nie etwas gesagt.

Angekl.: O ja doch. Ich habe gesagt: Es war so ein Gegurgel, als ob jemand Luft fehlte, weil er gewürgt wurde.

Vors.: Können Sie uns genau den Zeitpunkt angeben, wann das gewesen ist?

Angekl.: Jawohl, nach 10 Uhr. Ich hörte das Gegurgel dreimal.

Vors.: Was dachten Sie sich nun?

Angekl.: Ich dachte, daß ein Schlächter da unten etwas abschlachtet.

Vors.: Worauf stützten Sie Ihre Hand? Überlegen Sie es sich, es ist das sehr wesentlich.

Angekl.: Auf Steine.

Vors.: Wie war das Fenster beschaffen?

Angekl.: Zwischen den Fenstern und der Straße war ein Luftschacht.

Vors.: Dann mußten Sie Ihre Hand also doch auf die Stäbe über diesem Luftschacht legen?

Angekl.: So nahe war ich ja nicht am Fenster.

Vors.: Wenn man wo horcht, so bringt man das Ohr doch möglichst nahe heran.

Angekl.: Ich glaube auch, es war ein Eisengitter vor dem Fenster angebracht.

Vors.: Es ist auffallend, daß Sie, trotzdem Sie in der Stadt ziemlich fremd waren, mit einem Male so neugierig horchten, was da hinter dem Kellerfenster vor sich ging.

Angekl.: Ich mußte doch neugierig werden, als ich, während ich den Pfropfen suchte, plötzlich das Gebabber hörte. Ich sagte mir dann, daß ich doch noch genauer nachsehen müßte, was da eigentlich los wäre. Also war ich neugierig und ging um die Ecke herum an das Hinterhaus.

Vors.: Nun kannten Sie aber als Fremder gar nicht die Anlage und Bauart der Häuser, auch nicht ihre Bewohner?

Angekl.: Nein.

Vors.: Es ist also auffallend, daß Sie mit dem Gedanken um die Ecke gegangen sein wollen, in dem Hinterhaus nachzusehen, ob Sie dort etwas erfahren könnten, während Sie doch keinen Schimmer hatten, wie tief das Haus eigentlich geht und wo das Hinterhaus herauskommen würde? Wie konnten Sie wissen, daß an diesem Hinterhaus eine Hintertür war? Das ist doch etwas ganz Auffallendes.

Angekl.: Ich war doch schon einige Wochen in der Stadt.

Vors.: Sie wußten also, daß die Häuser in der Danziger Straße Hintertore hatten?

Angekl.: Das gerade nicht. Es fiel mir auch erst an der Ecke ein, als ich die Hinterfront der anderen Häuser sah.

Vors.: Sie müssen doch also zugeben, daß es auffallend ist, wenn Sie als Fremder von hinten herum zu erfahren suchen, was Sie von vorn beobachtet haben wollen.

Angeklagter schwieg.

Vors.: Es ist doch auch auffallend, daß Sie als fremder Mensch, auf dem Nachhauseweg begriffen, lediglich aus Neugierde in eine finstere Hintergasse sich hineinwagten. Sie kannten die Örtlichkeit doch nicht?

Angekl.: Nein, ich bin suchend an den Torwegen entlang gegangen. Am ersten Torweg war nichts zu hören, am zweiten oder dritten hörte ich dann plötzlich wieder solches Gespreche und ein paarmal auch wieder das Gegurgel.

Der Angeklagte erzählte auf weiteres Befragen: Er habe an der Hinterfront in der Mauerstraße an einem Torwege wiederum Gespräche und dieselben gurgelnden Laute wie vorher gehört. Er bückte sich zur Erde und sah durch einen Spalt der Tür in einen Hof; hierbei sah er erst einen Mann und bald darauf noch zwei Männer mit Licht auf den Hof kommen. In einem der Männer habe er den alter Fleischermeister Lewy erkannt, während ihm die beiden anderen unbekannt waren. Die drei Leute zogen sich in den inneren Hofraum raum zurück. Er habe schließlich gesehen, daß drei Männer ein langes, schweres Paket in der Richtung nach der Synagoge zu trugen. Im weiteren Verlauf wurden Maßloff vom Vorsitzenden eine Anzahl Widersprüche vorgehalten.

Frau Roß: Sie sei Sonntag, den 11. März, abends gegen 7 Uhr in der Lewyschen Wohnung gewesen. Sie habe dort verdächtige Geräusche und Winseln gehört. Außerdem habe sie ein Taschentuch mit E.W. gezeichnet in der Lewyschen Wohnung liegen sehen. In einem Laken, das sich bei der Lewyschen Wäsche befand, klebten schwarze Haare und Fleischfasern. Als sie Dienstag, den 13. März, zu Lewys kam, habe Frau Lewy gesagt: „Solch ein Mord! Solch ein Mord! Dem Mörder müßte jedes Glied einzeln gebrochen werden.“ Am folgenden Tage sei sie wieder zu Frau Lewy gegangen und habe dieser gesagt: Sie könne ihr kein Dienstmädchen besorgen, weil der Mord in ihrer (der Lewyschen) Wohnung passiert sei. Darauf habe Frau Lewy erwidert: „Der Mord kommt, bei Gott, niemals heraus, denn die jüdische Gemeinde ist sehr reich.“ Ferner erzählte Frau Roß auf Befragen des Vorsitzenden: Am 1. Osterfeiertage sei ein Knecht zu ihr gekommen, von dem sie aber, da er keine Papiere bei sich hatte, keinen Vermerk in ihr Buch machte. Dieser Knecht habe ihr erzählt, daß er am 11. März den Zug verpaßt habe; er sei nachts zur Stadt zurückgegangen, gegangen, und dort habe er die Leute gesehen, welche ein Paket nach dem See trugen.

Frau Berg bestätigte im wesentlichen die Angaben ihrer Mutter, der Frau Roß. Sie sei, ebenso wie ihre Mutter, Sonntag, den 22. April, vom Oberlehrer Hofrichter und Zahnarzt Maibauer vernommen worden.

Frau Maßloff bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe in der Lewyschen Wohnung eine Uhrkette und die Photographie von Winter gesehen. Seit dem Morde habe es in ihrer Wohnung „gespukt“, sie seien deshalb ausgezogen. (Allgemeine Heiterkeit.)

Professor Dr. Paszotta, der Leiter des meteorologischen Instituts in Konitz, bekundete: In der Nacht vom 11. zum 12. März waren 3 Grad Kälte. Der Mond stand über dem Mönchsee so tief, daß die hintere Straße ohne Schatten war, dagegen konnte der Mond nicht in die Höfe der Häuser an der Danziger Straße hineinscheinen. Maßloff hatte behauptet, daß im Hofe von Lewy Mondschein war.

Gerichtsarzt, Sanitätsrat Dr. Mittenzweig, bekundete: Die Abgabe des Gutachtens ist erschwert, weil die Leichenteile einige Zeit im Wasser und dann noch 15 Tage im Spiritus gelegen haben, und weil man es nicht mit einem ganzen Leichnam, sondern nur mit einzelnen Teilen zu tun hatte. Bei der Nachobduktion ist auch festgestellt, daß Spiritus in die Gewebe geraten, ten, wodurch die Auslaugung noch besonders befördert worden ist. Als wahrscheinliche Todesursache ist Verblutung anzunehmen, doch sind auch Symptome dafür vorhanden, daß Erstickung eingetreten ist. Diese Symptome bestanden darin, daß durch Einatmung Blut in die Lungen eingedrungen, welches bei Ausführung des Halsschnittes in die Luftwege geraten ist. Ich habe mich bezüglich des Schächtschnittes auf dem Berliner Viehhofe eingehend informiert. Ich war bei mehreren Schächtungen zugegen und fand, daß das eine ganz einfache Prozedur ist, die beinahe elegant ausgeführt wird. Der an der Leiche vom Winter vorgefundene Halsschnitt ist niemals ein Schächtschnitt gewesen, wenn auch die Höhe etwa übereinstimmt. Die weitere Frage, ob der Schnitt von vorn oder von hinten geführt wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht beantworten. Der Tod ist mutmaßlich zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten. Auf eine Frage des Oberstaatsanwalts gibt der Sachverständige an, daß der Tod binnen 2 Minuten nach dem Schnitte erfolgt sein muß, und daß der Ermordete nach dem Schnitte ebensowenig noch Laute von sich geben konnte wie ein Tier nach dem Schächtschnitt. Die Zerlegung, die durchaus kunstgerecht ausgeführt war, konnte in etwa einer Stunde ausgeführt sein.

Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Störmer (Berlin): Er neige der Ansicht zu, daß Winter sich verblutet habe. Der Halsschnitt sei augenscheinlich erst ausgeführt worden, als Winter infolge einer Erstickung sich bereits im Todeskampf befunden habe. Er könne dem Kollegen Mittenzweig nicht beistimmen, daß die Erstickungssymptome durch das Einatmen des Blutes in die Lungen zu erklären seien. Jedenfalls liege kein typischer Verblutungstod vor, denn die Leiche enthielt mehr Blut, als bei einem normalen Verblutungstode zulässig sei. Von Blutleere könne keine Rede sein. Der Tod müsse zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten sein, wenn nachgewiesen sei, daß Winter seit der Mittagsmahlzeit nichts mehr gegessen habe. Überhaupt lassen sich bei der Eigenart des Falles vollkommen sichere Behauptungen gar nicht aufstellen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsdiagnosen, weil einige der wichtigsten Körperteile, wie Magen, Leber, Milz und Gedärme fehlen. Der Schnitt in das Zwerchfell sei durch die Absicht, die Leber zu entfernen, auf das natürlichste zu erklären.

Gerichtsarzt, Privatdozent Dr. Puppe (Berlin): Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Tod durch Erstickung eingetreten sei, den Tod durch Verblutung halte er für ausgeschlossen. Auffallend sei, obwohl die Leichenteile so lange im Wasser und alsdann in Spiritus gelegen haben, der immer noch große Bestand an Blut in sämtlichen Geweben. Er sei auch der Ansicht, daß der Tod zwischen 1 bis 7 Uhr nachmittags erfolgt sei.

Eine Anzahl Nachbarn und Bewohner des Lewyschen Hauses bekundeten: Sie seien am Sonntag, den 11. März, den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen und haben nichts Auffälliges wahrgenommen. Ein Stöhnen und Winseln hätten sie zweifellos gehört. Alle diese Zeugen bekundeten, daß sie Ernst Winter niemals im Lewyschen Hause gesehen haben.

Fleischermeister Adolf Lewy bekundete: Wenn ihm am 11. März ein Stück Fleisch von 5 bis 6 Pfund abhanden gekommen wäre, dann hätte er es zweifellos gemerkt, es sei ihm aber bestimmt kein Stück Fleisch abhanden gekommen. Maßloff hatte nämlich behauptet, er habe an jenem Abend in dem Lewyschen Hofe nicht nur Beobachtungen gemacht, sondern auch ein Stück Fleisch gestohlen.

Es verdient erwähnt zu werden, daß der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Schwedowitz, zu sämtlichen jüdischen Zeugen sagte: Sie seien berechtigt, ihre Aussage zu verweigern, wenn sie befürchteten, sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. Christlichen Zeugen wurde diese Vorhaltung nicht gemacht. Sehr eingehend wurde über das Alibi des Fleischermeisters Adolf Lewy am Nachmittag und Abend des 11. März verhandelt. Die Geschworenen fragten alle christlichen Alibizeugen bezüglich Lewy, ob sie von letzterem beeinflußt worden seien. Diese Frage wurde von allen Zeugen verneint.

Im Laufe der Verhandlung erschien eine Frau Wiwiorra als Zeugin: Im Dezember 1899 oder im Januar 1900 sei sie eines Tages als einzige Kundin im Laden von Matthäus Meyer gewesen. Zunächst seien nur Frau und Fräulein Meyer im Laden gewesen. Sehr bald darauf seien Herr Meyer und ein fremder Mann in den Laden getreten. Sie gingen in den Hintergrund des Ladens. Alsdann habe Frau Meyer sie (Zeugin) gefragt, ob sie Ernst Winter kenne, und als sie dies bejahte, habe Frau Meyer gemeint: das sei nicht gut. Fräulein Meyer habe hinzugefügt: „Mama, was geht denn dich das an.“ Sie habe sich gedacht, daß es sich bei der ganzen Sache um eine Überraschung für Tuchlers, etwa um einen gemeinsamen Gesang oder so etwas gehandelt habe.

Witwe Hellwig: Sie sei vor längerer Zeit einmal bei Matthäus Meyer im Laden gewesen. Meyer sei mit Frau und Tochter und einem fremden Juden aus einem Hinterzimmer gekommen. Der Fremde ging fort. Sie (Zeugin) habe gefragt, ob dieser Mann die Abgaben haben wollte. Da sagte Matthäus Meyer: „Abgaben gerade nicht, ich werde ihm schon so viel geben, daß er zufrieden ist.“ Frau Meyer sagte, es sei eine Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Frau und Fräulein Meyer fragten sie, ob sie den Winter kenne, und eine von ihnen meinte dann: „Da kommt er,“ und als sie hinsehen wollte, da hieß es, er sei es nicht. Meyers haben sie dann nach ihrer Religion befragt. Hellwig habe geantwortet, sie sei katholisch. Da sagten Meyers, das wäre gut; denn Winter sei evangelisch. Frau Hellwig fragte, was Winter verschuldet habe, ob er jemand umgebracht habe; darauf sagten die Meyerschen: „Nein.“ Frau Meyer sagte noch, sie brauchten das Blut nicht zur Mazze, auch nicht zum Händewaschen oder so etwas, sondern nur zum Glück.

Besitzer Hellwig (Sohn der Vorzeugin): Am 29. November 1899 kam er zu Matthäus Meyer. Der Laden war leer. Da kam aus der Hinterstube erst ein fremder Mann, anscheinend ein Jude, dann Meyer, seine Frau und seine Tochter. Der Mann versteckte sein Gesicht.

Die Familie war anscheinend sehr aufgeregt. Frau Meyer sagte auf die Frage, was der fremde Mann wolle: Abgaben gerade nicht, aber wir werden ihn schon zufriedenstellen, wir ziehen nach Berlin. Es ist eine Unterschreibung wegen einer Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Er (Zeuge) fragte, ob sie den jungen Herrn umbringen oder verklagen wollten. Frau Meyer sagte: Umbringen wollen wir ihn nicht, aber ihm etwas antun. Dann sagte Herr Meyer etwas, was er nicht verstand. Fräulein Meyer sagte zu ihm: Wenn er den Winter kenne, so möchte er ihm doch sagen, daß er sich vorsehen solle und lieber von Konitz weg auf ein anderes Gymnasium gehen.

Der Vorsitzende hielt dem Zeugen vor, daß er bei jeder Vernehmung immer mehr sage, heute aber zum ersten Male etwas von Lewy erzählte.

Hellwig: Was ich sage, ist wahr. Ich bin von Meyer zu Lewy gegangen. Es war Sonntag vormittag, ich bin vorn in den Laden gegangen. Lewy sagte: ich solle hinterkommen, er schärfte gerade ein großes Schlachtmesser. Ich sagte: ich komme nicht nach hinten. Da hörte ich, wie Lewy zu seiner Frau und Söhnen sagte: „Brauchen Blut, Christenblut, gute Gelegenheit, Gomisten spazieren.“

Vors.: Sie meinen wohl „Gymnasiasten“?

Zeuge: Ja. (Heiterkeit.)

Oberstaatsanwalt: Was haben Sie sich bei dieser Äußerung Lewys gedacht?

Zeuge: Gar nichts.

Oberstaatsanwalt: Ich kann mir auch nichts dabei denken.

Der Vorsitzende stellte fest, daß der Zeuge ebenso wie seine Mutter die ganze Aussage wie am Schnürchen hergesagt habe und fragte, wie die Aussage in die Zeitung gekommen sei. Der Zeuge erzählte, daß er in das Gasthaus gekommen sei. Dort sei ein fremder Mann gewesen. Über das Gespräch mit diesem könne er keine Auskunft geben, ebensowenig über ein zweites tes Gespräch, das er mit zwei fremden Herren hatte, die ihn in der Wohnung besuchten. Der Zeuge erzählte ferner, er sei einmal auf dem Hofe des Getreidehändlers Caminer gewesen, auf dem sich noch einige andere Leute befanden. Caminer habe zu ihm gesagt: Sie sehen doch so frisch und jung aus, Sie haben wohl viel Blut, Sie sind gut dazu.

Ich fragte: wozu? Caminer schwieg, und als ich noch einmal fragte: wozu denn? sagte Camine: Dieses Jahr ist das Blut sehr teuer, es kostet eine halbe Million Mark. Alsdann sei der junge Caminer gekommen und habe zu ihm (Zeugen) gesagt: er solle keine Angst haben, sein Vater habe nur mit ihm gescherzt.

Oberstaatsanwalt: Dieser Zeuge ist meiner Meinung nach überhaupt nicht ernst zu nehmen.

Einige Tage darauf erschien Redakteur John (Berlin) nebst Frau als Zeugen. Sie bekundeten: Zeuge Hellwig sei derartig abergläubisch, daß er einmal mit vollem Ernst behauptet habe, er habe aus einem Schornstein den leibhaftigen Teufel herauskommen sehen. (Große allgemeine Heiterkeit.) Hellwig und auch seine Mutter glauben auch, daß es Hexen gebe. Hellwig gab als möglich zu, die von John bekundete Äußerung getan zu haben.

Eine Anzahl Polizeibeamte, die bei Lewy sofort nach Auffindung des Winterschen Leichnams Haussuchung gehalten haben, bekundeten: Sie haben das ganze Haus von oben bis unten auf das genaueste untersucht, alle Wände und Fußböden beklopft, sie haben aber nicht eine Spur entdecken können, die darauf hätte schließen lassen, daß im Hause ein Mensch ermordet worden sei.

Polizeikommissar Block: Er habe dreimal bei Lewy und einmal in der Synagoge Haussuchung gehalten. Diese Untersuchungen geschahen auf das sorgfältigste. Er war auch im Lewyschen Keller; dessen gesamter Zustand war derart, daß man sah, es konnte dort lange nichts geschehen sein. Alles war schmutzig und mit Spinnweben bedeckt, die Eisenteile waren verrostet. Auch die Lewysche Räucherkammer habe er durchsucht und ebenso den gesamten Papiervorrat nach Nummern der „Täglichen Rundschau“. (In einen Bogen der „Tägl. Rundschau“ war der Kopf Winters eingewickelt.) Es war aber alles umsonst, nicht die geringste Spur wurde gefunden. Im Keller konnten Vorhänge an den Fenstern nicht angebracht sein, weil sonst die Spinnweben hätten zerrissen sein müssen. Spuren von Nägeln, die zur Befestigung der Vorhänge hätten dienen können, waren auch nicht zu finden. Er erachte es für ausgeschlossen, daß Vorhänge an den Fenstern des Lewyschen Kellers gewesen seien.

Kriminalkommissar Wehn (Berlin): Ich kam am 25. März nach Konitz. Nachdem ich sämtliche Mitglieder glieder der Lewyschen Familie vernommen hatte, bat mich der alte Lewy selbst, die ganze Wohnung genau zu durchsuchen. Ich tat dies, ohne das geringste zu entdecken. Bei einer späteren Haussuchung habe ich den Kriminalschutzmann Beyer hinzugezogen, aber auch diese Haussuchung war ergebnislos.

Der Vorsitzende unterbrach die Vernehmung dieses Zeugen und teilte mit: Der Gerichtshof habe beschlossen, sofort eine Untersuchung der Lewyschen Räucherkammer durch Stadtbaumeister Hampel, Kommissar Block, den früheren Kommissar Krischt und einen Schornsteinfegermeister vornehmen zu lassen.

Alsdann fuhr Kriminalkommissar Wehn fort: Ich fand eine Aussage vom Maßloff vom 24. März vor, der ich aber keinen Wert beilegte. Damals hatte Maßloff nur gesagt, daß ihm die hellen Fenster aufgefallen seien. Maßloff, der in Konitz fremd war, kann den Eingang zu dem Lewyschen Hause gar nicht gefunden haben. Dann bin ich abends mit Beyer in den Hof gegangen; Polizeiinspektor Braun blieb mit Maßloff vor der Tür. Maßloff mußte sich hinlegen, konnte aber nichts sehen. Ich nahm nun eine Lampe, wir gingen in den Keller und traten heraus. Braun fragte, wieviel Personen aus dem Keller kämen; Maßloff wußte bei mehrmaligen Versuchen die Zahl der Personen, die dort herauskamen, nicht richtig anzugeben. Bezüglich der Angaben der Frau Roß habe ich festgestellt, daß man nicht, wie sie behauptet, eine Person sehen kann, die aus dem Keller kommt. Übrigens haben alle Nachforschungen nach dem Taschentuch, der Nummer der „Täglichen Rundschau“, der Photographie und der Uhrkette bei Lewy stets ein negatives Resultat ergeben. Die vorgefundenen Ketten hatten keine Ähnlichkeit mit der Winterschen. Lewy war jederzeit bemüht, alle dunklen Punkte aufzuklären. Als er zwei Pakete zurückerhielt und die Polizei das Papier beschlagnahmen wollte, schaffte Lewy selbst das Papier herbei, welches noch die Postnummer trug. Auf Befragen des Verteidigers, Rechtsanwalts Hunrath, erklärte Kommissar Wehn: Inspektor Braun habe ihm vollkommen beigepflichtet, daß es sich bei den Aussagen von Maßloff und der Roß um ein gewaltiges Lügengewebe handle. Er habe die Untersuchung mit voller Objektivität geführt und auch bei Juden wiederholte Nachforschungen vorgenommen.

Alsdann äußerte sich Stadtbaumeister Hampel über die beschlossene Untersuchung der Lewyschen Räucherkammer: Ich fand nichts Verdächtiges, eine kleine Ausbesserung ist anscheinend vor 14 Tagen gemacht worden. Schornsteinfegermeister Czewladowski bestätigte diese Bekundung. Fleischermeister Lewy bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in der Räucherkammer eine Stelle ausbessern lassen, weil es bei Fräulein Kroll geraucht habe.

Kriminalpolizeiinspektor Braun (Berlin): Er sei gerade an dem Tage nach Konitz gekommen, als der Lokalaugenschein bei Lewy infolge der Aussagen Maßloffs stattfand. Am Abend habe er Lokaltermin bei Licht abgehalten. Zuerst sprach Maßloff von einer Spalte in der Tür von oben nach unten. Als er aber dort war und keine Spalte fand, meinte Maßloff, es sei unten eine Ritze gewesen, durch die er gesehen habe. Bei dem vorgenommenen Versuch sah er wohl Licht, konnte aber die Personen nicht unterscheiden und wußte auch nicht anzugeben, wieviel dort waren. Er (Zeuge) habe dann selbst den Versuch gemacht, konnte aber auch nichts sehen.

Oberlehrer Dr. Hofrichter, der wegen seiner prononzierten Stellungnahme versetzt worden war, bekundete als Zeuge: Er habe die angeklagte Frau Roß wiederholt vernommen und habe die Überzeugung gewonnen, daß die Geschichte von dem Knecht auf Erfindung beruhe.

Floßmeister Steinke (Prechlau): Im Oktober 1899 habe er bei dem Fleischermeister Eisenstädt Fleisch gekauft. Dabei sei die Rede auf den Gymnasiasten Winter gekommen. Eisenstädt habe gesagt: „Der Gymnasiast Winter ist gut zum Schlachten.“ Er (Zeuge) habe geantwortet: Dazu ist der junge Mann doch zu schade. „I was, weshalb zu schade,“ habe Eisenstädt gesagt. Er (Zeuge) habe erwidert: Es ist doch zuwenig Fleisch dabei. Eisenstädt erwiderte: „Wenigstens gibt es Blut.“ Obwohl er (Zeuge) sich dabei nichts gedacht, habe er den alten Winter gefragt: Ist denn Ihr Sohn mit Eisenstädt verfeindet? Eines Tages habe er in der Bahnhofstraße in Konitz das Gespräch von zwei Juden belauscht, die sich über Israelski unterhielten. Einer sagte: Nu, es wird alles bezahlt. Der andere Jude habe erwidert: Die Sache hat sich verschlechtert.

Vors.: Wann fand diese Unterhaltung statt?

Zeuge: Mitte Mai d. Js.- Fleischermeister Eisenstädt bezeichnete mit großer Entschiedenheit die Bekundungen Steinkes als vollständig erfunden. Eine Gegenüberstellung des Steinke mit Eisenstädt führte zu keinem Ergebnis. Eisenstädt bemerkte: Es ist traurig, daß bei dieser angeblichen Unterhaltung ein Dritter nicht zugegen war, sonst würde Steinke so etwas nicht behaupten.

Frau Kaufmann Meyer: Sie habe Ernst Winter weder der Person noch dem Namen nach gekannt, sie könne daher nicht Äußerungen getan haben, wie Frau Wiwiorra behauptet. Sie erinnere sich nicht, daß ein Mann mit einer Liste bei ihnen im Laden gewesen sei. Frau Wiwiorra und Frau Meyer wurden einander gegenübergestellt. Beide blieben bei ihren Aussagen. Der Vorsitzende fragte Frau Wiwiorra, ob ihr das nicht alles bloß eingeredet worden sei. Die Zeugin verneinte dies.

Fräulein Rosa Meyer: Der Ausverkauf im Meyerschen Laden sei am 10. Januar beendet gewesen. Die nicht verkauften Warenbestände wurden am Dienstag nach der Wohnung geschafft. Ernst Winter sei ihr einmal von ihrer Schwester gezeigt worden. Daß im Laden bei irgendeinem Gespräche in ihrer Gegenwart einmal von Ernst Winter gesprochen wurde, müsse sie entschieden bestreiten. Frau Wiwiorra wiederholte ihre Behauptungen.

Kaufmann Matthäus Meyer: Er habe Ernst Winter nicht gekannt. Erst nach dem Morde habe ihm eine seiner Töchter erzählt, daß sie Winter einmal gesehen habe. Die Angaben der Frau Wiwiorra seien unwahr. Daß zuweilen Leute zu ihm kamen, um für irgendeinen Zweck Beiträge zu holen, sei selbstverständlich.

Es erschien darauf als Zeugin Frau Borchardt.

Vors.: Ist der Name Winter einmal in Ihrer Gegenwart im Meyerschen Laden genannt worden?

Zeugin: Nein.

Vors.: Nein?

Zeugin: Ja.

Vors.: Ja?

Zeugin: Nein.

Vors.: Also nein?

Was haben Sie sonst gehört?

Zeugin: Einmal hörte ich im Meyerschen Laden eine Tochter sagen: Papa, du sollst nicht unterschreiben, das ist Mord. Welche Tochter das gewesen ist, kann ich nicht sagen.

Rosa Meyer erklärte, daß sie zuweilen auch bei geringfügigen Anlässen die Redensart gebraucht habe: Das ist ja mehr wie Mord. In einem solchen Zusammenhang, wie Frau Borchardt erzähle, sei das aber nicht geschehen.

Frau Borchardt: Nach dem Morde sei ihr das Gespräch eingefallen, sie sei auf Anraten zur Polizei gegangen. Da sie aber das Datum nicht gewußt, habe der Beamte gesagt, dann wissen Sie wohl überhaupt nichts; sie habe darauf nein geantwortet und danach habe sie der Beamte überhaupt nicht mehr gefragt.

Kriminalkommissar Wehn: Ich habe die Frau, nachdem sie vernommen war, gefragt: Ist Ihre Aussage wahr oder unwahr? Darauf hat die Frau die Augen niedergeschlagen und geantwortet: Unwahr. Bei dieser Vernehmung war noch ein Polizeibeamter zugegen, wer es war, weiß ich aber augenblicklich nicht.

Schneidermeister Beyer: Ich habe einmal im Meyerschen Laden ein sehr lebhaftes Gespräch mit angehört. Dabei hörte ich den Namen Ernst Winter von Jenny Meyer nennen.

Vors.: In welchem Zusammenhange geschah das?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sie erklärten früher, Fräulein Meyer hätte gesagt: Was willst du von Winter?

Zeuge: Ja, das war später.

Vors.: Was sagte der Vater darauf?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Am 7. Juni haben Sie gesagt, er hätte geantwortet: Was kümmert es dich, wir ziehen nach Berlin, schweig doch still.

Zeuge: Das war später. Ich fragte, was das für ein Winter wäre, und darauf sagte Meyer, daß er ein Gymnasiast sei. Auf meine Frage, ob er aus Baldenburg sei, sagte Meyer: „Nein, aus Prechlau.“ Der Vorsitzende hielt dem Zeugen vor, daß er früher die obige Äußerung Meyers gleich in den Anfang des Gespräches verlegt habe.

Waschfrau Schiller: Alex Prinz, der allgemein der „dumme Alex“ genannt werde, habe ihr erzählt: die drei Kantoren, Hamburger aus Schlochau, Heymann (Konitz) und der Elbinger Kantor haben zusammen Ernst Winter geschlachtet. Der Mord sei bei Lewy im Keller geschehen. Geld habe Winter nicht gehabt, aber Blut, das bringe hunderttausend Taler ein. Das Blut wird verpackt und an Rothschild geschickt, da bekommen alle Juden der ganzen Welt etwas davon ab. Christenblut in die Mazzes getan, bringt großes Glück. Als der Kopf des Winter gefunden wurde, sagte Alex Prinz: Den hat Israelski weggetragen, der wird aber nichts verraten, und wenn er zehn Jahre im Gefängnis sitzen müßte.

Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte die Zeugin: Sie halte Alex Prinz für ganz vernünftig, er habe sich zum Wasserholen sehr geschickt angestellt. Alex habe ihr einmal einen Zettel gezeigt, auf dem 36 Gebrüder standen. Sie habe sich verpflichtet gefühlt, alle diese Dinge dem Schlächtermeister Hoffmann zu erzählen. Alex habe auch erzählt: er sei in der Synagoge furchtbar verhauen worden.

Es wurde alsdann Alex Prinz als Zeuge aufgerufen. Der Zeuge, ein mittelgroßer, etwa 20jähriger Mensch, machte vollständig den Eindruck eines Blödsinnigen. Seine Vereidigung wurde ausgesetzt. Er bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Man habe ihn bei Jeleniewski betrunken gemacht und ihm gesagt: er solle erzählen, daß Lewy und Heymann den Mord begangen haben. Er wisse aber nicht, wer Winter ermordet habe. Es sei auch unwahr, daß er in der Synagoge verhauen worden sei.

Geschworener Oberlehrer Meyer: Sind Sie in der Synagoge zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen worden?

Zeuge: Nein.

Der Zeuge Prinz bemerkte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Frau Schiller habe ihm einmal die Karten gelegt. Die Karten haben besagt: Wenn man auch nichts gesehen hat und man sagt es vor Gericht richt aus, dann kriegt man ein paar tausend Mark.

Kreisarzt Sanitätsrat Dr. Müller bezeichnete den Zeugen als schwachsinnig.

Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen nicht zu vereidigen, da ihm die erforderliche Einsicht für die Bedeutung des Eides abgehe.

Kaufmann Preppel: Er sei am 11. März nachts gegen 12 Uhr aus Tuchel gekommen. Mit einem Kollegen sei er vom Georgsplatz aus die Danziger-, Mauer- und Rähmestraße entlang gegangen. Es sei ganz heller Mondschein gewesen. Wenn Maßloff in der Rähmestraße gelegen hätte, würde er ihn unbedingt gesehen haben. Er sei auch dem Knecht, von dem die Angeklagte Roß sprach, nicht begegnet.

Vors.: Nun Maßloff, was sagen Sie dazu?

Maßloff: Was ich gesagt habe, ist wahr.

Vors.: Behaupten Sie, daß der Zeuge die Unwahrheit sagt? Maßloff schwieg.

Journalist Max Wienecke (Berlin): Er sei zugegen gewesen, als der Verleger der „Staatsbürger-Zeitung“, Wilhelm Bruhn (Berlin), Maßloff im Hotel Kühn vernommen habe. Er (Wienecke) habe zu Maßloff gesagt: Haben die Juden im Lewyschen Keller Hebräisch gesprochen? Ja, ja, sie haben Hebräisch gesprochen, habe Maßloff geantwortet. Er (Zeuge) habe überhaupt die Wahrnehmung gemacht, daß in Konitz ungeheuer viel gelogen werde.

Krankenhausarzt Dr. Lukowitz: Eisenstädt sei im März im Krankenhause gewesen, da er sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Er hatte ihm am Montag, den 12. März, Nachturlaub erteilt. Jedenfalls wäre Eisenstädt nicht imstande gewesen, den Mord zu begehen, da er die rechte Hand in der Binde trug.

Krankenschwester Feliese bekundet: Eisenstädt sei in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause gewesen. Eine zweite Krankenschwester bestätigte das. Die Zeuginnen blieben bei dieser Behauptung, obwohl ihnen der Vorsitzende vorhielt: eine ganze Anzahl Zeugen haben bekundet: Eisenstädt habe in der Nacht vom 12. zum 13. März Nachturlaub gehabt und sei am Montag, den 12. März, in Schlochau gewesen.

Kriminalinspektor Braun: Er habe am 15. Mai nochmals mit dem Angeklagten Maßloff einen Lokaltermin abgehalten. Maßloff konnte nichts sehen. Auch bei Lampenschein konnte er die Personen nicht genau erkennen. Er habe dem Zeitungsverleger Bruhn gesagt, daß die Angaben Maßloffs unglaubwürdig seien. Darauf habe Bruhn bemerkt: Die Polizeibeamten seien zu einseitig, weil sie die Sache nicht vom politischen Standpunkte aus betrachteten. Er (Braun) habe darauf erwidert: Er habe den Mörder zu suchen und nicht Politik zu treiben. Bruhn habe darauf bemerkt: Es handelt sich um eine eminent politische Angelegenheit. genheit. Er (Braun) habe den Lewyschen Keller aufs gründlichste untersucht, aber keine verdächtige Spur gefunden. Die Spinnengewebe waren so dick, daß kein Nagel und kein Brett, also auch kein Vorhang an den Kellerfenstern gewesen sein konnte. Die Recherchen waren furchtbar schwierig, weil die Bevölkerung ungemein aufgeregt war. Entweder hörte man: „Ich sage nur gegen die Juden aus“, oder „Lassen Sie mich in Ruhe, ich will von der Sache nichts wissen.“ In seinem Bericht vom 25. Mai habe er gesagt: Die alles christliche Gefühl verhöhnenden Beschuldigungen gegen die Juden wegen Ritualmordes müßten aus der Diskussion ausscheiden. Damals habe er auch gesagt, daß das Material gegen Hoffmann erdrückend sei.

Auf Befragen eines Verteidigers bemerkte Inspektor Braun, daß ihm das Material über den Ritualmord sowohl von jüdischer wie von antisemitischer Seite bekannt sei. Das Paket mit den Leichenteilen war nicht schwer; es hatte auch nicht zwei, sondern vier Zipfel, und man konnte es sehr leicht fortbringen, wenn man es unter dem Arme trug. Er (Zeuge) ist auch heute noch der Meinung, daß es sich gar nicht um Mord, sondern um Totschlag handele. Bezüglich der Auffassung, der Mord hätte in der Synagoge geschehen sein können, habe er nicht das geringste belastende Moment gefunden. Er sei im Orient unter den schlimmsten Juden groß geworden, er habe aber niemals mals das geringste Moment für einen Ritualmord kennengelernt.

Im weiteren Verlauf fragte der Erste Staatsanwalt den Kriminalkommissar Wehn, ob er auch andere Spuren verfolgt habe, die sich gegen Juden richten.

Kommissar Wehn: Er habe die eingehendsten Ermittelungen nach allen Richtungen angestellt. Auch in der ganzen Umgegend von Konitz seien die sorgfältigsten Ermittelungen angestellt worden, jede Spur sei aufs genaueste geprüft worden. Eine Zeitlang habe sich der Hauptverdacht gegen den Schächter Fuchs gerichtet, auch hier wurden alle Spuren verfolgt, aber nicht etwa in der Annahme, daß es sich um einen Ritualmord handle, sondern um die Spur nach jeder Richtung hin zu verfolgen. Die Grundlosigkeit des Verdachtes nach dieser Richtung hin habe sich indessen bald ergeben. Es seien ferner alle jüdischen Schächter in Konitz, ja sogar alle jüdischen Einwohner beobachtet worden. Überall habe sich aber die Grundlosigkeit jedes Verdachtes herausgestellt.

Frau Prill: Die Angeklagte Roß habe ihr einmal erzählt: Als sie am Sonntag, den 11. März, in der Lewyschen Wohnung gesessen habe, sei ihr etwas auf den Schoß gefallen. Dadurch habe sich Winter bei ihr gemeldet, denn in diesem Augenblick sei er ermordet worden. (Große allgemeine Heiterkeit.)

Frau Reichert: Die Angeklagte Berg habe ihr vor Ostern erzählt, daß sie die Wäsche für Lewy besorgt habe. Sie habe dabei einmal ein Laken gefunden, welches merkwürdige „Fusseln“ hatte, entweder waren es Haare oder Wollfusseln. Bei der Wäsche dieses Lakens sei es ihr ganz merkwürdig gewesen, sie habe solch Gruseln dabei verspürt und geglaubt, daß dies das Mordlaken gewesen sei. Von einem Taschentuch habe sie nichts gesagt. Auf ihre (der Zeugin) Frage habe die Berg ausdrücklich erklärt, daß keine Blutflecken auf dem Laken gewesen seien. Von Maßloff habe Frau Berg nur mitgeteilt, daß er das Licht gesehen habe.

Kriminalinspektor Klatt (Berlin): Irgendwelche Tatsachen, die einen Verdacht gegen Personen jüdischen Glaubens rechtfertigen konnten, habe er trotz sorgfältigster Nachforschung nicht entdecken können. Er hätte auch niemals einen Antrag auf Verhaftung auch nur eines Mitgliedes der Familie Lewy gestellt.

Am 13. Verhandlungstage begannen die Plädoyers. Erster Staatsanwalt Settegast: Ein grauenvoller Mord hat die allgemeine Aufmerksamkeit in hohem Maße erregt. Leider ist es bisher allen Bemühungen von Behörden und Beamten nicht gelungen, den Mörder ausfindig zu machen. Die sogenannte Volksmeinung hat die Behörden nach einer bestimmten Richtung hin zu drängen sich bemüht, aber die mit der Ermittelung und Untersuchung betrauten Beamten haben trotz der eifrigsten und unparteilichsten Prüfung nach dieser Richtung hin nichts zu ermitteln vermocht. Die Beweise waren nicht ausreichend, um daraufhin irgendeinen bestimmten Verdacht begründen zu können. Bei dem heutigen Prozesse steht aber nicht der eigentliche Mord im Mittelpunkt, es handelt sich hier nicht darum, die Frage zu entscheiden, ob Ritualmord oder nicht, es handelt sich auch nicht um den oder die Täter, die das Verbrechen an Winter verübt haben. Es handelt sich heute ausschließlich um das Verbrechen des Meineides, dessen die Angeklagten sich schuldig gemacht haben. Was den Mord Winters anbelangt, so ist es heute nur möglich, sich auf die Tatsachen zu stützen, welche für das Verschwinden Winters noch vorhanden sind, und auf die Tatsachen, soweit sie sich auf die Auffindung der Leiche beziehen. Winter ist eines gewaltsamen Todes gestorben, das haben die Aussagen und Gutachten der Gerichtsärzte bewiesen. Die erste Annahme ging dahin, daß Winter in den Wohnräumen einer Dirne ums Leben gekommen sei. Dann lenkte sich der Verdacht auf den Fleischermeister Hoffmann. Hier waren indessen die Beweise nicht ausreichend. Darauf richtete sich der Verdacht gegen Lewy. Zehn Tage nach dem Morde erschien Maßloff auf der Polizei, um dort seine Wahrnehmungen zu bekunden. Alle Nachforschungen bei Lewy ergaben aber ein negatives Resultat tat und absolut nichts Belastendes. Erst am 18. April, also 25 Tage nach dem Morde, erschien Frau Roß und erzählte von den Wahrnehmungen, die ein Knecht gemacht haben wollte. Daraufhin trat das „Nebenuntersuchungs-Komitee“ in Tätigkeit und machte allerlei Anzeigen, die dazu führten, daß die Angeklagten mehrfach eidlich vernommen wurden. Der Erste Staatsanwalt ging alsdann des näheren auf die bekannten Aussagen Maßloffs und der anderen Angeklagten ein. Er wies dabei auf die verschiedenen Widersprüche hin, die sich zwischen den Aussagen der Angeklagten vom 28. April resp. 2. Mai und denen vom 8. Juni ergaben. Die Geschworenen sollen jetzt nur entscheiden, ob die Anklage berechtigt ist oder nicht. Maßloff hat unbedingt am 2. Mai einen Meineid geschworen. Amtsrichter Pankau hatte ihn eindringlich gewarnt, und trotzdem hat Maßloff höchst wichtige Dinge verschwiegen, das gleiche gilt von Frau Roß, die schon früher vernommen wurde, und von Frau Maßloff und Brau Berg. Alle diese haben am 28. April von den wichtigen angeblichen Wahrnehmungen Maßloffs nichts ausgesagt. Aber auch die letzten Aussagen der Angeklagten müssen unwahr sein. Maßloff hat die Häuser nicht gekannt; wie sollte er wissen, daß in der Nebenstraße die Geräusche genauer zu hören waren? Höchst unglaubwürdig ist es auch, daß sich jemand so lange, wie er, aus Neugierde in der Kälte auf die Erde legt. Wäre seine Neugierde wirklich so groß gewesen, so hätte er sicherlich versucht, viel mehr zu erlauschen. Unglaubwürdig ist es auch, daß er als einzelner Mensch sich auf den Hof gewagt haben würde, wenn die Sache, wie er sie geschildert, so unheimlich gewesen wäre. Unglaubwürdig und unwahrscheinlich ist auch die Erzählung der Frau Roß. Auch ihre Aussagen haben zahlreiche Widersprüche ergeben, und der Augenschein widerspricht den Angaben Maßloffs. Maßloff selbst widerspricht sich in einem fort. Die Zeugenaussagen haben auch ergeben, daß Maßloff bei seinen Erzählungen, dritten Personen gegenüber, widersprechende Angaben gemacht hat. Die Erzählung des Angeklagten dem Polizeisergeanten Nasilewsky gegenüber läßt sich weder mit den Mitteilungen, die er dem Direktor Aschke gemacht hat, noch mit seinen polizeilichen eidlichen Bekundungen in Einklang bringen. Bezeichnend ist ja auch, daß Frau Roß, die ihren Schwiegersohn doch kennen muß, ihn für lügenhaft hält. Unvereinbar sind auch die Aussagen der Frau Roß mit den Aussagen der Frau Rutz, der Frau Hirsch und der Familie Jeliniewsky. Durch die Aussagen dieser Zeugen ist festgestellt, daß Frau Roß bereits vor Ostern von dem Knechte gesprochen hat. Die Aussagen der Handlungsgehilfen Puppel und Kuntzig beweisen, daß Maßloff unmöglich seine Wahrnehmungen hat machen können. Der Pfarrer Bönig hat zwar erklärt, daß ihn noch keines seiner Pfarrkinder belogen hat, wenn es freiwillig zu ihm kam; Maßloff ist aber nicht freiwillig zum Pfarrer gekommen, sondern ist auf Veranlassung der Kriminalbeamten geholt worden. Der Angeklagte hat vor Ostern gebeichtet, hat dann aber am 2. Mai unter allen Umständen falsche Angaben gemacht. Bei den Aussagen der Frau Roß ist von Wichtigkeit die Erzählung ihres Besuches bei Lewy, wobei sie das Wimmern gehört haben will, ferner auch die Geschichte von dem Knecht. Bei dieser letzteren Sache hat sie nachgewiesenermaßen die verschiedensten sich widersprechenden Angaben gemacht, es ist auch trotz der größten Anstrengungen nicht gelungen, diesen Knecht ausfindig zu machen. Es ist unmöglich, daß jener Knecht und Maßloff die gleichen Wahrnehmungen gemacht haben können. Außerdem soll dann ja noch ein Dritter, der Schlosser Berg, die gleiche Beobachtung gemacht haben. So verdienen denn weder die Angaben von der Roß noch von Maßloff Glauben, und nun ziehe man in Betracht, daß Frau Roß behauptet hat, um 7 Uhr bei Lewys gewesen zu sein und dort Helene Lewy getroffen zu haben. Tatsächlich hat dieser Besuch aber erst um 9 Uhr stattgefunden, wie dies durch einen weitläufigen Beweis festgestellt worden ist. Frau Maßloff hat ausgesagt, dort die Uhrkette und die Photographie Winters ters gesehen zu haben. Diese Aussagen sind höchst unglaubwürdig; die Photographie sollte offenbar beweisen, daß Lewy mit Winter in sehr intimem Verkehr stand, und daß der letztere an Moritz sein Bild geschenkt hat. Es ist jedoch festgestellt, daß vor dem Tode Winters keinerlei Photographie des letzteren, außer dem Klassenbilde, existiert hat. Frau Berg hat sodann über das Taschentuch ausgesagt, daß es mit E.W. gezeichnet gewesen sei; bei sofortiger Nachsuchung ließ sich jenes Taschentuch jedoch, nicht finden, und die Angaben der Frauen Roß und Berg sind betreffs der Zeichnung auf dem Taschentuch so verschieden, daß man annehmen muß, dieses Taschentuch hat niemals existiert. Den Aussagen der Angeklagten steht das Zeugnis der Familie Lewy gegenüber, das unterstützt wird durch eine sehr große Anzahl von Zeugen. Frau Roß will um 7 Uhr, Maßloff um 10 Uhr Wimmern gehört haben. Winter mußte aber schon um 7 Uhr tot sein. Es haben überdies alle Zeugen ausgesagt, daß die Familie Lewy durchaus harmlos ist; dahingegen bezeichnete der Untersuchungsrichter Maßloff und Frau Roß für völlig unglaubwürdig. Unerheblich sind die Angelegenheiten Israelski und Eisenstädt, sowie der Fall Matthäus Meyer; sie stehen in gar keinem direkten Zusammenhang mit den Beschuldigungen gegen Lewy. Alle Angaben der Angeklagten sind augenscheinlich erfunden zu dem Zwecke, die ausgesetzte Belohnung zu verdienen. Es haben sämtliche Angeklagte offensichtlich einen Meineid geleistet.

Der Erste Staatsanwalt beantragte schließlich: alle vier Angeklagten des Meineides für schuldig zu erklären.

Oberstaatsanwalt Dr. Lautz: Die Angeklagten haben Behauptungen aufgestellt, die nur dann Sinn haben, wenn man annimmt, daß der Gymnasiast Winter im Lewyschen Hause getötet worden ist. Ist hingegen die Familie Lewy an diesem Tode unschuldig, so sind die Angeklagten schuldig. Nun müssen auch Zeugenaussagen nachgeprüft werden. Es sind nicht immer zwei Aussagen, die sich widersprechen, so zu verstehen, daß die eine bewußt falsch ist. Keineswegs! Im Falle Eisenstädt sind beispielsweise beide Aussagen augenscheinlich nach bestem Wissen gemacht, trotzdem sie sich widersprechen. Die Aussagen Hugo Lewys müssen als zutreffend erachtet werden. Eine besondere Kategorie von Zeugenaussagen sind jene, bei denen vom Blutgebrauch der Juden die Rede ist. Diese Angaben sind sorgfältig zu kontrollieren, obwohl die Zeugen selbst von der Wahrheit dessen, was sie angegeben haben, überzeugt sein werden. Zieht man die Tat selbst in Betracht, so ergibt sich folgendes: Winter kann sein Leben eingebüßt haben durch Mord, durch Totschlag oder durch fahrlässige Körperverletzung. Mord kann komplottmäßig begangen werden, die Motive sind alsdann entweder die gewöhnlichen oder ganz außergewöhnliche, und es ist ja auch bei den Verhandlungen wiederholt von rituellen Gründen gesprochen worden. Was den Ritualmord anbetrifft, so ist im Prozeß zu Xanten eingehend und nach allen Richtungen über dieses Thema gesprochen worden. Bekannt ist es zunächst, daß in den jüdischen Religionslehren kein Wort über den Ritualmord steht; auch Kardinal-Fürstbischof Kopp teilt diese Überzeugung der gelehrten Welt. Hatte man zunächst die Idee, daß fremde Juden die Tat verübt haben könnten, so ließ sich hierfür kein Beweis erbringen. Freilich gab es in Konitz jüdische Personen, die für die Tat hätten in Betracht kommen können. Aber obgleich alle Spuren auf das genaueste verfolgt worden sind, und obgleich auch ganz geringfügige Momente hierbei nicht außer acht gelassen wurden, so gibt es doch gar keinen Anhalt dafür, daß die Familie Lewy mit irgend jemand von diesen Leuten in Verkehr getreten ist.

Der Oberstaatsanwalt ging alsdann die Bekundungen einzelner Zeugen durch. Wenn Rosa Simanowski, die schon während ihrer Schulzeit auf Abwege geraten ist, erzählte, daß auch sie Angst vor den Juden hatte, und daß man ihr Blut habe abzapfen wollen, so kann man hierauf doch unmöglich etwas geben. Wenn der Knecht Leskowski von seinen angeblichen Beobachtungen achtungen bei Lewys am 11. März erzählt, wie er alle möglichen Äußerungen gehört haben will, so die Worte: „Leine, Leine, Fessel, Fessel, Mönchsee, viel zu tun, zu weiß, zu weiß,“ so sind doch auch diese Angaben nicht ernst zu nehmen. Die Vorgänge im Laden der Familie Meyer müssen gleichfalls als unwahr erscheinen, und dies um so mehr, da sie zu drei verschiedenen Zeiten stattgefunden haben sollten, und die Familie doch wahrlich keine Veranlassung hatte, sich mit dem Blut des 18jährigen Gymnasiasten zu besudeln. Wenn man dies alles nachprüft, so wird man finden, daß man den Versuch als mißglückt erachten muß, die hiesigen Juden mit einem Ritualmord in Verbindung zu bringen. Gegen die Familie Lewy insbesondere liegt nicht das geringste vor. Nicht das geringste Belastende konnte gegen diese Personen bewiesen werden, und dafür gebe es gewiß nicht den geringsten Anhalt, daß sie an einem Komplott beteiligt gewesen seien. Wollte man nun ein anderes Motiv bei irgendeinem Mitgliede der Familie Lewy annehmen, so ist auch hierfür keine tatsächliche Unterlage vorhanden. Ernst Winter ist spätestens um 7 Uhr gestorben, bis dahin haben aber alle Mitglieder der Familie Lewy ihr Alibi nachgewiesen. Was nach 7 Uhr vorgegangen sein soll, ist hierbei zunächst ganz nebensächlich; aber auch über 7 Uhr hinaus haben die Familienmitglieder ihr Alibi nachgewiesen; und auch während der Nacht ist von sämtlichen Hausbewohnern und von den Nachbarn nichts Verdächtiges wahrgenommen worden. Nicht der geringste Schimmer eines Beweises hat sich also erbringen lassen, daß Winter im Lewyschen Keller getötet worden ist. Wenn ich nun frage, wie ist gerade die Familie Lewy in den Verdacht des Mordes oder des Totschlages gekommen, so scheint das nicht bloß an der Örtlichkeit des Lewyschen Grundstückes zu liegen, sondern ich führe es vor allem zurück auf das Gefasel des Zeugen Prinz, des „dummen Alex“. Hierdurch hat sich die Bevölkerung beeinflussen lassen. Dabei ist es für den vorliegenden Fall ganz gleichgültig, ob Moritz Lewy einen Meineid geschworen hat oder nicht. Und auch der Fall Israelski kommt nicht in Betracht: Ob Israelski den Kopf des Winter hinausgetragen hat, beweist nichts gegen die Familie Lewy, und hätte die Familie Lewy, die Pferd und Wagen zur Verfügung haben, es nötig gehabt, den Leichnam zu zerstückeln, wenn sie ihn zu Wagen viel leichter haben wegschaffen und irgendwo vergraben können? Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Mitglied der Familie Lewy mit dem Morde nichts zu tun hat, und daß der gestern von diesen geleistete Eid ein richtiger Eid gewesen ist. Der Oberstaatsanwalt schloß sich im weiteren Verlauf seiner Rede den Ausführungen des Ersten Staatsanwaltes an und beantragte das Schuldig bezüglich aller vier Angeklagten geklagten wegen Meineids, da schwere Widersprüche vorliegen und da, für ihre Behauptungen kein Beweis erbracht worden sei.

Verteidiger Rechtsanwalt Vogel: Es ist bedauerlich, daß man in der jetzigen Schwurgerichtsperiode nicht über den oder die Mörder des Ernst Winter zu Gericht sitzen kann. Statt dessen verhandelt man über Landfriedensbrüche und Meineide. Trotz der Bemühungen aller Behörden ist es nicht gelungen, Licht in das Dunkel der Tat zu bringen. Auch jetzt ist ein positives Ergebnis nicht erzielt worden. Aber der Meinung möchte ich doch Ausdruck geben, daß die Familie Lewy der Tat dringend verdächtig erscheint. Gleichwohl gebe ich zu, daß positive Unterlagen für diese Behauptungen nicht vorhanden sind. Immerhin kann ich mich der Beweisführung der Staatsanwaltschaft bezüglich der Familie Lewy ganz und gar nicht anschließen. Es muß die Tat in unmittelbarer Nähe des Mönchsees geschehen sein, und von sachkundiger Seite ist augenscheinlich die Zerstückelung des Leichnams erfolgt. So kommt denn als Täter entweder Hoffmann oder Lewy in Betracht. Wenn Fleischermeister Hoffmann den Winter bei irgendeiner Gelegenheit überrascht und im Jähzorn niedergeschlagen hätte, so wäre er der Mann gewesen, sich den Gerichten zu stellen und seinen Jähzorn zu büßen. Das ist nicht geschehen, also ist Hoffmann nicht der Täter, und dann bleibt nur das Haus Lewy übrig. Und warum hat Moritz Lewy den Verkehr mit Winter bestritten? Das ist verdächtig. Ebenso verdächtig ist die Tatsache, daß in der Nacht vom 11. zum 12. März im Lewyschen Keller Licht gebrannt hat. Den Alibibeweis des Fleischermeisters Lewy und seiner Söhne am 11. März halte ich zwar für, durchaus erbracht, das beweist aber nichts. Ich und meine Mitverteidiger sind nicht der Ansicht, daß Lewy oder einer seiner Söhne an der Mordtat persönlich beteiligt sind, aber Lewy hat das Lokal für den Mord hergegeben. Gewiß bleibt alsdann noch immer dunkel, wie Winter in den Lewyschen Keller gelockt worden ist. Die Behauptung, die jüdische Religion predige den Mord zum Zwecke der Blutentziehung, halte ich auch für ein Märchen. Aber es können innerhalb der Judenschaft sittlich verkommene Mitglieder vorhanden sein oder solche, die infolge falscher Auslegung der religiösen Gesetze einen Ritualmord begehen. Das ist der Untergrund für die vorliegende Tat. Es liegt hier nicht nur die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit eines Ritualmordes vor. Darauf weist die Blutleere des Körpers hin. Der Verteidiger behandelte alsdann des längeren die Fälle Eisenstädt und Matthäus Meyer. Auch der „dumme Alex“ erscheine ihm als ein Zeuge dafür, daß die Juden die Mörder seien, denn Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Der Verteidigung gung kommt es darauf an, festzustellen: Ist ein Ritualmord ausgeschlossen oder ist die Möglichkeit nahegerückt, daß ein solcher verübt worden sein kann? Die Möglichkeit ist vorhanden, und weiteres zu behaupten, wünscht auch die Verteidigung nicht. Daß sich die Angeklagten bei ihren verschiedenen Vernehmungen mehrfach in Widersprüche verwickelt haben, muß zugegeben werden. Aber im allgemeinen sind ihre Angaben doch richtig, und dies trifft auch auf den Angeklagten Maßloff zu, dessen Widersprüche nur nebensächliche Punkte betreffen. Der Verteidiger ersuchte die Geschworenen, bei der Beurteilung der Schuldfrage bezüglich des Maßloff über die kleinen Widersprüche hinwegzusehen. Daß Maßloff zuerst den Gang der drei Männer nach dem Mönchsee verschwiegen habe, sei erklärlich durch die Furcht, wegen des Fleischdiebstahls zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er beantrage, Maßloff freizusprechen.

Verteidiger Rechtsanwalt Zielewski: Er beantrage die Schuldfrage bezüglich der Frau Maßloff zu verneinen. Frau Maßloff habe zunächst beschworen, was sie von ihrem Mann über dessen angebliche Beobachtungen erfahren habe. Wenn diese Beobachtungen von ihrem Manne falsch wiedergegeben sein sollten, so habe Anna Maßloff doch geglaubt, sie für richtig halten zu müssen. Sie habe sie sich ganz bewußt allmählich zu eigen gemacht und dann an ihnen festgehalten. halten. Was die Bekundungen der Angeklagten bezüglich des Taschentuches und des Winterschen Bildes, das sie bei Lewys gesehen haben wolle, anbelange, so halte er diese Angaben für durchaus wahrheitsgetreu. Daß der Mord an Ernst Winter von fremden Juden begangen worden sei, dafür spreche, daß von den Konitzer Juden eine Reihe von Tatsachen bestritten werden, die in der jetzigen Verhandlung sich als einigermaßen richtig erwiesen haben. Der Verteidiger suchte alsdann nachzuweisen, daß Anfang März eine größere Anzahl fremder Juden in Konitz von mehreren Leuten bemerkt worden seien. Belastend für die Juden sei auch die Bekundung des Zeugen Prinz, des „dummen Alex“, auf die doch mehr Wert zu legen sei, als es seitens der Staatsanwaltschaft geschehe. Ebenso muß dem Fall Eisenstädt ein größeres Gewicht beigemessen werden. Eisenstädt sei in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause gewesen, die beiden Krankenschwestern können sich nicht irren. Der Verteidiger schilderte hierauf nochmals eingehend die angeblichen Vorgänge im Matthäus Meyerschen Laden und den von einigen Zeugen behaupteten Verkehr Winters mit Moritz Lewy. Dies alles weise darauf hin, daß der Mord im Lewyschen Keller vollbracht worden sei. Wenn auch die Familie Lewy nicht am Morde selbst beteiligt sein möge, so könne sie doch aus religiösen Gründen ihren Keller für das Verbrechen hergegeben haben.

Verteidiger Rechtsanwalt Heyer suchte den Nachweis zu führen, daß von seiten der Behörden in der Winterschen Mordsache Fehler gemacht worden und daß insbesondere die Haussuchungen nicht sachgemäß vorgenommen worden seien. Auch er halte die Familie Lewy nicht für glaubwürdig. Der Alibibeweis der Familie Lewy am 11. März sei allerdings geführt, aber wenn dieser Alibibeweis auch ausreiche, um von den Lewys den Verdacht der Täterschaft zu nehmen, so bleibe doch die Möglichkeit bestehen, daß der Lewysche Keller zur Tat hergegeben worden sei und daß die Lewys alsdann bei der Beiseiteschaffung der Leichenteile mitgewirkt haben. Er beantrage die Freisprechung der Angeklagten Berg.

Oberstaatsanwalt Dr. Lautz: Der erste Verteidiger ist mit mir darin einig, daß weder der alte Lewy noch einer seiner Söhne den Mord an Ernst Winter verübt habe. Daß Lewy seinen Keller zum Zwecke des Mordes anderen Leuten zur Verfügung gestellt oder vermietet haben sollte, ist ganz unbewiesen und wird meiner Ansicht nach auch nur herangezogen, um eine Erklärung dafür zu finden, daß im Keller irgend etwas geschehen sein kann. Es fehlt aber jeder Beweis hierfür. Es ist unmöglich, anzunehmen, daß sich fremde Leute gerade den Lewyschen Keller zu einer solchen Tat ausgesucht haben. Der Lewysche Keller wäre hierzu der ungeeignetste Raum, den man sich denken kann. Vorn an der Danziger Straße gehen fortwährend Leute vorüber, und auf der anderen Seite ist das, was im Keller vorgeht, sehr leicht von den Nachbarsleuten zu beobachten. Tatsache ist ferner, daß Lewy, wenn auch nicht in glänzenden, so doch in durchaus geordneten Verhältnissen sich befindet. Welchen Grund hätte er also haben sollen, sich gegen Geldentschädigung der Gefahr einer schweren Strafe auszusetzen? Den Mord kann zwar ebensogut ein Jude wie ein Christ begangen haben. Seien Sie versichert, daß die Staatsbehörde, wenn irgendein greifbarer Verdacht vorgelegen hätte, mit vollster Energie vorgegangen wäre; aber auch heute noch fehlt es an jedem begründeten Verdacht. Der Beweis für das Vorhandensein eines Judenkomplottes ist vollständig mißglückt. Alle Versuche der Verteidiger, den Nachweis zu führen, daß fremde Juden sich an solchem Komplott beteiligt hätten, sind mißlungen. Aber nehmen wir selbst an, es hätte solch ein Komplott bestanden, es wären fremde Juden gewesen, die Winter ermorden wollten – was hätten dann die hiesigen Juden für einen Anlaß zu Geldsammlungen gehabt, wie sie bei Matthäus Meyer vorgekommen sein sollen? Und wer sind schließlich die Kronzeugen gegen Lewy? Die Prostituierte Simanowski, der „dumme Alex“, der Viehtreiber Lankowski und die beiden doch recht beschränkten Hellwigs Mutter und Sohn. Wenn ferner Eisenstädt wirklich in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause war, so ist damit doch noch lange nicht bewiesen, daß er gerade im Lewyschen Keller gewesen sein muß. Auch das Verhalten von Moritz Lewy beweist nicht, daß er etwa derjenige gewesen sein muß, der den Winter in den Keller gelockt hat. Ob Moritz Lewy einen Meineid geleistet hat, ist augenblicklich Gegenstand der Untersuchung. Aber er kann gedacht haben, sage ich, ich habe Ernst Winter gekannt, so stecke ich in der Geschichte drin und riskiere, daß ich morgen eingesperrt werde. Zum Schluß wies der Oberstaatsanwalt noch darauf hin, daß einige der Zeugen, auf deren Aussage hin Lewy belastet erscheint, wie z.B. Lübke und der Nachtwächter Ruß, vollständig unglaubwürdig seien.

Erster Staatsanwalt Settegast: Es sei ja nicht ausgeschlossen, daß ein fanatischer Jude den Mord an Winter begangen habe. Aber man könne doch nicht annehmen, daß eine ganze Reihe anderer Juden schon ein Vierteljahr und längere Zeit vorher davon Kenntnis gehabt haben. Durch die ärztlichen Gutachten, insbesondere durch das des Dr. Puppe, sei erwiesen, daß der Leichnam des Winter nicht blutleer gewesen sei. Ein Verteidiger habe von einem erheblichen Verdachte gesprochen, der auf das gesamte Judentum gefallen sei, daß Juden Mitwisser oder Teilnehmer an dem Morde gewesen seien. Die Verhandlung habe nicht den geringsten Anhalt dafür ergeben. Er bestreite, daß das Judentum so entartet sei.

Der Vorsitzende erteilte darauf den Geschworenen die Rechtsbelehrung und bemerkte zum Schluß: Nunmehr will ich nur noch den Wunsch aussprechen, daß es Ihnen, meine Herren Geschworenen, mit Gottes Hilfe gelingen möge, die der materiellen Wahrheit entsprechende Entscheidung zu fällen, damit der alte Wahrspruch preußischer Richter – denn auch Sie, meine Herren Geschworenen, sind Richter, Sie haben den Richtereid geleistet – Anerkennung findet: daß der preußische Richter stets ohne Ansehen der Person seine Entscheidung trifft, daß auf seine Entscheidung die sozialen, religiösen und politischen Gegensätze keinerlei Einfluß ausüben, daß bei jeder seiner Amtshandlungen der preußische Richter sich stets bewußt ist, daß er selber dereinst vor dem höchsten Richter wird Rechenschaft ablegen müssen, wie er gerichtet hat.

Nach anderthalbstündiger Beratung bejahten die Geschworenen die Schuldfragen betreffs Maßloffs vor dem Amtsgericht. Maßloff konnte aber, wenn er die Wahrheit gesagt, strafrechtliche Verfolgung befürchten. Wegen des Eides vor dem Landgericht haben die Geschworenen die Schuldfragen verneint. Betreffs der Angeklagten Roß bejahten die Geschworenen beide Schuldfragen. Bei der ersten Schuldfrage konnte sie eine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Die Schuldfragen betreffs der Frauen Maßloff und Berg wurden verneint.

Hierauf beantragte der Erste Staatsanwalt, mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung und Wichtigkeit der Sache, die die Angeklagten gekannt, und mit Rücksicht auf die große Frivolität, die vielleicht verschuldet habe, daß die Behörden irregeführt und der Mörder noch nicht entdeckt sei, gegen Maßloff vier Jahre, gegen Frau Roß neun Jahre Zuchthaus. Gegen Maßloff fünf Jahre, gegen Frau Roß zehn Jahre Ehrverlust und gegen Frau Roß dauernde Eidesunfähigkeit.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Schwedowitz: Dem Spruche der Geschworenen entsprechend hat der Gerichtshof den Angeklagten Maßloff zu einem Jahre Zuchthaus, die Angeklagte Roß zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus, 3 Jahren Ehrverlust und dauernder Eidesunfähigkeit verurteilt und die Frauen Maßloff und Berg freigesprochen.

Mitte Februar 1901 hatte sich Moritz Lewy vor dem Schwurgericht des Landgerichts Konitz wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte wiederum Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertrat der inzwischen neu ernannte Erste Staatsanwalt Dr. Schweigger. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Hugo Sonnenfeld (Berlin) und Rechtsanwalt Appelbaum (Konitz). Eine große Anzahl Zeugen bekundete: Sie haben Winter mit Moritz Lewy oftmals zusammen gehen und plaudern sehen. Andere Zeugen, und zwar die intimsten Freunde des ermordeten Winter, bekundeten: Sie haben einen Verkehr zwischen Moritz Lewy und Winter niemals wahrgenommen. Von einigen Zeugen wurde bekundet, daß Winter anderen Gymnasiasten zum Verwechseln ähnlich gesehen habe.

Im Laufe der Verhandlung, die volle vier Tage in Anspruch nahm, erklärte Kriminalkommissar Wehn (Berlin): Moritz Lewy habe für Sonntag, den 11. März, sein Alibi vollständig einwandfrei nachgewiesen. Die Behauptung, Lewy habe kurz nach dem Morde ein Paket fortgeschafft, in dem sich Leichenteile befunden haben, sei unwahr. Es sei festgestellt, daß das Paket Kalbfleisch enthielt, das Lewy bei einer Kundin abgeliefert habe.

Am Abend des dritten Verhandlungstages bemerkte der Verteidiger R.-A. Appelbaum: Ich beantrage die Vernehmung des hier anwesenden Journalisten Zimmer. Der Vorsitzende ersuchte Zimmer, zunächst hinauszugehen.

Rechtsanwalt Appelbaum: Herr Zimmer ist vom 18. September bis zum Speisigerprozeß (5.-6. Oktober) ber) vielfach bei mir gewesen mit der ausdrücklichen Erklärung, er wolle seine Dienste den Juden gegen Entgelt anbieten, und zwar besonders in der Lewyaffäre. Er erklärte: In der ganzen Stadt werde gearbeitet, um Moritz Lewy meineidig zu machen, und er wolle sich jetzt gegen Bezahlung auf unsere Seite stellen. Ich verwies ihn auf seine Antezedenzien und fragte ihn, welche Dienste er als bekannter Antisemit leisten könne. Darauf übergab er mir ein Exposé, das er schon in der Tasche trug. Er sagte, er habe Mittel in der Hand, um zu verhindern, daß Moritz Lewy etwas geschehe. Wenn seine Dienste nicht akzeptiert werden sollten, sei Lewy verloren. Am 30. September, kurz vor dem Speisigerprozeß, war er wieder bei mir und sagte, jetzt würde er auch nicht mehr für 20000 Mark für die Juden arbeiten, Moritz Lewys Schicksal sei besiegelt. Am 7. Oktober, einem Sonntag, am Tage nach der Verhaftung Lewys, kam er wieder zu mir. Er triumphierte und sagte: Nun sehen Sie, es ist gekommen, wie ich vorausgesehen habe. Der Verteidiger ersuchte, Zimmer über diese Punkte befragen zu dürfen und bat den Ersten Staatsanwalt um sein Einverständnis, daß er den Zeugen, wie es bei Wienecke geschehen, in ein Kreuzverhör nehmen dürfe.

Erster Staatsanwalt: Kreuzverhör? Ich kenne kein Kreuzverhör, in der ganzen Strafprozeßordnung kommt das Wort nicht vor.

Rechtsanwalt Sonnenfeld: Aber doch in der Wissenschaft kennt man es.

Vors.: In der Wissenschaft allerdings.

Staatsanwalt: Ich lehne es ab.

Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf Redakteur Zimmer, Bürgermeister und Amtsanwalt a.D., in den Saal gerufen. Der Vorsitzende ließ sich das Exposé geben und übernahm die Vernehmung des Zeugen selbst.

Vors.: Erinnern Sie sich, während des Speisigerprozesses bei Rechtsanwalt Appelbaum gewesen zu sein?

Zimmer: Ja.

Vors.: Was veranlaßte Sie dazu?

Zimmer: Ich glaube, der jüdische Handelsmann Gerber sagte mir, ich möchte doch einmal hingehen.

Vors.: Wie kam Gerber dazu, Sie verfolgen doch antisemitische Interessen?

Zimmer: Ich nahm an, daß ich für die Gegenpartei arbeiten sollte.

Vors.: War das vor dem Speisigerprozeß?

Zimmer: Ich kann mich nicht erinnern.

Vors.: Sagten Sie Herrn Appelbaum, daß Sie im Auftrage Gerbers kommen?

Zimmer: Es ist möglich, ich weiß es nicht mehr.

Vors.: Wenn Sie sagten, Sie kämen auf dessen Veranlassung, konnten Sie doch abwarten, daß Ihnen Vorschläge gemacht werden, andernfalls mußten Sie sie machen. Haben Sie nun selbst Vorschläge gemacht?

Zimmer: Ich weiß es wirklich nicht.

Vors.: Haben Sie vielleicht vorgeschlagen, für jüdische Zeitungen zu schreiben?

Zimmer: Ich glaube, ich sagte, ich wolle mich an den von jüdischer Seite angestellten Ermittelungen beteiligen.

Vors.: Haben Sie der Staatsanwaltschaft oder Polizei auch Ihre Dienste angeboten?

Zimmer: Nein!

Vors.: Sie wollten also nach einer bestimmten Richtung wirken?

Zimmer: Eigentlich unparteiisch.

Vors.: Obwohl Sie der Überzeugung waren, daß der Mörder nur unter den Juden zu suchen sei, wollten Sie christliche Spuren verfolgen?

Zimmer: Eigentlich nein, ich hatte meine Ansicht nicht geändert und glaubte meiner Herzenssache, daß der Mörder unter den Juden sei, auch so frönen zu können.

Vors.: Welche Vorschläge machten Sie Rechtsanwalt Appelbaum?

Zimmer: Daß ich in der Ermittelung der Täter mitwirken wolle. Ich glaube, ich nannte auch einige Spuren.

Vors.: Christliche natürlich, trotzdem Sie die Überzeugung hatten, die Täter seien unter den Juden zu suchen?

Zimmer: Ich übergab meine Dispositionen. Der Worte erinnere ich mich nicht.

Vors.: Haben Sie sich nicht über den Stand der Ermittelungen gegen Moritz Lewy geäußert?

Zimmer: Das ist möglich.

Vors.: Was sagte Rechtsanwalt Appelbaum?

Zimmer: Er wollte nach Berlin schreiben, ob man meine Dienste wolle.

Vors.: Direkt abgelehnt wurde Ihr Angebot nicht?

Zimmer: Nein.

Rechtsanwalt Appelbaum: Herr Zimmer war am 19. September bei mir.

Zimmer: Als ich nach etwa einer Woche wiederkam, sagte Herr Appelbaum er wundere sich, daß die Herren aus Berlin noch keinen Bescheid gegeben hätten, er bat mich, wiederzukommen. Ich kann mich an die Daten nicht mehr genau erinnern. Am Tage nach dem Speisigerprozeß ging ich auf Veranlassung Gerbers wieder zu Rechtsanwalt Appelbaum. Dort stand ein dunkler Mann, den mir Rechtsanwalt Appelbaum als Jakoby aus Tuchel vorstellte, der später hier wegen Meineids verurteilt worden ist. Er sagte, es wäre ein trauriger Fall; ein stiller, ruhiger Mann, der von vier jungen Leuten des Meineids beschuldigt werde. Er fragte, ob ich nicht nachforschen möchte nach dem Leumund und ob Mißverständnisse vorliegen. Da der Mann einen guten Eindruck auf mich machte, so erklärte ich mich dazu bereit.

Vors.: Trotzdem Sie Antisemit sind, machte der alte Herr einen so guten Eindruck auf Sie, daß Sie in Tuchel Ermittelungen anstellten?

Zimmer: Ja; er machte auf mich einen sehr würdigen Eindruck, ich hielt ihn für unschuldig und halte ihn auch heute noch für unschuldig.

Vors.: Wurde auch vom Fall Lewy gesprochen?

Zimmer: Dessen erinnere ich mich nicht genau.

Vert. Rechtsanwalt Appelbaum: Haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie gerade in bezug auf die Lewysache Dienste zu leisten bereit seien?

Fragte ich nicht, welche Garantien Sie mir bieten? Darauf sagten Sie, trotzdem Sie Antisemit seien, hätten Sie immer nach der andern Richtung gearbeitet? Sie sprachen von Ihren Ermittelungen gegen Weichel, Plath, Hoffmann und andere, und daß da noch verschiedene Spuren zu ermitteln seien?

Zeuge: Ich kann mich nicht genau der Worte erinnern.

Rechtsanwalt Appelbaum ersuchte, dem Zeugen folgenden Brief vom 26. September 1900 vorzuhalten:

„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt! Ich möchte heute mittag nach Berlin fahren. Verkennen Sie nicht den Ernst der Situation. Ich bitte mir die nötigen Adressen und Mittel zur Verfügung zu stellen. Es gehen wieder tolle Sachen in der Stadt vor. Z.“

Vors.: Was wollten Sie mit dem Brief?

Zeuge: Ich meinte verschiedene Spuren.

Rechtsanwalt Appelbaum: Haben Sie mir nicht mündlich dasselbe erklärt. Gegen Lewy gingen tolle Sachen vor?

Zimmer: Ich glaube nicht, speziell den Fall Lewy erwähnt zu haben.

Vors.: Was wollten Sie eigentlich in Berlin?

Zimmer: Ich machte kein Hehl daraus, daß der Lehrer Weichel von dem Morde etwas wissen müsse.

Vors.: Was hat das mit Berlin zu tun?

Zimmer: Weichel war in Berlin. Ich habe ihn niemals für den Mittäter oder Mithelfer gehalten, aber ich glaube, daß er etwas davon weiß.

Rechtsanwalt Appelbaum: Habe ich Ihnen nicht eine Depesche vorgelegt, daß die Herren in Berlin es ablehnen, mit Ihnen zu tun zu haben?

Zeuge: Ja, ich glaube.

Rechtsanwalt Appelbaum: Das war am 30. September. Darauf sagten Sie: Jetzt ist das auch zu spät. Nicht für 20000 Mark arbeite ich für Sie. Moritz Schicksal ist besiegelt?

Zimmer: Dessen erinnere ich mich nicht.

Rechtsanwalt Appelbaum: Den Sonntag darauf kamen Sie wieder, da war auch Jakoby da, damals triumphierten Sie?

Zimmer: Dessen erinnere ich mich.

Rechtsanwalt Appelbaum: Damals sagten Sie: Na, Herr Rechtsanwalt, habe ich es Ihnen nicht so gesagt?

Zimmer: Ja, das ist möglich.

Rechtsanwalt Appelbaum: Ich fragte Sie darauf, wenn wir Ihre Dienste angenommen hätten, würden Sie es dann haben verhindern können? Erinnern Sie sich dessen?

Zimmer: Nein, ich kann mich nicht erinnern.

Rechtsanwalt Appelbaum: Dann will ich es Ihnen sagen, Sie erwiderten: Ja, Sie hätten es verhindern können.

Zimmer: Ja, im Publikum wußte man, daß es mit Lewy schlecht stehe.

Vors.: So; jetzt erinnern Sie sich auf einmal.

Staatsanwalt: Waren Sie im vorigen Jahre in der Redaktion des Konitzer Tageblattes?

Zimmer: Ja; zweimal kurze Zeit.

Staatsanwalt: Hat das Blatt nicht unter Ihrer Leitung eine erhebliche Schwenkung nach der scharfen antisemitischen Richtung gemacht?

Zimmer: Es war schon antisemitisch, aber während meiner zweiten Redaktionstätigkeit wurde es noch schärfer, jedoch lediglich mit Rücksicht auf das neue liberale Konkurrenzblatt, das geschah alles mit Einverständnis der Besitzer.

Staatsanwalt: Auch nach dem 1. Januar waren Sie der Z.-Korrespondent des Konitzer Tageblattes?

Zimmer: Ja.

Staatsanwalt: Sind Sie auch der Z.-Korrespondent der Staatsbürger-Zeitung?

Zimmer zögerte.

Staatsanwalt: Das liegt doch auf der Hand, die Artikel stimmen ja überein. Sie scheinen auch der M.-und R.-Korrespondent zu sein. Sehen Sie, ich habe das ganz genau verfolgt. Sind Sie auch der Verfasser all jener scharf antisemitisch geschriebenen Artikel, welche sich gegen die Behörden, meinen Amtsvorgänger, das Berliner Polizeipräsidium anläßlich der Mordaffäre richten?

Zimmer: Ich bin immer sehr vorsichtig gewesen.

Staatsanwalt: Haben Sie auch im August und September für die Staatsbürger-Zeitung Artikel gegen die Behörden geschrieben?

Zimmer: Ich glaube, damals hatte sich das Verhältnis etwas gelockert.

Staatsanwalt: Es kommt mir darauf an, festzustellen, ob Sie zur selben Zeit, als Sie Appelbaum Ihre Dienste anboten, auch antisemitische Artikel schrieben?

Zimmer: Ich glaube nicht.

Staatsanwalt: Wollen Sie das auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen das nachweise, aufrechterhalten?

Zimmer: Ich nehme an, daß es nicht geschehen ist.

Staatsanwalt: Sie mußten doch Ihren Unterhalt bestreiten?

Zimmer: Ich schrieb für die ?Deutsche Wacht? Berichte. Ich habe meine Überzeugung nie geändert.

Staatsanwalt: Ihre innere Überzeugung ist antisemitisch, Ihre andere philosemitisch. (Heiterkeit.)

Vert. Rechtsanwalt Appelbaum Vielleicht erinnern Sie sich jetzt, daß Sie mir wörtlich antworteten: Unbedingt hätte ich es verhindern können; die Zeugen sind durch mich beschafft worden; ich ging bei Rechtsanwalt Gebauer ein und aus und hätte nur sagen brauchen, daß die Zeugen nichts wußten, und es war einfach erledigt?

Vors.: Haben Sie das gesagt?

Zimmer: Ich kann mich nicht erinnern.

Vors.: Ist es aber möglich?

Zimmer: Ich erinnere mich nicht, nehme es aber nicht an.

Rechtsanwalt Sonnenfeld: Ist es richtig, daß Sie Ihr antisemitisches Material dem ?Kleinen Journal? angeboten haben?

Zimmer: Das war nur eine persönliche Frage, welche den Verleger Bruhn und mein Verhältnis zur Staatsbürger-Zeitung betraf.

Vert. Rechtsanwalt Sonnenfeld: Ist das von der Redaktion angenommen oder abgelehnt worden?

Zimmer: Abgelehnt.

Vors.: Haben Sie auch Beziehungen zu Herrn Schiller gehabt?

Zimmer (sehr verlegen): Ja.

Vors.: Nach welcher Richtung arbeitet der?

Zimmer: Er erklärte, es sei ihm egal, er wolle nur Spuren entdecken. Ich ließ mich von ihm für einen Monat engagieren.

Vors.: Welche Spuren wurden denn verfolgt?

Zimmer: Ich sollte mein Augenmerk auch auf christliche Spuren lenken.

Vors.: Waren Sie mit Schiller auch tätig bezüglich des Fleischergesellen Welke?

Zimmer: Nein, das war später.

Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Sonnenfeld bekundete Kriminalkommissar Wehn: Gymnasialdirektor Tomaszewski habe eine Umfrage unter den Schülern gehalten, ob sie Winter mit Lewy zusammen gesehen haben. Sämtliche Schüler haben sich verneinend geäußert.

Oberlehrer Dr. Stöwer: Er kenne den Angeklagten seit fünf Jahren als Mitglied des Turnvereins. Er habe nichts Nachteiliges über den Angeklagten gehört, im Gegenteil, er sei bis zu dem Augenblick, in dem die antisemitische Strömung einsetzte, sehr beliebt gewesen. sen.

Nach beendeter Beweisaufnahme führte Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger etwa folgendes aus: Meine Herren Geschworenen! „Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären.“ So schrieb vor einigen Tagen eine hiesige Zeitung, so sage auch ich. Seit in dem Mönchsee Leichenteile gefunden wurden, die zur Gewißheit führten, daß ein blühender, junger Mann durch eine entsetzliche Tat ums Leben gekommen ist, ist die hiesige Stadt in zwei Teile zerrissen; ist unsägliches Unglück über die Stadt gekommen. Wieviel Tränen sind geflossen? Der Schrei nach Sühne dieses Verbrechens, dieser Entrüstungsschrei, findet bei mir ein vollständiges Echo. Ob es aber jemals gelingen wird, dieses Dunkel zu lüften, das weiß nur Gott. Wir armseligen Menschen können nichts weiter, als unsere Schuldigkeit tun. In dieser Beziehung ist von meiner Seite nichts versäumt worden. Und ich werde mein ganzes Können aufbieten, um die Sache aufzuklären. Vielleicht gelingt es noch mit Gottes Hilfe, diese unglückliche Stadt von dem furchtbaren Banne zu befreien. Wenn ein Staatsanwalt etwas ausspricht, dann muß er es auch beweisen können. Ich kann nicht beweisen, daß der Angeklagte am Morde beteiligt war. Deshalb kann ich diese Behauptung auch nicht aussprechen. Ich ersuche Sie deshalb, alles Beiwerk beiseite zu lassen und lediglich diglich zu prüfen, ob der Angeklagte einen Meineid geleistet hat. Wenn ich die furchtbare Beschuldigung erhebe: der Angeklagte habe dreimal einen Meineid geleistet, so sage ich: der Grund bei ihm war die Furcht, daß er, wenn er die Wahrheit sagte, dann in den Verdacht des Mordes geriet. Zunächst hat der Angeklagte vollständig bestritten, Winter gekannt zu haben. Als ihm mehrere Zeugen gegenübergestellt wurden, gab er die Möglichkeit zu, Winter gekannt zu haben, er könne sich aber dessen nicht erinnern. Als immer mehr Zeugen auftraten, die den Verkehr bekundeten, gab er die Möglichkeit zu, mit Winter gesprochen, zusammengestanden zu haben, zusammengegangen zu sein und sich mit ihm gegrüßt zu haben. Mit solchen Möglichkeiten durfte der Angeklagte nicht operieren. Das ist dreiste Lüge, das ist wissentlicher Meineid. Ich habe mich gefragt, wie kam ein achtzehnjähriger Gymnasiast zu dem Verkehr mit einem achtundzwanzigjährigen jüdischen Fleischergesellen. Das Bindeglied zwischen beiden war Anna Hoffmann, der beide den Hof machten. Anna Hoffmann ist eine sehr schöne Erscheinung, so daß das schon verständlich ist. Es ist frivol, daß Zeitungen einen. unzüchtigen Verkehr behaupteten. Durch die eingehendste Untersuchung ist festgestellt worden, daß der Verkehr Winters mit Anna Hoffmann vollständig harmlos war. Von der Verteidigung ist eine Reihe Zeugen geladen worden, die den Verkehr des Angeklagten mit Winter nicht wahrgenommen haben. Das ist doch aber kein Beweis. Sie können doch nicht sagen, ob der Verkehr nicht stattgefunden hat. Wir haben so viele Zeugen hier gehabt, die mit vollster Bestimmtheit den Verkehr wahrgenommen haben. Eine Anzahl Detektivs, die sich Freunde der Wahrheit nannten, wie Wienecke, Schiller, Rauch, sind in jüdischem Sinne bemüht gewesen, diese Zeugen durch Traktieren und andere Mittel zu beeinflussen. Ich bin ein unparteiischer Mann und nehme Zimmer nicht aus. Es ist das der Mann, der innerlich antisemitische, andererseits philosemitische Gesinnung hegte; der mit der rechten Hand die schärsten antisemitischen Artikel schrieb; der die Behörden in schroffster Weise angriff, und der mit der linken Hand das Geld von Juden nehmen wollte, um im Sinne der Juden tätig zu sein. Solche Leute, die keinen Funken Ehre besitzen, erschweren die Untersuchung. Wir brauchen die Hilfe solcher Leute nicht. Das sind nur Schlachtenbummler. Hinaus mit diesen Leuten, die diese unglückliche Stadt als melkende Kuh betrachten. Die Aussagen für den Schuldbeweis sind so reichhaltig, daß man eine Anzahl Zeugen preisgeben kann. Insbesondere gebe ich preis die Zeugen Lübke und Tochter, Mai, Pruß usw. Es bleiben aber jedenfalls 25 Zeugen, an deren Glaubwürdigkeit nicht zu rütteln ist. Man hat versucht, sucht, mit Photographien und Doppelgängern zu operieren. Dieser Beweis ist vollständig mißglückt. Das Ergebnis der Beweisaufnahme laßt gar keinen Zweifel, daß der Angeklagte Winter gekannt und mit ihm verkehrt hat. Ich ersuche Sie also, die Hauptschuldfrage und die Unterfragen: daß der Angeklagte durch die Wahrheitsbekundung strafrechtliche Verfolgung befürchten konnte, zu bejahen. Ich habe bereits bemerkt: ich habe keinen Beweis dafür, daß der Angeklagte am Morde beteiligt war. Hätte ich irgendeine Unterlage dafür, so würde ich noch heute die Anklage erheben. Da aber ein solcher Beweis fehlt, so ersuche ich lediglich die Schuldfrage im Auge zu behalten.

Es ist gesagt worden: der Angeklagte wird auf alle Fälle verurteilt, weil er Jude ist. Das ist eine schwere Beleidigung gegen die christliche Bevölkerung. Mögen draußen die Parteileidenschaften toben, im preußischen Gerichtssaale findet sie keinerlei Stätte. Hier gibt es weder Juden, noch Christen, noch Mohammedaner, noch Heiden, sondern nur Angeklagte. Andererseits ist es unverständlich, daß gegen die Behörde der Vorwurf erhoben wurde, die Behörden hätten Furcht, einzuschreiten, weil die Juden dadurch bloßgestellt würden. Meine Herren! Ein preußischer Staatsanwalt kennt keine Furcht! Die Frage ist nicht, wessen Glaubens oder Standes ist jemand, sondern: ist seine Schuld nachgewiesen. Noch waltet in Preußen ßen Gerechtigkeit; noch hat die Justitia die Binde vor den Augen. Wehe, wenn sie die Binde einmal lüftete, um zu sehen, welchen Glaubens oder Standes der Angeklagte ist, um danach das Urteil zu fällen! Wir haben alle mit hoher Genugtuung das zweihundertjährige Jubiläum des Königshauses gefeiert, das Preußen zu solchem Ruhm, Wohlstand und Macht gebracht hat. Das ist hauptsächlich erreicht worden, weil die Grundlage des preußischen Staates Gerechtigkeit ist. Noch ist diese Grundlage unerschüttert. Der erste preußische König hat den Schwarzen Adlerorden mit der Inschrift „Suum cuique“ begründet. Dieser Grundsatz muß Sie auch bei Abgabe Ihres Wahrspruches leiten. Jedem das Seine. Dem Unschuldigen die Freiheit, dem Verbrecher das Zuchthaus. Gehen Sie an die Beantwortung der Schuldfragen mit dem Mute und der Entschlossenheit, wie es deutschen Männern geziemt. Sie sollen den Angeklagten nicht verurteilen, weil er Jude ist. Das wäre auch gegen den Willen unseres Heilands; es wäre eine Verletzung der christlichen Religionsgrundsätze. Verurteilen Sie den Angeklagten, weil er sich vergangen hat an den Grundsätzen der christlichen Gesetzgebung, aber auch an den Vorschriften seiner eigenen Religion, die ebenfalls vorschreibt: „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.“

Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum (Konitz): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: „Hier im Gerichtssaale finden die Parteileidenschaften keine Stätte.“ Ich stimme dem vollständig bei. Allein außerhalb des Gerichtssaales tobten die Parteileidenschaften furchtbar. Sofort nach der Auffindung der Leichenteile wurde behauptet, die Juden hätten einen Ritualmord begangen. Sogleich war man bemüht, Material zu beschaffen, um zu beweisen, daß zwischen Winter und dem Angeklagten ein Verkehr bestanden habe. Unter diesen Parteileidenschaften wurde das Material gesammelt. Wenn in einer Bevölkerung die Meinung verbreitet ist, daß die Minderheit verbrecherische Neigungen habe, dann wird auch das Urteil getrübt. Es ist doch anzunehmen, daß viele Zeugen unter einer gewissen Suggestion ausgesagt haben. Wenn ein Zeuge aufgetreten wäre, der gesagt hätte: „Ich habe mit Lewy und Winter zusammengestanden und gesprochen,“ wenn ein solcher Zeuge aufgetreten wäre, dann wären alle anderen Zeugen überflüssig. Aber ein solcher Zeuge ist trotz aller Bemühungen nicht beschafft worden. Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: „Zeugen, die nichts gesehen haben, beweisen nichts.“ Ich behaupte, dieser negative Beweis ist mit einer solchen Bestimmtheit geführt worden, daß er zum positiven Beweise wurde. Wenn die besten Freunde beider den Verkehr nicht wahrgenommen haben, dann ist der Verkehr möglich, aber nicht wahrscheinlich. Aber sogar die Familie Hoffmann, die beide kannte und dem Angeklagten sogar feindlich gesinnt ist, hat niemals den Verkehr wahrgenommen. Man sollte doch annehmen, daß zwei Liebhaber eines Mädchens sich auch einmal getroffen hätten. Endlich hat die Nachbarschaft von dem Verkehr nichts wahrgenommen. Der Angeklagte war von der Volksmeinung des Mordes verdächtigt worden. Er konnte sich nur vor der Verhaftung dadurch schützen, daß er sich in allen Dingen streng an die Wahrheit halten mußte. Er mußte wissen, daß er, sobald er nur einmal von der Wahrheit abweicht, sofort verhaftet wird. Der Angeklagte hatte also alle Veranlassung, auch betreffs des Verkehrs mit Winter streng bei der Wahrheit zu bleiben. Ist es denn unmöglich, daß der Angeklagte mit Winter sich unterhalten, zusammengegangen und zusammengestanden und ihn dennoch nicht gekannt hat? Die Gymnasiasten in Konitz kannten jedenfalls alle den „Pincenez-Lewy“, ob aber auch letzterer alle Gymnasiasten, insbesondere alle diejenigen kannte, mit denen er sich von Zeit zu Zeit unterhielt, ist doch eine andere Frage. Nehmen Sie einmal an, ein Fremder fragt mich auf der Straße nach einem Hause. Ich begleite den Fremden, da mein Weg mich an dem Hause vorüberführt. Ich unterhalte mich mit dem Manne, wir bleiben sogar noch auf der Straße in lebhafter Unterhaltung stehen und verabschieden uns alsdann, indem wir uns die Hand schütteln. Nun passiert dem Fremden etwas Schlimmes. Hunderte, ja Tausende von Leuten beschwören: Rechtsanwalt Appelbaum muß den Mann kennen, denn er ist mit ihm plaudernd zusammengegangen und hat ihm zum Abschied noch die Hand gereicht. Und doch ist mir nicht einmal der Name des Fremden bekannt. Der Angeklagte kannte jedenfalls Winter vom Ansehen, er wußte, daß er Gymnasiast ist, aber seinen Namen kannte er nicht. Da doch hier zum mindesten Zweifel über die Schuld des Angeklagten obwalten, so gebe ich mich der festen Überzeugung hin, Sie werden die Schuldfragen verneinen.

Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt ist sehr richtig auf das Motiv eingegangen: daß, wenn der Angeklagte einen Meineid geschworen, er diesen aus Furcht, wegen Mordes verfolgt zu werden, geleistet hat, das ist sicher. Es genügt, wenn jemand eine, wenn auch vollständig grundlose Befürchtung hat. Aber nachdem ihn der Kriminalkommissar Wehn eindringlich ermahnt hat, wenn es wahr sei, den Verkehr doch zuzugeben, muß man annehmen, daß der Angeklagte die Wahrheit beschworen hat.

Der Verteidiger ging alsdann des näheren auf die Zeugenaussagen ein. Viele Zeugen haben unter dem Einfluß der öffentlichen Meinung gestanden. Der Herr Erste Staatsanwalt hat der Verteidigung vorgeworfen, daß sie sich die Photographie von Kroll verschafft hat. Ich mache dem Herrn Staatsanwalt den Vorwurf, daß er sich ein solches Bild im Interesse der Aufklärung nicht schon längst beschaffte. Bei dem ersten Bilde habe ich gesagt: das genügt nicht, denn der Photographierte darauf ist ohne Hut. Ich habe nicht nach Doppelgängern gesucht; aber Pflicht der Staatsanwaltschaft wäre es gewesen, festzustellen, ob eine Verwechslung möglich sei. Ich erinnere nur an die Gehrkeschen Eheleute, die im Hoffmannschen Hause wohnten. Diese kannten Winter ganz genau und sagten mit vollster Bestimmtheit: Wir haben am 11. März, abends acht Uhr, Winter in der Danziger Straße gesehen. Diese durchaus ehrenwerten Leute hätten geschworen, wenn ihnen nicht ein Landmesser vorgestellt worden wäre, den sie für Winter gehalten haben. Solche Verwechslungen sind doch nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn zwei Photographien nebeneinander gehalten werden, kann man die Ähnlichkeit nicht finden. Trotzdem kann man Leute, deren Gesichtszüge und Größe verschieden und die betreffs Gangart und anderer äußerer Umstände voneinander abweichen, verwechseln. Ein hinreichend positiver Beweis, daß ein Verkehr nicht stattgefunden hat, ist doch der, daß die besten Freunde, die Hoffmanns, die Nachbarschaft, Professor Prätorius und Oberlehrer Dr. Stöwer, denen der Verkehr nicht entgehen konnte, einen solchen nicht wahrgenommen haben. Die Berliner Polizeibeamten haben die Wahrheitsliebe des Angeklagten festgestellt. Ich erinnere daran, was alles gegen die Familie Lewy behauptet worden ist. Übriggeblieben ist nur die gegenwärtige Anklage, weil sie schwer zu widerlegen ist. Ein berühmter Rechtslehrer, Professor Berner, sagt in seinem Lehrbuche: „Der Richter bei Meineidsprozessen muß besonders vorsichtig sein, da es dabei sehr auf das Gedächtnis und die Gedankenschlüsse ankommt.“ Also selbst wenn Sie der Auffassung des Staatsanwalts beitreten, müssen Sie doch freisprechen, wenn Sie nicht auch überzeugt sind, daß der Angeklagte trotz schlechter Augen Winter persönlich gekannt und an der Photographie erkennen mußte. Ich habe die Überzeugung, Sie werden dem Herrn Ersten Staatsanwalt beipflichten: wenn auch draußen noch so sehr die Parteileidenschaften toben, Sie werden unparteiisch ohne Ansehen der Person Ihres Richteramtes walten. Selbst wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, daß dem Angeklagten ein größerer Verkehr mit Winter nachgewiesen sei, dann können Sie ihn doch nicht wegen wissentlichen Meineides verurteilen, dann müssen Sie sich erst fragen, ob sich der Angeklagte dessen bewußt gewesen sein muß, daß er den Namen Winter nicht gekannt habe. Sie müssen feststellen, ob Lewy die Fähigkeit besitzen mußte, sich darüber klar zu werden, daß das bekannte Bild, dieses alte Bild, einen Mann seines Verkehrs darstellt. Wenn Sie nicht zu dieser Überzeugung kommen, dann müssen Sie meinen Klienten freisprechen. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, meine Herren Geschworenen, daß Sie ihn freisprechen werden. Ich weiß, Sie haben nicht vergessen des Herrn Ersten Staatsanwalts Mahnung, daß Sie nur nach den Eindrücken urteilen dürfen, welche Sie hier im Gerichtssaal empfangen haben. Ich vertraue, daß Sie nicht Ihr Urteil von dem Standpunkt fällen werden: Es rast der See und will sein Opfer haben! Nicht was draußen vorgeht, außerhalb dieses Saales, wird von Einfluß auf Sie sein, sondern hier handelt es sich für Sie nur darum, daß jeder von Ihnen, sehr geehrte Herren, sich sagt: „Ich habe mein Richteramt auszuüben, frei von allen Rücksichten auf die Stürme und Kämpfe im öffentlichen Leben, ich habe das Recht zu suchen, frei von jeder Erregung; ich habe dem Angeklagten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!“ Meine Herren, ich bin dessen sicher, Sie werden das Nichtschuldig aussprechen, Sie werden meinen Klienten freisprechen.

Staatsanwalt Dr. Schweigger: Die Herren Verteidiger haben mich mißverstanden. Ich habe nicht gesagt, ich habe wegen Mordes gegen den Angeklagten nicht den geringsten Beweis, sondern ich habe gesagt: Zurzeit habe ich nicht ein genügendes Belastungsmaterial, um gegen den Angeklagten wegen Mordes die Anklage zu erheben. Die Verteidigung hat auf Verhetzungen gegen die jüdische Bevölkerung hingewiesen. Ich erwidere, daß von Zeitungen, die im jüdischen Sinne redigiert werden, ebenso gegen die christliche Bevölkerung gehetzt wird. Ich erinnere nur an die Verhetzungen gegen die Familie Hoffmann, gegen einen hochachtbaren Beamten und gegen einen hiesigen Lehrer. Der Erste Staatsanwalt ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Der Verteidiger sagte: „Kann man vom Angeklagten mehr Gewissenhaftigkeit verlangen, als er bewiesen hat?“ Gewiß, ich verlange mehr. Ich verlange, daß er die Wahrheit sagt, und wenn er dies tun wollte, dann mußte er sagen: „Ich habe Winter gekannt.“ Ich habe die Überzeugung, Sie werden den Angeklagten schuldig sprechen; denn Recht muß doch Recht bleiben.

Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Da der Herr Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß von jüdischer Seite auch gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, beantrage ich, den Brief zu verlesen, den ich hier dem Gericht überreiche, und dazu den Journalisten Zimmer zu vernehmen.

Vors.: Der Herr Erste Staatsanwalt hat nur von jüdischen Zeitungen gesprochen.

Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Das ist aber nicht Gegenstand der Verhandlungen gewesen. Ich wundere mich, daß der Herr Vorsitzende das zugelassen hat.

Vors.: Ich muß diesen Vorwurf zurückweisen. Es ist Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen.

Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Mit Rücksicht auf den Korrespondenten verzichte ich auf die Vorlesung des Briefes. Nachdem aber der Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, muß ich bemerken: Ich konnte seit langer Zeit beweisen, daß die Hetze gegen die genannten christlichen Familien nicht von Juden, sondern von ausgesprochenen Antisemiten ausgegangen ist. Ich habe aber trotzdem das Material nicht verwertet, sondern ruhig zugesehen, wie Zimmer in der „Staatsbürger-Zeitung“ und dem „Konitzer Tageblatt“ gegen die Juden unter antisemitischem Deckmantel weiterhetzte. Es hat mir gestern in der Seele leid getan, daß ich durch die beantragte Vernehmung Zimmers gewissermaßen dessen Existenz vernichtete. Es ist aber die Pflicht des Verteidigers, das Interesse des Angeklagten wahrzunehmen. Es ist mir bekannt, daß Zimmer in der Familie Hoffmann als Freund verkehrte und trotzdem den Verdacht gegen die Familie Hoffmann erhoben hat.

Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld richtete hierauf an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er Auskunft kunft geben wolle darüber, daß die Einleitung des Verfahrens gegen Hoffmann und andere christliche Familien auf Veranlassung von Juden geschehen sei.

Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich verweigere hierüber die Auskunft.

Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Dann beantrage ich, den Kriminalinspektor Braun aus Berlin hierüber zu vernehmen.

Da Braun beim Aufrufe nicht zugegen war, stellte Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er zugebe, daß der mehrfach genannte Stephan auch einige Zeit in seinen Diensten gestanden habe.

Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich nehme keinen Anstand, zu erklären, daß Stephan die Behörde auf eine neue Spur aufmerksam machte, die ohne dessen Mithilfe nicht verfolgt werden konnte, deshalb war Stephan kurze Zeit im Einverständnis mit der Berliner Behörde in meinen Diensten.

Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Das genügt mir. Ich war erstaunt, daß der Erste Staatsanwalt jetzt besonders betonte: die Unschuld des Angeklagten am Morde sei nicht nachgewiesen, aber er habe nicht hinreichendes Material, um die Anklage wegen Mordes gegen den Angeklagten zu erheben. Es ist das eine ungewollte Stimmungsmacherei. Sie hat aber dieselbe Wirkung wie eine gewollte und erinnert an den Standpunkt punkt des Staatsanwalts, der sagte: „Solange mir der Angeklagte nicht den Beweis liefert, daß er ein anständiger Mensch ist, halte ich ihn für einen Spitzbuben.“ Der Nachweis, daß der Verdacht des Mordes gegen die Familie Lewy vorliegt, ist doch nicht geführt. Deshalb hätte der Erste Staatsanwalt so etwas nicht sagen dürfen.

Der Verteidiger ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Meine Herren Geschworenen! Ich habe die Überzeugung, daß Sie sich durch keine Bemerkung in Ihrem Urteile beeinflussen lassen und die Schuldfragen verneinen werden.

Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas anzuführen?

Angeklagter: Ich ersuche die Herren Geschworenen, die Schuldfragen zu verneinen. Ich habe die Wahrheit beschworen, so wahr mir Gott helfe. (Gelächter im Publikum.)

Der Vorsitzende erteilte alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und schloß: Mögen Sie nun mit Gottes Hilfe den richtigen Spruch finden. Es ist Ihnen bekannt, daß es die Pflicht des Richters ist, und, meine Herren, Sie sind auch Richter, Sie haben den Richtereid geleistet, ohne Ansehen der Person, der sozialen, politischen oder Glaubensangehörigkeit des Angeklagten zu urteilen. Seien Sie auch eingedenk, daß Sie über Ihre Handlungen dem ewigen Richter Rechenschaft schulden.

Nach halbstündiger Beratung traten die Geschworenen wieder ein. Unter gespannter Aufmerksamkeit des Publikums verkündete der Obmann Kaufmann Paul Werner, Konitz: Die Geschworenen haben die drei Schuldfragen wegen wissentlichen Meineids und die Unterfrage: ob der Angeklagte durch Bekundung der Wahrheit strafrechtliche Verfolgung befürchten konnte, bejaht. Der Erste Staatsanwalt beantragte hierauf fünf Jahre Zuchthaus, fünf Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit. Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld bat, unter Hinweis auf die vielen Verfolgungen, die die Familie Lewy zu erdulden hatte, um eine mildere Strafe. Der Angeklagte bat weinend um Milde, da er unschuldig sei. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Schwedowitz: Der Gerichtshof hat auf vier Jahre Zuchthaus, vier Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit erkannt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen. Bei der Abführung wurde dem Verurteilten zugerufen: „Adieu, Moritz!“ „Viel zuwenig!“ „Hättest müssen zwanzig Jahre bekommen!“

Im Juni 1901 wurde noch der Privatdetektiv Schiller vom Schwurgericht des Landgerichts Konitz wegen Verleitung zum Meineid zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt. Damit hatten die Prozesse in Konitz aus Anlaß der Ermordung des Gymnasiasten Winter ihr Ende erreicht. Der Täter dieses furchtbaren Verbrechens ist bisher nicht entdeckt worden.

Der Beleidigungsprozeß des Berliner Stadtkommandanten, Generalleutnant z.D. Graf Kuno von Moltke gegen den Herausgeber der „Zukunft“ Maximilian Harden

Die Homosexualität ist mindestens so alt wie die Weltgeschichte. Man geht gewiß nicht fehl, wenn man es als wahrscheinlich bezeichnet, daß schon in der vorgeschichtlichen Zeit die Homosexualität nicht unbekannt war. Man kann dreist behaupten: zu allen Zeiten und bei allen Völkern ist die Homosexualität mehr oder weniger in Erscheinung getreten. Wenn man erwägt, daß selbst bei Tieren, insbesondere bei Hunden und Affen Homosexualität zu beobachten ist, wenn man ferner erwägt, daß, obwohl im Mittelalter die homosexuelle Betätigung mit dem Feuertode bestraft wurde, die Leidenschaft nicht auszurotten war, sondern sich bis in unsere Zeit zum mindesten unvermindert erhalten hat, dann wird man einsehen, daß es durch keinerlei Maßnahmen gelingen wird, die Homosexualität jemals aus der Welt zu schaffen. Als die Israeliten noch in der Wüste waren, muß die Homosexualität bereits sehr verbreitet gewesen sein, denn Moses belegt die homosexuelle Betätigung im fünften Buche des Alten Testaments, also zu einer Zeit, als dieser weise Gesetzgeber seinen Tod herannahen sah, mit einem Fluch. Aber selbst König David, der doch ein großer Freund der Frauen war, scheint von Homosexualität nicht ganz frei gewesen zu sein. Dafür spricht seine innige Freundschaft zu Jonathan, dem Sohne des Königs Saul. Als ihm sein Feldherr Abner die Nachricht brachte, Jonathan sei im Kriege gefallen (1033 vor Christo), da rief David klagend aus: „Größer als die Liebe zu den Frauen war meine Liebe zu ihm.“ Welche Ausdehnung die Homosexualität im alten Griechenland und im alten Rom hatte, ist allbekannt. Wie die Geschichte berichtet, galt im alten Griechenland zur klassischen Zeit die Knabenliebe, allerdings die reine und edle, als ein Vorzug vor den Barbaren. Trotz aller Verfolgungen, gesellschaftlicher Ächtungen und Bestrafungen ist es in keinem Lande gelungen, diese Leidenschaft aus der Welt zu schaffen, ja es gewinnt fast den Anschein, als ob mit dem Fortschritt der Kultur die Homosexualität, und zwar sowohl die weibliche als auch die männliche, immer mehr an Ausdehnung gewinnt. Man kann das beklagen, der Chronist ist jedenfalls verpflichtet, nicht wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand zu stecken oder gar die mit dieser Leidenschaft behafteten Leute zu beschimpfen, sondern mit der Homosexualität als mit einer vorhandenen Tatsache zu rechnen. Nach einer vor einigen Jahren vom „Wissenschaftlich-humanitären ren Komitee“ ganz oberflächlich mittels Fragebogen angestellten Erhebung, die sich meines Wissens nach nur auf die Studierenden an deutschen Universitäten und technischen Hochschulen und auf die Metallarbeiter beschränkte, soll es in Deutschland weit über 1 1/2 Millionen männliche Homosexuelle geben. In Berlin wurde schon vor mehreren Jahren die Zahl der männlichen Homosexuellen auf weit über 50000 geschätzt. Und zwar ist diese Veranlagung in allen Ständen und bei allen geschlechtsreifen Altersklassen zu finden. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß alle diese Leute sich in roher, sinnlicher Weise betätigen; die weitaus große Mehrheit dieser Homosexuellen soll nur seelisch wider die Norm empfinden. Ein Arzt, der über jeden Verdacht erhaben ist, homosexuell veranlagt zu sein, sagte mir vor einiger Zeit: er behaupte, unter zehn männlichen Personen ist mindestens einer homosexuell. Der bekannte Nervenarzt Dr. Magnus Hirschfeld erzählte mir bei Gelegenheit eines anderen Prozesses, zu dem er als Sachverständiger geladen war: Eine große Anzahl Väter und Mütter aus den besten Gesellschaftskreisen kämen in seine Sprechstunde, um ihn zu konsultieren, was gegen die homosexuellen Neigungen ihrer erwachsenen Söhne zu unternehmen sei. Eine Reihe von Staaten haben den gesetzgeberischen Kampf gegen die Homosexualität längst aufgegeben. In Frankreich, Italien, Belgien, en, Holland, in einigen Schweizer Kantonen, in Spanien und Portugal ist die homosexuelle Betätigung straflos. Trotzdem habe ich zum Beispiel in Holland, Belgien und Frankreich von homosexuellem Treiben, wenigstens äußerlich, nichts wahrgenommen. Vor Erscheinen des Norddeutschen, späteren deutschen Strafgesetzbuches (1869) war die homosexuelle Betätigung selbst in einigen deutschen Ländern wie Hannover und Hessen straflos. 1869 hat sich die Medizinisch-wissenschaftliche Deputation, bekanntlich die oberste Medizinalbehörde Preußens, gegen die Bestrafung der homosexuellen Betätigung ausgesprochen. Der Paragraph 175 wäre wohl auch nicht in das Strafgesetzbuch gekommen, wenn damals nicht der bekannte Prozeß gegen den Maler und Leutnant a.D. Alexander v. Zastrow das Berliner Stadtschwurgericht beschäftigt hätte. v. Zastrow war beschuldigt, den achtjährigen Knaben Emil Handtke in einer Weise mißbraucht zu haben, daß ihn die Geschworenen des versuchten Mordes und der widernatürlichen Unzucht, begangen an einem Knaben, schuldig sprachen. v. Zastrow, der auch im Verdacht stand, in der Nacht vom 25. zum 26. Februar 1867 auf dem Grützmacher den 15jährigen Bäckerlehrling Corny geschändet und ermordet zu haben, wurde zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt. Diese Verhandlung erregte in der ganzen zen Kulturwelt ein ungeheures Aufsehen und rief geradezu einen Sturm der Entrüstung hervor. In dem Vorentwurf zu dem neuen deutschen Strafgesetzbuch wird vorgeschlagen, auch die Homosexualität zwischen Frauen zu bestrafen. Beiläufig sei bemerkt, daß die Homosexualität unter den Frauen noch bedeutend mehr verbreitet sein soll, als unter den Männern. Sollte die erwähnte Bestimmung Gesetzeskraft erlangen, dann dürfte den Erpressungen Tür und Tor geöffnet sein. Eine Einschränkung oder gar Ausrottung der Homosexualität ist selbst durch strenge Bestrafungen jedenfalls nicht zu erwarten. Es erheben sich seit vielen Jahren gewichtige Stimmen, insbesondere von Ärzten und Juristen, die die Straflosigkeit der homosexuellen Betätigung verlangen. Schon in den 1870er Jahren haben sich einer von hervorragenden Ärzten und Juristen an den Reichstag gerichteten Petition zwecks Aufhebung des Paragraphen 175 eine Anzahl höherer Polizeibeamter angeschlossen. Vor etwa 12 Jahren wurde eine derartige Petition wiederholt, der sich Männer wie Geheimrat Rubner, Bebel u.a. anschlössen. Der bekannte Berliner Kreisarzt Medizinalrat Dr. Leppmann sagte vor einiger Zeit in einer im Hörsaale der Lassarschen Klinik abgehaltenen Versammlung der Gesellschaft für soziale Medizin und Hygiene, und zwar unter vollem Beifall der bedeutendsten Psychiater und vieler anderer Ärzte: Wenn zwei Erwachsene aus innerer Neigung sich homosexuell betätigen, ohne dabei ein öffentliches Ärgernis zu erregen, dann ist das eine reine Privatsache, die einen dritten nichts angeht. Deshalb fort mit dem Paragraphen. Der Staat hat jedenfalls kein Recht, hiergegen einzuschreiten. Es kommt hinzu, daß die Bestrafung der homosexuellen Betätigung ein Erpressertum großgezogen hat, das geradezu eine öffentliche Kalamität geworden ist. Es gibt tatsächlich nicht nur in Berlin, sondern in allen Großstädten der Welt eine ganze Anzahl Leute, in Berlin sollen sie nach Tausenden zählen, denen der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches eine willkommene Handhabe bietet, ohne jede Arbeit ein geradezu schwelgerisches Leben zu führen. Das bekannte Sprichwort: „Calumniare audacter semper aliquid haeret“ („Verleumde nur immer kühn, es bleibt stets etwas hängen“) trifft ganz besonders hierbei zu. Es ist nichts leichter, als einen Menschen, den man aus irgendeinem Grunde ruinieren oder schädigen will, der Homosexualität zu beschuldigen. Solange der Paragraph 175 existiert, wird das Verleumder-und Erpressertum, dieses Schmarotzertum der menschlichen Gesellschaft, blühen. Wieviel hochachtbare, in Amt und Würden befindliche Leute durch das Verleumder- und Erpresserpack schon mit ihren Familien in Elend und Tod getrieben wurden, ist auch nicht annähernd zahlenmäßig festzustellen. Die Untaten ten des Rennfahrers Breuer, der einem hochgeachteten Fabrikbesitzer im Rheinland über eine Viertelmillion abgepreßt hat und das erpreßte Geld in unsinnigster Weise mit der weiblichen Halbwelt verpraßte, der schließlich sein wirtschaftlich ruiniertes Opfer niederschoß, dürften allbekannt sein. Vor einigen Jahren kam Landgerichtsdirektor Haße, Vorsitzender der ersten Strafkammer am Landgericht Breslau, aus einer Sitzung, um sich nach Hause zu begeben. Der schon bejahrte Herr führte ein glückliches Familienleben. Sein ältester Sohn war bereits Regierungs-Assessor bei der Königlichen Regierung in Breslau. Der zweite Sohn war Gerichts-Referendar. Der Landgerichtsdirektor betrat eine öffentliche Bedürfnisanstalt. Als er letztere verlassen wollte, traten zwei Männer auf ihn zu mit den Worten: „Was haben Sie mit unserem Bruder gemacht?“ Der angebliche Bruder war ein 19jähriger stellungsloser Handlungsgehilfe, das Werkzeug der beiden Leute, der sich in der Bedürfnisanstalt befand, als der Landgerichtsdirektor hineintrat. Dieser junge Mann behauptete kühn: der Landgerichtsdirektor habe ihn unzüchtig berührt und ihm einen unzüchtigen Antrag gemacht. Obwohl der Landgerichtsdirektor eine solche Handlungsweise mit vollster Entschiedenheit als Lüge bezeichnete, verfolgten ihn die drei Männer bis zu seiner Wohnung und drohten Lärm zu schlagen, wenn er nicht sofort eine größere Summe erlege. Um den Skandal im Keime zu ersticken, verstand sich der Landgerichtsdirektor, dem Verlangen der Erpresser zu entsprechen. Wenn solche menschlichen Raubtiere aber erst einmal Blut geleckt, d.h. Erpressungsgeld erhalten haben, dann kennen diese Vampyre keine Grenzen. Der Landgerichtsdirektor wurde, ganz besonders von dem damals 36jährigen Konditor Löchel derartig verfolgt, daß er ihm nach und nach 40000 Mark opferte. Kurz vor Weihnachten 1904 traf von Löchel wiederum ein Erpresserbrief in Breslau ein. Der Landgerichtsdirektor befand sich bereits am Rande des wirtschaftlichen Abgrundes. Er bestellte den Erpresser zum zweiten Weihnachtsfeiertag nach Berlin, und zwar in die Nähe der Hedwigskirche. Als der Erpresser dort wiederum mit seinen Drohungen begann, da riß dem Landgerichtsdirektor der Geduldsfaden. Voller Wut riß er einen geladenen Revolver aus der Tasche und schoß blindlings auf seinen Verfolger. Alsdann begab er sich auf die nächste Polizeiwache und meldete, daß er einen Mordversuch begangen habe. Er sagte sich: „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.“ Die Polizei nahm den Landgerichtsdirektor fest und fahndete sofort nach dem Erpresser. Dieser hatte nur eine unbedeutende Verletzung an der linken Hand erhalten. Er war nach Hamburg geflüchtet und schrieb von dort einen neuen Erpresserbrief an den Landgerichtsdirektor nach Breslau. Der Brief wurde von dem ältesten Sohn, Regierungs-Assessor Haße, aufgefangen. Dieser benachrichtigte sofort die Kriminalpolizei. Letzterer gelang es, den Vampyr auf dem Postamt in Hamburg festzunehmen, als er nach der von ihm erhofften postlagernden Sendung fragte. Es ergab sich, daß dieses Scheusal in Menschengestalt das Erpresserhandwerk in dieser Form schon seit vielen Jahren in allen Großstädten Europas betrieb, und daß er, ohne zu arbeiten, eine glänzende Einnahme hatte. Er war bereits wegen räuberischer Erpressung bestraft. Die dritte Strafkammer des Landgerichts Berlin I verurteilte den Mann zu 9 Jahren, seine zwei Helfershelfer zu 6 bzw. 4 Jahren Gefängnis und Ehrverlust. Landgerichtsdirektor Haße wurde sehr bald aus der Haft entlassen. Da angenommen wurde, daß er unter Ausschließung seiner freien Willensbestimmung gehandelt hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Er war aber genötigt, um seine Verabschiedung einzukommen, die ihm auch ohne Pensionskürzung sofort gewährt wurde. Ich könnte noch eine große Anzahl derartiger Fälle anführen, ich befürchte aber, mich dadurch zu weit von meinem Thema zu entfernen. Ich will nur noch bemerken, daß nicht bloß in Berlin, sondern in allen Großstädten fast täglich Prozesse gegen Erpresser stattfinden, aus denen zu entnehmen ist, daß die Erpresser sich selbst nicht scheuen, gegen regierende Fürsten, hohe geistliche Würdenträger usw. mit Drohungen vorzugehen. Dank dem energischen Vorgehen des verstorbenen Polizeidirektors v. Meerscheidt-Hüllessem sowie des Kriminalpolizeiinspektors Walter von Tresckow I und des Kriminalkommissars Dr. Kopp und nicht zuletzt dank der energischen Bestrafung durch die Gerichte in allen deutschen Städten, ist es gelungen, das Erpressertum einigermaßen einzudämmen. Vor einiger Zeit brachte das bekannte Witzblatt „Ulk“ einen Dialog von zwei Berliner Kaschemmenbrüdern. „Du, Aujust,“ sagte der eine, „wat meenst du bloß dazu, sie wollen den Paragraph 175 aufheben.“ „Det wäre ja noch schöner,“ versetzte der andere, „von wat sollte denn dann unser eener Mittelstand leben?“ Es gewinnt in der Tat den Anschein, als sei der aus dem Mittelalter stammende Paragraph 175 lediglich im Interesse der schurkischen Verleumder und Erpresser in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Denn daß durch eine noch so harte Bestrafung die Homosexualität aus der Welt geschafft oder auch nur vermindert werden wird, dürfte kaum ein vernünftiger Arzt oder Jurist ernsthaft behaupten. Die Legende, daß bloß abgelebte Greise sich durch Verführung der Jugend homosexuell zu betätigen suchen, ist durch die Wirklichkeit längst widerlegt. Viele Gerichtsverhandlungen haben ergeben, daß es eine große Anzahl ganz junger Leute gibt, die homosexuell veranlagt sind. Der Einwand, daß nach Aufhebung des Paragraphen 175 die Homosexualität weiter um sich greifen würde, widerspricht jeder wissenschaftlichen Feststellung. Keinem Heterosexuellen wird es nach Aufhebung der Strafbestimmung auch nur im entferntesten in den Sinn kommen, homosexuell zu werden. Nach Aufhebung der Strafbestimmung wird es auch nicht einen einzigen Homosexuellen mehr geben als jetzt. Dem Erpressertum, das unser ganzes gesellschaftliches Leben aufs ärgste gefährdet, würde aber der Garaus gemacht werden. Der Einwand, daß alsdann die gesellschaftliche Ächtung noch bliebe, mithin auch das Erpressertum weiter wuchern würde, ist hinfällig. Selbstverständlich wird es in der heutigen Gesellschaftsordnung nicht gelingen, das Erpressertum aus der Welt zu schaffen, es würde ihm aber dadurch der Lebensnerv unterbunden werden; darin dürfte mir jeder erfahrene Kriminalist zustimmen. Ich habe bereits erwähnt, daß die Homosexualität in allen Gesellschaftskreisen anzutreffen ist. Es dürfte erinnerlich sein, daß vor einigen Jahren ein Königlicher Kammerherr, der in unserem Königshause eine sehr hervorragende Stellung bekleidete und den Vorzug hatte, vom Kaiser mit dem Vornamen angeredet zu werden, im Prinzessinnen-Palais in Berlin Teekränzchen veranstaltete, an denen mehrere Prinzen des Königlichen Hauses, die dem Monarchen verwandtschaftlich wandtschaftlich sehr nahe stehen, aber außerdem mehrere deutsche Fürstlichkeiten teilgenommen haben. Bei diesen Teekränzchen, so lauteten damals (Anfang Juni 1908) die bisher unwidersprochenen Zeitungsberichte, sollen in homosexueller Weise Dinge vorgekommen sein, die den Grundsätzen der Moral nicht entsprochen haben. Ein Prinz des Königlichen Hauses wurde vor einigen Jahren an einem schönen Sommerabend im Berliner Tiergarten wegen dringenden Verdachts der Homosexualität verhaftet. Als auf der Polizeiwache seine Persönlichkeit festgestellt war, wurde Königliche Hoheit selbstverständlich sofort entlassen. Es wurde ihm von allerhöchster Seite der Rat erteilt, auf einige Zeit ins Ausland zu gehen. Der bekannte Königlich Preußische Kommerzienrat Israel, Inhaber des Welthandlungshauses N. Israel in Berlin, wurde vor einigen Jahren von einem ehemaligen Offizier und zwei Preßbanditen wegen seiner homosexuellen Neigungen in einer Weise verfolgt, daß dieser vielfache, noch in jungen Jahren stehende Millionär sich im Reinickendorfer See ertränkte. Wäre der Erpresserparagraph 175 nicht vorhanden gewesen, dann wäre der unglückliche Kommerzienrat zweifellos noch am Leben.

Im Kreise Prenzlau in der Uckermark erhebt sich ein prächtiges, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattetes, feenhaft schönes, idyllisch gelegenes Schloß, das dem ehemaligen deutschen Botschafter am Wiener Hofe, Fürsten Philipp zu Eulenburg und Hertefeld zum Ruhesitz dient. Philipp Eulenburg, einer uralten Grafenfamilie entstammend, erfreute sich der ganz besonderen Gunst des Deutschen Kaisers. Der Monarch kam oftmals nach Liebenberg zur Jagd, und war alsdann stets Gast des Fürsten Eulenburg. Aus diesem Anlaß wurde Graf Philipp Eulenburg vor einigen Jahren in den Fürstenstand erhoben. Er war außerdem zum Mitglied des Preußischen Herrenhauses auf Lebenszeit ernannt und Ritter des Schwarzen Adlerordens, bekanntlich des höchsten Ordens, der nur ganz hochgestellten, zumeist fürstlichen Persönlichkeiten verliehen wird. In Schloß Liebenberg verkehrte aber auch der Stadtkommandant von Berlin, Generalleutnant Exzellenz Graf Kuno v. Moltke, Flügeladjutant des Kaisers, ferner der Kaiserliche Flügeladjutant Generalleutnant Graf Wilhelm v. Hohenau, der Kommandeur der Leibschwadron des Gardekorps, Rittmeister Graf v. Lynar und der Botschaftsrat bei der französischen Botschaft am Berliner Hofe, Lecomte. Graf Hohenau ist ein echter Hohenzoller. Er ist der Sohn des im Jahre 1872 verstorbenen Prinzen Albrecht Vater, in morganatischer Ehe erzeugt. Prinz Albrecht Vater war der jüngste Sohn König Friedrich Wilhelms III., also der Großoheim des jetzigen Kaisers. Graf Lynar hat eine Prinzessin Solms, eine Schwester der jetzigen Großherzogin von Hessen-Darmstadt zur Frau. Im November 1906 erschienen in der von dem bekannten Schriftsteller Maximilian Harden herausgegebenen „Zukunft“ dunkle Andeutungen, die etwa besagten: Der Kaiser werde von einem Kreise von Personen umgeben, die einen ungünstigen Einfluß auf ihn ausüben, weil sie in psychosexueller Beziehung von der Norm abweichen. Dieser Freundeskreis werde die

Liebenberger Tafelrunde

genannt, zu der die erwähnten Herren gehören. Die Artikel wurden in mehreren Nummern der „Zukunft“ fortgesetzt. Eines Tages unterhielten sich in Potsdam zwei Offiziere des Gardekorps auf offener Straße ziemlich laut über diese Artikel der „Zukunft“. Der Kronprinz, der sich in der Nähe befand und einen Teil des Gesprächs angehört hatte, ersuchte die Offiziere um nähere Mitteilungen. Am folgenden Tage ersuchte der Kronprinz den Chef des Militärkabinetts und Generaladjutanten des Kaisers, Generalleutnant v. Hülsen-Häseler, dem Kaiser über die Angelegenheit Vortrag zu halten. Graf Hülsen-Häseler lehnte aber ab. Aus diesem Anlaß machte der Kronprinz dem Herrn Papa von der Unterhaltung der beiden Potsdamer Offiziere selbst Mitteilung. Daraufhin befahl der Kaiser dem Chef des Militärkabinetts, Grafen Hülsen-Häseler und dem damaligen Minister des Innern, Dr. v. Bethmann Hollweg, ihm Vortrag über diese Dinge zu halten. Letzterer erbat sich eine Frist, um sich noch näher zu informieren. Der Minister berief sogleich den damaligen Berliner Polizeipräsidenten v. Borries, der sich zur Kur in Kissingen aufhielt, telegraphisch nach Berlin, damit dieser die Untersuchung in die Wege leite und unternahm eines Abends einen Informations-Spaziergang durch den Berliner Tiergarten. Es nahte sich sehr bald ein elegant gekleideter, hübscher junger Mann von weltstädlischen Manieren, der den Versuch unternahm, den ihm unbekannten preußischen Polizeiminister in seine Netze zu locken. Der Minister, der zwecks Bereicherung seiner Kenntnisse auf diesem Gebiete ein Abenteuer erleben wollte, nahm die Sache von der heiteren Seite auf. Er unterließ daher, die Feststellung bzw. Verhaftung des jungen Mannes zu verfügen. Die gesamte Liebenberger Tafelrunde fiel, nachdem dem Kaiser Vortrag gehalten war, sofort in Ungnade. Fürst Eulenburg beantragte gegen sich selbst die Einleitung eines Strafverfahrens wegen Verfehlung im Sinne des § 175 des Strafgesetzbuches und schlug Maximilian Horden als Zeugen vor. Harden erklärte jedoch zeugeneidlich: er sei entfernt gewesen, den Fürsten Eulenburg einer strafbaren Handlung im Sinne des § 175 zu bezichtigen. Er habe in den Artikeln nur zum Ausdruck bringen wollen: „Es ist eine Gefahr für das Vaterland, wenn ein Kreis anormal empfindender Männer Einfluß auf die Entschließungen des Herrschers gewinne.“ Darauf stellte das Prenzlauer Landgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Fürsten Eulenburg ein. Graf Kuno v. Moltke ließ sich zur Disposition stellen und Harden durch seinen Vetter, den Klosterpropst Grafen von Moltke erklären: er versichere auf Ehrenwort, daß er niemals mit männlichen Personen verkehrt habe. Harden erklärte, er halte auch eine ideelle Männerfreundschaft, wenn sie Rückwirkungen auf die Politik habe, für bedenklich. Graf Moltke sandte darauf Harden eine Herausforderung zum Zweikampf, die dieser aber ablehnte. Darauf erhob v. Moltke Privatklage. Auch ein General des Gardekorps fiel damals in Ungnade, weil er es angeblich an der nötigen Aufmerksamkeit bezüglich dieser Vorgänge habe fehlen lassen.

Es wurde nämlich bekannt, daß der Kommandeur der Leibschwadron des Gardekorps, Rittmstr. Graf v. Lynar, seinen Burschen in unzüchtiger Weise attackiert hatte. Der Bursche ersuchte eines Tages den Wachtmeister der Schwadron, ihn abzulösen, da ihm die Behandlung, die er seitens des Grafen erfahre, nicht passe. Nanu, sagte der Wachtmeister, der Graf ist doch herzensgut. Ja, er ist eben zu gut, versetzte der Bursche, deshalb wünsche ich abgelöst zu werden. Dadurch kamen die Verfehlungen des Grafen zur Kenntnis seiner vorgesetzten Behörde.

Der Reichskanzler Fürst v. Bülow hatte es sehr bedauert, daß einer seiner tüchtigsten und begabtesten Beamten, gewissermaßen seine rechte Hand, der Geh. Legationsrat und Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, außerordentlicher Gesandter und Minister Paul v. Below-Schlatau aus ähnlichen Gründen, wie die von Harden genannten Herren sich genötigt sah, seinen Abschied zu nehmen. Die Verabschiedung war wohl mit der gesetzlichen Pension, aber ohne Ordensverleihung und Rangerhöhung erfolgt. Die Ausscheidung dieses hohen Beamten soll für das Reich einen großen Verlust bedeutet haben. Zu der Liebenberger Tafelrunde gehörte, wie bereits erwähnt, der französische Botschafts-Attaché Lecomte. Der junge, nette Attaché der hiesigen französischen Botschaft, Monsieur Lecomte, war von seiner Regierung abberufen worden, da über sein Leben in der deutschen Reichshauptstadt Dinge bekannt wurden, die dem Vertreter einer Großmacht nicht gut anstanden. Monsieur Lecomte machte aus seiner anormalen Veranlagung keinerlei Hehl. Er soll eine vollständige Abneigung gegen das „schöne Geschlecht“ zur Schau getragen haben. Andererseits war er aber ein sehr lebenslustiger Herr und in den ihm verwandten Kreisen eine sehr bekannte Persönlichkeit. In den Bierlokalen, Kaffees usw., in denen diese Leute verkehren, soll der Attaché vielfach anzutreffen gewesen sein. Bekanntlich gibt es derartige Lokale in allen Stadtgegenden Berlins. Auch im Berliner Tiergarten, in dem insbesondere an schönen Sommerabenden eine gewisse Prostitution sich breit macht, soll der Attaché vielfach gesehen worden sein. Er war jedoch nur unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Deutschland abberufen worden, bei seiner Regierung war er nicht in Ungnade gefallen. Einmal hat man in Frankreich, wo es bekanntlich eine Gesetzesbestimmung, entsprechend dem § 175 des StGB. nicht gibt, eine freiere Auffassung über derlei Dinge und andererseits soll Monsieur Lecomte ein außergewöhnlich begabter Diplomat sein. Er hat hier eine Zeitlang die Geschäfte des Botschafters vertretungsweise geführt. Ganz besonders wurde es ihm in Frankreich als Verdienst angerechnet, daß es ihm durch seine Beziehung zu dem Fürsten Philipp zu Eulenburg gelungen war, in persönlichen, freundschaftlichen Verkehr mit dem Deutschen Kaiser zu treten und somit die persönlichen Ansichten des Kaisers zu erfahren. Er wurde sehr bald zum ordentlichen Botschafter erhoben und als Vertreter Frankreichs an einen außereuropäischen Staat gesandt.

Am 23. Oktober 1907 begann vor der 148sten Abteilung des Schöffengerichts am Amtsgericht Berlin Mitte der Privatbeleidigungsprozeß des Grafen Kuno v. Moltke wider den Schriftsteller Maximilian Harden, den, der begreiflicherweise in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt wurde. Die Verhandlungen fanden unter ungeheurem Andrange im kleinen Schwurgerichtssaale des alten Moabiter Gerichtsgebäudes statt. Den Vorsitz führte Amtsrichter Dr. Kern. Die Parteien waren persönlich erschienen. Graf Moltke hatte selbstverständlich Zivilkleidung angelegt. Sein Rechtsbeistand war Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin). Als Verteidiger des Angeklagten Harden war Justizrat Bernstein aus München erschienen. Der Verhandlung wohnte zum großen Teil Amtsgerichtspräsident Dr. Herzog bei. Auch der zweite Sohn des Kaisers, Prinz Eitel Friedrich, soll einige Male inkognito im Zuhörerraum gewesen sein. Der Vorsitzende teilte mit: Vom Gericht sind als Zeugen geladen: Reichskanzler Fürst v. Bülow, der Chef des Militärkabinetts v. Hülsen-Häseler und Graf v. Lynar. Diese drei Zeugen sind verhindert, die beiden ersten wegen Abwesenheit von Berlin, der letztere wegen Krankheit.

Anwesend waren als Zeugen: Frhr. Alfred v. Berger, der Leiter des Hamburger Deutschen Schauspielhauses, Frau Lili v. Elbe, geschiedene Gräfin Kuno v. Moltke, die als Sachverständige geladenen Dr. med. Magnus Hirschfeld und Dr. med. Merzbach. Ferner als Zeugen: Chefredakteur Dr. Paul Liman, Herr v. Meyerinck, Kapitänleutnant a.D. Graf Ernst v. Reventlow, Kammerherr Graf Edgar v. Wedel, Oberstleutnant leutnant a.D. Graf Otto von Moltke, Justizrat Dr. Sello, die Kriminalkommissare Walter v. Tresckow und Dr. Kopp, Prinz Biron von Curland, Schriftsteller Victor Hahn, Leutnant Wolf v. Kruse. Außerdem waren noch von der Verteidigung geladen mehrere Unteroffiziere, zwei Kassenboten, der Dompteur Thielbach, der Standartenträger Max Moldenhauer. Ausgeblieben war Fürst Philipp zu Eulenburg. Für diesen gab sein anwesender Hausarzt, Sanitätsrat Dr. Gennerich die Erklärung ab, daß der Fürst trotz seiner Krankheit nach Berlin gekommen, aber nicht in der Lage sei, an Gerichtsstelle zu erscheinen. Er sei bereit, sich in seiner Wohnung, Königin-Augustastraße 42, vernehmen zu lassen. Ausgeblieben waren ferner die von den Parteien geladenen Zeugen Graf Fritz Eulenburg, Frau Emmy v. Heyden, geb. Gräfin Wartensleben, Generalleutnant a.D. Graf Wilhelm Hohenau, Graf Fritz Hohenau, französischer Botschaftsrat Lecomte. Auf den von klägerischer Seite geladenen Grafen Danckelmann war verzichtet worden; statt seiner war Gräfin Hertha v. Danckelmann erschienen. Der Angeklagte Maximilian Harden gab auf Befragen an: Ich bin 1861 in Berlin geboren, evangelischer Konfession, zweimal wegen Majestätsbeleidigung mit je sechs Monaten Festung und mehrere Male wegen Beleidigung durch die Presse zu Geldstrafen verurteilt. Seit 15 Jahren bin ich Herausgeber der „Zukunft“.

Auf die Frage, ob er die Verantwortung für die zur Anklage stehenden Artikel übernehme, antwortete Harden: „Selbstverständlich!“

Justizrat Bernstein teilte mit: Es seien von der Verteidigung noch mehrere Zeugen, unter diesen General v. Kessel und General Graf v. Wartensleben geladen. Nach Verlesung der inkriminierten Artikel fragte der Vorsitzende den Angeklagten: Haben Sie behaupten wollen, daß der Kläger homosexuell veranlagt ist?

Angekl.: Ich habe mit den Artikeln einen politischen Zweck verfolgt. Deshalb habe ich beiläufig auch die Person des Privatklägers erwähnt. Ich habe nicht ein Wort mehr gesagt, als mir zur Erreichung dieses Zweckes notwendig erschien. Ich habe nie ein Wort von dem, was ich gesagt habe, zurückgenommen und werde nie ein Wort zurücknehmen. Nach meiner Überzeugung ist der Vorwurf homosexueller Veranlagung nicht erhoben. Was ich darüber denke, werde ich sagen, wenn ich darum gefragt werde. In diesen Artikeln habe ich nichts davon gesagt, sondern nur, daß nach meiner Überzeugung, die ich beweisen werde, Graf v. Moltke abnorme sexuale Empfindungen hat.

Vors.: Was verstehen Sie darunter?

Harden: Ich unterscheide – mit der Wissenschaft – zwischen anormalem Empfinden und homosexuellen Neigungen. Es ist ein großer Unterschied, ob diese Veranlagung so weit geht, daß sie zu widernatürlicher Betätigung hinneigt, oder ob die Betreffenden nur anormales Empfinden haben, ungesunde Empfindungen, die der Normalität widersprechen. Wenn ich von einer Frau sage, sie ist etwas sinnlich veranlagt, so ist damit nicht gesagt, daß sie diese Sinnlichkeit auch nach außen hin betätigt.

Vors.: Wollen Sie sagen, daß ein Heterosexueller auch diese Abnormität besitzen könnte, von der Sie sprechen?

Harden: Es gibt da ungemein verschiedene Nuancen. Ich möchte unterscheiden zwischen dem, was hier gesagt ist, und was ich glaube. Ich habe ja nicht nötig, und ich mache mir ein Verdienst daraus, nicht mehr von diesen Dingen zu erwähnen, als unbedingt zur Charakteristik einer Gruppe notwendig wäre, nicht ein Wort mehr, das wäre taktlos und unanständig gewesen. Ich persönlich habe nach allem, was mir bekannt ist, über den Herrn Privatkläger die Meinung, daß er zweifellos ein vollkommen abnorm empfindender Mann ist. Ich sehe darin keine Beleidigung, sondern nur eine Konstatierung und werde beweisen, daß ich die Überzeugung haben mußte, und daß dem Herrn Privatkläger bekannt war, warum ich die Überzeugung haben mußte.

Vors.: Jedenfalls sind Sie der Ansicht, daß Sie eine Betätigung der Homosexualität nicht behauptet haben?

Harden: Mit keiner Silbe.

Vors.: Welche Stellung haben Sie bisher in der „Zukunft“ eingenommen in bezug auf die Abschaffung des § 175?

Harden: Ich habe vor Jahren, als der Fall des Grafen Wilhelm H. vorkam, darüber geschrieben und gesagt, die Aufrechterhaltung des § 175 habe keinen Zweck mehr. Ich habe dann Fachmänner gebeten, über die Frage in der „Zukunft“ zu schreiben, und habe mich immer für die Abschaffung des § 175 ausgesprochen.

Vors.: Würden Sie nicht einen Widerspruch darin erblicken, wenn Sie den § 175 bekämpfen und trotzdem jemand deshalb angreifen, weil er gegen diesen Paragraphen verstößt. Würden Sie aus diesem Grunde nicht auch bei politischen Gegnern Verstöße gegen diesen Paragraphen nicht erwähnen?

Harden: Ja, ich habe das getan und nichts davon erwähnt. In dieser Gruppe sind die Personen, die sich der schwersten homosexuellen Delikte schuldig gemacht haben. Dieses Material ist seit Jahresfrist in meinen Händen. Ich kann das beweisen und hier beweisen. Habe ich je davon gesprochen? Nie! Und wenn ich solche Delikte von dem Privatkläger behauptet hätte, dann wäre ja der Angriff unanständig gewesen. Bin ich ein Denunziant? Habe ich die Absicht, ihn ins Gefängnis zu bringen? Habe ich ein Wort vom Grafen Hohenau gesagt?

Justizrat Dr. v. Gordon: Vielleicht äußert sich der Beklagte bestimmt, ob er bezüglich des Grafen Moltke irgendein Vergehen gegen den § 175 behaupten will?

Harden (erregt): Ich bin es müde, darauf Erklärungen abzugeben, ich habe hundertmal Erklärungen abgegeben. Ich werde beweisen, daß Graf Moltke sexuell abnorm ist. Ich denke nicht mehr daran, Erklärungen abzugeben. Solange ich Politiker war, konnte ich die Hand zum Vergleich bieten, jetzt als Beklagter nicht mehr. Ich habe niemals behauptet, daß Graf Moltke sich geschlechtlich strafbarer Handlungen schuldig gemacht habe. (Mit erhobener Stimme): Ich kenne die Geschichte der Ehe und Ehescheidung des Privatklägers seit fünf Jahren in allen Details, ich weiß, daß der Privatkläger seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seinem Vater gegenüber sich stets darauf berufen hat, daß er absonderliche Gefühlsempfindungen hat. Ich habe in den Artikeln aber mit keinem Atom auf Geschlechtshandlungen des Privatklägers hingewiesen.

Justizrat Dr. v. Gordon: In einer früheren „Zukunft“, Nr. 39 vom Jahre 1902, hat der Beklagte, ohne irgendwie politisch genötigt worden zu sein, Anspielungen spielungen auf die Eheaffäre des Grafen Moltke gemacht; durch die er versucht hat, den Grafen lächerlich zu machen.

Justizrat Bernstein: Ich muß gegen die Verlesung dieses Artikels protestieren. Der Herr Privatkläger wird doch nicht erst seit heute morgen Kenntnis von diesem Artikel erhalten haben, sondern schon lange vorher. Er hat aber nie irgendwie darauf Bezug genommen, deshalb bitte ich, von der Verlesung Abstand zu nehmen. Ich erkläre im übrigen: Herr Harden hat niemals den Grafen Moltke persönlich angegriffen, sondern sich nur mit ihm als Mitglied eines Freundeskreises beschäftigt. Diesem gehörten die Herren Lecomte, Graf Hohenau, Fürst Philipp Eulenburg und Graf Moltke an. Ich behaupte, daß besonders Herr Graf Hohenau mit dem Privatkläger befreundet ist.

(Graf Moltke schüttelnd verneinend den Kopf.

Harden: Nicht?

Na, es wird sich schon noch finden!) Es wird sich nun fragen, will der Herr Kläger behaupten, dieser Freundeskreis gehe ihn überhaupt nichts an, er habe sich um die Dinge, die um ihn vorgingen, überhaupt nicht gekümmert oder nichts von intimeren Dingen gewußt, oder will er behaupten, daß die von Harden gemachten Vorwürfe gegen diesen Freundeskreis überhaupt unzutreffend und aus der Luft gegriffen sind, oder will er endlich, wie es schon in einem Schriftsatz in höchst verletzender Weise geschehen ist, behaupten, daß Harden aus reiner Sensationslüsternheit gehandelt hat?

Justizrat Dr. v. Gordon: Mein Mandant kennt eine solche Gruppe überhaupt nicht. Es gibt eine solche Gruppe in der Form, wie es von Harden behauptet wird, überhaupt nicht. Es besteht nur eine Freundschaft zwischen dem Grafen Moltke und dem Fürsten Eulenburg. Diese Freundschaft ist aber klar und rein wie die Sonne. Mit dem Grafen Hohenau besteht überhaupt keine nähere Freundschaft. Es handelt sich bei dem Grafen Moltke und dem Grafen Hohenau um Beziehungen, die selbstverständlich nur mit den amtlichen Stellungen der beiden Herren zusammenhängen. Beide gehören zu den sechs Flügeladjutanten Seiner Majestät und sind hierdurch in einen näheren Kontakt gekommen. Herr Lecomte ist dem Privatkläger vollkommen fremd, ebenso wie ein Herr v. Below, der von Herrn Harden in neuester Zeit in den angeblichen Freundeskreis hineingezogen worden ist. Herr Graf Moltke hat mit mir zusammen erst aus dem Adreßbuch etwas Näheres über Herrn v. Below erfahren. (Mit erhobener Stimme): Es existiert kein Kreis, kein Grüppchen und auch keine Kamarilla. Die Taktik der Gegner ist, alle möglichen Menschen in die Sache hineinzubringen und in irgendeine Beziehung zu dem § 175 zu bringen. Ich kann nur nochmals erklären, die Freundschaft des Grafen Moltke zu dem Fürsten Eulenburg steht turmhoch über derartigen Verdächtigungen.

Harden: Alles, was hier gesagt ist, ist unrichtig. Graf Hohenau ist diesem Privatkläger durchaus nicht fremd. Er ist seit Jahren mit ihm in unmittelbarer Nähe Sr. Majestät gewesen, und er ist ja auch mit ihm verwandt. (Der Privatkläger rief: Aber sehr entfernt!)

J.-R. Dr. v. Gordon: Wenn der Angeklagte noch gegen 200 Leute Vorwürfe erhebt, so kümmert mich das gar nicht. Mich kümmert hier nur der Privatkläger Graf v. Moltke. Sie hätten Recht, wenn Sie gesagt hätten, es besteht eine Kamarilla, in der perverse Neigungen herrschen, und zu dieser Kamarilla gehört der Privatkläger. Ich habe aber dieses Band zerschnitten und behaupte nochmals: Diese Gruppe existiert nicht, und Graf von Moltke steht völlig rein da!

Vors.: Herr Privatkläger, wollen Sie sich auch dazu äußern?

Privatkläger Graf von Moltke: Ich kann nur wiederholen, daß ein solcher Kreis nicht existiert und gar nicht existieren kann! Denn dieser Kreis ist gedacht in der Umgebung der Allerhöchsten Person, und zwar in der allernächsten Umgebung. Ein solcher Kreis existiert nicht. Meine Freundschaft mit dem Fürsten Eulenburg besteht schon seit jungen Jahren und hat mit perversen Dingen absolut nichts zu tun.

Harden: Fürst Philipp Eulenburg, Graf Hohenau und Herr Lecomte stehen ja doch dem Privatkläger sehr nahe. Was ist also darüber zu reden, ob ein solcher „Kreis“ besteht?

Der Privatkläger bestritt, daß es ein Freundeskreis war.

Justizrat Bernstein: In dieser Gruppe sind verschiedene Stufen der Homosexualität vertreten. Niemals hat der Angeklagte angedeutet, daß der Privatkläger mit aktiver Betätigung homosexueller Neigungen hervorgetreten ist. Der Angeklagte wird beweisen, daß der Privatkläger in geschlechtlichen Dingen nicht so fühlt, wie die Mehrzahl deutscher Männer denn doch noch fühlt. Bezüglich des einen Herrn dieser Gruppe ist zu behaupten, daß er seine homosexuelle Wesensart in Handlungen schwerster Art umgesetzt hat. Und wenn der Privatkläger einer Gruppe angehört, zu der auch dieser Herr gehört, so kann der Angeklagte nicht bestraft werden, wenn er aus diesen Vorkommnissen solche Schlußfolgerungen zieht. Hat der Privatkläger gewußt, daß Graf Hohenau so ist, wie er geschildert worden ist, oder hat er wenigstens davon gehört?

Graf u. Moltke: Ich habe das niemals gewußt. Es war mir absolut nicht bekannt. Ich bestreite es.

Harden: Ich muß die Bemerkungen des Privatklägers gers als unrichtig bezeichnen. Platzmajor Ernst v. Hülsen und General von Kessel werden bekunden, daß dem Privatkläger die Verfehlungen des Grafen Hohenau bekannt waren, und sie ihm gesagt haben, es sei nicht recht von ihm, daß er nicht auf vorgeschriebenem Wege von diesen Verfehlungen Kunde gegeben habe.

Vors.: Herr Privalkläger! Der Angeklagte behauptet, Sie hätten eine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht? Ist das richtig?

Graf v. Moltke: Dann hätte ich wohl nicht geheiratet.

Justizrat Bernstein: Herr Harden kennt die Ehescheidungsakten des Grafen v. Moltke ganz genau. Durch Zeugen wird eidlich bekundet werden daß Graf Kuno v. Moltke nicht einmal, sondern unzählige Male gesagt hat: Die Ehe ist eine Schweinerei, ich lebe nicht für meine Frau, sondern für meine Freunde, das gemeinsame Schlafzimmer ist nur eine Notzuchtsanstalt. Das alles war Herrn Harden bekannt, und so ist es doch nicht auffällig, daß er aus dieser seiner Kenntnis der Dinge zu seinen Schlußfolgerungen gekommen ist.

Justizrat Dr. v. Gordon: Daß dem Angeklagten die geschiedene Ehefrau des Privatklägers derartige Dinge mitgeteilt hat, gebe ich ja zu aber er muß sich doch klar sein, welcher Wert den Äußerungen einer unglücklichen Frau, die in der Ehescheidung steht, beizumessen ist. Die Ehescheidung hat auf Antrag des Mannes stattgefunden, und die Frau ist als der schuldige Teil erklärt worden. Ich verstehe es, und es erscheint entschuldbar, wenn die Frau die Empfindungen hat, daß der Ehemann nicht so sexuell beschaffen ist, wie sie sich gedacht hat. Ein Mann kann gewiß für Frauen schwärmen und doch aus ganz bestimmten Gründen und Veranlassungen gegen eine Frau, die seine Ehefrau geworden, Abneigung haben.

Justizrat Bernstein: Es ist wahr, daß die Ehe des Grafen v. Moltke geschieden ist auf Antrag des Klägers, weil er behauptet hat, daß seine Ehefrau sich schwerer Beleidigungen gegen ihn schuldig gemacht habe. Ich werde erweisen, was die Wahrheit in dieser Beziehung ist.

Justizrat Dr. v. Gordon: Die Ehe des Grafen Moltke ist im März 1896 geschlossen worden. In den Ehescheidungsakten ist deutlich hervorgehoben, daß bis zum November 1897 ein ehelicher Verkehr stattgefunden hat. Daraus geht schon das Gegenteil hervor von dem, was Herr Harden hier vorgebracht hat. Die damalige Gattin hat alle möglichen schweren Beschuldigungen gegen den Kläger erhoben, die ins Ungeheuerliche gingen. Bemerken will ich jedoch, daß die geschiedene Gattin des Grafen damals infolge einer Trionalvergiftung ihrer Sinne nicht mächtig war.

Harden: Ich will zur Vereinfachung der Sache etwas beitragen. Der Herr Kläger behauptet, daß ich durch die jetzige Frau v. Elbe persönlich Informationen erhalten habe. Ich erkläre, daß dies nicht richtig ist. Ich bin dagegen bereit, eine der höchsten Personen des Landes zu nennen, die sich über die hier in Frage kommenden Dinge in der krassesten Weise ausgelassen hat. Ich habe mich für die geschiedene Gattin des Herrn Grafen, die ich in einer Gesellschaft bei Geheimrat Schweninger kennengelernt hatte, nur deshalb interessiert, weil ich fand, daß gegen die Dame mit Mitteln gekämpft wurde, für die sie als Frau zu schwach war. Die Dame hat nie versucht, mich gegen ihren geschiedenen Gatten aufzuhetzen. Erst nach langer Zeit habe ich bei einem hiesigen Anwalt die Akten in der Ehescheidungssache eingesehen, allerdings auf Wunsch der Dame. Da erst hatte sich mein Gesichtskreis nach einer gewissen Richtung hin erweitert. Ich bin nun fünf Jahre im Besitze der Kenntnis dieser Dinge gewesen. Wenn ich die Absicht gehabt hätte, dem Herrn Kläger irgendwie zu schaden, dann hätte ich längst schon irgendeine geringe, aber nach jeder Richtung hin erweisliche Tatsache in meiner Zeitschrift bringen können. Herr Graf Moltke hätte dann unbedingt die Uniform ausziehen müssen. Ich habe es nicht getan. Ich habe nur dagegen gekämpft, daß die Interessen des Privatklägers durch den ihm befreundeten ten Fürsten Eulenburg in der Nähe der höchsten Person des Landes in einer Weise wahrgenommen werden, die leicht eine Bevorzugung eines Günstlings genannt werden kann.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich muß ganz entschieden Verwahrung dagegen einlegen, daß hier Herr Harden behauptet, es befänden sich in den Ehescheidungsakten Dinge, durch die Graf Moltke genötigt gewesen wäre, seine Uniform auszuziehen. Ich erkläre dies für unwahr.

Harden: Die Frage ist klipp und klar: Ist Frau v. Elbe meineidig oder nicht, ist der Sohn meineidig? Mir ist es gleichgültig, wie der Prozeß verlaufen wird. Sind diese Personen, die die gravierendsten Tatsachen für die Abnormität des Privatklägers behaupten, meineidig oder nicht? Ich bitte, sie zu vernehmen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Herr Harden vergißt, daß es noch feinere Unterscheidungen gibt als Meineid oder nicht.

Justizrat Bernstein: Ich bitte das Gericht, die genannten Zeugen zu vernehmen. Der Kläger hat vorhin erwähnt, daß eine Zeugin der geschiedenen Gräfin Moltke zur Last gelegt hat, sie hätte in Pariser Blättern den Kläger unmöglich machen wollen. Von dieser Zeugin habe ich einen Brief erhalten, in dem sie sich jetzt auf die Gegenseite stellt. Eine solche Zeugin hat doch wenig Wert!

Harden: Mir kommt es auf die Feststellung an, daß mir seit fünf Jahren Tatsachen und Äußerungen bekannt sind, von denen jede einzelne genügen würde, den Herr Privatkläger in der schwersten Weise zu schädigen, da sie erweislich wahr sind. Nichts davon habe ich benutzt. Ich habe, als die Dinge sich politisch und nach der Seite der Sexualität so gesteigert hatten, daß mir nach ernstesten Erwägungen ein Einschreiten nötig schien, in der taktvollsten Weise nur soviel gesagt, wie ich sagen mußte. Ich halte die Freundschaft des Privatklägers mit dem Fürsten Eulenburg für eine erotisch betonte, aber nicht für eine, die sich in Handlungen umsetzt.

Vors.: Herr Beklagter, haben Sie nicht das Bedürfnis, dem Herrn, der Ihnen gegenübersteht, der in den schlimmsten Verdacht gekommen ist, vor aller Welt eine Erklärung abzugeben, daß Sie sagen: ich will ihm eine strafbare Handlung nicht zur Last legen. Ich will von ihm auch nur behaupten, daß er in ungewöhnlichem Maße dem weiblichen Geschlechte abhold ist. Meine Schuld ist es nicht, daß diese Artikel so falsch aufgefaßt worden sind. Aber ich gebe zu, diese Artikel sind etwas zweideutig. Deshalb würde ich mich bereit finden, im Interesse des ganzen Landes hier einen Vergleich zu schließen?

Harden: Ich würde zu meinem Bedauern auf diese Anregung nicht eingehen können. Zwischen Graf Moltke und mir gibt es auf dieser Erde keine Möglichkeit eines Vergleichs. Niemals! Ich würde lieber ins Zuchthaus gehen, ehe ich mich mit ihm vergleiche, und zwar aus zwei Gründen: Der erste Grund ist: ich konnte als Politiker im Interesse des Landes die Möglichkeit eines Vergleichs haben. Der Herr Kläger hatte einen Verwandten zu mir geschickt. Als Angeklagter kann ich einen Vergleich nicht mehr eingehen. Ich kann nicht den Schein erregen, als hätte ich hier irgend etwas zu scheuen in dieser guten Sache, die ich gut vertreten habe, nach meinem Wissen so gut ich es kann. Als Angeklagter den Schein erregen, als wollte ich mich der Strafverfolgung entziehen, das tue ich nicht. Alles, was seit dem 11. Mai seitens des Privatklägers und seiner Freunde öffentlich und geheim, direkt und indirekt geschehen ist, macht mir unmöglich, auf einen Vergleich einzugehen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Auch für uns ist ein Vergleich unmöglich. Die ganze Welt hat die Artikel so aufgefaßt, wie sie der Kläger auffassen mußte.

Vors.: Halten Sie, Herr Beklagter, die Freundschaft des Klägers mit dem Fürsten Eulenburg für eine ideale unter Ausschluß geschlechtlicher Delikte?

Harden: Ich bin der Überzeugung, daß die beiden Herren keine Geschlechtshandlungen vorgenommen haben, bin aber auch der Meinung, daß die Freundschaft eine erotische Betonung hat. Denn, wenn der Kläger das Taschentuch seines Freundes an die Lippen drückt und ruft: „Phili, mein Phili!“ und wenn er ihm schreibt: „Meine Seele, mein Geliebter!“ so kann ich das nicht anders ansehen als eine erotische Betonung.

Im weiteren Verlaufe wurde die Bedeutung des bekannten Artikels der „Zukunft“ erörtert, in dem der „Harfner“ und der „Süße“ auftritt. Harden gab zu, daß mit dem „Süßen“ der Privatkläger gemeint war und nicht der Botschaftsrat Lecomte.

Der Privatkläger erklärte, daß er durch diese höhnische Art, in der er als der „Süße“ bezeichnet wurde, sich beleidigt fühle.

Harden machte dagegen darauf aufmerksam, daß der Privatkläger mit solchen Kosenamen, z.B. auch mit dem Namen „Tütü“ in seiner Familie bezeichnet worden ist.

Der Privatkläger erwiderte, er werde mit dem Namen „Tütü“ noch in der Erinnerung an seine Kindheit von zweien seiner Schwestern bezeichnet.

Harden: Bestreitet der Privatkläger, daß er Süßigkeiten gern ißt und beispielsweise Süßigkeiten, Pralines u. dgl. mit ins Theater zu nehmen pflegt, so daß man von ihm sagte: „Da kommt der Süße mit der Düte!“

Graf v. Moltke: Davon weiß ich nichts.

Harden: Wird bestritten, daß Graf Moltke Rot auflegt? legt?

Privatkläger: Ja, das wird bestritten.

Harden: Ist es für den preußischen General Graf Kuno v. Moltke eine Beleidigung, wenn er der „Süße“ genannt wird, während er durch den Kosenamen „Tütü“ nicht beleidigt ist? Es ist auch bereits vor langen Monaten zugegeben, daß die Herren Fürst Philipp zu Eulenburg und Graf Kuno v. Moltke, die untereinander von einem „Liebchen“ sprachen, mit diesem Worte die höchste Person im Lande zu bezeichnen für gut befanden. Das haben die Herren mir gegenüber zugegeben durch einen mir zugesandten Freund. Es wird wohl nicht behauptet werden, daß Fürst Eulenburg und Graf Kuno Moltke auch nur einen Augenblick im Zweifel darüber waren, was der Artikel von dem „Harfner“ und dem „Süßen“ zu bedeuten hatte. Sie wußten sehr genau, was es heißt, wenn gesagt wurde: „wenn er nur nichts davon erfährt.“ Darin sollte darauf hingedeutet werden, was die höchste Stelle im Lande wohl dazu sagen würde, wenn sie erführe, daß sie von dem Generaladjutanten mit dem Worte „Liebchen“ bezeichnet wird. Bei weiterer Erörterung der Bedeutung seiner Artikel blieb der Angeklagte dabei, daß er sich um die privaten Neigungen der Herren ganz und gar nicht kümmere, so lange sie nicht in die politische Sphäre übergreifen. Er habe sich doch auch nicht mit dem Grafen Wilhelm helm Hohenau oder mit noch höher betitelten Herren, die in Ungelegenheiten gekommen sind, beschäftigt. Der Verteidiger fragte den Privatkläger, ob er denn für Herrn Lecomte eintreten oder ob er erklären wolle, daß er sich in dessen Persönlichkeit geirrt habe.

Graf v. Moltke: Ich kenne diesen Herrn gar nicht näher, aber ich fühle mich beleidigt, daß ich immer in den Kreis gezogen werde, zu dem Herr Lecomte, der jetzt sexueller Verirrungen bezichtigt wird, gehört.

Justizrat Bernstein: Der Privatkläger, der der intimste Freund des Fürsten Philipp Eulenburg ist, hat als Generaladjutant des Deutschen Kaisers nicht verhindert, daß dieser Herr Lecomte dem Kaiser vorgestellt wurde. Fürst Philipp Eulenburg und der Mann, der sich mit Emphase dessen Freund nennt, hätten wohl die Pflicht gehabt, ehe sie die allerhöchste Person mit diesem Herrn in Verbindung brachten, sich über letzteren genau zu orientieren.

Justizrat Dr. v. Gordon trat diesen Ausführungen nachdrücklich entgegen. Wenn ein Botschaftsrat der französischen Botschaft auf der Jagd des Fürsten Eulenburg dem Deutschen Kaiser vorgestellt wurde, so kann doch der Privatkläger nicht die Verantwortung dafür tragen.

Der Angeklagte erklärte: Es ist doch unmöglich, zu sagen: Diese Herren gehen mich absolut nichts an, aber alles, was du über diese Herren gesagt hast, ist beleidigend für mich. Herr Lecomte ist auch dem Privatkläger keineswegs nur flüchtig bekannt. Wenn in kritischer Zeit höchster politischer Spannung, wo die Frage, ob Krieg oder Frieden auf des Messers Schneide stand, der Botschaftsrat der französischen Republik intim mit dem Kreise verkehrt, der mit dem Deutschen Kaiser in nahen Beziehungen steht – so sollte der General-Adjutant des Deutschen Kaisers keinen Grund haben, sich über die Person des Herrn Lecomte zu orientieren?

Graf Moltke: Es wurde ja über Herrn Lecomte gemunkelt, wie manchmal über jemand gemunkelt wurde und jetzt wohl über die meisten gemunkelt wird.

Harden: Also der Generaladjutant des Deutschen Kaisers hat munkeln hören, daß der Vertreter einer fremden Macht derartigen Neigungen huldigt, und er hat es geduldet, daß der Botschaftsrat in Verbindung mit dem Deutschen Kaiser gebracht wurde.

Privatkläger: Ich hatte gar keinen politischen Einfluß auszuüben.

Justizrat Dr. v. Gordon erklärte, daß jedermann aus den Artikeln den Vorwurf habe herauslesen müssen und auch herausgelesen habe, daß dem Privatkläger der Vorwurf der Päderastie gemacht werden sollte.

Harden bekämpfte diesen Gedanken mit großer Entschiedenheit unter nochmaliger Klarlegung seines politischen Zweckes, den er mit den Artikeln verfolgt habe. Er habe mit der äußersten Zurückhaltung nur das gesagt, was unbedingt notwendig war und hätte, wenn es ihm auf persönliche Beleidigungen angekommen wäre, hundertmal mehr sagen können.

Justizrat Dr. v. Gordon: Er werde nachweisen, daß das Wort ?Liebchen? in der harmlosesten Weise von der alten Gräfin Pourtalès in bezug auf den alten Kaiser Wilhelm in Anwendung gebracht und auch auf den jetzigen Kaiser gebraucht worden sei.

Harden schilderte den Besuch des Abgeordneten und Klosterpropstes Graf Otto v. Moltke, der ihm mitgeteilt habe, sein Vetter, der Kläger, habe ehrenwörtlich versichert, daß er keinen geschlechtlichen Umgang mit Männern gehabt habe. „Bei dieser Unterredung habe ich dem Vetter des Klägers verschiedene nähere Angaben gemacht, und der Herr Graf, Klosterpropst und Abgeordnete, hat aus dieser Unterredung, für deren Zustandekommen er mir noch dankbar war, die Grundlage für die Anklage gemacht; ich würde das nicht tun.“

Graf Moltke: Es ist mir nicht eingefallen, meinem Vetter ein Ehrenwort deswegen zu geben, damit er es Herrn Harden weitergibt.

Justizrat Bernstein: Ich weise darauf hin, daß sich der Kläger beim Lesen der Artikel gar nicht beleidigt gefühlt hat, sondern erst mit dem Tage, wo er beim Kaiser in Ungnade fiel.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich behalte mir vor, durch das Zeugnis des Herrn Grafen Otto von Moltke zu beweisen, daß der Angeklagte die Vorwürfe in seinen Artikeln in dem Sinne gemeint hat, wie sie der Kläger aufgefaßt hat, daß der Beklagte dabei nicht an harmlose, sondern an recht schwerwiegende Dinge dachte. Die Behauptung, ein Soldat empfindet normwidrig, ist schon geeignet, ihn herabzusetzen; der Beklagte ist aber noch viel weiter gegangen.

Es kam alsdann zu längeren Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern beider Parteien über die Zulässigkeit der Vernehmung verschiedener vom Beklagten vorgeschlagenen Zeugen. Justizrat Dr. v. Gordon wendete sich besonders gegen die Vernehmung der geschiedenen Gräfin Moltke, die unter den Folgen einer Trionalvergiftung gelitten habe.

Justizrat Bernstein: Die Gräfin hat nicht unter Trionalvergiftung, sondern unter der Behandlung durch ihren Gemahl gelitten. Wenn dem Grafen Kuno Moltke vor ganz Deutschland der Vorwurf gemacht wurde, er habe die Ehe eine „Schweinerei“, die Frauen „Klosetts“ und das Ehebett eine „Notzuchtanstalt“ genannt, so sollte er doch selbst ein Interesse an der Zurückweisung dieser Vorwürfe haben und sich nicht gegen die Zeugenvernehmung sträuben.

Justizrat Dr. v. Gordon: Wir sträuben uns gegen die Zeugenvernehmung, weil wir keinen Schmutz waschen wollen.

Nachmittags erklärte der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Beweis, ob der Privatkläger dem weiblichen Geschlecht besonders abgeneigt ist, zuzulassen und zunächst die geschiedene Frau des Grafen v. Moltke zu vernehmen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich stelle dann den Antrag, die Öffentlichkeit auszuschließen, da hier geschlechtliche Dinge zur Sprache kommen werden, die geeignet sind, die öffentliche Sittlichkeit zu gefährden.

Vors. Amtsrichter Dr. Kern: Ich weiß gar nicht, weshalb gerade der Privatkläger zu diesem Antrage kommt. Er behauptet doch, daß die geschiedene Gattin nach keiner Richtung etwas aussagen werde, was ihm schaden könne.

Der Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit wurde abgelehnt.

Zeugin Frau Lili v. Elbe, geb. v. Heyden, geschiedene Gräfin Moltke, eine schlanke, hübsche Blondine, 39 Jahre alt, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, ob der Privatkläger dem weiblichen Geschlecht besonders abhold ist: Ja, meine persönliche Ansicht ist, daß Graf Moltke dem weiblichen Geschlecht sehr abgeneigt ist.

Justizrat Bernstein: Ist es richtig, daß, als der Graf Moltke von der Reise zurückkam, er mit Beziehung auf das gemeinschaftliche Schlafzimmer äußerte: Das ist ja die reine Notzuchtsanstalt! Wochenlang habe ich, Gott sei Dank, keine Weiber gesehen!

Zeugin (mit zitternder Stimme): Ja, das ist wahr!

Vert. Justizrat Bernstein: Ist es richtig, daß Graf Moltke Ihnen wiederholt erklärt hat, und zwar in Gegenwart ihrer Mutter: Die Ehe ist eine Schweinerei – und zwar soll er das nicht in dem Sinne gesagt haben, daß eine Ehe ohne Liebe eine Schweinerei sei, sondern die Ehe als Institut überhaupt.

Zeugin (bewegt): Ja, auch das ist wahr.

Vert.: Hat er nicht den Ausdruck gebraucht, als es sich um eine Frau handelte, die in anderen Umständen war?

Zeugin: Ja.

Vert.: Hat der Graf Moltke nicht zu Ihnen selbst, seiner Frau, gesagt: eine Frau ist für ihren Mann nicht mehr als ein Klosett, was bist du denn anderes?

Zeugin (mit weinerlicher Stimme): Ja, er hat sich so ausgedrückt.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß der Privatkläger Männerverkehr pflegt?

Zeugin: Ich weiß nur, daß Graf Moltke seine Freunde über alles liebt. Eines Tages hatte Graf Philipp Eulenburg nach einem Besuch sein Taschentuch im Zimmer Graf Moltkes vergessen. Als Graf Moltke das Tuch fand, drückte er es inbrünstig an die Lippen und sagte: „Meine Seele, meine Liebe!“ Von seinen Freunden sprach er oft schwärmerisch, er war zu ihnen viel zärtlicher als zu seiner Gattin und belegte Phili Eulenburg mit Kosenamen wie: „meine Seele, mein Alterchen, mein einziger Dachs.“ Den ehelichen Verkehr gab er schon zwei Tage nach der Hochzeit auf; er begründete das damit, sein Freund Graf Eulenburg habe es gewünscht. Eulenburg sagte auch zu mir: „Geben Sie den Freund frei, geben Sie mir den Freund zurück.“ Darauf antwortete ich: „Graf Eulenburg, würden Sie das von Ihrer Tochter auch verlangen?“ Eulenburg erwiderte: „Meine Tochter hätte ich nie mit Kuno verheiratet.“

Auf Befragen des Justizrats Dr. v. Gordon erklärte die Zeugin weiter: Sie habe in ihrer Verzweiflung oft geweint und hätte sich öfter gegen Mißhandlungen ihres Gatten wehren müssen. Graf Moltke habe ihr erklärt, jeder Mensch habe seine besondere Mission von Gott, er selbst habe die Mission, seiner Gattin Leiden zu bereiten. Gegen die Scheidung habe sie sich gesträubt.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ist es richtig, daß Sie wegen übermäßigen Genusses von Trional während Ihrer Ehe außerordentlich nervös waren?

Frau v. Elbe: Mir war Trional verschrieben worden, und ich bin infolgedessen erkrankt. Das war aber erst, als der Graf von Berlin zurückkam.

Justizrat Bernstein: Haben gnädige Frau nicht zu Ihrem Gatten kurz vor der Scheidung gesagt: „Was wird denn bloß Majestät dazu sagen, wenn wir so auseinander gehen und uns scheiden lassen.“ Ihr früherer Gatte soll darauf geantwortet haben: „Majestät wird gar nichts sagen können, denn Seine Majestät wird nur das erfahren, was ich will. Dafür werde ich sorgen!“

Zeugin: Jawohl, das hat er gesagt.

Justizrat Bernstein: Hat Graf Moltke nicht ein anderes Mal gesagt: „Du bist mir nicht als Mensch zuwider, sondern nur, weil du ein Weib bist?“

Zeugin: Das stimmt ebenfalls.

Justizrat Bernstein: Hat Ihr früherer Gatte nicht auch wiederholt gesagt, er stelle die Freundschaft zwischen Männern höher als die Liebe zum Weibe und alles andere?

Zeugin: Jawohl, das hat er mir wiederholt gesagt und mir auch zu verstehen gegeben.

Justizrat Bernstein: Herr Graf Moltke soll u.a. auch gesagt haben, wenn er erst geschieden sei, werde es ihm gelingen, als Flügeladjutant zum persönlichen Dienst in die unmittelbare Nähe des Kaisers zu kommen. „Phili“ braucht nämlich längst wieder jemand in der Nähe von Majestät, um über alles aus der allernächsten Umgebung des Kaisers genau informiert zu sein.

Zeugin: Jawohl, das hat Graf Moltke zu meinem Vater gesagt.

Justizrat Bernstein: Ist es richtig, daß sich Graf Moltke in Wien stundenlang in der Botschaft aufgehalten hat, und zwar mit dem damaligen Grafen Eulenburg zusammen. Diese Zusammenkünfte sollen auch mitunter bis in die Nacht gewährt haben.

Zeugin: Jawohl, mein damaliger Mann hat ständig mit Eulenburg zusammengelebt, obwohl wir in Wien wohnhaft waren. Die Schlafzimmer und sonstigen Räumlichkeiten waren auf Anordnung meines Mannes streng getrennt.

Justizrat Bernstein: An dem Weihnachtsabend in dem ersten Jahre Ihrer Ehe soll Graf Moltke sich gar nicht an der allgemeinen familiären Festlichkeit beteiligt, sondern einen schwärmerischen Brief an Eulenburg geschrieben haben. Hierbei soll er gesagt haben: „Das ist die schönste Weihnachtsfreude für mich, wenn ich an ?Phili? schreiben kann!“

Zeugin: Jawohl, das hat Graf Moltke getan und gesagt.

Justizrat Bernstein: Haben Sie, gnädige Frau, damals schon, als Sie noch nichts von geschlechtlichen Beziehungen zwischen Männern wußten, das Verhältnis Ihres Mannes zu Eulenburg als sonderbar bezeichnet?

Zeugin: Dieses süßliche Anhimmeln und Getue war mir stets ekelhaft.

Auf zahlreiche weitere Fragen des Justizrats Bernstein erklärte die Zeugin: Die Redeweise, in welcher Graf Moltke mit und von seinen Freunden sprach, war immer sehr sentimental und schwärmerisch. Ein Brief an den Fürsten Eulenburg habe mit den Worten begonnen: „Meine geliebte Seele!“ Richtig sei es auch, daß Graf Moltke mehrfach dienstlich seinen Aufenthalt in Peterwitz angegeben hat, während er tatsächlich in Liebenberg weilte. Die Zeugin bestätigte weiter auf Befragen des Verteidigers, daß Graf Moltke ihren Eltern, bei denen sie sich über das Verhalten ihres Mannes beschwert hatte, geantwortet habe: Er habe doch seiner Frau gleich von Anfang an ein Buch Tolstois gegeben, in welchem eine Ehe beschrieben wird, die eigentlich keine Ehe war.

Justizrat Bernstein: Sie haben also aus Äußerungen und dem Verhalten des Grafen Moltke den bestimmten Eindruck empfangen, daß Graf v. Moltke den Verkehr zwischen Mann und Weib nicht billigt?

Zeugin: Ja.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ist es richtig, daß Sie bald nach Ihrer Verlobung eine sehr aufgeregte Depesche nach Wien gerichtet haben, daß der Graf Moltke die Verlobung schon aufheben wollte, aber auf Ihr Bitten davon Abstand nahm? Die Zeugin schwieg.

Vert.: Ist Ihre Ehe überhaupt einmal eine Ehe gewesen?

Zeugin: Ich glaube nein!

Graf v. Moltke: Es ist sehr schwer für mich, darüber zu sprechen, denn es kommt mir da die Erinnerung zurück an trübe Zeiten meines Lebens. Wenn ich ein solches Scheusal von solcher Bestialität wäre und solche rohen Ausdrücke und Empfindungen bekundet hätte, so weiß ich nicht, warum die Frau nicht gleich am ersten Tage wieder von mir gegangen ist.

Zeugin: Darf ich das erklären? Graf Moltke war so sehr musikalisch, und das hat mich immer wieder gefesselt.

J.-R. Dr. v. Gordon: Ist es richtig, Frau Zeugin, daß Sie Ihrem damaligen Manne bei einer Szene den Kneifer und die Achselstücke herabgerissen haben?

Zeugin (weinerlich): Das habe ich nicht mit Fleiß getan, sondern mich nur gewehrt.

Harden: Die Mutter der Frau Zeugin, Frau v. Heyden, geb. v. Wartensleben, hat mir mitgeteilt, und zwar schon vor Jahren, in wie schwerer Weise die Zeugin in der Ehe gemißhandelt worden ist. (Zur Zeugin): Ist es richtig, daß sich der Privatkläger nachts manchmal eingeschlossen hat, damit Sie nicht den Raum, in welchem er schlief, betreten konnten?

Justizrat Dr. v. Gordon: Das ist richtig, der Privatkläger ist vor der Zeugin geflüchtet.

Harden: Ist es richtig, daß die Verkehrsformen mit dem Fürsten Philipp Eulenburg so waren, daß nicht nur die Frau Zeugin, sondern auch ihr damals zehnjähriger Sohn, der jetzige Leutnant Wolf v. Kruse aus Brandenburg a.d.H., davon so impressioniert war, daß er spielend einem Bediensteten gegenüber nachgemacht hat, wie sich diese beiden Herren angehimmelt haben?

Zeugin: Ja, das ist ganz richtig.

Harden: Hatte Graf v. Moltke, wenn er von dem jetzigen Fürsten Eulenburg getrennt war, diesem Berichte und Briefe zu schreiben über das, was der Deutsche Kaiser sagt und tut?

Zeugin: Graf Moltke hat mir selbst gesagt, daß er häufig Berichte an den Fürsten Eulenburg schicken müßte.

Harden: War der Botschafter Eulenburg nicht sehr indigniert darüber, daß Graf v. Moltke, anstatt in Berlin zu bleiben, nach Wien versetzt wurde? Glaubte er nicht, daß dies auf Sie zurückzuführen war?

Zeugin: Ja.

Harden: Ist es richtig, daß der Privatkläger gesagt hat: Wir haben einen Kreis um S.M. geschlossen, da kommt niemand hinein!

Zeugin: Das habe ich von meiner Mutter gehört.

Der nächste Zeuge, Leutnant Wolf v. Kruse vom 6. Kürassier-Regiment, der Sohn der geschiedenen Gräfin fin Moltke, wurde darüber befragt, ob er bemerkt habe, daß Graf Moltke eine Abneigung gegen das weibliche und eine Vorliebe für das männliche Geschlecht hatte.

Der Zeuge bekundete: Ich sah als Kind, wie Graf Moltke das Taschentuch Philipp Eulenburgs küßte und dabei rief: „Mein Geliebter, meine Seele!“ Ich war damals etwa zehn oder zwölf Jahre alt, aber mir kam dieses Benehmen eines Mannes schon ganz wunderlich vor.

Vors.: Haben Sie als Kind nicht auch ein Spiel gehabt, bei dem Sie den Verkehr des Grafen Moltke mit dem Grafen Eulenburg nachahmten?

Zeuge: Jawohl, wir machten das schwärmerische Anhimmeln der beiden Männer nach.

Justizrat Dr. v. Gordon: Es ist auffallend, daß dem Herrn Zeugen die Ereignisse aus seiner Kindheit noch so genau im Gedächtnis sind.

Zeuge: Ich habe ein sehr gutes Erinnerungsvermögen.

Graf Moltke: Aus der Aussage des Zeugen ergibt sich, daß ich mich in Gegenwart von Frau und Kind frei bewegt habe. Das beweist, daß ich kein schlechtes Gewissen hatte.

Harden: Werden die Aussagen über die Taschentuchaffäre von der Gegenpartei interpretiert oder bestritten?

Graf Moltke: Es handelte sich hierbei um einen kleinen harmlosen Scherz. Meine Frau saß an demselben Tische wie ich, und ich drückte scherzhaft Eulenburgs Taschentuch an die Lippen.

Justizrat Bernstein: Sie konnten doch Ihre Frau nicht mit dem Scherz erfreuen, daß Sie das Taschentuch Ihres Freundes an den Mund drückten.

Justizrat Dr. v. Gordon: Der Kläger wollte vielleicht mit dieser übertriebenen Schwärmerei die Befürchtungen der Frau hinsichtlich der Männerfreundschaft ins Lächerliche ziehen. Schon vor der Hochzeit war das Verhältnis zwischen dem Kläger und der Zeugin unhaltbar geworden und nur den Bemühungen der Frau v. Danckelmann gelang es, die Ehe doch zusammenzubringen. Frau v. Danckelmann hat sich deswegen Selbstvorwürfe gemacht. Das Verhalten der Zeugin ihrem Manne gegenüber war derartig, daß kein Mann der Welt mit ihr hätte glücklich sein können. In der fürchterlichsten Erregung hat sie ununterbrochen die Dienerschaft und ihren Mann gequält. Die Nächte waren ausgefüllt durch Szenen so furchtbarer Art, daß Graf Moltke oft flüchtete. Die Zeugen werden bekunden, daß dem Grafen oft von seiner Frau die Achselstücke von der Uniform gerissen und das Gesicht zerkratzt wurde. Der Kläger war bei diesen Szenen immer vornehm und ruhig. Ich benenne Fräulein Mille als Zeugin dafür, daß Frau v. Elbe sie beauftragt auftragt hat, in französischen Journalen ihren Gatten zu verleumden.

Vors.: Frau Zeugin, haben Sie vielleicht in dem Ehescheidungsprozeß aus prozessualen Gründen unrichtige Angaben über den ehelichen Verkehr mit dem Grafen Moltke gemacht? Der Herr Graf behauptet zum Beispiel, er habe bis zum Februar 1898 mit Ihnen in einem ehelichen Verkehr gestanden.

Zeugin: Der eheliche Verkehr hat, wie ich schon gesagt habe, tatsächlich nur zwei Tage gedauert. Der spätere „Verkehr“, von dem der Herr Graf spricht, hat lediglich darin bestanden, daß wir der Leute wegen in gemeinschaftlichen Zimmern wohnten.

Nach längeren Auseinandersetzungen zwischen den beiderseitigen Prozeßvertretern über diesen Punkt bat die Zeugin v. Elbe nochmals ums Wort: Ich bin so angegriffen worden in meiner Ehre als Frau und vor allen Dingen als frühere Gemahlin des Grafen Moltke. Ich kann nur sagen, ich bin vor dieser unglücklichen Ehe acht Jahre glücklich verheiratet gewesen und bin jetzt wieder seit vier Jahren ebenfalls sehr glücklich verheiratet.

Justizrat Dr. v. Gordon erklärte, daß dies doch nicht, wenigstens nicht in der letzten Zeit der ersten Ehe, der Fall gewesen sei.

Justizrat Bernstein: Der erste Gatte der Zeugin Frau v. Elbe war schwer krank, trotzdem war die Ehe glücklich. Wenn der Herr Privatkläger sich nicht veranlaßt fühlt, zu erklären, daß er seine frühere Gattin keinesfalls für meineidig hält, so mag er, wenn er es für gentlemanlike hält, alles tun, um die Aussage der Zeugin unglaubwürdig zu machen, um den für ihn vernichtenden Eindruck der Aussage zu verlöschen. Gelingen wird es ihm wohl nicht.

Graf Moltke, vom Vorsitzenden befragt, erklärte: Er wolle nicht behaupten, daß seine Frau hier vor Gericht bewußt die Unwahrheit gesagt habe. Das Bild der Ehe werde aber von ihr verzerrt. Er habe über 1 1/2 Jahre ehelichen Verkehr mit der Zeugin gehabt, diese habe aber durch ihr ganzes Verhalten und die vielen bösen Szenen, die sie aufführte, es dahin gebracht, daß schließlich jedes Gefühl für sie erloschen war. Bei der Zeugin haben Temperamente und Stimmungen gewechselt, sie war bald himmelhochjauchzend, bald zu Tode betrübt.

Vert. Justizrat Bernstein: Ich verweise darauf, daß im Juli 1898 der Vater der Zeugin seiner Tochter schrieb, sie möge sich überlegen, ob sie es über sich gewinnen könne, nach dem Wunsche des Grafen Moltke als schönes Märchen an seiner Seite dahin zu schweben. Ich frage außerdem die Zeugin, ob es richtig ist, daß Graf Moltke, um allen Annäherungen von ihrer Seite aus dem Weg zu gehen, sich oft angekleidet ins Bett gelegt hat.

Zeugin: Ja.

Graf v. Moltke bestritt dies entschieden.

Zeugin: Der Graf v. Moltke ist mit Unterbeinkleidern und Strümpfen ins Bett gegangen und hat manchmal neben sich eine Schüssel kaltes Wasser gehabt.

Graf v. Moltke: Ich habe zur Linderung meiner Nervenschmerzen, die ich infolge eines im Jahre 1870 erhaltenen Schusses habe, manchmal kalte Umschläge machen müssen.

Justizrat Dr. v. Gordon stellte hierauf eine Reihe Beweisanträge. Es sollen zahlreiche Zeugen vernommen werden, daß die unglückliche Gestaltung der Ehe des Grafen die Schuld der Zeugin gewesen sei, die oft recht häßliche Lärm- und Streitszenen aufgeführt und die Fortsetzung der Ehe unmöglich gemacht habe.

Der Gerichtshof lehnte diese Beweisanträge ab.

Justizrat Dr. v. Gordon stellte nunmehr den weiteren Antrag, den Klosterpropst v. Moltke darüber zu vernehmen, was der Angeklagte ihm in der mit ihm gepflogenen Unterredung mit Bezug auf die Artikel gesagt hat. Ebenso sollen nach dem Antrage des Sachwalters die Kriminalkommissare v. Tresckow und Dr. Kopp vernommen werden, wie in den weitesten Kreisen die Tendenz der Artikel aufgefaßt worden ist.

Harden: Ich widerspreche grundsätzlich nicht jeder beliebigen Beweisaufnahme. Ich wiederhole aber, daß ich all das, was hier zur Sprache gekommen ist und noch viel mehr seit fünf Jahren genau kenne, und wenn ich trotzdem mich so beschränkt und so wenig angedeutet habe, so ist es doch wohl überflüssig, noch Beweise darüber zu erheben, welchen Zweck ich verfolgte. Ich habe keinerlei Skandal machen wollen, sondern nur den Zweck verfolgt, daß die beiden Freunde Fürst Eulenburg und Graf Moltke aus dem Lichtkreise des deutschen Lebens verschwinden. Ich kann deshalb wohl sagen: causa finita!

Der Gerichtshof lehnte auch die neueren Beweisanträge des Privatklägers ab.

Am zweiten Verhandlungstage beantragte Justizrat Dr. v. Gordon, eine Anzahl Zeugen zu laden, die bekunden werden: Graf Moltke habe den Verkehr mit edlen Frauen direkt gesucht und im Verkehr mit solchen Frauen sich in jeder Beziehung ritterlich benommen. Namentlich habe Graf Moltke über Ehe und Familie stets eine tief ethische und hohe Auffassung bekundet. Bei seiner vornehmen, idealen Gesinnung sei es vollständig unmöglich, daß er sich in bezug auf Ehe und Familie in so unglaublicher, zynischer, herabwürdigender Weise geäußert haben könnte, wie die Zeugin Frau v. Elbe gestern behauptet habe.

Ferner wurde die Verlesung eines Briefes der Frau von Elbe aus der Zeit, wo schon die Ehe getrennt war, beantragt. Aus diesem werde hervorgehen, daß die Äußerungen, die sie hier über das Verhältnis zu ihrem Manne gemacht hat, unzutreffend sein müssen. In diesem Brief erkläre die Zeugin, daß sie große Reue über ihr ganzes Verhalten empfinde und schmeichelnde, liebevolle Worte hinzufüge, die beweisen, es sei unmöglich, daß eine Frau, die so schreibt, in der Weise behandelt sein könnte, wie sie gestern geschildert habe.

Justizrat Bernstein: Im Interesse des Beklagten muß ich den Beweis führen, daß die Behauptung der Klage, nicht politische, sondern andere Gründe hätten den Beklagten veranlaßt, die Artikel zu schreiben, falsch ist. Ich nehme für den Beklagten das, wofür die klägerische Partei ihn bestraft wissen will, als ein Verdienst um das deutsche Volk in Anspruch. Ich behaupte und will beweisen, daß der Beklagte mit diesen Artikeln Zustände bekämpft hat, die des Bekämpfens wert waren, Männer als Politiker zu vernichten gesucht hat, die als Politiker der Vernichtung wert waren, und daß es sein Verdienst ist, wenn diese Männer keinen politischen Einfluß mehr haben, wenn diese Zustände nicht mehr bestehen. Ein Merkmal dieser Zustände war es – und dafür will ich jetzt erst den Beweis erbringen – ein Merkmal dieser Zustände war es, daß die Herren, welche die allerhöchste Person umgaben, Päderasten waren. Das hat nicht Herr Harden in seinen Artikeln gesagt, denn damals das zu sagen, war nicht notwendig, das sage ich jetzt. Die Gruppe, welche Herr Maximilian Harden bekämpft, und ich glaube mit Erfolg bekämpft hat, hat in der Tat Päderastie getrieben. Ich benenne dafür die Zeugen Bollhardt, Ferenti, Krause, Liebmann, Lücke, Moldenhauer, Thielbart. Ich behaupte nicht, daß der Privatkläger sich aktiv an diesem Treiben beteiligt hat. Der Herr Privatkläger ist aber der einzige aus dieser Gruppe, von dem ich das nicht behaupte. Ich behaupte aber von dem Herrn Privatkläger, daß ihm die Qualität der anderen Herren kaum entgangen sein kann und seine Angaben, von diesen Dingen nichts gewußt zu haben, kaum glaubwürdig sind. Ich bemerke, was den Fürsten Eulenburg betrifft, so weiß ich im Augenblick noch nicht, ob Se. Durchlaucht an diesen päderastischen Orgien sich beteiligt hat. Ein Zeuge oder vielleicht mehrere werden Ihnen sagen, daß ein Herr dieses Namens sich an diesen Dingen, und zwar sehr aktiv beteiligt hat. Ich weiß nicht, ob es der intime Freund des Herrn Privatklägers oder ob es der Bruder des intimen Freundes gewesen ist. Aber ich bitte das Gericht, sich hierüber Gewißheit durch Befragen dieser Zeugen zu verschaffen. Mein zweiter Beweisantrag geht dahin, daß die Behauptung des Privatklägers, er habe von dem hier eben gekennzeichneten Treiben, insbesondere in bezug auf den Grafen Hohenau, henau, nichts gewußt, nicht wahr ist. Als Zeugen dafür benenne ich die Herren General von Kessel und Platzmajor v. Hülsen. Die weitere Behauptung, die gestern vom Privatkläger aufgestellt wurde, daß ihm der Sinn der ersten Artikel des Beklagten entgangen sei, daß er erst später diese Artikel auf die Frage hin geprüft habe, ob darin Beleidigungen zu finden seien, ist nicht wahr. Als Zeugen dafür benenne ich Herrn Baron v. Berger. Herrn Dr. Liman benenne ich als Zeugen und Sachverständigen dafür, daß Herr Maximilian Harden als ein ernsthafter politischer Schriftsteller gilt und diese Artikel aus lauteren Motiven geschrieben hat, daß sie als politische aufgefaßt werden müssen und politisch gewirkt haben. Ich benenne den Grafen Reventlow als Zeugen dafür, daß die Angabe des Beklagten, daß er nicht aus Gehässigkeit und unlauteren Motiven, sondern nur aus politischen Motiven geschrieben hat, und daß es seine Absicht gewesen ist, von den ihm seit langem in bezug auf den Privatkläger und seine Freunde bekannten Dingen nicht mehr zu sagen, als zu politischen Zwecken notwendig war. Ich benenne weiter Dr. Hirschfeld und jeden sachverständigen Arzt dafür, daß die von dem Privatkläger bereits festgestellten Tatsachen schon genügen, die Qualifikation des Privatklägers in geschlechtlicher Beziehung, die ihm der Beklagte hat zuteil werden lassen, vollkommen zu begründen. Ich behaupte, daß von diesen Männern der Wissenschaft rund und knapp erklärt werden wird: Kuno Moltke empfindet geschlechtlich anormal. Für die Behauptung, daß Fürst Eulenburg und seine Freunde dem Deutschen Reiche geschadet haben, bitte ich die Generale v. Kessel und v. Hülsen zu vernehmen. Ich behaupte weiter, daß schon zu der Zeit, als Fürst Eulenburg in Wien war, allgemeine Gerüchte gingen über seine homosexuelle Veranlagung, die auch dem Privatkläger bekannt waren.

Vors. Amtsrichter Dr. Kern: Wollen Sie damit auch beweisen, daß der Privatkläger davon Kenntnis gehabt hat?

Justizrat Bernstein: Die Dinge sind so kraß und haben so lange gespielt, daß dem Privatkläger bei dem intimen Verkehr mit dem Fürsten Eulenburg dies unmöglich entgangen sein kann. Bezüglich der Neigungen des Grafen Hohenau hat er diese Kenntnis ja wohl zugegeben!

Justizrat Dr. v. Gordon: Mein Mandant hat gestern erklärt, daß er von den Neigungen des Grafen Hohenau keine Ahnung hatte. Anders hat er sich wohl über Herrn Lecomte geäußert. Was das neue Moment betrifft, daß Fürst Eulenburg schon in Berlin als homosexuell bekannt war, so bemerke ich, daß homosexuell nicht dasselbe ist wie päderastisch. Meine Anträge haben nicht den Zweck, festzustellen, daß Frau v. Elbe unzurechnungsfähig ist, sondern zu beweisen, daß in ihrem Kopf sich die Dinge anders malen, als sie sich abgespielt haben. Solche Sachen faßt jeder auf, wie er sie empfindet, und daß eine in Ehescheidung liegende Frau die Sache anders auffaßt, als sie bei nüchterner Betrachtung zu bewerten ist, ist doch selbstverständlich. Den Antrag, Herrn Chefredakteur Dr. Liman und andere über die Tendenz der Artikel zu vernehmen, halte ich für unerheblich. Mein Mandant steht politischen Dingen vollständig fern, und die Ansichten darüber, was dem Deutschen Reiche zuträglich ist oder nicht, sind ja auch verschieden. Politische Dinge sind doch wohl auch nicht vor dem Schöffengericht zu entscheiden. Was den Antrag betrifft, Beweis zu erheben, daß andere Leute Päderastie betreiben, so möge er meinetwegen erhoben werden, dadurch wird aber nicht erwiesen, daß mein Mandant irgendwie auch zu solchen Leuten zu zählen ist.

Justizrat Bernstein: Ich bin den Beweisanträgen, die der Herr Gegner zuerst gestellt hat, mit keinem Worte entgegengetreten und werde auch nach keiner Richtung hin diesen Anträgen entgegentreten, da Herr Harden ja selbst das allergrößte Interesse hat, eine vollständige Klärung der ganzen Sache herbeizuführen. Wenn der Herr Graf Moltke nur den schönen Gedanken aussprechen wollte, daß die Ehe ohne Liebe im höchsten Grade verwerflich sei, so hatte er es in einer anderen Weise zu tun, als in ziemlich deutlicher Weise zu erklären, jedes Frauenzimmer sei für ihn nur ein Klosett.

Harden: Im Interesse meiner Sicherheit und meines Rufes kann ich auf einige weitere Beweise nicht verzichten. 1. Es ist behauptet worden, der Generalleutnant Graf Kuno von Moltke habe von den Artikeln der „Zukunft“ erst verspätet Kenntnis bekommen, er habe den Sinn der Artikel erst später verstanden und deshalb könne von einer Verjährung keine Rede sein. Diese Behauptung des Privatklägers, die die Grundlage der ganzen Anklage bildet, ist bewußt unwahr! Ich berufe mich auf den anwesenden Frhrn. v. Berger, der mit dem Privatkläger schon im November von dem einen Artikel gesprochen und ihm vollständig in das Gesicht gesagt hat, was die Sache bedeutet. 2. Der Chefredakteur Dr. Liman wird bezeugen, daß der Komplex der Tatsachen, die später geschildert worden sind, in erster Reihe gar nicht auf den Generalleutnant Graf Kuno v. Moltke zugespitzt ist, sondern auf den Fürsten zu Eulenburg. Ich bitte, Herrn Dr. Liman darüber zu hören, daß Fürst Bismarck über den Fürsten Eulenburg in der krassesten Weise den Vorwurf der Homosexualität ausgesprochen hat. Und wenn der Führer dieser Gruppe, zu der der Graf v. Moltke gehört, in solcher Weise vom ersten Beamten des Reiches der Homosexualität beschuldigt wird, so liegen doch Rückschlüsse nahe. 3. Ich beantrage, beim Polizeipräsidium die Genehmigung für die Dezernenten des betr. Ressorts einzuholen, darüber Auskunft zu geben, was sie über den Fürsten Philipp zu Eulenburg, den Grafen Willi Hohenau und den französischen Herrn wissen. Als diese Dinge in der Öffentlichkeit spielten, erhielt ich einen Brief des Kapitänleutnants v. Reventlow, wonach er an der Hand eines früheren Gesprächs mit mir eidlich erhärten könne, daß ich von irgendwelcher tätlichen Verfehlung des Grafen Moltke nichts gesagt habe, und aus welchen Motiven ich gehandelt habe. Da der Privatkläger sich durch die Benennung „Der Süße“ beleidigt fühlt, so würde ich mich auf die kompetenteste Persönlichkeit, den Chef des Militärkabinetts, beziehen, der sich über den Privatkläger in Ausdrücken ergangen hat, die ich nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit wiederholen könnte.

Graf v. Moltke: Es ist mir hier von Herrn Harden vorgeworfen worden, daß ich unwahrhaftig sei, daß ich verschiedene Spitzen, die in den Artikeln enthalten waren, nicht als Spitzen erkannt habe. Ich erkläre, daß ich von Anfang an diese Verdächtigungen und Spitzen erkannt habe, ich habe aber bis zum Schluß gewartet, daß ich sie so erkennen konnte, um gegen Herrn Harden vorzugehen. Es wurde mir damals gesagt, es hätte gar keinen Zweck, Herrn Harden meine Sekundanten zu schicken. Es war dies derselbe Herr Baron v. Berger, auf den sich Herr Harden bezieht. Dieser sagte mir, daß Herr Harden nicht mit der Waffe in der Hand für seine Handlungen eintreten werde. Ich weise es wiederholt mit aller Entschiedenheit zurück, daß in der Nähe Sr. Majestät ein Kreis von Personen existiert hat, welcher politisch zusammengewirkt hat und verderblich geworden ist. Dies ist lediglich eine Verdunkelung der Tatsachen, denn zur Bildung eines solchen Kreises sind die Ressorts bei uns viel zu streng geschieden. Ich habe die Überzeugung, daß ich gestern nicht genügend energisch den Dingen gegenübergetreten bin, die hier von der Frau v. Elbe gesagt worden sind. Es wird mir niemand verdenken können, wenn es mir unendlich schwer wird, noch einmal die dunkelsten Tage meines Lebens in die Erinnerung zurückzurufen. Es ist mir außerordentlich peinlich gewesen, diese Dinge nochmals aufzurollen. Ich schätze als alter Soldat ein frisches Wort in der Front, wenn man aber, trotzdem ich Kläger bin, doch als Verdächtigter hier steht, so erstirbt einem das Wort. In einem sechsjährigen Prozeß sind alle diese Anklagen gegen mich von acht Richtern geprüft worden, und nicht ein Schatten ist aufrechterhalten worden. Ich bitte deshalb, eventuell dieses Erkenntnis zu verlesen, durch welches die Affäre ihren Abschluß gefunden hat.

Justizrat Bernstein äußerte sich nochmals zu den Anträgen und Äußerungen des Gegners, geißelte die Art und Weise, wie der Privatkläger als Generalleutnant den Ehrenhandel mit dem Angeklagten betrieben habe und blieb dabei, dem Angeklagten sei nahgelegt worden, daß Fürst Eulenburg ins Ausland gehe und seinen politischen Einfluß aufgebe, so daß der Angeklagte seine Angriffe aufgeben könne.

Harden: Von seiten des Herrn Gegners wird fortwährend weiter bestritten, daß er schon von Anfang an Inhalt und Sinn der Artikel gekannt habe. Er sagt, es wäre dies erst viel später geschehen, und zwar – wie ich sage – so spät, daß die Antragsfrist gewahrt blieb. Ich behaupte aber und stelle es durch Vernehmung des Barons v. Berger unter Beweis, daß Graf Moltke von Anfang an über den Inhalt der Artikel sehr genau informiert war und auch den Sinn zur Genüge verstanden hat. Auf Wunsch des Herrn Grafen hat ihm Herr v. Berger noch nähere Aufklärung gegeben, und zwar mit den Worten: „Können Sie denn irgendwie Zweifel haben, daß es Homosexualität ist, die Ihnen und Ihren Freunden vorgeworfen wird.“ Ich behaupte nach wie vor, daß auf alle mögliche Weise versucht worden ist, mich zum Schweigen zu bringen. Durch Beauftragte ist mir sogar nahegelegt worden, nichts mehr über diese Affäre zu bringen, die beteiligten Personen würden dann eine Reise antreten und ihre politische Tätigkeit einstellen. (Mit höchst erregter Stimme): Ich behaupte, daß Herr Graf Moltke gezwungen worden ist, gegen mich Klage zu erheben. Nur durch Zwang hat sich der Kläger veranlaßt gefühlt, das Gericht anzurufen, anderenfalls hätte er den Rock ausziehen müssen. Deshalb klagt er jetzt.

Justizrat Dr. v. Gordon: Das ist durchaus unzutreffend. Mein Mandant ist nicht gezwungen worden, es ist auch zu bezweifeln, ob die Anstrengung dieses Prozesses überall erwünscht war. Justizrat Dr. v. Gordon wendete sich im Anschluß an die Ausführungen des Privatklägers eingehend gegen die im Laufe der Erörterungen gemachten Andeutungen über den Ehescheidungsprozeß des Grafen v. Moltke. Er beantragte eventuell die Vorlegung der Ehescheidungsakten und die Vernehmung des Justizrats Dr. Sello.

Justizrat Bernstein beantragte die Vernehmung des Sachverständigen Dr. Magnus Hirschfeld, daß nach dem ganzen hier durch die Beweisaufnahme festgestellten Verhalten des Privatklägers auf homosexuelle Neigungen zu folgern ist. Was die Kritik der Zeugin Frau v. Elbe betrifft, so spricht man immer von den Einwirkungen des „Trionals“. Ich dagegen sage nur immer „Gemahl“. Wenn die Frau jahraus, jahrein unzurechnungsfähig ist, und ich bemerke es nicht, so bin ich selbst unzurechnungsfähig. (Heiterkeit.)

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich berufe mich auch noch auf das Zeugnis Seiner Majestät darüber, daß Graf Moltke niemals seine Stellung benutzt hat, um irgendwelche Wünsche politischer Art durchzudrücken.

Justizrat Bernstein: Gegen diesen Antrag habe ich gar nichts einzuwenden. Je mehr die Sache beleuchtet wird, desto mehr wird der Kläger ins Dunkle gerückt. Eine weitere Aufklärung über die Äußerung des Klägers: „Wir haben einen Kreis um Se. Majestät gebildet usw.“ ist doch interessant für das deutsche Volk.

Justizrat Dr. v. Gordon beantragte, außer Dr. Magnus Hirschfeld über das diesem zu unterbreitende Thema auch Dr. Merzbach zu vernehmen, ferner die Polizeikommissare darüber, daß ihnen von dem Privatkläger keinerlei homosexuelle Handlungen bekannt sind.

Harden: Zu der Behauptung, daß der Privatkläger zur Klage gezwungen ist, berufe ich mich eventuell auf den Fürsten v. Bülow und Herrn v. Hülsen-Häseler.

Der Gerichtshof beschloß darauf, die Beschlußfassung über die anderen Beweisanträge zunächst auszusetzen, aber in die Beweisaufnahme einzutreten, ob in dem Freundeskreise, zu dem Fürst Eulenburg, Graf Wilhelm Hohenau und der Privatkläger gehörte, Päderastie getrieben worden ist. Für diesen Teil der Verhandlung wird die Öffenflichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse und den Zuhörern aus dem Kreise der Juristen aber die Anwesenheit gestattet.

Zeuge Bollhardt erklärte auf Befragen: Er sei im Jahre 1895 als Freiwilliger in das Regiment Garde du Corps eingetreten. Im Jahre 1896 habe ihm Graf Lynar, der seinerzeit Rittmeister war, einen unsittlichen Antrag gemacht. Er sei darauf eingegangen und habe sich mit einem anderen Kameraden nach der am Heiligensee gegenüber dem Marmorpalais gelegenen Adler-Villa des Grafen Lynar begeben. Hier seien in einem Saale mehrere Herren versammelt gewesen, darunter Graf Wilhelm Hohenau. Diese Herren hätten dann mit ihm Handlungen vorgenommen. Der Zeuge schilderte diese genau, die Wiedergabe muß jedoch aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben. In dem Saale habe meist Halbdunkel geherrscht, so daß er (Zeuge) nicht genau erkennen konnte, ob der Privatkläger sich in der Gesellschaft befand, er glaube es aber, wenn der Kläger jetzt auch weniger Haare habe. Im Regiment wurde viel über die geschlechtlichen Exzesse hoher Offiziere gesprochen und als solche sich homosexuell betätigende Herren auch Prinz Friedrich Leopold, Prinz Friedrich Heinrich und der damalige Flügeladjutant des Kaisers, Graf Moltke, genannt.

Der Privatkläger erklärte hierauf, daß er allerdings in dieser Zeit Flügeladjutant in Potsdam war. Er habe aber niemals die Villa des Grafen Lynar aufgesucht.

Justizrat Dr. v. Gordon: Glauben Sie den Privatkläger als einen der Teilnehmer an den Orgien wiederzuerkennen?

Zeuge: Ja, ich glaube, daß er es war, er hatte aber mehr Haare.

Justizrat Dr. v. Gordon: Wurde im Regiment nicht von vielen Offizieren gesprochen, daß sie mit Soldaten widernatürliche Unzucht trieben? Kamen solche Exzesse nicht oft vor?

Zeuge: Jetzt ist es ja verboten. (Große Heiterkeit.) Ich meine, es ist jetzt verboten, mit weißen Hosen und langen Stiefeln auszugehen, früher war es erlaubt, das war gewissermaßen das Erkennungszeichen, und die Soldaten wurden in dieser Tracht sehr viel von Männern belästigt.

Harden: Mir sind von dem Zeugen am 15. Juni 1907 detaillierte Mitteilungen zugegangen über Dinge, die ich meist schon kannte. Die Herren Grafen Lynar und Graf Hohenau sind wegen dieser Verfehlungen in der Schwadron zusammengebrochen. Das ist ja bekannt, ebenso wie die Tatsache, daß Graf Lynar derjenige war, der dem Kronprinzen sagte: Wir müssen hier fallen und die da... Das weiß doch jeder. Graf Lynar und Graf Hohenau waren also zweifellos an den Orgien beteiligt.

Vors. Amtsrichter Dr. Kern: Den Grafen Hohenau haben Sie also bei jenen Zusammenkünften ganz bestimmt erkannt?

Zeuge: Jawohl, mit aller Bestimmtheit.

Vors.: Haben Sie auch den Grafen Eulenburg, den jetzigen Fürsten Philipp Eulenburg, dabei gesehen?

Zeuge: Ich glaube es ebenfalls sagen zu können.

Vors.: Sie sagten vorhin, daß auch ein „Moltke“ dabei gewesen sei und dieser Flügeladjutant des Kaisers gewesen sei.

Zeuge: Ja, es wurde allgemein im Regiment davon gesprochen, daß Graf Moltke dabei gewesen sei. Es hieß auch, daß Graf Lynar nur der Unterhändler gewesen sei. Dieser suchte sich die Leute unter den Mannschaften aus. Ich selbst habe im Auftrage des Grafen Lynar einen früheren Unteroffizier, jetzigen Dompteur, der jetzt auch als Zeuge geladen ist, zu einem Besuch in die Villa eingeladen.

Im Anschlusse an diese Aussage entwickelte sich eine lebhafte und eingehende Auseinandersetzung darüber, ob Fürst Philipp Eulenburg sich an jenen Zusammenkünften beteiligt habe. Justizrat Dr. v. Gordon erklärte, daß dies auf eine Personenverwechselung mit dem jüngeren Grafen Friedrich Botho von Eulenburg zurückzuführen sei. Daß dieser wegen einer derartigen Affäre aus dem Regiment ausscheiden mußte, sei bekannt.

Harden wendete hiergegen ein, daß eine solche Verwechselung unmöglich sei. Er habe aus dem Gothaer Hofkalender das Bild des Fürsten Philipp Eulenburg dem Zeugen Bollhardt gezeigt, ohne dabei zu sagen, wen das Bild darstellte.

Justizrat Bernstein: Sie sollen hierbei sofort, ehe Sie den Namen gehört hatten, gesagt haben: „Das ist ja Eulenburg, der war auch dabei.“

Zeuge: Ja.

Justizrat Dr. v. Gordon: Graf Eulenburg ist schon 1871 aus dem Regiment ausgeschieden.

Zeuge: Ja.

Justizrat Dr. v. Gordon beantragte wiederholt, den Grafen Hohenau und den Grafen Lynar als Zeugen zu laden., die bekunden werden, daß Fürst Eulenburg, den der Zeuge vor 10 Jahren im Dämmerlicht gesehen haben und noch nach dem Bilde erkennen will, nicht bei den Zusammenkünften beim Grafen Lynar war.

Der Zeuge Bollhardt blieb nach langen Kreuz- und Querfragen dabei, daß er nach dem Bilde, das ihm Herr Harden vorgelegt hat, den Fürsten Eulenburg erkennen zu können geglaubt habe. Er habe sich seinerzeit infolge der Zeitungsartikel selbst an Herrn Harden gewandt und ihm mitgeteilt, daß er in der Lage sei, ihm über die in der Villa des Grafen Lynar abgehaltenen Zusammenkünfte interessante Mitteilungen zu machen. Darauf sei er zu Herrn Harden beschieden worden und habe ihm diese Angaben gemacht. Herr Harden sei anfänglich mißtrauisch gegen ihn gewesen.

Graf v. Moltke: Ich habe von diesen traurigen Affären absolut nichts gewußt.

Harden: Herr Zeuge Bollhardt! Sie sagen also, daß der dem Generaladjutanten Grafen Kuno v. Moltke innig befreundete und verwandte Graf Wilhelm Hohenau widernatürliche Unzucht getrieben hat?

Zeuge: Ja!

Der nächste Zeuge, ein Wachtmeister vom Regiment Garde du Corps, erklärte, daß er nur dienstlich in der Villa des Grafen Lynar gewesen sei. Im Oktober v.J. habe sich der Bursche des Grafen Lynar bei dem Zeugen gemeldet mit der Bitte, abgelöst zu werden, da der Graf Lynar „zu liebenswürdig“ gegen ihn sei. Er habe diese Sache dienstlich weitergegeben. Richtig ist es, daß gerüchtweise behauptet wurde, Graf Lynar und andere Personen treiben mit Männern widernatürlichen Umgang. Dies wurde auch vom Grafen Hohenau erzählt, aber von dem Privatkläger ist so etwas nicht gesagt worden.

Hierauf erschien der als Zeuge vorgeladene Richard Krause, ein 29jähriger Mann, der 1898 bis 1902 in Potsdam gedient hat. In seiner Gegenwart, so bekundete er, sei niemals darüber gesprochen worden, daß in der Villa des Grafen Lynar oder sonstwo von Offizieren widernatürlicher Verkehr mit Männern stattgefunden funden habe. Auf wiederholten Vorhalt seitens des Verteidigers erklärte er langsam und zögernd, daß er das, was er gehört, als Jokus aufgefaßt habe. Es wurde allerdings gesprochen, daß Graf Lynar und Graf Hohenau Umgang mit Männern haben. Vom Privatkläger sei nichts Derartiges gesagt worden.

Zeuge Unteroffizier Liedmann von den Garde du Corps: Es sei ihm nicht bekannt, daß im Hause des Grafen Lynar widernatürliche Unzuchtshandlungen vorgekommen seien. Er habe nur davon gehört, daß der Bursche des Grafen Lynar von diesem weggekommen sei, und daß Graf Lynar und Graf Hohenau vom Regiment weg seien. Der Zeuge blieb dabei, trotz vieler Vorhaltungen von seiten des Verteidigers.

Zeuge Moldenhauer, der längere Jahre in Potsdam gedient hat, erklärte gleichfalls anfänglich, daß er nichts von einem Gerücht weiß, wonach Offiziere mit Männern unsittlichen Umgang haben. Nach ernsten Vorhaltungen und Hinweisen auf den zu leistenden Eid gab der Zeuge zu: Gesprochen möge ja wohl so etwas sein, aber er habe nicht darauf geachtet. Er habe nur gehört, daß Graf Lynar wegen seines Burschen habe abgehen müssen.

Zeuge Dompteur Th. ist 1896 bis 1900 in Potsdam gewesen. Es wurde manchmal davon gemunkelt, daß beim Grafen Lynar unsittliche Dinge vorkämen. Richtig sei es, daß er aufgefordert worden sei, im Auftrage des Grafen Hohenau mit in die Villa des Grafen Lynar zu kommen. Er habe darauf gesagt: Solche Sachen mache ich nicht.

Vors.: Sie wußten also gleich, um was es sich handelte?

Zeuge: Na ja, weil man ja so allerlei munkelte.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden verneinte der Zeuge, daß bei jenen Gerüchten auch der Name des Fürsten Eulenburg oder des Grafen Moltke eine Rolle gespielt habe.

Es wurde darauf General v. Kessel, Kommandierender General des Gardekorps, als Zeuge vernommen.

Vors.: Hat der Privatkläger mit Ihnen darüber gesprochen, daß Fürst Eulenburg in eine Affäre in Sachen widernatürlicher Unzucht verwickelt sei?

Zeuge: Es ist mir nichts davon bekannt.

Vors.: Wußten Sie, daß er mit ihm befreundet war?

Zeuge: Ja.

Justizrat Bernstein: Ist dem Zeugen nicht bekannt, daß der Privatkläger geäußert hat, er habe allerdings den Fehler gemacht, daß er bezüglich des Falles Hohenau nicht sofort dienstlich weiteres veranlaßt habe?

Zeuge: Ist mir ganz fremd.

Harden: Ist Ihnen etwas von einer Aktion bekannt, die die Polizei bezüglich des Grafen Hohenau unternehmen wollte. Hat das Gardekorps nicht den Wunsch gehabt, durch die Polizei von Fall zu Fall darüber orientiert zu werden?

Zeuge: Nein.

Harden: Ist Ihnen bekannt, daß die Absicht bestand, den Grafen Lynar zum Flügeladjutanten zu ernennen?

Zeuge: Nein.

Justizrat Bernstein wies darauf hin, daß er den General v. Kessel und den Platzmajor v. Hülsen nur deshalb habe laden lassen, um durch sie zu bekunden, daß der Privatkläger seine Stellung verloren habe, weil er den Dingen keineswegs so fern stand, wie er behauptete. Da General v. Kessel in dieser Beziehung versagte und der Platzmajor v. Hülsen nicht erschienen sei, bliebe ihm nichts weiter übrig, als sich auf den Chef des Militärkabinetts, v. Hülsen-Häseler, zu berufen.

Nachmittags überreichte Harden dem Vorsitzenden den Gothaer Almanach. Der Zeuge Bollhardt erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Nachdem er im Almanach das Bild des Fürsten Eulenburg gesehen, könne er aufs bestimmteste erklären, daß Fürst Eulenburg zu der Gesellschaft gehört habe, die in der Villa des Grafen Lynar die geschilderten Vorgänge inszeniert habe. Nach seiner Meinung muß dies der Herr sein, der damals in Zivil bei dem Grafen Lynar war.

Als darauf der Zeuge vereidigt werden sollte, erklärte klärte Justizrat Dr. v. Gordon: Ich beantrage, jetzt den Fürsten zu Eulenburg in seiner Wohnung zu vernehmen. Er ist nicht reisefähig nach dem Ausspruche des Arztes; er ist aber doch hierhergekommen und bereit, sich auf Erfordern vernehmen zu lassen. Das von mir hier überreichte ärztliche Attest spricht deutlich aus, wie krank der Fürst ist. Er wird bezeugen: Daß er keine Ahnung hat von jenen Vorgängen in der Potsdamer Villa, daß er niemals mit diesem Kreise, der durch die Namen Graf Lynar und Graf Hohenau bezeichnet worden ist, zu tun gehabt hat, ihm vielmehr vollkommen fernsteht. Er wird auch bekunden, daß es gar nicht richtig ist, daß er die Anregung gegeben hat, Herrn Lecomte einzuladen, daß er selbst vollkommen intakt dasteht, seine Freundschaft mit dem Privatkläger durchaus rein ist, und er selbst keinerlei Empfindung davon hat, daß diese Freundschaft erotisch betont ist. Der Zeuge, der den Fürsten Eulenburg nach dem Bilde wiedererkennen will, hatte gesagt, der Mann, um den es sich handelt, sei 27 bis 30 Jahre alt gewesen, Fürst Eulenburg war aber damals 50 Jahre alt. Er hat gesagt, es habe auf ihn den Eindruck gemacht, als ob die Herren in der Villa des Grafen Lynar Offiziere waren. Fürst Eulenburg ist aber kein Offizier. Folglich kann der Zeuge den Mann in dem Bilde nicht wiedererkennen. Fürst Eulenburg erklärt es auch für absolut unwahr, daß er mit diesen Vorgängen gängen in Potsdam irgend etwas zu tun gehabt hat.

Justizrat Bernstein: Von Herrn Harden wird nicht behauptet, daß Fürst Eulenburg mit diesen Dingen etwas zu tun gehabt hat, sondern er hat nur behauptet, daß von anderen Personen solche Dinge behauptet werden. Das ist ja doch geschehen. Wenn Fürst Eulenburg vernommen wird, werde ich mich selbstverständlich nicht mit der Frage begnügen, welche Beziehungen er zum Privatkläger hat, sondern ich werde mit ihm die Frage der Homosexualität überhaupt erörtern.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich habe ja selbst das Negative in dieser Beziehung behauptet. Die Dinge, die in Potsdam vorgekommen sein sollen, sind ja sehr beklagenswert, sie haben aber mit meinem Mandanten nichts zu tun!

Justizrat Bernstein: Ich glaube Anspruch auf das Anerkenntnis zu haben, daß ich sowohl wie Herr Harden in dieser Frage ganz loyal vorgehen. Wir haben den Grafen Lynar und den Grafen Hohenau schon von Anfang an gern hier sehen wollen, die Gegenpartei schien bisher dasselbe Interesse daran zu haben.

Hierauf wurde der Zeuge Bollhardt nochmals vorgerufen.

Vors.: Sagen Sie, Herr Zeuge, ist ein Irrtum ausgeschlossen?

Zeuge: Es muß der Herr sein, der an dem Abend dabei gewesen ist.

Vors.: Entweder Sie sagen: er ist es, oder Sie sagen: ich muß ihn erst sehen.

Zeuge: Gut, ich will ihn erst sehen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Es ist doch auf der ganzen Welt nicht möglich, daß ein Mann auf Grund eines Bildes einen Herrn wiedererkennen kann, den er vor zehn Jahren einmal gesehen hat, zumal der Zeuge gesagt hat, es ist ein Herr von 27 bis 30 Jahren. Tatsächlich war er aber 50 Jahre alt.

Vors.: Wann kann Fürst Eulenburg hier erscheinen?

Justizrat v. Gordon: Er kann hier nicht erscheinen, aber er könnte kommissarisch vernommen werden.

Vors.: Der Fürst ist doch nur gichtleidend, kann er nicht hergetragen werden?

Justizrat von Gordon: Ich bitte, das Attest zu verlesen.

Harden: Seit Wochen habe ich den Fürsten Eulenburg als Zeugen benannt. Es ist jetzt gesagt worden, man habe ihn und andere nicht in Gewissenskonflikt bringen wollen. Aber seine Gesundheit dürfte doch keinem stärkeren Schock ausgesetzt sein, wenn er hierher kommt. Um Berlin zu erreichen, mußte er zu Wagen von Liebenberg nach der Eisenbahn fahren, auf der Eisenbahn nach Berlin, vom hiesigen Bahnhof nach der Wohnung in der Königin-Augusta-Straße. Ich sehe keinen Grund, weshalb er nicht hier nach dem Gericht mit demselben Wagen fahren kann. Ich sehe darin einen Versuch, die Verhandlung zur Vertagung zu bringen, daß der Herr hier nicht erscheint. Ich möchte darum bitten, endlich damit aufzuhören, nicht immer zu sagen, der Privatkläger hat nichts damit zu tun. Er ist doch ein Herr, der in der „Zukunft“ genannt wurde, der gleichzeitig mit dem Kläger aus dem Amt gesetzt wurde und unter Mißbrauch seines Amtes strafbare Handlungen begangen hat. Zwei Herren, die sich ganz genau kennen, wie der Privatkläger und der Graf Hohenau, den der Kläger duzt, mit dem er verwandt ist, der mit ihm lange Jahre als Flügeladjutant die gleiche Stellung einnahm, können doch nicht sagen, sie hätten miteinander nichts zu tun. Wo gibt’s denn noch eine Gemeinschaft, wenn das keine ist. Mein Verteidiger hat ausdrücklich gesagt, weshalb der Zeuge Bollhardt vernommen werden sollte. Nebenbei behauptet der Zeuge noch das und das vom Fürsten Eulenburg und hat das mir gegenüber immer behauptet. Ich habe davon aber keinen Gebrauch gemacht. Wenn Fürst Eulenburg hier ist, werden wir ihm sagen, was wir ihm beweisen. Wir bitten, er soll nun endlich kommen und für den vierzigjährigen geliebten Freund, der ihn seine „Seele“, seinen „Geliebten“ nennt, Zeugnis ablegen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Herr Harden hat zum Schluß hier gegen den Privatkläger und den Fürsten Eulenburg einen Ton angeschlagen, auf den ich nicht eingehen möchte. Ich bitte einfach, den Fürsten Eulenburg als Zeugen für die von mir benannten Tatsachen zu vernehmen. Es ist Sache des Gerichts, zu entscheiden, in welcher Form dies geschehen soll. Weil ich weiß, daß er nicht kommen kann, habe ich der Einfachheit wegen die kommissarische Vernehmung angeregt. Wir haben von vornherein den dringenden Wunsch gehabt, daß er hier erscheint; auch der Fürst war der Ansicht. Schließlich sagte aber der Arzt, er setze sich einer dringenden Gefahr aus, wenn er als Zeuge erscheine. Mehr kann man nicht tun, um die Sache abzukürzen, als wenn wir die kommissarische Vernehmung des Fürsten beantragen.

Es wurde hierauf das von Sanitätsrat Dr. Gennerich ausgestellte ärztliche Attest von dem Vorsitzenden verlesen. Aus diesem ging hervor, daß Fürst Philipp zu Eulenburg seit vielen Jahren an Gicht und schwerer Neuritis leidet. Da außerdem seit April d.J. eine Nervenentzündung an Beinen und Armen hinzugekommen ist, so besteht die Gefahr, daß eine größere Aufregung schwere Folgen, ja selbst den Tod herbeiführen konnte. Das Leiden des Fürsten ist so erheblich, daß er sich nur an zwei Stöcken vorwärts bewegen und ohne menschliche Hilfe keine Treppen ersteigen kann. Außerdem leidet Fürst Eulenburg an Arteriensklerose, ensklerose, die ebenfalls sehr ungünstig auf den Körperzustand des Fürsten einwirkt. Ein Erscheinen vor Gericht ist deshalb unter keinen Umständen ratsam.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich gebe anheim, den Fürsten laden zu lassen. Ich weiß allerdings nicht, ob der Fürst erscheinen wird. Unverständlich ist es mir allerdings immer noch, was mein Mandant damit zu tun hat, wenn tatsächlich gegen den Grafen Hohenau irgendwelche Dinge gewisser Natur vorgebracht werden oder meinetwegen schon erwiesen sind. Beide Herren befanden sich unter den sechs Flügeladjutanten des Kaisers und sind, wie ich immer wieder betonen muß, keineswegs in nähere Verbindung gekommen. Mit demselben guten Recht könnte Herr Harden zweitausend andere Offiziere beschuldigen und verdächtigen, daß sie von diesen Dingen gewußt und geschwiegen hätten.

Harden: Ich behaupte, daß der größte Teil der deutschen Offiziere von diesen Dingen gewußt, aber aus begreiflichen Gründen geschwiegen hat. Es ist allgemein bekannt gewesen, daß sich Graf Hohenau jahrelang in Erpresserhänden befunden hatte, und da soll Graf Moltke, der mit Hohenau auf „Du und Du“ stand und täglich dienstlich und auch sonst gesellschaftlich mit ihm zu tun hatte, von allen diesen Dingen nichts gewußt haben? Mir ist es unverständlich und anderen Leuten wahrscheinlich auch!

Justizrat Bernstein: Ich will einmal eine einzige Frage an den Herrn Grafen Moltke richten: Will der Herr Kläger die Güte haben, uns zu sagen, weshalb er nicht mehr Stadtkommandant von Berlin ist?

Graf Moltke gab keine Antwort.

Das Gericht beschloß, den Fürsten Eulenburg als Zeugen zu laden.

Als am folgenden Tage Fürst Philipp Eulenburg als Zeuge aufgerufen wurde, meldete sich sein Hausarzt Sanitätsrat Dr. Gennerich mit dem Bemerken: Ich habe den Fürsten noch einmal untersucht und ihm verboten, aufzustehen.

Vors.: Wird der Antrag auf kommissarische Vernehmung des Fürsten aufrechterhalten?

J.-R. Dr. v. Gordon: Ja, natürlich unter Konfrontation mit dem Zeugen Bollhardt.

Justizrat Bernstein: Was den Fürsten Eulenburg außer Möglichkeit setzt, vernommen zu werden, ist nach dem bisher vorliegenden Attest hauptsächlich der Gemütszustand. Die Gefahren in dieser Hinsicht würden bei einer kommissarischen Vernehmung dieselben sein, wie bei einer Vernehmung vor Gericht. Ich bitte jedenfalls, falls das Gericht die kommissarische Vernehmung beschließt, diese erst vorzunehmen, wenn die Beweiserhebung hier weiter vorgeschritten ist, damit die Vernehmung nicht wiederholt zu werden braucht. Es ist möglich, daß den Zeugenaussagen des Barons v. Berger und anderer Herren vom Privatkläger widersprochen wird. Er muß ihnen von seinem Standpunkt aus widersprechen. Der Herr Beklagte hat ein begreifliches Interesse daran, daß die Vernehmung des Fürsten Eulenburg vor voller Öffentlichkeit stattfindet. Wenn das nicht möglich ist, so muß das Interesse des Beklagten berücksichtigt werden. Ich fühle mich zu dieser Bemerkung veranlaßt dadurch, daß die klagende Partei keine Bedenken getragen hat, gegen eine unbescholtene Dame die Behauptung aufzustellen, daß das, was sie unter ihrem Eid aussagte, unwahr ist. Wenn Fürst Philipp zu Eulenburg unter Eid in Abrede stellt, daß er homosexuell veranlagt sei, und daß er diese Veranlagung betätigt habe, so werde ich versuchen, durch Zeugen den Beweis zu führen, daß diese Behauptung unwahr ist. Fürst Bismarck hat, wie Dr. Liman eidlich bestätigen wird, den Fürsten Eulenburg als Päderasten auf das allerdeutlichste bezeichnet. Fürst Bismarck hat bekanntlich seine Leute gekannt. Dem Beklagten gegenüber hat er dasselbe behauptet. Ich werde Zeugen vorführen, die Ihnen sagen werden, wie Fürst Bismarck zu dieser Meinung gekommen ist, Eulenburg sei homosexuell. Wenn dem vom Kläger widersprochen wird, werde ich es beweisen.

Justizrat Dr. v. Gordon: Fürst Bismarck war gewiß eine Autorität, aber doch ein Mensch, wie ein anderer. Wenn sich Gerüchte über einen Menschen verbreiten, vor denen ja schließlich niemand sicher ist, so kann auch die Berufung auf den Fürsten Bismarck ein solches noch nicht zur unbestreitbaren Wahrheit machen. Fürst Bismarck ist tot und man kann nicht wissen, worauf sich seine Wissenschaft stützt. Der Kollege hat doch auch soeben den Arzt gehört. Wollen Sie es verantworten, daß der Kranke hier vielleicht in der Öffentlichkeit tot hinsinkt?

Justizrat Bernstein: Ich habe seinerzeit erwartet, daß als erster Name auf der Zeugenladung des Gegners der Name Fürst Philipp zu Eulenburg stehen würde. Sobald als ich Herrn Harden das erstemal sah, und die Klageschrift gelesen hatte, sagte ich zu ihm: „Die Sache dieses Herrn steht sehr schlecht.“ Weder auf den Fürsten Eulenburg noch auf den Grafen Hohenau oder auf den Herrn Lecomte hat sich Herr Graf Moltke bezogen. Es zeigt dies, daß meine Schlußfolgerung durchaus richtig ist. Es erscheint mir praktisch, die Vernehmung des Fürsten Eulenburg vorläufig auszusetzen, da ja die Möglichkeit besteht, daß er in kurzer Frist vielleicht wieder hergestellt ist.

Harden: Bevor das Gericht beschließt, ob und wo der Fürst Eulenburg zu vernehmen ist, bitte ich festzustellen, in welchem Umfange es möglich ist, Se. Durchlaucht in der Wohnung zu vernehmen. Nach dem, was bis jetzt hier über den Gesundheitszustand des Fürsten gesagt worden ist, halte ich es selbst für ausgeschlossen, daß der Zeuge Bollhardt an Gerichtsstelle dem Fürsten Eulenburg augenblicklich gegenübergestellt wird. Ich selbst kann nur immer wieder erklären, mir liegt persönlich absolut nichts daran, daß diese Gegenüberstellung hier stattfindet, denn meine Anträge gehen gar nicht dahin, daß der Fürst Eulenburg sich homosexuell betätigt haben soll. Ich habe den Zeugen Bollhardt gar nicht geladen, um beweisen zu wollen, daß sich der Fürst Eulenburg homosexuell betätigt hat, sondern nur, um zu beweisen, daß der Graf Hohenau, der zu jenem Kreis gehörte, sich verschiedene schwere Verfehlungen auf homosexuellem Gebiete hat zuschulden kommen lassen. Dies hat die gestrige Beweisaufnahme vollauf bewiesen.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofs verkündete Amtsrichter Dr. Kern: Es handelt sich darum, ob der Zeuge Bollhardt zu vereidigen ist. Er hat gestern erklärt, er möchte den Eid erst ablegen, wenn er den Fürsten Eulenburg gesehen hat. Es wird dem Zeugen Bollhardt aufgegeben, sich sofort zum Fürsten Eulenburg zu begeben und den Versuch zu machen, ihn zu sehen. Kriminalkommissar v. Tresckow wird ihn begleiten. Ich mache den Herrn Kommissar darauf aufmerksam, daß nach der Prozeßordnung die schon vernommenen Zeugen möglichst wenig in Verbindung kommen mit denen, die noch zu vernehmen sind. Sie werden also dafür sorgen, daß keine Zwiegespräche und dergleichen zwischen den Zeugen stattfinden.

Justizrat Bernstein: Wir haben den Zeugen Bollhardt nur genannt in bezug auf den Grafen Hohenau, und nur ganz zufällig hat der Zeuge auch den Fürsten Eulenburg hier bei seiner Vernehmung vor Gericht erwähnt. Wir haben nicht behauptet, daß Fürst Eulenburg in der Villa des Grafen Lynar gewesen ist, aber es ist doch möglich, daß dies der Fall war. Fürst Eulenburg hat nun doch ein Interesse daran, von Bollhardt nicht erkannt zu werden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß jemand, wenn er weiß, daß er rekognosziert werden soll, und die Rekognoszierung noch dazu in der Wohnung stattfinden soll, und zwar ohne Kontrolle, doch Vorkehrungen trifft, daß die Rekognoszierung nicht zuverlässig ist.

Vors.: Der Zeuge Bollhardt soll ja nur vorläufig den Fürsten Eulenburg ansehen, und er wird uns ja hier berichten. Ich frage jetzt den Herrn Vertreter des Klägers, ob er seine gestern angedeuteten Beweisanträge fixiert hat.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich wiederhole die gestern schon beantragte Vorladung derjenigen Personen als Zeugen, die über die ganze Gesinnung des Privatklägers über Damen im allgemeinen und über die Ehe aussagen können. Ich beantrage die Verlesung eines Briefes der Frau v. Elbe aus der Zeit der Trennung von ihrem Ehemanne, in welchem sie in der liebevollsten Weise von dem Gatten spricht. Es wird bestritten, daß der Privatkläger die häßlichen Worte über Frauen und die Ehe gesprochen hat; er hat sich nur dahin ausgedrückt, daß die Ehe ohne sittliche Unterlage eine Cochonnerie sei. Mein allerwichtigster Antrag geht auf Vernehmung der Grafen v. Lynar und Hohenau als Zeugen darüber, daß der Privatkläger in keiner Weise bei den Vorgängen beteiligt ist, von denen der Zeuge Bollhardt spricht. (Mit erhobener Stimme): Wir wollen absoluteste Klarheit! Wir wollen, daß die befleckte Ehre des Privatklägers in jeder Beziehung wiederhergestellt wird, und wir werden nicht eher ruhen, als bis kein Tipfelchen von Verdacht auf ihm ruht. Darum kann der Prozeß unter keinen Umständen zu Ende gehen, ohne daß diese beiden Herren vernommen werden. Sie selbst könnten ja evtl. bezüglich ihrer eigenen Person die Aussage verweigern, aber nicht bezüglich des Privatklägers, und sie werden als Ehrenmänner diese Aussage nicht verweigern. Ich habe gestern auch evtl. auf das Zeugnis Sr. Majestät des Kaisers hingewiesen. Mein Mandant hat dringend ersucht, die Person des allerhöchsten Herrn aus diesem Prozeß herauszulassen. Er ist der Ansicht, daß, wenn er als General vor aller Welt und vor seinem Kaiser erklärt, es sei nicht wahr, daß er Einfluß auf die Politik ausüben wollte, dies genügt.

Graf v. Moltke: Ich werde unter keinen Umständen dazu beitragen, daß die Person des allerhöchsten Herrn hier in die Debatte hineingezogen wird. Das widerspräche meinem eigenen Gefühl und aller Tradition.

Harden: Der Antrag, der bezüglich Sr. Majestät gestellt war, ging auf das Gegenteil dessen hinaus, was von uns behauptet ist. Der Gedanke, daß Graf Kuno v. Moltke auf eigene Faust Politik treibe und seine Beziehungen zum Deutschen Kaiser dazu ausnutze, liegt mir ganz fern. Denn es ist nicht zu denken, daß der hohe Herr davon nichts merken sollte, und es ist ganz klar, daß Graf Kuno v. Moltke sofort seiner Stellung verlustig gegangen wäre, wenn der Kaiser einen solchen Versuch gemerkt hätte. Wir behaupten aber, daß Graf Kuno v. Moltke den Fürsten Eulenburg konstant und jahrelang auf dem Laufenden gehalten hat über alle Dinge, die am Hofe passierten, über Stimmungen, Maßnahmen und Personalfragen usw. Das alles war für den Fürsten Eulenburg wichtig. Eine vom Kaiser zu extrahierende Aussage, wenn sie möglich wäre, würde also gar nichts beweisen. Die Gegenseite will die Grafen Lynar und Hohenau geladen haben und hat mit Emphase erklärt, daß dieser Prozeß nicht zu Ende gehen könne, ohne daß diese beiden Herren vernommen werden! Ich glaube nicht, daß diese beiden Zeugen nach den bisherigen Ergebnissen nissen dieses Prozesses sich dazu verstehen werden, vor einem deutschen Gerichtshof auszusagen. Ich sehe in solchem Antrage nur den Versuch, den Prozeß zu verschieben.

Ferner macht man den Versuch, die furchtbare Aussage der Zeugin Frau v. Elbe, die hier schweren Herzens und wider ihren Wunsch Bekundungen gemacht hat, zu erschüttern, indem man sie als nicht ganz zurechnungsfähig infolge früheren Trionalgenusses hinzustellen versucht. Gerichtshof, Juristen und Laien hier im Saale werden darin einig sein, daß die Aussage dieser Frau nicht so zu bewerten ist, als ob jemand über Wahrnehmungen in der Straßenbahn usw. vernommen wird, sondern daß sie ein Komplex von ungeheueren Erlebnissen war. Sie ist entweder in toto richtig oder falsch. Man hat jetzt nicht mehr gewagt, diese Aussage als absichtlich falsch hinzustellen, vielleicht, weil sie nicht mehr wie vor Jahren allein und ohne Hilfe dasteht, sondern jetzt zwei Männer an ihrer Seite hat, die sie schützen werden: ihren Mann und ihren Sohn. Die Bekanntschaft der Frau v. Elbe habe ich erst in einer Gesellschaft des Geheimrats Schweninger gemacht. Frau von Elbe ist, wenn ich mich so ausdrücken kann, die Tante der jetzigen Gattin des Geheimrats Schweninger, der Frau Gräfin Lena v. Moltke. Ich bitte dringend, wenn die Versuche, die Frau v. Elbe als unglaubwürdig hinzustellen, wiederholt werden, Geheimrat Schweninger zu vernehmen, der seit 5 oder 6 Jahren mit der Frau v. Elbe gesellschaftlich verkehrt. Der Herr wird dann bekunden, ob er jemals in der ganzen langen Zeit auch nur das geringste von einer geistigen Anormalität, von den Folgen einer Trionalvergiftung oder ähnlichen Dingen, mit denen hier auf seiten des Gegners operiert wird, gemerkt hat. Ist das nicht der Fall, so wird sich die erschütternde und wahrhaft vernichtende Aussage der Frau v. Elbe nicht abschwächen lassen. Ein besonders heikler Punkt ist die Vollziehung der Ehe mit dem Grafen Moltke. Ich bitte, hierzu die Eltern der Dame ausführlich zu vernehmen. Eine mir gestern von der Frau v. Heyden zugegangene Depesche besagt, daß sich Frau v. Heyden in Stolp, Wasserstraße 7, in ärztlicher Behandlung befindet und hier ihrer kommissarischen Vernehmung entgegensehen will. Frau v.H. wird nicht nur über die Eheschließung selbst interessante Mitteilungen machen, sie wird schwere Mißhandlungen bekunden, die der Graf Moltke seiner damaligen Gattin zugefügt hat. Sie wird weiter bekunden, daß der Kläger stets von einem Ring gesprochen hat, den er und seine Freunde um Se. Majestät gezogen haben und den zu sprengen meine Aufgabe durch Veröffentlichung meiner Artikel geworden ist. Der Herr Vertreter des Herrn Grafen Moltke sucht immer hier einen Gegensatz herzustellen, len, der zwischen der jetzigen Aussage der Frau v. Elbe und ihren Angaben im Ehescheidungsprozeß angeblich bestehen soll. Ich möchte hauptsächlich nur feststellen, es ist schon damals behauptet worden, daß es nur bis 2 Tage nach der Hochzeit zu einem ehelichen Verkehr gekommen ist. Herr Rechtsanwalt Illch, der damalige Prozeßvertreter der Dame, wird bestätigen, daß die jetzt vorgebrachten Dinge mit den damals behaupteten Tatsachen identisch sind. Eine Wiederholung dieser mehr als heiklen Sachen würde wohl nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden können. In einer allzu begreiflichen Verlegenheit ist Frau v. Elbe wohl bisher nicht recht in der Lage gewesen, absolut frei zu sprechen und alles aus der traurigen Ehe hier zu erzählen. Ich werde die Dame dann genau fragen, welcher Art die Mißhandlungen waren, die ihr der Herr Graf Moltke damals zugefügt hat. Seitens des Herrn Gegners wird behauptet, Frau v. Elbe wäre aggressiv gegen ihren damaligen Gatten vorgegangen, hätte ihm den Kneifer heruntergeschlagen, die Epaulettes heruntergerissen usw. Ich werde dann konstatieren, daß dies nur in ärgster Notwehr gegen brutale Angriffe geschehen ist. In einem Falle mußte sogar im letzten Augenblick eine neue Toilette der damaligen Gräfin geändert werden, weil die Dame braune und blaue Flecke aufwies. Ich komme zu Fräulein Mille, jener französischen Gouvernante. Es wird behauptet, daß sich die damalige Gattin des Militärattachés in Wien an ihre Gouvernante gewendet haben soll, um einen gehässigen Artikel in den „Gaulois“ zu lancieren. Die hier im Saale anwesenden französischen Journalisten werden sich eines Lächelns nicht erwehren können, wenn man behauptet, daß der Herr Direktor Artur Meyer vom „Gaulois“ von einer Gouvernante einen Hetzartikel bringen wird. Jenes Fräulein Mille hat übrigens, wie ich aus einem in meinen Händen befindlichen Brief ersehe, in jenem Ehescheidungsprozeß geschrieben: „Ich bitte, mich kommen zu lassen, da man mich mißbraucht hat, um gegen Sie vorzugehen.“ Seitens des Herrn Gegners wird unter Bezugnahme auf verschiedene Briefe behauptet, daß Frau v. Elbe auch noch kurz vor der Scheidung dem Grafen Moltke sehr freundlich gesinnt gewesen sei. Ich glaube, ich habe das richtige Gefühl, wenn ich sage, die Frau Gräfin wollte damals gar nicht geschieden sein. Sie befand sich in der glänzendsten gesellschaftlichen Position, sie war trotz ihres sonstigen Unglücks ihrem Gatten zugetan. Sie wollte ferner, daß eine Ehe, die unter den glänzendsten Bedingungen geschlossen ist, nicht ohne weiteres getrennt werde. Als Trauzeuge bei Schließung der Ehe des Grafen Moltke mit der jetzigen Frau v. Elbe war Se. Majestät selbst erschienen, und in dieser Ehe haben sich jene traurigen Dinge ereignet, die uns hier mitgeteilt teilt sind. Es erscheint deshalb leicht begreiflich, weshalb sich die Dame seinerzeit gegen eine Trennung der Ehe gesträubt hat. Zum Schluß bitte ich aber noch den hier im Saale anwesenden jetzigen Gatten der Frau v. Elbe, mit dem sie in denkbar glücklichster Ehe lebt, darüber vernehmen zu wollen, ob er jemals irgend etwas von geistiger Abnormität oder Nachwirkungen einer Trionalvergiftung bemerkt hat.

Justizrat Bernstein: Wenn das Gericht die Verlesung des Briefes der Frau v. Elbe beschließt, dann beantrage ich, überhaupt die Ehescheidungsakten als Beweismittel anzuwenden. Ich habe keinen Anlaß, der Vernehmung der Zeugen Graf Lynar und Graf Hohenau zu widersprechen. Wir haben den Zeugen Bollhardt vorgeführt, um dem Gericht zu beweisen, daß Graf Lynar und Graf Hohenau sexuell unerlaubte Handlungen vorgenommen haben. Wir wollen beweisen, daß Herr Harden mit seinen Artikeln nur politische Zwecke verfolgte. Wenn irgend jemand die sexuelle Integrität dieser Herren auf seinen Eid nimmt, sei es Fürst Eulenburg oder ein anderer Zeuge, so werde ich den Beweis antreten, daß diese eidliche Versicherung falsch ist. Der Verteidiger wendete sich dann wiederum gegen die Bezweiflung der Aussage der früheren Gräfin Moltke. Die Gegenpartei solle doch den Mut finden, ihre Zweifel an der eidlichen Aussage dieser Frau in präzise Form zu kleiden und ihr Meineid vorzuwerfen. Dann werde man den Gegenbeweis erbringen können. Die Eltern der Frau v. Elbe wollen wir darüber vernehmen, daß der Kläger ihnen dieselben Angaben über seine Ehe und seine eheliche Fähigkeit oder besser Unfähigkeit gemacht hat, wie seiner Frau. Er kennt nicht nur die Richtigkeit der Angaben seiner Frau, er hat ihren Eltern dasselbe gesagt und er läßt, um die Aussage seiner früheren Frau abzuschwächen, hier durch seinen Vertreter sagen, das sei falsch. Dem Kläger wird nachgewiesen, daß er selbst die Tatsache, daß er impotent gewesen ist, seinem Schwiegervater mitgeteilt hat. Die Frau hat das hier aus ringender Seele unter Eid gesagt und der Herr Kläger hat den Mut, es in Abrede zu stellen. Ich bitte das Gericht, um sich von der Qualität eines Mitgliedes des Kreises um Eulenburg zu überzeugen, darüber Beweis zu erheben.

Dann bitte ich, Dr. Liman über die Äußerung des Fürsten Bismarck zu vernehmen. Fürst Bismarck hat nicht gesagt: es wird gemunkelt, er hat gesagt: Fürst Eulenburg ist ein Päderast. An diesen Worten ist nicht zu deuteln. Es hat eine geschichtliche Bedeutung, daß der hier Beklagte dem Einfluß dieses Mannes, den der Gründer des Reiches als einen Päderasten bezeichnet hat, ein Ende gemacht hat. Ich bitte dann um die Vernehmung des Dr. Hirschfeld, der in seinem „Monatsbericht des W.H.K.“ folgendes geschrieben hat: „Als eines Tages eine Gruppe von Offizieren sich im Kasino über diese Dinge unterhielt und einer der Herren daraufhin meinte, es sei dies gar nichts so Ungewöhnliches, es befänden sich doch noch an höheren Stellen eine ganze Anzahl von Persönlichkeiten ähnlicher Veranlagung, man brauchte ja nur die letzten Nummern der ?Zukunft? zu lesen, wandte sich der Kronprinz, der zufällig den letzten Teil der Unterhaltung gehört hatte, zu den Herren und bat um Aufklärung. Er ließ sich dann die betreffenden Nummern der ?Zukunft? geben und besprach mit dem Chef des Militärkabinetts, dem Grafen Hülsen-Häseler, ob es nicht notwendig sei, daß dieser dem Kaiser von der ganzen Angelegenheit Mitteilung mache. Graf v. Hülsen-Häseler lehnte dies ab unter Hinweis darauf, daß Fürst Eulenburg, um den es sich ja in erster Linie handle, gar nicht Offizier sei, redete aber dem Kronprinzen zu, dem Kaiser selbst Mitteilung zu machen. Der Kronprinz wandte anfangs ein, daß er sich zu der Mission zu jung fühle, sprach aber am 2. Mai dann doch über die Vorgänge und Veröffentlichungen mit dem Kaiser. Dieser beschied darauf sofort den Chef des Militärkabinetts, Grafen v. Hülsen-Häseler, und den Minister des Innern von Bethmann Hollweg zu sich, welch letzterer den Berliner Polizeipräsidenten v. Borries aus Kissingen telegraphisch zurückbeorderte. Es fand eine mehrstündige Unterredung statt, in der in erster Linie Graf von Hülsen-Häseler das Wort führte und deren Endergebnis war, daß Graf Wilhelm Hohenau, bisher General à la suite des Kaisers, Graf Kuno v. Moltke, bisher Stadtkommandant von Berlin, und vor allem Fürst Philipp zu Eulenburg, einer der einflußreichsten Freunde des Kaisers, aus ihren hohen Stellungen verabschiedet wurden. Ein viertes der von Harden genannten Mitglieder des Eulenburgschen Freundeskreises, der Geheime Legationsrat v.B., hatte es vorgezogen, noch vor Eintritt der Katastrophe seinen Abschied einzureichen, welcher ihm, freilich ohne die sonst üblichen Ehrungen, bewilligt wurde.“ Hier wird gesagt, der Kläger habe seine Stellung als Stadtkommandant wegen der vom Beklagten behaupteten homosexuellen Veranlagung verloren. In dem jetzigen Prozeß hat der Kläger behauptet, daß der Verlust seiner Stellung mit den das sexuelle Gebiet berührenden Angelegenheiten nichts zu tun hat. Wenn diese Erklärung des Grafen nicht richtig ist, so ist das ein weiterer Beitrag zur Lösung der Frage, ob ein Mann wie der Kläger geeignet gewesen ist, die Stellung zu Sr. Majestät einzunehmen, die er tatsächlich eingenommen hat und jetzt nicht mehr einnimmt. Es ist auch ein Beitrag zu der Frage, ob in der Tat das Ungeheuerliche geschehen ist, daß man angesichts der Wahrheit dieser Dinge, die niemandem besser bekannt sein mußten als dem Kläger, die Ungeheuerlichkeit gewagt hat, die Öffentlichkeit, ganz Deutschland über diese Dinge zu düpieren, ich will nicht sagen: belügen zu wollen. Ich bitte, Herrn Dr. Hirschfeld darüber zu vernehmen, ob er wegen dieses Artikels von dem Herrn Fürsten Eulenburg, vom Grafen Moltke oder irgendeinem dieser Leute verklagt worden ist. Justizrat Bernstein beantragte dann noch die Vernehmung des Fräulein Mille, die bekunden soll, daß sie in einem Schreiben selbst zugegeben habe, sie sei von den Gegnern der Frau v. Elbe gemißbraucht worden zu der Verdächtigung dieser Frau.

Der inzwischen zurückgekehrte Kriminalkommissar v. Tresckow bekundete: Se. Durchlaucht hat mich empfangen, ich habe meinen Auftrag ausgerichtet, und er hat es abgelehnt, den Zeugen zu sehen oder von ihm gesehen zu werden. Se. Durchlaucht lag krank im Bett und motivierte seine Ablehnung wie folgt: Der Zeuge könnte glauben, ihn zu erkennen und würde dann zum Eide zugelassen werden und schwören. Dazu möchte er es nicht kommen lassen, er möchte sich auch wehren können und bitte, ihn in Gegenwart von Gerichtspersonen dem Zeugen gegenüberzustellen und in seiner Wohnung zu vernehmen. Er wolle diesem Zeugen nicht wehrlos gegenüber stehen.

Vors.: Hatten Sie dem Fürsten gesagt, zu welchem Zweck Sie kämen?

Zeuge: Jawohl, ich hatte ihm gesagt, daß der Zeuge ihn sehen solle. Um was es sich handelte, wußte er aus den Zeitungen.

Justizrat Dr. von Gordon: Die Erklärung des Fürsten Eulenburg ist eine durchaus korrekte und berechtigte. Ich lege nunmehr auch ein Attest des Gerichtsarztes Medizinalrats Dr. Leppmann über den Gesundheitszustand des Fürsten vor. Aus dem Attest, welches zur Verlesung gelangte, ging hervor, daß der Fürst krank im Bett liegt und nicht ausgehen kann. Eine Stelle des Attestes sprach auch davon, daß der Fürst in Krankheitsvorstellungen befangen sei.

Vert. Justizrat Bernstein: Ich sehe aus dem Attest eigentlich nur, daß der Fürst nicht wohl ist. (Heiterkeit.)

Vors.: Hält der Beklagte die Behauptung aufrecht, daß der Privatkläger sich in dem in den Artikeln geschilderten Freundeskreise bewegt hat?

Justizrat Dr. v. Gordon: Das wird entschieden bestritten.

Vert. Justizrat Bernstein: Ich brauche bloß darauf hinzuweisen, daß Fürst Eulenburg seit 40 Jahren der allerintimste Freund des Privatklägers ist!

Harden: Fürst Eulenburg und Graf Kuno v. Moltke sind die Intimsten der Intimen, Herr Lecomte ist seit vielen Jahren mit Eulenburg intim befreundet. Er war mit dem Privatkläger schon bekannt, als die jetzige Frau v. Elbe noch Frau Gräfin Moltke war. Man braucht bloß auf das Wort ?Tes amis sont mes amis? hinzuweisen, und das Trio Eulenburg-Moltke-Lecomte ist gegeben. Bleibt Graf Hohenau. Graf Wilhelm Hohenau ist mit dem Privatkläger sehr genau bekannt, entfernt mit ihm verwandt, sie duzen sich, er ist der Sohn des Prinzen Albrecht (Vater), also ein Hohenzoller, der Kaiser duzte ihn und hatte ihn Willi genannt. Graf Wilhelm Hohenau und der Privatkläger amtierten in der allernächsten Nähe des Kaiserlichen Herrn. Ich dächte, das ist doch wohl eine Gruppe zu nennen!

Vors.: Bleiben Sie dabei, daß dem Privatkläger die homosexuellen Neigungen der übrigen Mitglieder der Gruppe bekannt waren?

Harden: Ich bin überzeugt, Graf Moltke hat gewußt, daß Fürst Eulenburg homosexuell veranlagt ist. Er hat bezüglich des Herrn Lecomte zugegeben, daß über ihn Gerüchte umliefen. Diese Gerüchte gingen über den Grafen Hohenau schon sehr lange um. (Mit erhobener Stimme): Die gegen den armen, schwer erblich belasteten Mann, den ich wahrhaftig hier nicht hineingezogen hätte, wenn ich mich nicht gegen einen Wust von Unwahrheiten und Verdächtigungen zu verteidigen hätte, erhobenen Vorwürfe und elenden Erpressungen waren so bekannt, daß ich es für unmöglich halte, daß der hier als „unpolitisch“ hingestellte Graf Kuno v. Moltke es nicht gewußt haben sollte. (Mit lauter Stimme und auf den Tisch schlagend): Ich habe es gewußt, ich wohne im Grunewald und bin Schriftsteller und weiß es seit Jahren! Es würde ein merkwürdiges Maß Naivetät verraten, wenn der Privatkläger es nicht gewußt haben sollte. Wenn Anreden gewechselt werden wie „Mein Geliebter! Meine Seele! Ich halte mich verpflichtet, meinen Freunden zu leben! Ich kann auch nach meiner Veranlagung nur meinen Freunden leben,“ derartige Sachen legen doch mindestens den Verdacht nahe, daß seine Freundschaft „erotisch betont“ war. (Mit zornbebender Stimme): Es schreien’s ja doch die Spatzen von den Dächern!! Drängen Sie mich noch weiter, dann würde ich Ihnen Mitglieder von Herrscherhäusern vorführen, die da sagen: Ist es denn möglich, daß das überhaupt noch bestritten wird! (Auf den Privatkläger weisend und laut ausrufend): Dieser Mann hat sich ja doch den Rock nur zu erhalten gewußt durch eine Unwahrheit!!

Der Vorsitzende ersuchte den Angeklagten, sich zu mäßigen.

Justizrat Bernstein: In einer und derselben Stunde sind die drei in den Artikeln genannten Männer ihrer Stellung verlustig gegangen! Hat Graf Kuno Moltke wirklich den Mut, zu leugnen, daß der Verlust der Stellung seitens der drei Herren in unlösbarem Zusammenhang mit ihren sexuellen Neigungen stand? Ich berufe mich eventuell in dieser Beziehung auf den Chef des Militärkabinetts, von Hülsen-Häseler.

Vors.: Herr Privatkläger, wollen Sie sich einmal darüber äußern?

Graf Moltke: Es ist im allgemeinen nicht Sitte, daß man über militärische Intimitäten spricht. Ich äußere mich darüber nur soweit als es zulässig ist. Ich habe meinen Abschied eingereicht unter der Motivierung, daß ich unter einem Verdacht stehe, dessen Beseitigung zunächst nicht sofort möglich war, der es aber nicht angängig erscheinen ließ, daß ich unter der Wucht solcher Verleumdungen in meiner Stellung bleibe. Ich habe wegen dieser Anschuldigung meinen Dienst aufgeben müssen, meine 42jährige Karriere, die ich geliebt habe, beendigt, meinen Rock, den ich in Ehren getragen, ausgezogen. Ich war Kommandeur der Leibkürassiere in Breslau und kann wohl kaum in solcher Stellung das süßliche Wesen gezeigt haben, wie es kaum einem Leutnant zuzumuten ist. Da ich durch den Angeklagten um mein Amt und meine Ehre gekommen bin, so hoffe ich, daß der Gerichtshof dies bei der Abmessung der Strafe berücksichtigen wird.

Vors.: Sind Sie also lediglich wegen dieser Artikel aus dem Dienst geschieden?

Graf Moltke: Ja.

Vors.: Sind Sie denn nicht von zuständiger Seite irgendwie befragt worden, ob es wahr ist, was in den Artikeln stand?

Graf Moltke: Ich habe darauf nein gesagt.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich beantrage, den Herrn v. Hülsen-Häseler zu vernehmen; er wird bezeugen, daß dem Privatkläger an derenfalls doch nicht die Uniform belassen worden wäre. Ich beantrage ferner, Herrn Staatssekretär v. Bethmann Hollweg und den Polizeipräsidenten v. Borries darüber zu vernehmen, daß die in der Zeitschrift des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ gegebene Darstellung der Vorgänge nicht richtig ist.

Weiter: Wenn Fürst Bismarck geglaubt hätte, der Privatkläger sei ein Päderast, so hätte er doch das tun müssen, was unterlassen zu haben der Angeklagte dem Privatkläger vorwirft: nämlich vor den Kaiser zu treten und ihm Vortrag zu halten.

Was schließlich die beabsichtigte Intrige in den Spalten des „Gaulois“ betrifft, so haben wir dies nicht behauptet, sondern es ist von einem Königlich Preußischen Landgericht in einem Urteil festgestellt.

Graf Moltke: Ich erkläre nochmals, daß ich von den Neigungen des Grafen Hohenau nichts gewußt habe und berufe mich in dieser Beziehung auf meinen Neffen, Herrn v.d. Marwitz. Übrigens ist es eine völlige Verkennung der Verhältnisse, wenn angenommen wird, es wäre meine Aufgabe gewesen, als Denunziant aufzutreten. Als Kommandant von Berlin hatte ich andere Aufgaben.

Justizrat Bernstein: Jedenfalls aber nicht die Aufgabe, mit Päderasten zu verkehren!

Graf Moltke: Das ist eben nicht wahr!

Harden: Der Herr Graf Moltke hat soeben hier gesagt, er habe einen Neffen, den Herrn v. Marwitz, der beschwören werde, daß ihm der Kläger gesagt habe, er habe mit Hohenau nicht das geringste zu tun gehabt und wisse auch nichts von den gegen Hohenau erhobenen Anschuldigungen. Ich möchte wissen, weshalb er überhaupt etwas zu seinem Neffen über die Affäre gesagt hat. Ich nehme an, daß er deshalb nur darüber gesprochen hat, weil ihm mitgeteilt worden war, er sei ebenfalls darin verwickelt. Vielleicht beantwortet mir der Herr Kläger nun endlich die Frage: Weshalb sind die Herren Graf Hohenau, Fürst Eulenburg, der Herr Graf Moltke selbst und der französische Herr Lecomte aus ihren Ämtern verschwunden? Der letztere ist überhaupt aus Berlin verschwunden. Ich möchte fragen, ob wohl ein Gerichtshof, der diese Tatsachen kennt, daran zweifeln wird, daß dieses Verschwinden der Herren darauf zurückzuführen ist, daß deren Namen in der „Zukunft“ genannt worden sind. Ich glaube auch weiter, wenn nicht von der höchsten Stelle des Landes selbst Ermittelungen nach gewisser Richtung angestellt worden wären, die nicht wiederum ein gewisses Resultat gehabt hätten, so wären die Herren heute noch auf ihren alten Posten.

Über diesen Punkt entspannen sich äußerst heftige Auseinandersetzungen zwischen Harden und dem Grafen Moltke.

Justizrat Bernstein: Wollen mir der Herr Graf mitteilen, weshalb sich. Fürst Eulenburg nicht mehr auf seinem Botschafterposten befindet?

Graf Moltke: Das weiß ich doch nicht, was geht mich das an!

Justizrat Bernstein: Der intimste Freund des Fürsten, der seit vierzig Jahren mit ihm verkehrt, soll nicht wissen, weshalb der Fürst von der Bildfläche verschwunden und in Ungnade gefallen ist.

Graf Moltke: Ich weiß es nicht, weshalb, ich habe auch kein Schriftstück gesehen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Darauf erstattete Dr. med. Magnus Hirschfeld, Spezialnervenarzt in Berlin, folgendes Gutachten: Ich habe aus der Beweisaufnahme die wissenschaftliche Überzeugung gewonnen, daß bei dem Kläger, Herrn Grafen Kuno v. Moltke, objektiv ein von der Norm, d.h. von den Gefühlen der Mehrheit abweichender Zustand vorliegt, und zwar eine unverschuldete, angeborene und m.E. in diesem Fall ihm selbst nicht bewußte Veranlagung, die man als homosexuell zu bezeichnen pflegt. Wir verstehen unter homosexuell jemanden, der homosexuell empfindet, der sich zu Personen des gleichen Geschlechts in wirklicher Liebe hingezogen fühlt. Ob er sich dabei homosexuell betätigt, ist vom naturwissenschaftlichen. Standpunkt nebensächlich. Wie es Normale gibt, die keusch leben, so gibt es Homosexuelle, deren Liebe einen ausgesprochen seelischen, ideellen, ?platonischen? Charakter trägt. Die objektive Diagnose der Homosexualität ist im Einzelfalle nicht leicht, sie stützt sich im wesentlichen auf drei Punkte: einmal auf das Verhalten gegenüber Personen des anderen Geschlechtes, dann auf das gegenüber Personen des gleichen Geschlechtes und drittens auf die geistige und körperliche Gesamtpersönlichkeit, welche bei einem homosexuellen Mann durch einen Einschlag femininer Eigenschaften, bei der homosexuellen Frau durch männliche Züge charakterisiert ist. Für diese Symptomendreiheit finden sich hier deutliche Anzeichen: In bezug auf das Empfinden für das weibliche Geschlecht lege ich den Hauptwort auf die Worte des Klägers wie: „Du bist mir nicht als Mensch, sondern als Weib zuwider,“ ferner „die Gattin solle als schönes Märchen wunschlos neben ihm leben.“

Könnte Herr Graf von Moltke, wie seine Gattin von sich sagt, daß sie vor und nach ihrer Ehe mit Graf Moltke in glücklicher Ehe gelebt habe, auch seinerseits nachweisen, daß er vorher und nachher in normalsexuellen Beziehungen gestanden habe, so wäre dies von wesentlicher Bedeutung, denn der hier erwähnte geistige, ritterliche Verkehr mit edlen Frauen ist kein hinreichendes Argument. Ich erblicke in dem vorliegenden Fall die ganze furchtbare Tragik der Ehe eines Homosexuellen, wie ich sie schon häufig zu sehen Gelegenheit hatte, hier aber besonders dadurch kompliziert, daß sie mit einer 26jährigen Frau geschlossen wurde, die vorher 8 Jahre mit einem normalsexuellen Mann verheiratet war und offenbar, da sie den Herrn Kläger außerordentlich stark liebte, infolge mangelnder sexueller Befriedigung in einen hochgradig nervös gereizten Exaltationszustand verfiel. Ich möchte daran erinnern, daß das Wort Hysterie von hysteron (Uterus) abzuleiten ist, ein Zusammenhang, der neuerdings wieder von Professor Freund, Wien als ausschlaggebend betont wurde. Sollten die starken Worte des Kontrainstinkts, welche der Herr Kläger für die sexuelle Betätigung ohne seelische Liebe angewendet hat, so gefallen sein, wie sie hier zur Sprache kamen, so würden sie etwa den Ausdrücken entsprechen, wie sie der Normale gegenüber homosexuellen Beziehungen anwendet, und dadurch verständlich werden. Was nun das Verhalten des Herrn Grafen männlichen Personen gegenüber betrifft, so ist dies als ein ungewöhnlich schwärmerisches und gefühlvolles zu bezeichnen. Als besonders von der Norm abweichend erscheinen mir die Ausdrücke wie: „Mir sind meine Freunde die Nächsten“, „Wenn es nur bei meinen Freunden schön ist“, ferner die Anreden „Mein Alles, meine geliebte Seele“, sowie die Taschentuchepisode und die Szene am Heiligabend. Wenn Herr Graf von Moltke diesen Zeugenaussagen gegenüber hervorhebt, daß er doch aus der Verehrung für seine Freunde kein Hehl gemacht habe, weil sein Gewissen rein und seine Freundschaft edel gewesen sei, so kann ich ihm hierin vollkommen beistimmen. Die homosexuelle Liebe kann ebenso rein sein, wie die normale, und es liegt hier in dem betreffenden Falle nichts vor, was für das Gegenteil spricht. Als der Herr Graf hier ausrief: „Meine Freundschaft ist klar und rein wie die Sonne“, erinnerte mich dies an eine Stelle aus einem anderen Prozeß, bei dem auch die homosexuelle Frage eine Rolle spielte, dem Prozeß des unglücklichen englischen Dichters Oskar Wilde. Als der Richter Gill ihn fragte: „Von was für einer Liebe reden Sie denn eigentlich?“ antwortete Wilde: „Von einer edlen, herrlichen Form der Zuneigung, die in diesem Jahrhundert nicht ihren Namen nennen darf, von der Liebe, wie sie zwischen David und Jonathan bestand, wie sie Platon zur Grundlage seiner Philosophie machte, und wie wir sie in den Sonetten Michelangelos und Shakespeares finden, von jener Liebe, welche in unserem Jahrhundert so verkannt wird, daß ich ihretwegen jetzt da bin, wo ich mich heute sehe.“ Der feminine Einschlag bei homosexuellen Männern ist, allgemein gesprochen, meist dadurch gekennzeichnet, daß eine größere Empfindsamkeit und Empfänglichkeit vorhanden ist, ferner ein Vorherrschen des Gefühlslebens, ein stark künstlerischer Sinn, besonders auch in musikalischer Hinsicht, vielfach auch ein Hang zum Mystizismus sowie allerlei weibliche Neigungen und Gewohnheiten in gutem und weniger gutem Sinne. Diese Mischung macht jedoch den Homosexuellen als solchen nicht minderwertig, er ist den Heterosexuellen zwar nicht gleichartig, aber doch gleichwertig. Inwieweit der feminine Einschlag bei dem Herrn Grafen Kuno von Moltke vorhanden ist, kann ich heute nicht mit Bestimmtheit beurteilen. Dazu kenne ich ihn zuwenig, es bedürfte hierzu einer viel längeren Beobachtung. An schwerwiegenden Anhaltspunkten fehlt es jedenfalls in dem Komplex der hier geschilderten Charaktereigenschaften nicht. Ich fasse daher mein Gutachten dahin zusammen: Der objektive Beweis des vom Herrn Beklagten behaupteten normwidrigen Empfindens und Verhaltens und einer von der Norm abweichenden Männerfreundschaft erscheint mir ohne Zweifel erbracht, wider die Norm ist aber nicht wider die Natur. Ich bin auf Grund meiner Beobachtungen, die sich auf über 5000 Homosexuelle erstrecken, zu der Überzeugung gelangt, daß die Homosexualität, die heute nicht häufiger ist, als zu irgendeiner früheren Zeit, die in höheren Ständen nicht öfter vorkommt, als in irgendeinem anderen, und die in Deutschland nicht verbreiteter ist, als in den Vaterländern Raymond Lecomtes und Oskar Wildes, daß diese Homosexualität ebenso im Plane der Natur und Schöpfung liegt, wie die normale Liebe. Möge einst auch von diesem Prozeß gesagt werden können: „Ex tenebris lux“.

Um die Soldaten vor dem Mißbrauch der Dienstgewalt zu schützen, bedarf es nicht des auf gänzlich falschen Voraussetzungen beruhenden § 175, der schon mehr als genug Menschenopfer gefordert hat!

Vorsitzender Amtsrichter Dr. Kern: Herr Sachverständiger, gibt es nicht verschiedene Arten von Homosexualität? Wir wollen nicht von den schlimmen Arten sprechen, die gestern hier zur Sprache gekommen sind, sondern von den weit harmloseren. Würden Sie zum Beispiel darin, daß jemand das Taschentuch seines Freundes zärtlich an den Mund drückt, eine Bestätigung einer homosexuellen Veranlagung erblicken?

Dr. Magnus Hirchfeld: Es kommt darauf an; wenn man in einer Betätigung der Homosexualität lediglich sexuelle Handlungen erblickt, so würde ich in der Handlung mit dem Taschentuch keine Betätigung erblicken. Trotzdem könnte man auch hierin im engeren Sinne einen homosexuellen Akt erblicken. Ich persönlich lich halte dies nur als ein Zeichen der Innigkeit des seelischen Empfindens.

Vors.: Gibt es auch Homosexuelle, die allein darin schon ihre Befriedigung finden, daß sie sich in den Kreisen homosexuell veranlagter Männer bewegen?

Dr. Hirschfeld: Vielen gewährt dies allerdings eine rein äußerliche Befriedigung. Ich bin jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß die übrigen hier genannten Herren des Kreises es vielleicht verstanden haben, ihre Neigungen zu verbergen. Gerade ein Homosexueller ist immer gewillt, seine Neigung zu kaschieren. Es kommt häufig vor, daß ein homosexuell veranlagter Mann sich so bewegt, daß seine nächste Umgebung nichts von seiner Veranlagung bemerkt. Wenn dann plötzlich diese zur Kenntnis gelangt, hört man häufig, das hätte niemand geglaubt, daß er auch „so“ ist.

Justizrat Dr. v. Gordon: Würden Sie ihre Ansicht ändern, wenn ich Ihnen sage, daß der Herr Graf Moltke in Breslau längere Zeit vor seiner Heirat ein weibliches „Verhältnis“ hatte?

Dr. Hirschfeld: Nein, das ändert nichts an meinem Gutachten. In Anknüpfung an das Gutachten des Dr. Hirschfeld entwickelte sich eine sehr lebhafte Erörterung über die einzelnen Schattierungen und Nuancen, die auf dem großen Gebiete der Homosexualität zu beobachten seien. Es beteiligten sich daran die beiden juristischen Sachwalter, der Angeklagte und der Sachverständige Dr. Magnus Hirschfeld. Diese mehr wissenschaftlichen Ausführungen nahmen längere Zeit in Anspruch. Es wurde unter anderem davon gesprochen, daß es nicht ausschließt, daß Homosexuelle sich auch verheiraten, zumal sie mehrfach von ihrer Umgebung zur Verheiratung gedrängt werden, so daß alsdann zu dem Unglück ihrer anormalen Veranlagung auch noch das Faktum einer unglücklichen Ehe trete, daß viele Homosexuelle ihre Neigungen kaschieren.

Graf v. Moltke: Mein Freundschaftsverhältnis zum Fürsten zu Eulenburg ist ein durchaus reines und männliches. Es befestigte sich, als ich in München mit ihm zusammen kam und er mich in Künstlerkreise einführte, in Kreise, wo Lenbach, Kaulbach usw. verkehrten, wo es geistig hoch herging und wo man viele Anregungen empfing. Diese Freude über den Verkehr mit einem geistig anregenden Manne hat sich in unserem schriftlichen Verkehr ausgedrückt.

Verteidiger Justizrat Bernstein: Der Sachverständige hat sich ebenso wie Dr. Moll und andere selbst über Homosexualität in der „Zukunft“ geäußert und kennt doch wohl den Standpunkt des Angeklagten zu dieser Frage. Trauen Sie ihm zu, daß er jemand nur wegen seiner homosexuellen Neigungen in seiner Zeitschrift angreifen wird?

Sachverständiger Dr. Hirschfeld: Nein! Bei der weiteren Erörterung wurden hauptsächlich Fragen berührt die sich auf die sexuellen und psychologischen Eigenschaften der Homosexuellen und die Folgen dieser Eigenschaften im ehelichen Verkehr beziehen.

Dr. Hirschfeld bemerkte hierbei, daß Graf Hohenau seine homosexuelle Veranlagung außerordentlich vorsichtig verborgen gehalten habe.

Harden: Würde der Herr Sachverständige bei dieser Meinung bleiben, wenn er erfährt, daß Graf Hohenau in Gemeinschaft mit dem Grafen Lynar mit den von ihnen gebrauchten Soldaten im Park der Villa Sekt getrunken hat, sich von ihnen beim Vornamen nennen ließ und ihnen Briefe geschrieben hat mit dem Aufdruck „Kgl. Schloß"?

Dr. Hirschfeld: Hier handelte es sich auch um Mitschuldige.

Harden: Herr Dr. Hirschfeld hat den Privatkläger lange gesehen und reden hören. Der Privatkläger wendet sonst vielleicht noch mehr kosmetische Mittel an als es hier der Fall ist. (Graf Moltke schlug erregt mit der Faust auf den Tisch.) Ich bitte, sich nicht zu erregen. Es ist beschworen, daß der Kläger Rot auflegt, und die Verwendung kosmetischer Mittel ist doch nichts Ehrenrühriges. Ich frage, ob der Herr Sachverständige nach seinem persönlichen Eindruck von dem Privatkläger sagen kann: das ist ein normaler preußischer General.

Dr. Hirschfeld: Ich kenne den Kläger zu wenig, um darüber urteilen zu können. Den Homosexuellen ist allerdings meist ein femininer Einschlag eigen, ich kann aber noch nicht sagen, ob dies bei dem Privatkläger der Fall ist.

Graf Moltke: Ich bitte, meine beiden Diener darüber zu vernehmen, welche kosmetischen Mittel ich anwende. Man will mir hier einen weibischen Anstrich geben, den ich nicht besitze. In der weiteren Erörterung wies Harden darauf hin, daß Homosexuelle, die sich gezwungen sehen, ihre wahre Veranlagung vor der Welt durch eine Maske zu verbergen, durch diese innere Unwahrhaftigkeit leicht großen Schaden anrichten können, wenn sie in größerer Zahl sich um die Person des Monarchen gruppieren und diesem ein falsches Bild der realen Verhältnisse geben.

Dr. Hirschfeld bemerkte hierzu, daß die Charaktere der Homosexuellen sehr verschieden seien.

Auf eine bezügliche Frage des Justizrats Dr. v. Gordon setzte der Sachverständige Dr. Hirschfeld auseinander, daß er allerdings Michelangelo als Homosexuellen in Anspruch nehmen müsse. Was Friedrich den Großen betrifft, so sei das eine viel erörterte Frage. Es werde vielfach angenommen, daß bei Friedrich II. ein sehr starker homosexueller Einschlag vorhanden war. Der Sachverständige setzte des längeren auseinander, weshalb auch er dieser Meinung sei. Durch Friedrichs des Großen ganzes Leben zog sich eine Kette der ausgesprochensten innigsten Männerfreundschaft.

Graf Moltke: Ich muß noch einmal aufs entschiedenste wiederholen, daß ein solcher Kreis, wie er in der „Zukunft“ angedeutet ist, nicht existiert. Ich bestreite dies nachdrücklichst! Wenn ein solcher Kreis existierte, so müßte doch nachzuweisen sein, daß dieser Monsieur Lecomte einmal an der Tafel des Kaisers Platz genommen hätte, was nicht der Fall ist.

Verteidiger Justizrat Bernstein: Herr Harden hat niemals von der Tafel des Kaisers gesprochen.

Justizrat Dr. v. Gordon: O bitte, es steht doch in den Artikeln von der Tafelrunde.

Harden: Es ist nur von der Tafelrunde des Fürsten Eulenburg die Rede.

Justizrat Dr. v. Gordon hielt es für durchaus notwendig, nun auch den zweiten Sachverständigen, Dr. Merzbach, zu hören.

Hierauf wurde der Sachverständige Dr. med. Georg Merzbach (Berlin) vernommen.

Vors.: Sind Sie nach dem, was Sie gehört haben, vorausgesetzt, daß die Bekundungen der Frau v. Elbe richtig sind, der Meinung, daß der Privatkläger homosexuell veranlagt ist?

Sachverständiger Dr. Merzbach: Nein. Der hohe Gerichtshof hat das außerordentlich klare Gutachten meines Mitarbeiters gehört, doch glaube ich, daß ich zu einem anderen Ergebnis kommen muß. In den inkriminierten Artikeln ist von Herrn Harden dem Privatkläger das Vorhandensein normwidriger Triebe zum Vorwurf gemacht worden. (Harden ruft: Wo?) Was versteht man unter krankhaftem Geschlechtssinn und Geschlechtstrieb? Eine Norm ist im sexuellen Leben absolut nicht festgelegt. Der Privatkläger hat im Alter von 47 Jahren die Ehe geschlossen und Jahre hindurch ein ganz normales Leben geführt, bis dann eine sogenannte psychische Impotenz bei ihm eingetreten ist, die auf diese oder jene Eigenschaften der Frau zurückzuführen sein dürfte. Das Gerücht von dieser Impotenz ist von der Seite verbreitet worden, die sich unbefriedigt durch den Verkehr mit ihrem Gatten fühlte, und auch das Gerücht von der Homosexualität ist von derselben Seite ausgegangen. (Harden und sein Verteidiger rufen laut: Beweise!) Dr. Merzbach fuhr fort: Frau v.d. Marwitz wird es bekunden. (Unruhe.)

Justizrat Bernstein: Ich bestreite nach dieser Bekundung die Qualität dieses Herrn als Sachverständigen überhaupt. Ich beantrage an Stelle dieses Herrn Herrn Prof. Eulenburg oder Herrn Dr. Moll als Sachverständigen zu vernehmen.

Harden: Woher ist dem Herrn Dr. Merzbach bekannt, was Frau v.d. Marwitz demnächst sagen wird?

Dr. Merzbach: Ich habe über das Geschlechtsleben des Grafen v. Moltke auch bei Personen seiner Umgebung Nachfrage gehalten und habe festgestellt, daß Graf v. Moltke ein durchaus korrektes, unantastbares Geschlechtsleben geführt hat und daß alsdann eine psychische Impotenz eingetreten ist. Was die Homosexualität betrifft, so hat der Privatkläger keine krankhaften Züge dem anderen Geschlecht gegenüber aufgewiesen. (Unterbrechung durch Harden.) Was die Homosexualität angeht, so liegt kein Anhaltspunkt vor, daß sein Verhalten dem Fürsten Eulenburg gegenüber irgendwelche Rückschlüsse gestattet. Graf v. Moltke ist eine ideale überschwengliche Natur und...

Justizrat Bernstein unterbrechend: Ich bestreite dem Herrn Dr. Merzbach, daß er vermöge seiner besonderen Kenntnisse auf dem Gebiete als Sachverständiger qualifiziert ist. Der Vorsitzende war in der Lage, den Herrn wiederholt zu unterbrechen und ihn darauf hinzuweisen, daß er sein Gutachten nur auf Grund der Ergebnisse dieser Verhandlung abzugeben hat und nicht auf Grund privater Erkundigungen. Ein Sachverständiger, der in dieser Weise alle zwei Minuten unterbrochen werden muß, ist nicht imstande, hier als Sachverständiger zu fungieren. Ich protestiere gegen dessen weitere Vernehmung und schlage wiederholt Herrn Prof. Dr. Eulenburg oder Herrn Dr. Moll als Sachverständige vor.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich hatte gerade Herrn Dr. Merzbach vorgeschlagen, weil er der zweite Vorsitzende des wissenschaftlich-humanitären Komitees ist und genau dieselbe Grundanschauung hat, wie Dr. Hirschfeld.

Harden: Ich habe wohl 50 Briefe von Ärzten bekommen, in denen es hieß, daß ich gegen diesen Sachverständigen doch sofort protestieren müßte, da nicht der geringste Grund vorliegt, diesen Herrn als Sachverständigen gelten zu lassen. Ich frage, auf Grund welcher wissenschaftlichen Arbeiten Herr Dr. Merzbach, der in der Chausseestraße praktiziert und an seinem Hause ein Schild hat: „Arzt für Haut und Geschlechtskrankheiten“ zur Qualität eines Sachverständigen kommen soll?

Vors.: Herr Dr. Merzbach, sind Sie schon einmal medizinischer Sachverständiger gewesen?

Dr. Merzbach: Gewiß, schon sehr häufig!

Justizrat Bernstein: Ich wiederhole, daß sich dieser Sachverständige einseitig auf Angaben stützte, die ihm vom Privatkläger und dessen Freunden gemacht worden sind. Das Gutachten des Dr. Hirschfeld war das Muster eines völlig unparteiischen Gutachtens, Dr. Merzbach kann aber nicht als unparteiisch gelten.

Das Gericht zog sich zur Beratung über diesen Ablehnungsantrag zurück.

Vors.: Amtsrichter Dr. Kern verkündete darauf folgendes: gendes: Das Gericht will dem Sachverständigen durchaus nicht nahetreten, es ist aber der Ansicht, daß der Sachverständige außerhalb der Beweisaufnahme ein Bild gewonnen hat, welches er nunmehr in seinem Gutachten wiedergibt. Dies hält das Gericht nicht für zulässig; deshalb nimmt es von der weiteren Vernehmung Abstand.

Auf die Frage, ob noch weitere Beweisanträge gestellt werden, erklärte Justizrat Bernstein: Ich habe wesentliches Interesse an der Vernehmung des Chefredakteurs Dr. Liman, der wörtlich folgendes bekunden wird: „Im Laufe eines Gesprächs mit ihm hat Fürst Bismarck folgendes geäußert: Die Hintermänner im doppelten Sinne, auch im physischen – siehe Eulenburg – sitzen in Liebenberg. Diese Leute umgeben den Kaiser und schließen ihn ab. Der Kaiser glaubt, daß niemand ihn beeinflußt, und für die amtlichen Berater trifft das zu; aber die Leute, diese Menschen, die ihm an Geist und Willen unterlegen sind, haben eine gegenseitige Lebensversicherung abgeschlossen. Diese männlichen Kinäden treiben alles von ihm fort, was ihnen paßt. Das schlimmste ist, daß solche Leute immer die Meinung des regierenden Herrn haben. Wenn der Kaiser etwas sagt und sich umsieht, sieht er immer nur anbetende Gesichter auf sich gerichtet. Sie geben ihm immer recht und schaffen so ein Gegengewicht gegen die Berater, die ihm pflichtgemäß opponieren müssen.“

Es erschien auf Aufruf in Majorsuniform der Platzmajor Ernst von Hülsen im Saal.

Vors.: Herr Major, Sie sollen darüber vernommen werden, ob der Herr Privatkläger Kuno v. Moltke wußte, daß sich in dem bekannten Freundeskreis Herren befanden, die homosexuell veranlagt waren. Hat Herr Graf Moltke einmal irgend etwas mit Ihnen darüber gesprochen?

Zeuge: Nein, darüber ist nichts gesprochen worden, wenigstens hat in meinem Beisein Exzellenz Graf Moltke hierüber nichts geäußert.

Vors.: Haben Sie selbst vielleicht eigene Wahrnehmungen darüber gemacht?

Zeuge: Nein, ich habe mich nicht darum bekümmert.

Justizrat Dr. v. Gordon: Haben Sie selbst etwas gewußt, daß sich Graf Lynar sexuelle Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen?

Zeuge: Nein.

Justizrat Bernstein: Herr Major, ich lege auf folgende Frage besonderes Gewicht: Ist Ihnen bekannt, warum sich Graf Moltke, Fürst Eulenburg und Graf Hohenau nicht mehr in ihren früheren Stellungen befinden?

Zeuge (nach minutenlangem Zögern): Bestimmtes weiß ich nicht

Vors.: Sie müssen aber auch dasjenige bekunden, was Ihnen überhaupt bekannt ist, wenn auch nicht bestimmt.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich möchte vor allen Dingen den Herrn Zeugen fragen, ob er von diesen Dingen etwa in dienstlicher Eigenschaft Kenntnis erhalten hat. In diesem Falle müßte er sein Zeugnis so lange verweigern, bis er von seinem Vorgesetzten von der Schweigepflicht entbunden ist.

Vors.: In welcher Eigenschaft haben Sie denn Kenntnis von diesen Dingen erhalten?

Zeuge: Als Untergebener des damaligen Stadtkommandanten Grafen Moltke habe ich amtliche Schriftstücke zu Gesicht bekommen, in denen von solchen Dingen die Sprache war. Ich darf also hierüber nicht aussagen. Es handelte sich um eine amtliche Order, die im Bureaudienst durch meine Hände gegangen ist.

Justizrat Dr. v. Gordon: Ich habe absolut nichts dagegen, wenn der Herr Zeuge alles aussagen würde, was er weiß, aber der Herr darf das nicht. (Heiterkeit.)

Zeuge: Ich bitte, noch einmal die Frage an mich stellen zu wollen, die ich beantworten soll.

Justizrat Bernstein: Sie sollen uns nur sagen, weshalb die Herren Fürst Eulenburg, Graf Moltke und Graf Hohenau sich nicht mehr in ihren Ämtern befinden?

Zeuge: Von Sr. Durchlaucht dem Fürsten zu Eulenburg weiß ich überhaupt nichts zu sagen.

Justizrat Bernstein: Hat der Herr Zeuge nie außeramtlich gerüchtweise etwas davon gehört, weshalb Fürst Eulenburg nicht mehr Botschafter z.D. ist?

Der Zeuge zögerte wieder längere Zeit mit der Antwort.

Vors.: Es hilft nichts, Sie müssen dies sagen.

Zeuge: Ich weiß nur, daß es hieß, Graf Eulenburg habe sexuelle Beziehungen unterhalten, die in die Öffentlichkeit gedrungen seien und ihm geschadet haben.

Justizrat Dr. v. Gordon: Wer hat Ihnen das mitgeteilt?

Zeuge: Es wurde allgemein unter Offizieren davon gesprochen. Wer mir es im speziellen gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Es wurde im allgemeinen angenommen.

Justizrat Bernstein: Ich stelle nur fest, daß im allgemeinen davon gesprochen wurde. Das genügt mir.

Justizrat Dr. v. Gordon: Wurde denn mehr davon gesprochen, wie in den Zeitungen stand?

Zeuge: Jawohl!

Justizrat Bernstein: Es hieß also, Fürst Eulenburg sei aus seiner Stellung entlassen worden, weil er sich homosexuelle Dinge habe zuschulden kommen lassen?

Zeuge: Jawohl!

Justizrat Bernstein: Sind diese Mitteilungen auch geglaubt worden?

Zeuge: Jawohl, die sind auch allgemein geglaubt worden.

Justizrat Bernstein: Ist dem Zeugen amtlich bekannt geworden, weshalb sich der Herr Kläger nicht mehr in seiner Stellung als Stadtkommandant befindet?

Zeuge: Was ich amtlich erfahren habe, darf ich natürlich hier nicht aussagen. Meine Kenntnis über diesen Punkt rührt aus den Akten her, die mir als Bureauchef zugängig waren.

Justizrat Bernstein: Ich muß noch einmal auf das Thema Eulenburg zurückkommen. Ist der Herr Zeuge der Ansicht, daß von den Gerüchten über die homosexuellen Dinge dem Grafen Moltke nicht das geringste bekannt geworden sein mag, und zwar bevor in den Zeitungen bzw. der „Zukunft“ etwas davon verlautbar wurde? Haben Sie nicht die Ansicht, daß auch Graf Moltke etwas oder bei seinem nahen Freundschaftsverhältnis zu dem Fürsten alles erfahren haben wird?

Zeuge: Jawohl, ich glaube, daß Exzellenz Moltke alles erfahren haben wird.

Justizrat Bernstein: Haben Sie außeramtlich etwas über die Gründe erfahren, weshalb der Herr Kläger nicht mehr Stadtkommandant ist?

Zeuge: Jawohl, es ist dasselbe wie bei dem Fürsten Eulenburg. Er wurde homosexueller Dinge beschuldigt, die auch in die Öffentlichkeit gedrungen waren.

Harden: Ist es richtig, daß ausschließlich militärtechnische Gründe, wie sie bei jeder Verabschiedung vorkommen, dazu geführt haben, daß Graf Moltke nicht mehr Stadtkommandant von Berlin ist?

v. Hülsen: Ausschließlich militärische Gründe sind es nicht gewesen, aber die Entlassung hat jedenfalls mit dem militärischen Dienstverhältnis in Verbindung gestanden.

Justizrat Bernstein: Hing das mit den hier wiederholt erwähnten Dingen zusammen.

Zeuge: Jawohl.

Justizrat Bernstein: Ist dem Zeugen bekannt, daß die verschiedenen Entlassungen der Herren Fürst Eulenburg, Graf Moltke, Graf Hohenau an demselben Tage von der entscheidenden Stelle beschlossen worden sind?

Zeuge: Meines Wissens sind sie nicht an demselben Tage beschlossen worden.

Justizrat Bernstein: Sind die Umstände, die zur Entlassung führten, nicht an demselben Tage in die Erscheinung getreten?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Justizrat Bernstein: Sie sagen also, daß Sie eine Auskunft über die Order betreffend die Entlassung des Grafen Moltke verweigern müssen, weil sie Ihnen amtlich zur Kenntnis kam?

Zeuge: Jawohl.

Justizrat Dr. v. Gordon: Waren es authentische Quellen, aus denen Sie außeramtlich Ihre Wissenschaft über die Entlassungsgründe des Fürsten Eulenburg und des Grafen Moltke schöpften?

Graf Moltke: Sind diese Gerüchte zu Ihnen gedrungen nach dem Erscheinen der „Zukunft“-Artikel?

Zeuge: Jawohl.

Graf Moltke beugte sich zu dem Zeugen und fragte mit leiser Stimme: Ist eine besondere Order über mich gekommen, von der ich keine Kenntnis hatte?

Vors.: Das geht nicht, Sie müssen hier Ihre Fragen laut stellen.

Graf Moltke wiederholte die Frage.

Justizrat Bernstein: Wenn der Zeuge diese Frage beantwortet, dann verlange ich auch, daß er über den Inhalt der amtlichen Schriftstücke Auskunft gibt.

Der Zeuge verweigerte die Auskunft. Nachdem beide Parteien ihre Beweisanträge aufrechterhalten haben, verkündete der Vorsitzende nach kurzer Beratung, daß er auf Grund der Bestimmungen der Strafprozeßordnung die Beweisaufnahme nunmehr schließe.

Am folgenden Tage verlas der Privatkläger Graf v. Moltke etwa folgende Erklärung: Als die Beschuldigungen gungen an den Kaiser gelangten, habe er dem General-Adjutanten v. Pleßen sein Ehrenwort gegeben, daß er niemals mit Männern sexuellen Umgang gehabt habe. Er habe alsdann sein Abschiedsgesuch mit der Begründung eingereicht, daß es nach seiner Meinung nicht angängig sei, daß ein Mann, der unter so schweren Verdächtigungen zu leiden habe, in der nächsten Umgebung des Kaisers bleibe. Er sei deshalb in der üblichen Form zur Disposition gestellt worden.

Darauf nahm der Rechtsbeistand des Privatklägers Justizrat Dr. v. Gordon das Wort zur Schuldfrage: M.H.: Es ist wohl in diesem Saale niemand, der nicht mit tiefster Beschämung und Entrüstung von den Vorgängen Kenntnis genommen hätte, die in der Adler-Villa des Grafen Lynar in Potsdam sich ereignet haben. Es ist um so bedauerlicher, daß diese furchtbaren Dinge vorgekommen sind von den Führern der Garde, zu der aus allen Teilen des Reiches die Elite strömt und infolgedessen zu befürchten ist, daß von da die Anschauungen, die sie dort empfangen haben, hinausgetragen werden in das Land. Was dadurch an Disziplin vernichtet wird, kann durch keinen Drill wieder gutgemacht werden. Die tiefe Entrüstung, die alle Deutschen über diese Vorgänge mit Recht erfüllt, hat ihren vollen Widerhall in dem Herzen des Privatklägers. Diese Entrüstung beweist, daß der Kern des deutschen Volkes mit diesen Schmutzereien nichts zu tun hat. Was haben diese schmutzigen Vorgänge aber mit diesem Prozesse zu tun? Ist etwa der Privatbeklagte derjenige gewesen, der in dieses Sodom und Gomorrha hineingeleuchtet hat? Hat er etwa der Tugend eine Stätte bereitet? Nein, dieses Verdienst kann er sich nicht zuschreiben, sondern es ist das Verdienst eines einfachen Mannes aus dem Volke, des Burschen des Grafen Lynar. Um das Bindeglied mit den Anschuldigungen gegen den Grafen Kuno v. Moltke herzustellen, ist der Zeuge Bollhardt in die Erscheinung getreten, der die Behauptung aufstellt: er habe nach einer Zeit von zehn Jahren in einem Bilde des Gothaischen Kalenders den Privatkläger wiederzuerkennen geglaubt als einen Mann, der auch in der Adler-Villa verkehrt habe. Dieses Wiedererkennen nach so langer Zeit ist schon an sich sehr verdächtig; seine Behauptung leidet aber außerdem an großer innerer und äußerer Unwahrscheinlichkeit. Es ist dieser Herr Bollhardt, dieser verheiratete Mann, der um Verschweigung seines Namens ersucht hat. Er hat selbst seine Kameraden in jenen Kreis der Unsittlichkeit eingeführt und selbst an jenen Dingen teilgenommen und nach vielen Jahren Herrn Harden davon Mitteilung gemacht. Da möge jeder erwägen, welchen Glauben dieser Mann verdient. Ich bedaure unendlich, daß es nicht gelungen ist, eine Gegenüberstellung des Zeugen Bollhardt mit dem Fürsten Eulenburg zu ermöglichen. chen. Positiv hat Bollhardt nur eine Beteiligung des Grafen Lynar und des Grafen Wilhelm Hohenau bekundet. Bollhardt sagte, der Privatkläger hat eine Ähnlichkeit mit einem der damaligen Beteiligten; auch glaube er bestimmt, sagen zu können, daß Graf Moltke dabei gewesen sei, nur habe er damals mehr Haare gehabt. Ich frage: Halten Sie es für möglich, daß sich Graf Moltke als bedeutend älterer Mann im Kreise 27-30jähriger Männer vergehen wird? Ich halte das für vollständig ausgeschlossen. Graf Moltke hat sein Ehrenwort gegeben, daß er sich in keiner Weise nach dieser Richtung vergangen hat. Ich will nun auf die Vorgänge betreffs des Abschieds des Grafen Moltke zurückkommen. Als der Artikel in der „Zukunft“ erschien und Sr. Majestät vorgelegt wurde, hat Graf Moltke dem General-Adjutanten sofort sein Ehrenwort gegeben, daß die Behauptung des Blattes unwahr ist. Dann aber hat er sich gesagt: Ich bin so schwer belastet, so daß ich genötigt bin, einstweilen mein Amt niederzulegen, um mich gegen die Verdächtigungen zu wehren und mich reinigen zu können. Das ist der Standpunkt eines preußischen Offiziers. Das Amt ist nicht für den Mann da, sondern der Mann für das Amt. Erst mußte jeder Schatten eines Verdachts beseitigt werden. Wenn Seine Majestät der Kaiser in einer Kabinettsorder gesagt hat: „Ich stelle Sie hiermit zur Disposition,“ dann versteht es sich von selbst, daß nicht eine Spur von Verdacht gegen den Grafen Moltke zu finden ist. Zur Disposition stellen heißt doch nur: „Halten Sie sich disponibel, damit ich Sie zu gegebener Zeit mit diesem oder jenem Posten betrauen kann.“ Dafür, daß Se. Majestät der Ansicht war, Graf Moltke steht unter einem gewissen Verdacht, spricht doch nicht das mindeste. Graf Moltke hätte ja auch als Offizier und Edelmann sein Ehrenwort falsch gegeben. Dieses Ehrenwort ist dann später dem Grafen Otto v. Moltke gegenüber wiederholt worden, der Herrn Harden davon in Kenntnis gesetzt hat, daß auch nicht die Spur von dem Verdacht, Graf Moltke habe sich im Sinne des § 175 vergangen oder sich in ähnlicher Weise betätigt, besteht. Ich stelle dies an dem Geburtstage des großen Feldmarschalls Grafen Hellmuth v. Moltke, der heute vor 107 Jahren geboren wurde, fest und sage: Graf Kuno v. Moltke hat sich seines erhabenen Verwandten durchaus würdig gezeigt. Es fragt sich nun, hat Herr Harden meinem Mandanten den Vorwurf gemacht, sich homosexuell betätigt zu haben? Justizrat Dr. v. Gordon ging alsdann die einzelnen inkriminierten Artikel durch und kam zu dem Schluß, daß die von Harden angewandten Ausdrücke mit ihrem feinen Doppelsinn keine andere Deutung zulassen, zumal sie die bekannten Diminutive enthalten, die man allgemein bezeichnet als die Charakteristiken der weibischen Leute, der Homosexuellen. Es kommt nun darauf an, so etwa fuhr Justizrat Dr. v. Gordon fort, ob Herr Harden das Bewußtsein hatte, seine Artikel könnten in der von mir angedeuteten Weise verstanden werden. Diese Auffassung des dolus eventualis ist bekanntlich vom Reichsgericht zur Geltung gebracht bei der Majestätsbeleidigung, dann aber auch für die §§ 186 und 187. Herr Harden selbst, der ja seine Worte sehr gut auszuwählen versteht, hat durch die Blume, aber stets sehr deutlich, zweifellos die Vorstellung in dem Leser erwecken wollen, daß Graf Moltke sich ebensolche Dinge zuschulden kommen lasse, wie Herr Lecomte, von dem er ja selbst hervorgehoben hat, daß seine Neigungen allgemein bekannt waren. Er hat dem Privatkläger direkt den Vorwurf gemacht, daß er nicht gewußt haben will, was die Spatzen von den Dächern pfeifen. Alle Welt, alle Zeitungen haben es so verstanden, und Herr Harden hat es so laut in die Welt hinausgeschickt, daß die maßgebenden Stellen sich veranlaßt sahen, einzugreifen. Der Vorwurf der aktuellen Homosexualität ist gegen meinen Mandanten erhoben, daraus ergibt sich der Tatbestand des § 186 von selbst. Aber auch alles andere in den Artikeln entspricht nicht der Wahrheit. Herr Harden spricht fortgesetzt von „Gruppe“ und „Grüppchen“. Was hat die Beweisaufnahme ergeben? Gewiß! Seine Majestät der Kaiser hat den Fürsten Eulenburg und Graf Kuno v. Moltke seiner Freundschaft gewürdigt. Aber wie kommt Herr Lecomte hier hinein? Um das Bindeglied herzustellen, sagte Herr Harden: „Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde.“ Das ist sehr geistreich, aber nicht sehr zutreffend. Es wird meinem Mandanten vorgeworfen, daß er die Einladung des Herrn Lecomte zu einer Jagd in Liebenberg nicht verhindert habe. Herrn Lecomtes Charaktereigenschaften sind doch ausschließlich Sache der französischen Botschaft. Solange Herr Lecomte in der französischen Botschaft ist, kann man doch gewiß mit ihm verkehren. Die französische Botschaft wird wissen, ob sie einen Mann, der angeblich nicht würdig ist, in seiner Stelle belassen will. Bezüglich des Grafen Hohenau ist keineswegs erwiesen, daß mein Mandant etwas gewußt hat. Was in aller Welt haben denn nun eigentlich diese Dinge mit der Politik zu tun? Wenn jemand auf dem Standpunkte steht, daß derjenige, der etwas feminin veranlagt ist, absolut nicht für politische Geschäfte paßt, daß dies ein Unglück ist, so läßt sich eine solche Haltung verstehen. Aber Herr Harden steht ja, wie wir auch von Dr. Hirschfeld hörten, nicht auf diesem Standpunkt. Er hat in seinen Artikeln unter Berufung auf Friedrich den Großen, Michelangelo und andere große Männer die Meinung vertreten, daß diese Männer durch ihre homosexuelle Veranlagung nicht gehindert wurden, hervorragend tüchtige Politiker und Künstler zu sein. Weshalb denn nun hier plötzlich soviel moralisches Bewußtsein bei dem Beklagten dafür, daß der eine oder der andere infolge seiner homosexuellen Veranlagung ungeeignet sei zur Politik. Weshalb? Ja, mit politischen, sachlichen Mitteln konnte Herr Harden seinen Zweck, den Fürsten Eulenburg zu verdrängen, nicht erreichen. Da griff er zu dem Mittel, diese angeblichen Perversionen zu benutzen und damit den Mann und die mit ihm zusammen waren, unmöglich zu machen. Fabelhaft glücklicher Gedanke. Fürst Bismarck hatte ihm ja gesagt, Eulenburg sei Päderast. Das fiel ihm jetzt ein: Halt, damit kann ich den Mann jetzt stürzen. Aber wenn der eine gestürzt werden sollte, wollte er auch den Freund mit stürzen. Deshalb mußte auch der ganz unpolitische Moltke mit hineingezogen werden. Nun trifft sich das so glücklich, daß zufällig der französische Botschaftsrat Lecomte in Liebenberg zu einer Jagd eingeladen und dort Sr. Majestät vorgestellt wurde. Schließlich wird der Graf Hohenau hineingebracht, der mit den übrigen Herren nichts zu tun hat. Wir sehen, wie fein die Intrige eingefädelt ist. (Harden lachte hierbei.) Es muß ein Kreis konstruiert werden, ein Kreis, der nicht existiert, der aber die Idee der Perversität stärkt. Nicht irgendwelche politischen Gesichtspunkte hat Herr Harden hier vorgebracht. Er würde diesen Vorwurf nicht erhoben haben, wenn er nicht auf der Seite derjenigen gestanden hätte, die in diesem Falle für „Weltbrände“ waren, sondern, wenn er auf seiten derjenigen gewesen wäre, die auf der Seite des Weltfriedens waren. Ich glaube, auch der Weltfriede hat doch gewisse Meriten. Harden hatte neben seinem politischen Zwecke auch einen kleinen Nebenzweck und konnte bei dieser Gelegenheit erreichen, den Grafen Moltke zu vernichten, gegen den er wegen des Ehescheidungsprozesses, interessiert war. Die Tafelrunde ist verschwunden, nichts ist davon übrig geblieben im politischen Sinne. Ich will noch kurz auch die Frage der Verjährung streifen. Eine Verjährung liegt nicht vor, sondern eine fortgesetzte Handlung. Die Artikel bilden gewissermaßen eine Rebusaufgabe, deren Lösung zuletzt gefunden wird. Herr Harden hat meinen Mandanten verhöhnt und lächerlich gemacht durch Anwendung von Worten wie „der Süße“, „Grüppchen“ usw. Ich hoffe, daß Sie sich nicht so isolieren von der allgemeinen Auffassung und nicht annehmen, daß es sich nur um eine psychische Veranlagung handelt. Eine psychische Analyse des Privatklägers hat nichts mit der Frage zu tun, ob § 175 vorliegt. Herr Dr. Hirschfeld ist als Sachverständiger über die Analyse gehört worden. Dr. Hirschfeld vertritt doch eine mehr oder minder neue Theorie. Dr. Hirschfeld hat im übrigen ein sehr sorgfältiges Gutachten abgegeben, aber was hat er für Unterlagen? terlagen? Überall nur die Erklärung der Frau v. Elbe. Ich möchte sehen, wenn Sie aus dem intimsten Eheleben alle Ausdrücke an das Licht bringen, die einmal in der Erregung und in der Wut gesprochen werden, ob dann nicht manchem harte Ausdrücke nachgesagt werden können. Ich habe den Beweis angetreten, welche hohe sittliche und ungewöhnlich religiöse Auffassung mein Mandant von allen Dingen und von der Ehe hat. Danach ist es unmöglich, daß er solche Worte gesagt hat, wie Frau v. Elbe von ihm behauptet hat. Wenn ein Junggeselle von 50 Jahren eine temperamentvolle Dame von 26 Jahren heiratet, da mögen ja mancherlei Dissonanzen vorkommen. Wir haben für das Gutachten des Dr. Hirschfeld keine objektiven Unterlagen. Die kleine Geschichte von dem Taschentuch halte ich für vollständig harmlos, für einen Scherz! Frau v. Elbe mag es ja schwer gefallen sein, hier über die intimsten Dinge ihres Ehelebens auszusagen, aber es ist doch auch eigentümlich, daß sie die ganzen Ehescheidungsakten einem Publizisten zur Verfügung gestellt hat. Wenn mein Mandant auch vielleicht weich und feinfühlend ist, so spricht dies doch noch nicht für homosexuelle Eigenschaften. Also: es fehlen alle Unterlagen, aber auch die ganze Beweisführung Dr. Hirschfelds ist nicht schlüssig. Die Freundschaft zwischen Moltke und Eulenburg ist eine durchaus reine und ideale. Er ist mit ihm durch gleiche musikalische und schöngeistige Bande verbunden, er hat mit ihm in München schöne glückliche Stunden verlebt, und wenn er ihn „treue liebe Seele“ nennt, so soll das homosexuell sein? Der eine sagt: „alter Esel“ oder „alter Dachs“, Graf Moltke sagt „liebe Seele“. Nichts ist von erotischer Betonung erwiesen, nichts ist erbracht, was sich nicht vertrüge mit voller Manneskraft. Wenn jemand so dargestellt wird als weibisch und es sich noch um einen Offizier, um den Kommandanten von Berlin, handelt, dann ist das beleidigend. Wir kranken jetzt daran, daß die Intellektuellen sich immer weniger am öffentlichen politischen Leben beteiligen. Das liegt daran, daß nicht jeder Lust hat, sich nach Belieben eines jeden beliebigen Dritten an den Pranger stellen zu lassen. Aber die Intellektuellen haben die Pflicht, daß sie im politischen Kampfe immer anständig bleiben und kommentmäßig sind! Ich erkläre, daß die Waffen des Herrn Harden unkommentmäßig waren, die verboten werden müßten auf der Haager Konferenz!

Was Herr Harden geschrieben hat, ist geeignet, das ganze Lebensglück eines Menschen zu zerstören. Mein Mandant hat eine Harmonie in sich, die tiefer wurzelt als äußerliche Ehren und vielleicht die Generalsstreifen. Wenn auch Herr Harden dem Grafen Moltke weibische Schwäche vorwirft, so kann ich nur sagen, ein Mann, der vor Sedan und Paris im blutigen Kampf gestanden hat, der an der Loire sich eine Schußverletzung und das Eiserne Kreuz geholt hat, ein solcher Mann wird es schon zu überwinden wissen, wenn Herr Harden sagt, er sei kein ganzer Mann. Ich gebe jetzt einem preußischen Gerichtshof die Ehre meines Mandanten in die Hand. Wählen Sie die Strafe, die Ihnen angemessen erscheint. Zeigen Sie dem deutschen Volke, daß ein Gerichtshof noch imstande ist, die Ehre eines Mannes zu wahren. Es wurde hier fortwährend gesagt, der Kläger sei zur Erhebung der Klage gezwungen worden. Ich erkläre nochmals: Der Herr Graf Moltke hat unter keinem Zwange gehandelt, er hat als ganzer Mann alles auf sich genommen, was eine Gerichtsverhandlung mit sich bringt. Er hat mutig alle die großen Unannehmlichkeiten auf sich genommen. Wenn ich auch tief bewegt darüber bin, daß hier Dinge in die Öffentlichkeit gekommen sind, bei denen es besser gewesen wäre, sie wären niemals in dieser Form in die Öffentlichkeit gelangt, so muß ich doch anerkennen, daß dieser Prozeß ein bißchen gereinigt hat. Zeigen Sie nun durch Verhängung einer ernsten Strafe gegen den Beklagten, daß ein preußischer Gerichtshof in der Lage ist, die in den Schmutz getretene Ehre eines Mannes wiederherzustellen.

Verteidiger, Justizrat Bernstein (München): Ich beantrage, den Beklagten freizusprechen. Ich glaube, ich könnte hiermit die Verteidigungsrede schließen. Ich glaube ferner, daß nach den Ergebnissen der Verhandlung nichts entgegensteht, diesem Antrage stattzugeben. Aber ich muß meine Pflicht erfüllen, die darin besteht, die Tatsachen, die die Verhandlung ergeben hat, ebenso zu würdigen, wie dies von seiten des Herrn Gegners natürlich in anderer Weise geschehen ist. Der Herr Gegner hat am Eingang seiner Ausführungen wiederholt gesagt: „Ich stelle fest, daß das so ist und das andere so

„ Alles, was der Gegner festzustellen geglaubt hat, wackelt und wird ewig wackeln. Ich komme zuerst zu der juristischen Seite der ganzen Sache. Zunächst erhebe ich gegen die Klage den Einwand, daß sie zum Teil verjährt ist. Der zweite Einwand ist, daß, selbst wenn der Beklagte alles das gesagt hätte, was der Gegner aus den Artikeln herausgelesen hat, Herr Harden nicht bestraft werden kann, da ihm der Schutz des § 193 zur Seite steht, denn ich werde darlegen, daß das, was der Beklagte gesagt hat, wahr ist. Noch 100mal mehr ist wahr. Berechtigt war er als Staatsbürger dazu, diese absolut wahren Dinge zu veröffentlichen. Was den ersten Einwand anbetrifft, so erkläre ich, daß alles, was vor dem 16. März d.J. veröffentlicht worden ist, nicht mehr zum Gegenstand der Klage gemacht werden kann. Der Gegner hat gesagt, daß er die Artikel nicht verstanden habe. Diese Behauptung ist eine bewußte Unwahrheit! Und ich werde später besonderen Wert darauf legen, dies dem Gericht darzutun, weil ich Ihnen den Mann in dem richtigen Lichte zeigen will, der es gewagt hat, zu versuchen, einen deutschen Schriftsteller, der nur die Wahrheit gesagt hat, ins Gefängnis zu bringen. Der Kläger weiß besser wie wir alle zusammen, daß alles, was Harden behauptet hat, wahr ist, ja, daß noch manches andere wahr ist, was vorläufig noch gar nicht behauptet worden ist. Ich erkläre, daß sich der Gegner nicht gescheut hat, einem preußischen Gericht mit einer bewußten Unwahrheit zu dienen. Der Herr Gegner hat ferner gesagt, er hätte nur deshalb erst so spät die Beleidigungsklage erheben können, weil Herr Harden sich so vorsichtig ausgedrückt hat, daß er gar nicht bemerkt habe, ob eine Beleidigung vorliegt, und daß man ihn gemeint habe. Wenn das der Fall ist, dann liegt eben keine Beleidigung vor. Wenn der Herr Gegner die Rede, die er soeben gehalten hat, in voriger Woche, vielleicht am 22. Oktober, gehalten hätte, so würde ich mich nicht darüber wundern. Nachdem aber sich die Ereignisse in der Verhandlung abgespielt haben, eine derartige Rede zu halten, ist mir mehr als unverständlich. (Mit erregter Stimme): Mir und jedem anderen Menschen ist und bleibt es unverständlich, wie mit einer Spur von sittlichem Pathos irgend etwas für den Herrn Grafen Kuno v. Moltke noch vor einem Gericht in Anspruch genommen werden den kann. Herr v. Berger, der Direktor des Deutschen Schauspielhauses zu Hamburg, hat mir geschrieben und ist bereit, seine Ausführungen eidlich zu erhärten: „Nach dem Erscheinen des Artikels ?Nachtbild? – ?der Harfner? und ?der Süße? – habe ich dem Herrn Fürsten Philipp Eulenburg und dem Grafen Kuno von Moltke, in deren Interesse und mit deren Wissen ich seit Jahren eine Verständigung mit Harden herbeizuführen versucht hatte, gesagt, Harden halte sie für sexuell abnorm und glaube, es sei aus patriotischen und psychologischen Gründen notwendig, daß sie aus dem Vordertreffen deutscher Politik zurücktreten. Irgendeine Regung persönlichen Grolles empfindet Harden gegen sie nicht. Das sagte ich ungefähr am 25. November 1906 dem Fürsten Eulenburg und dem Grafen Moltke. Mindestens seit diesen Einzelgesprächen, nach meiner Überzeugung aber sehr viel länger, wissen beide Herren, aus welchen ausschließlichen Gründen Herr Harden sie gelegentlich bekämpft.“

Traut Herr Graf Kuno Moltke dem Herrn Berger zu, daß er bereit ist, einen Meineid zu leisten, oder entschließt er sich endlich zu dem Geständnis, daß es nicht wahr ist, wenn er sagt, er habe die Artikel nicht verstanden. Jetzt hat er den traurigen Mut, den deutschen Richtern die Unwahrheit zu sagen. Entweder ist Reichsfreiherr v. Berger ein zum Meineid bereiter Mann, oder es steht fest, daß Graf Kuno v. Moltke dem Gericht seines Vaterlandes, der Reichshauptstadt, die bewußte Unwahrheit gesagt hat. Es liegt kein fortgesetztes Delikt vor, und der erste zur Anklage stehende Artikel ist verjährt. Selbst wenn aber der Angeklagte das gesagt hätte, was ihm der Beklagte unterstellt hat, so könnte er den Schutz des § 193 des Strafgesetzbuches für sich in Anspruch nehmen. Ich möchte den Privatkläger fragen, weshalb er bei der Aufzählung seiner Freunde in München gerade eine Reihe von Namen ausgelassen hat, bezüglich deren wir schließlich auch Anlaß zu Beweisanträgen nach der Richtung der früheren hätten. In den Artikeln stand deutlich zu lesen: Herr Lecomte, der Freund von Phili Eulenburg und Kuno Moltke ist Päderast. Was mußten denn die Herren tun, als die Angriffe erschienen, wenn sie sich unschuldig fühlten?

Klagen! Das deutsche Wort: Klagen! Und wenn sie nicht klagen, dann sind sie schuldig! Denn für einen Ehrenmann, dem man so etwas nachsagt, gibt es nur eins. Herr Lecomte konnte abreisen, aber er mußte vorher einen deutschen Rechtsanwalt mit der Anstrengung der Klage beauftragen. In den ersten fünf Minuten, nachdem wir zusammen waren, habe ich Herrn Harden schon gesagt: Die Freunde werden den Moltke vorschieben und ihm sagen, dir kann man vielleicht nicht viel beweisen, dann haben wir doch wenigstens geklagt. So ist es auch gekommen. Vor Verleumdungen leumdungen soll man nicht fliehen. Wenn Herr Lecomte nicht allein soviel Ehrgefühl hat, so hätten ihn die anderen als Ehrenmänner dazu zwingen müssen. Der einfachste Beweis des Grafen Moltke wäre für ihn doch die Zeugenvernehmung der Herren Fürst Eulenburg, Graf Hohenau und Lecomte gewesen, – wenn er sich unschuldig gefühlt hätte. Herr Graf Moltke hatte den Staatsanwalt ersucht, ex officio einzuschreiten. Der Staatsanwalt hat es abgelehnt. Bei der Beschwerde darüber ist der Kläger in allen Instanzen abgewiesen worden. Ihm wurde überall gesagt: „Diese Sache machen Sie gütigst allein“ (Heiterkeit.) Ich denke mir, daß die Königlich Preußische Staatsanwaltschaft, wenn einem Manne, der vor ganz kurzem noch Stadtkommandant von Berlin war, eine Verfehlung gegen die Strafgesetze vorgeworfen wird, es für geboten erachtet hätte, die öffentliche Klage zu erheben. Wenn die Staatsanwaltschaft hiervon abgesehen hat, so geschah es wahrscheinlich, weil der Staatsanwalt mit der Sache nichts zu tun haben will, weil sie nicht geeignet scheint, die Autorität des Staates dafür einzusetzen! Es gibt allerdings auch noch die Möglichkeit, daß nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ja gar keine Beleidigung vorliegt. Der Kläger ist ein ganz eigentümlicher Herr und eigentümlicher Freund seiner Freunde! Er hat einen intimen Lebensfreund, den Fürsten zu Eulenburg. Man sollte es nicht für möglich halten, daß für diesen Orest dieser Pylades niemals vor den Richter zu bringen ist! (Heiterkeit.) Fürst Philipp Eulenburg zeugt nicht, weil er sich vor der Gesetzesbestimmung fürchtet, welche auf Meineid Zuchthaus setzt! Das ist es, warum er hier nicht erscheint und warum er den Zeugen Bollhardt nicht sehen will. Alles andere ist Schein, Spiel, Komödie! Der Viertelsachverständige, der gestern nur ein Viertelgutachten abgeben konnte, sagt, der Privatkläger sei eine ideale, überschwengliche Natur. Das ist ganz unglaublich! Die ganze Verhandlung hat doch wohl so viel ergeben, daß Graf v. Moltke nicht ganz rein ist, die Charakteristik, die Herr Harden von ihm gegeben, vollständig zutrifft und die menschlichen Eigenschaften des Privatklägers das abfällige Urteil des Herrn Harden rechtfertigen. Ich glaube, ich kann beinahe die Behauptung aufstellen, daß Fürst Eulenburg ein Päderast ist. Das kann man nach dem Zeugnis des Zeugen Bollhardt doch wohl annehmen, und Herr Harden ist im Recht, wenn er den Kaiser aus solcher Umgebung befreien will. Es soll der Sänger mit dem König gehen, aber es soll nicht der Päderast mit dem König gehen! (Heiterkeit.) Charakteristisch ist die Behandlung, die der Privatkläger seiner ehemaligen Frau hier im Gerichtssaale hat angedeihen lassen. Diese Frau als unglaubwürdig hinzustellen, ist ganz ungeheuerlich. Es war die letzte unverzeihliche Rettungsmöglichkeit! tungsmöglichkeit! Wenn er, um sich noch zu salvieren, das bißchen, was er noch hat, gegen einen Mann wie Harden kräftig verteidigt, so mag das hingehen. Aber eine achtbare Dame, die geschworen hat, unglaubwürdig machen zu wollen, trotzdem er weiß, daß es richtig ist, dafür gibt es keinen für den Gerichtssaal würdigen Ausdruck. Wie muß es aussehen im Innern eines Mannes, wie verloren muß jemand seine Sache glauben, und welchen Charakter muß man besitzen, um einem andern Meineid vorzuwerfen, wenn man genau weiß, daß die erhobenen Vorwürfe wahr sind. Ich habe ja den Briet des Vaters der Frau v. Elbe hier vor mir, in welchem dieser seiner Tochter mitteilt, daß nach der Meinung des Grafen Kuno v. Moltke seine Frau „wie ein Märchen“ an seiner Seite gehen soll. Wer solchen Charakter hat, muß aus der Umgebung Sr. Majestät entfernt werden! Wer dies anstrebte, tat ein gutes Werk! Um den Deutschen Kaiser sollen und müssen ganze Männer sein, denn sonst kommen wir zu dem verwerflichsten Höflingstum im Deutschen Reiche, und davor wolle uns alle der Himmel bewahren. Herr Graf Moltke soll eine „ideale, überschwengliche Natur“ sein! Was soll Europa denken, wenn man so etwas liest! Unser großer Nationaldichter Schiller hat nicht gedichtet die „Würde des Klosetts“, sondern die Würde der Frauen! (Heiterkeit.) Empörend ist es, daß gesagt werden kann, ein Mann, der die Frauen als Klosetts bezeichnet, ist ein deutscher Mann! (Mit lauter Stimme): Nein! Nein! Nein! Unsere Frauen, unsere Mütter, unsere Töchter sind durch solches Wort geschändet! Wenn solches Wort von einem Zuhälter seiner Dirne an den Kopf geschleudert wird, dann erhält er eine Ohrfeige! Nein, meine Herren! Ziehen Sie einen scharfen Grenzstrich zwischen Männern wie Eulenburg, Hohenau, Moltke und den Männern Deutschlands! Dann entsprechen Sie dem allgemeinen Empfinden! Solche Männer in der Umgebung der allerhöchsten Person sind gefährlich. Man sagt: der Privatkläger und Fürst Eulenburg seien durch ideale Bestrebungen verknüpft. Mögen sie musizieren, soviel sie wollen, aber aus der Nähe des Monarchen sollen sie fortbleiben! Denken Sie an die Taschentuchepisode! Wenn der Privatkläger das ominöse Taschentuch so behandelt hätte wie seine Frau, und seine Frau lieber wie das Taschentuch gehabt hätte, dann hätten wir den ganzen Prozeß nicht. (Heiterkeit.) Ist ein Mann, der seine geistige Nahrung aus den „Mitteilungen des Geistes Emanuel“ schöpft, befähigt und berechtigt, in der Nähe der höchsten Person des Landes, von der das Geschick des Deutschen Reiches abhängt, einen Einfluß auszuüben? Der Indizienbeweis der Päderastie ist in diesem Prozesse geführt, kein Mensch wird das bestreiten, also können Sie es auch nicht in Ihrem Urteil. Wie sich der Herr Kläger in der Verhandlung selbst verhalten hat, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Ich will auch nicht näher auf das Zeugnis der Frau v. Elbe, des Zeugen Bollhardt und auf das Gutachten des Dr. Hirschfeld eingehen. Nur über eines will ich sprechen, und zwar über dasjenige, was Herr Platzmajor v. Hülsen gestern hier gesagt hat. Ich habe nicht geglaubt, daß nach der Vernehmung des Herrn v. Hülsen der Herr Gegner den Mut hat, einem Gericht gegenüber noch zu behaupten, daß der Herr Graf noch versucht hat, sich als unschuldig zu bezeichnen. Das ist ein Wagemut, für den ich eigentlich kein vor Gericht anwendbares Eigenschaftswort finde. Einige Dutzend Male habe ich im Verlaufe der Verhandlung an den Kläger die Frage gerichtet: Weshalb sind Sie nicht mehr Stadtkommandant? Ausreden, nichts als leere Ausreden erhielt ich zur Antwort! Als ich das erstemal diese Frage stellte und der Herr Graf nicht eine ausreichende und aufklärende Antwort gab, war eigentlich schon das Urteil gefällt. Das aber will ich Ihnen hier sagen, wenn mir der Herr Graf antwortet: Das sind militärtechnische Dinge, über die ich nicht sprechen darf! so sage ich, es ist ein starkes Stück, mir so etwas zuzumuten. Wenn ein Schulbube, der aus der Schule kommt und sich unterwegs geprügelt hat, Ausreden in dieser Form macht, so – na, ich will den Satz gar nicht zu Ende sprechen. Die bewußte Unwahrheit ist auch in diesem Falle von dem Grafen Moltke gesagt worden. Er weiß ganz genau, daß es nicht „militärtechnische“ Dinge sind, er will nur das Wort nicht aussprechen. Da war der Herr v. Hülsen, den wir gestern hier gesehen haben, ein richtiger Soldat. Glauben Sie mir, es ist Herrn v. Hülsen nicht leicht geworden, das harte Wort hier auszusprechen. Er mußte sagen, daß Fürst Eulenburg wegen homosexueller Dinge aus dem Amte entfernt worden ist, so unangenehm es ihm auch war. Als dann Herr Platzmajor v. Hülsen auf meine Frage bezüglich des Grafen Moltke antwortete: „Na, es sind so dieselben Dinge!“ da sagte ich mir, dann ist ja alles erledigt, und der Prozeß ist aus. Wenn ich sehe, wie seit Monaten ein deutscher Schriftsteller, der nur seine politische Pflicht getan hat, verfolgt wird mit wissentlichen Unwahrheiten, so habe ich Mühe, mich zu halten, man lüge doch nicht ganz Deutschland an!! Außerdem ist mein Herr Gegner leider von seinem Mandanten falsch informiert. Von ihm rührt jene in den Zeitungen publizierte Erklärung her, in der es heißt: Die maßgebenden Instanzen haben sich von der Grundlosigkeit der erhobenen Verdächtigungen überzeugt. Der Herr v. Hülsen hat nun das Gegenteil gesagt, und da hat Herr Graf Moltke eine derartige öffentliche Erklärung vom Stapel gelassen. Wollen Sie mir nun die Frage beantworten: Wer kämpft hier mit unreinen Waffen – ich muß das Wort sagen, ich kann nicht anders, – wer ist hier derjenige, der lügt? Fürst Eulenburg hat in der Presse verbreitet, daß der Friedensstifter, Herr v. Berger, ohne Auftrag von ihm oder vom Grafen Moltke gewirkt habe. Fürst Eulenburg Durchlaucht erzählt dem deutschen Volk damit eine faustdicke Lüge. Warum lügen die beiden Herren das deutsche Volk so an, weil die Wahrheit das Bekenntnis ihrer Schuld wäre? Die Herren werden doch dem Gericht nicht vorreden wollen, sie hätten beim Erscheinen unbegründeter Verleumdungen erst einen Vermittler zu Harden geschickt, um ihn zur Einstellung seiner Angriffe zu bewegen. Das dürfen Sie keinem deutschen Gericht vorreden, das glaubt höchstens ein Dienstmann, wenn er dafür bezahlt wird. (Heiterkeit.) Nun zur Erklärung des Privatklägers über die Gründe seiner Entlassung. Graf Moltke behauptet, ein deutscher Mann und Soldat müsse sein Amt niederlegen, wenn er angegriffen worden ist, um sich dann erst zu verteidigen. Wenn jemand verleumdet ist und ein gutes Gewissen hat, dann braucht er sein Amt nicht ohne weiteres niederzulegen. Ist der deutsche Reichskanzler kein deutscher Mann, kein deutscher Edelmann, steht er nicht an einer Stelle, wo jeder Anhauch vergiftend wirken muß? Dieselben Beschuldigungen sind auch gegen den deutschen Reichskanzler Fürsten Bülow – ich glaube, mit absolutestem Unrecht – erhoben worden. Was hat er getan? Er wäre ja verrückt, wenn er deswegen sein Amt niedergelegt hätte. Er hat es nicht getan, warum? Er ist unschuldig, er hat sich nicht zu fürchten. Dem Reichskanzler Fürst Bülow hat es die Staatsanwaltschaft auch geglaubt, daß er unschuldig ist, und weil sie es ihm geglaubt hat, deswegen hat sie die öffentliche Klage für Bülow erhoben und für Moltke abgelehnt. Nicht ein deutscher Edelmann und Soldat mußte so handeln wie der Kläger, sondern ein Schuldiger. Wir schonen noch immer den Privatkläger, ich glaubte sicher, er würde schon am zweiten Verhandlungstage die Klage zurücknehmen. Der Kläger widerspricht sich selbst, wenn er auf der einen Seite erklärt, seine Entlassung habe mit den sexuellen Dingen nichts zu tun, und dann den Wunsch daran knüpft, Harden solle recht hart verurteilt werden, weil er an dem Verlust des Amtes schuld sei. Glauben Sie denn, daß die bloßen Artikel der „Zukunft“ die Amtsentlassung des Fürsten Eulenburg und des Grafen Moltke veranlaßt hätten, wenn sie nicht wahr wären? Diese Meinung wäre ja beinahe eine Majestätsbeleidigung. Für den Kaiser ist die Annahme absolut beleidigend, und die Annahme ist deshalb absolut falsch, daß so ernste Entschließungen, wie die Entfernung der Träger alter Namen aus ihren Ämtern, ohne genügende Prüfung gefaßt werden. Für mich ist die Frage: Sind Fürst Eulenburg und Graf Kuno Moltke so aufgetreten, daß das Vorgehen des Schriftstellers Harden berechtigt war?, für mich ist diese Frage bereits entschieden, und zwar von allerhöchster Stelle durch Se. Majestät den Kaiser. Ich berufe mich auf Se. Majestät, um dessen Meinung über den Grafen Kuno Moltke zu hören. Er denkt über ihn so, daß er trotz alles dessen, was der Verteidiger an dem Kläger rühmte, ihn aus seiner Stellung und aus seiner Nähe entfernt hat. Das ist das Urteil, das schon gefällt worden ist in dem Beleidigungsprozeß Moltke contra Harden. Alles, was die Gegenseite gegen die Tendenz des Angeklagten und die Berechtigung seiner Artikel gesagt hat, ist durchaus falsch – alles, was in den Artikeln steht, ist durchaus wahr, und zwar erweislich wahr! Wenn man einen Päderasten einen Päderasten nennt, so ist das doch keine Perfidie, wie von der Gegenseite behauptet wurde. Herr Harden hat von Herrn Lecomte gesprochen und von anderen Päderasten, und es ist doch merkwürdig, daß, wenn jemand ruft: Päderast! nun Herr Graf Moltke die Tür aufmacht und fragt: Wer hat mich hier gerufen? (Heiterkeit.) Was geht den Grafen Moltke die aktive Homosexualität des Herrn Lecomte an? Weshalb stellt er den Strafantrag, wo es sich um Herrn Lecomte handelt? Ich bin am Ende. Der gegnerische Kollege hat gesagt: Heraus mit der Sprache! Ich sage: Heraus mit den Männern! Was der Kläger mit dem Prozeß eigentlich will, will ich Ihnen sagen! Er will appellieren gegen das Urteil Sr. Majestät. Dort ist er verurteilt, denn es ist eine Verurteilung, wenn der Kaiser den Privatkläger unter solchen Umständen, wo dieser so schwer beschuldigt wurde, nicht hält, sondern ihn zur Disposition stellt. Der Kaiser muß doch seine triftigen Gründe dafür gehabt haben. Beleidigend für Se. Majestät ist der Gedankengang, aus dem heraus der Kläger sich rechtfertigen will! Der Gegner hat gesagt: Die intellektuellen Leute fürchten sich, in das politische Leben einzutreten; er hat das Gericht ersucht, durch sein Urteil den Männern wieder den Mut zu stärken. Ja, stärken Sie den deutschen Männern den Mut, stärken Sie den deutschen Bürgern, die Schriftsteller sind, den Mut, die Wahrheit zu sagen. Stärken Sie auch den anderen Bürgern den Mut, indem Sie ihnen die Zuversicht geben, daß, wenn sie in den Raum des Deutschen Reiches eintreten, in einen reinlichen und sauberen Raum eintreten! Geben Sie durch Ihr Urteil Ausdruck, daß Sie Leute, die den Anschauungen und Betätigungen des Klägers huldigen, nicht als führende Männer für das deutsche Volk anerkennen wollen. Wenn Sie Herrn Harden verurteilen, werden Sie deutsche Männer nicht ermutigen, sich mit Politik zu beschäftigen. Dann werden diejenigen, die da glauben, daß es wahr ist, was Harden geäußert hat, sagen: Wenn man in Deutschland die Wahrheit sagt, wird man bestraft! Nun sagen Sie durch Ihr Urteil: Im Deutschen Reiche darf ein deutscher Mann die Wahrheit sagen!

Justizrat Dr. v. Gordon trat den Worten des Verteidigers in längeren Ausführungen entgegen. Die Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft die Erhebung der öffentlichen Anklage abgelehnt hat, suchte er zu erklären, indem er auf folgenden Satz in dem Beschlusse hinweist: „Wenn den Mitgliedern der Tafelrunde homosexuelle Dinge vorgeworfen werden, so handelt es sich um Dinge aus dem allerintimsten Privatleben der dazugehörigen Herren, welche natürlich ein öffentliches Interesse nicht beanspruchen können.“

Alsdann erhob sich, sichtlich in großer Erregung, der Privatkläger Kuno v. Moltke und machte, unter Zuhilfenahme eines Konzepts, folgende Ausführungen: Würde ich hier stehen, wenn ich nicht vor Gott und den Menschen sagen könnte, ich fühle mich nicht schuldig! Ich begreife es nicht, weshalb man mir immer wieder die Frage vorlegt, weshalb ich nicht mehr Stadtkommandant bin. Denken Sie denn, ich kann als Kommandant in Uniform hier sitzen und mir zwei Stunden lang Lügenhaftigkeit und andere Beschuldigungen vorwerfen lassen? Dann soll ich hinausgehen und soll verlangen, daß ein Mann auf der Straße mich grüßt, mir mit Achtung und Respekt begegnet? Nein! Das geht nicht, und das ist die ganz einfache Lösung dieser Frage. Jeder Soldat weiß, daß dies nicht geht! (Mit zitternder Stimme): Ich bin selbst nur ein einfacher Soldat, ich besitze keine rhetorische Gewandtheit, ich bin nicht gewöhnt, mich vor einem Forum gegen Verdächtigungen und den Vorwurf der Lügenhaftigkeit zu wehren. Aus der Kabinettsorder vom 24. Mai geht nur hervor, daß ich zur Disposition gestellt worden bin, nichts weiter. Wenn gesagt wird, es sei angeblich noch eine geheime Order vorhanden, so erkläre ich das für unwahr. Eine solche Order, in der mir eine Perversion vorgeworfen wird, existiert nicht. Ich bin in allen Ehren entlassen worden. Es ist hier vorgebracht worden, daß die Staatsanwaltschaft die Erhebung der öffentlichen Klage abgelehnt hat. Ich werde eine andere Erklärung für diese Ablehnung geben: Die Staatsanwaltschaft hat einen Skandal vermeiden wollen, der bis an die Stufen zum Thron heranreichen würde, nicht zum Segen des Vaterlandes. Das Mißtrauen und die Ansicht, die durch diesen Prozeß in das Volk eingedrungen ist, daß „oben“ alles versumpft sein soll, ist schwer wieder auszurotten. (Mit lauter Stimme): Ich hätte es wahrlich bequemer gehabt, wenn ich mich von Anfang an zurückgezogen und mich um nichts gekümmert hätte, aber ich wollte es nicht, ich wollte mich gegen diese Angriffe verteidigen. Wenn ich hierher kam, so tat ich es, um meine in den Schmutz getretene Ehre als alter Soldat mir wieder selbst herzustellen. (Wiederholtes Bravo! im Zuhörerraum. Der Vorsitzende rügte diese Kundgebung auf das energischste.) Als Beweis führe ich an, daß ich des Königs Rock, den ich so gern und mit vollem Stolz 42 Jahre getragen habe, in dem ich geblutet habe für das Vaterland, ausgezogen habe, um überhaupt hier erscheinen zu können, denn als Soldat durfte ich hier nicht stehen, als Soldat durfte ich mich hier nicht beschimpfen lassen. Ein Offizier durfte sich hier nicht so angreifen lassen, deshalb mußte erst der Rock herunter. (Mit vor Erregung fast heiserer Stimme): Das Geflüstere, das Geraune, das nun entstanden ist, das heimliche Tuscheln, das entsteht, wenn man mich sieht, das gibt mir recht. Das durfte ein Offizier in Uniform sich nicht bieten lassen. Heute am Geburtstage des seligen Feldmarschalls Moltke sollte ich in Uniform die Linden entlang gehen, wo es mir von den Zeitungshändlern gellend entgegengerufen wird, wie man den Namen Moltke in den Schmutz zieht. Damals herrschte Jubel an diesem Tage Unter den Linden und heute – man möchte heute rufen: „Kreuzige ihn!“ –, wo man damals Hosianna rief. Unter diesen Umständen eine Uniform tragen, geht einfach nicht, nachdem ich durch Schuld jenes Mannes in aller Leute Mund gekommen bin. Das ist das Motiv, weshalb ich den Rock ausgezogen habe, und ich bin Sr. Majestät dankbar, daß er mir dazu verholfen hat, meine Ehre reinzuwaschen.

Ich betone es nochmals, niemals hat die Freundschaft zwischen mir und dem Fürsten Eulenburg einen erotischen Zug gehabt. Ich erkläre ferner hier nochmals: wenn ich vor Gericht eidlich als Zeuge vernommen worden wäre, so hätte ich unter meinem Zeugeneide ausgesagt: „Ich habe nicht gewußt, daß seitens des Grafen Hohenau oder der anderen Herren irgendeine homosexuelle Veranlagung vorliegt.“

Ich habe 42 Jahre des Königs Rock mit Stolz getragen, und niemand hat daran zu tasten gewagt und mir auch nur das geringste nachsagen können; dieser Mann, der dort sitzt (mit der Hand auf Harden weisend), dieser Mann hat es gewagt, und es ist ihm geglückt, mich in meiner Ehre zu kränken. Im In- und Auslande ist mein Name in aller Munde. Ich habe das feste Vertrauen zu einem preußischen Gerichtshof, daß er meine Ehre zu wahren wissen wird, und lege alles vertrauensvoll in Ihre Hände! (Vereinzelte Bravorufe im Zuhörerraum.)

Verteidiger Justizrat Bernstein führte nochmals aus: Wenn man anerkennt, daß sich Dinge ereignet haben, die uns in allen Augen herabsetzen, dann kann man doch nicht denjenigen bestrafen, der diese schmählichen Mißstände beseitigen will. Diese Mißstände sind doch da und existieren, und man muß dankbar sein, daß jemand die Eiterbeule aufzustechen wagte. Und wenn der Kläger noch zehnmal beweglicher cher spricht: er hat Dinge behauptet, die nicht wahr sind und deren Unwahrheit er kannte! Wenn das irgendwie bezweifelt wird, dann bitte ich, in die Beweisaufnahme nochmals einzutreten und den Frhrn. Alfred v. Berger als Zeugen zu vernehmen, der bekunden wird, daß, in bezug auf seine Vermittelungsbeziehungen und in bezug auf die Kenntnis des Klägers über die Bedeutung der Hardenschen Artikel, Fürst Eulenburg und Graf Kuno v. Moltke bewußt die Unwahrheit gesagt haben. Herr Harden hat lediglich aus politischen Gesichtspunkten gehandelt und nur das angedeutet, was er andeuten mußte.

Graf v. Moltke: Ich stehe hier für mich allein und kann nur für mich allein kämpfen. Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Ich muß den Vorwurf der Unwahrheit mit aller Entschiedenheit nochmals zurückweisen. Ich habe keinen anderen Ausweg gefunden, gegen Herrn Harden vorzugehen als, nachdem ich den Rock ausgezogen habe, mit Hilfe des Gerichts. Die kleinen Spitzen und Andeutungen habe ich in den ersten Artikeln wohl gemerkt, aber ich habe den Zusammenhang der Dinge erst in dem Artikel vom 17. April erkannt, so daß ich dann erst den Weg der Privatklage beschreiten konnte. Man fragt hier immer wieder: Warum ist der Graf Kuno v. Moltke nicht mehr Stadtkommandant von Berlin? Ich habe meinen Rock ausgezogen wegen der Verleumdungen und Verdächtigungen gungen in den Artikeln der „Zukunft“ und wegen keiner anderen Sache.

Justizrat Dr. v. Gordon bedauerte in einer nochmaligen Erklärung auf das tiefste, daß der Chef des Militärkabinetts v. Hülsen-Haeseler nicht vernommen wurde, denn durch dessen Bekundungen würden die Behauptungen der Gegner über das Ausscheiden aus dem Dienst einfach widerlegt werden.

Es nahm darauf das Wort Angeklagter Maximilian Harden: Meine Herren Richter! Sie haben mich in diesen Tagen leidenschaftlich gesehen, vielleicht mitunter mehr als es angemessen war. Entschuldigen Sie mich einstweilen, Sie werden hören, was mich dazu trieb. Ich bitte um die Erlaubnis, mich zunächst einen Augenblick, ehe ich auf das eingehe, was den Kern meiner Schlußrede bilden soll, mit der Erklärung zu beschäftigen, die der Herr Privatkläger vor einigen Stunden gegeben hat und die geschickt, gut, wirksam jeder nennen muß, der sich nicht blenden läßt und der nicht zu fragen hat, wieweit jeder Ton aus derjenigen Tiefe kam, die solchen Tönen Resonanz gibt. Meine Aufgabe als des Angeschuldigten ist, ruhig zu prüfen: was ist darin gesagt? Was ist dadurch an dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme geändert. Der Herr Privatkläger hat gesagt, heute ist der Geburtstag Moltkes. Der Schatten des Namens schwebt über allem. Das wußte ich von der ersten Stunde dieser Aktion an. Dieser Name und noch eine Reihe anderer preußischer Namen schwebten als Schatten darüber. Ich lasse es dahingestellt, wieweit der Privatkläger eine persönliche Gemeinschaft mit dem großen Marschall, dem Stolz Deutschlands, gehabt hat. Ein Blutsverwandter ist er nicht. Dieser Marschall Moltke, der dann eines Tages der große Marschall werden sollte, hat eines Tages in seiner Jugend, wie Sie aus seinen Briefen wissen, eine Leiche aus der Ferne nach Deutschland gebracht, die Leiche eines preußischen Prinzen, wenn ich nicht irre, hieß er Heinrich, der Bruder Friedrich Wilhelms III. Dieser preußische Prinz war geschlechtlich pervertiert gewesen und war deshalb vom Hofe verbannt worden. Und es war ein Moltke, Helmut der Große später, der diese Leiche zurückbrachte. Ich glaube, der Herr Privatkläger sollte nicht eine Leiche zu retten versuchen; er sollte nicht eine Leiche auf seinen Rücken laden, bloß deshalb, weil er, vielleicht selbst in gutem Glauben, den ich nicht angezweifelt habe, jahrzehntelang in seinem Leben mit dieser Leiche, die ich jetzt als solche ansehe, befreundet war. Es steht doch unzweifelhaft fest, daß die früheren Behauptungen des Privatklägers, wonach er erst spät über die wahre Bedeutung der Artikel aufgeklärt worden sei, unrichtig waren. Erst jetzt hat er zugegeben, daß die Darstellung des Herrn v. Berger richtig ist. Warum hat er das nicht früher anerkannt? Wenn man ein alter General ist, sollte man seinem Gegner doch auch zugeben, was nicht zu bestreiten ist. Der Privatkläger sagt: wie kann man ernstlich einem alten General solche Dinge zutrauen? Nun, Wilhelm von Hohenau war ein ebenso alter General wie Graf von Moltke, und wir wissen, wie Tieftrauriges, Entsetzliches sich an seinen Namen knüpft. Wenn der General von Moltke sich heute als General, als Patriot fragt: sollten alle Widerwärtigkeiten, die er durchzumachen hatte, trotzdem in ihm den Wunsch aufkommen lassen, daß ein Mann, wie der Graf Wilhelm Hohenau noch weiter vom Kaiser geduzt werde und der andere Mann noch am Ruder wäre, so meine ich, er muß antworten: es ist gut, daß es so gekommen ist! Der Herr Graf Moltke klagt in beweglichen Tönen über die üble Lage, in die er gebracht worden, hier vor Gericht auf Herz und Nieren sich prüfen zu lassen. In derselben üblen Lage haben sich schon andere, nicht unbedeutendere Herren befunden: ein Miquel, ein Marschall, und Fürst von Bülow wird demnächst in dieser Lage sein. Wenn einer etwas gewagt hat in dieser Sache, so bin ich es. Ich hab’s gewagt! Und wenn ich auch nicht einen Rock trage mit buntem Kragen, und wenn ich mir meinen Namen selbst gemacht habe, so habe ich doch die Ehre dieses Namens, ebenso ernst zu wahren. Was die Entlassung des Privatklägers betrifft, so datiert das Eingreifen des Kronprinzen vom 2. Mai 1907, das Abschiedsgesuch des Privatklägers vom 3. Mai, und am 24. Mai ist das Abschiedsgesuch genehmigt. Meine seltsamen Erlebnisse machen es mir schwer, auf den regierenden Herrn eine Hymne zu singen, aber das wird mir doch kein Mensch einreden wollen, daß der regierende Herr die Entlassung eines Generals, der ihm sehr nahestand und den er mit Beweisen seiner Huld überschüttet hat, dekretieren wird, bloß weil ein hundsgemeiner Kerl – als der ich ja verschrien werde – ein paar Worte geschrieben hat, die in einer gewissen Sphäre einige Leute bespritzten. Nebenbei bemerkt: Graf Kuno v. Moltke weist den Verkehr in der Villa Adler mit Entschiedenheit zurück. Habe ich jemals gesagt, daß er in der Villa Adler mit männlichen Personen Umgang gehabt habe? Es wäre aber doch freundlich von dem Privatkläger gewesen, wenn er mitgeteilt hätte, daß er zwei Häuser von der Villa Adler in Potsdam wohnte, und daß er seine Wohnung vom Grafen Lynar übernommen hat. Ich stehe hier für eine lautere Sache ein, für mich und meine Existenz! Ich habe die Artikel nicht geschrieben, um den General v. Moltke in Schmutz zu ziehen. Nein, ich habe ihn davor bewahrt, solange ich es konnte! Die Homosexualität, die eigentlich eine unendlich kleine Rolle in diesem Prozeß darstellt, ist hier in ausgedehnter Weise behandelt worden. Der Angeklagte legte alsdann in eingehender Weise seine Stellung zu dieser Frage dar und verlas einen Artikel der „Zukunft“, in welchem für Aufhebung des Paragraphen 175 plädiert wurde. Daran knüpfte sich eine historische Klarlegung der einzelnen Phasen, die schließlich zur Veröffentlichung der Artikel geführt haben. Diese verfolgten einzig und allein einen politischen Zweck, so etwa fuhr Harden fort, nämlich den Zweck, Leute, deren Einfluß auf den Kaiser mir verderblich zu sein schien, aus dieser ihrer Position zu entfernen. Aus dem Tagebuch des alten Chlodwig Hohenlohe ging deutlich hervor, welche unheilvolle Rolle Fürst Eulenburg gespielt hat. Es mußte mich zum Eingreifen veranlassen, daß ein Mann von der enormen, noch heute maßlos unterschätzten Bedeutung des Fürsten Eulenburg solche Gepflogenheiten hat, daß er nicht dulden will, daß sein Freund mit seiner Gemahlin ehelich verkehrt. Ist es normal, daß man vom Deutschen Kaiser als vom „Liebchen“ spricht? Das sind schlimmere Dinge als die unter Friedrich Wilhelm IV. Da mußte ich sprechen, wenn kein anderer den Mut dazu fand. All die vom gegnerischen Anwalt aus meinen Artikeln herausgelesenen beleidigenden Andeutungen auf das Geschlechtsleben des Privatklägers stehen ja gar nicht darin. In den inkriminierten Artikeln ist in beleidigender Weise von dem Grafen Moltke nicht die Rede, und die Auslegung, die der Privatkläger und sein Vertreter diesen Artikeln gibt, widerspricht jeglicher Logik und ist überaus gequält. Wenn ich das hätte sagen wollen, was die Gegenseite behauptet, dann hätte ich ja nur die Darstellungen in vorhandenen Akten zu veröffentlichen brauchen, und was wäre dann gewesen? Dann hätte ich auch noch nicht bestraft werden können. Baron v. Berger würde, wenn er in diesem Saale als Zeuge vernommen worden wäre, auf meine Fragen geantwortet haben: er habe am 25. November dem Fürsten zu Eulenburg klaren Wein eingeschenkt, daß Harden ihn für einen Mann von abnormer Sexualität hält und es am besten sei, wenn der Fürst von der Bildfläche verschwinde. Dann würde ich den Baron v. Berger weiter gefragt haben: Und was hat der Fürst darauf geantwortet? Ich würde die Antwort erhalten haben: Nichts! Dann würde ich weiter gefragt haben: „Hat er irgendwie darauf reagiert?“ und Baron Berger würde darauf geantwortet haben: „Ja, er hat die Augen niedergeschlagen!“

Glauben Sie, ich hätte je den Wunsch gehabt, den Herrn Stadtkommandanten von seinem Posten zu verdrängen? Ich hatte gar kein Interesse daran, ich wollte einen anderen treffen! Für einen Politiker wie Fürst Eulenburg ist es von unschätzbarem Wert, durch einen zuverlässigen Mann alles aus der Umgebung des Kaisers zu erfahren. Es ist beschworen, daß tatsächlich zeitweise täglich vom Grafen Moltke an den Fürsten Eulenburg solche Berichte gesandt wurden. So also malt sich mir das Verhältnis. In dem Moment, wo sich der Fürst Eulenburg zurückzog, war für mich die Person des Grafen Moltke völlig uninteressant. Der Fürst kam zurück, und es kamen böse politische Dinge über Deutschland. Da nahm ich die Aktion wieder auf und sagte, die Herren möchten sich zurückziehen. Die Bemerkungen waren nur verstanden worden von dem Fürsten Eulenburg und dem Grafen Moltke. Diese Herren wurden noch vom Baron v. Berger darauf aufmerksam gemacht. Damals hat Graf Moltke die Möglichkeit eines Duells nicht benutzt, sondern erst nach Monaten, nachdem er auch schon gehört hatte, daß ich eine Herausforderung nicht annehmen würde. Sehr bald nach diesen Artikeln begann dann die Aktion des Kronprinzen, denen Vorträge folgten, darunter eine dreistündige Unterredung des Herrn v. Hülsen-Häseler. Keiner der Herren, die in meinen Heften genannt waren, ist auf seinem Posten geblieben. Hab’ ich’s bewirkt? Nein, Exzellenz v. Moltke! Dazu habe ich nicht die Macht – leider nicht, denn sonst würde ich vielleicht manches Revirement versuchen. Ich habe wirklich nicht die Macht dazu, und es war ein freundlicher Scherz eines Spaßvogels, der da sagte: Um Gotteswillen, der Harden regiert jetzt Preußen! Nachher kam der Spektakel in den Zeitungen, und man schrie in die Welt hinein: Der Harden den kneift! Das ist ganz und gar nicht der Fall, und deshalb schrieb ich den Artikel „Nur ein paar Worte“, welchen wieder verschiedene Herren von der Presse als einen Rückzug, als eine Art Feigheit erklärten. Jetzt werden sie dies hoffentlich nicht mehr behaupten. Die Herren von der Presse hatten übersehen, daß ich nicht journalistisch, sondern politisch wirken wollte. Ich kannte doch alle die Dinge, um welche es sich handelt, ich hatte ja die Briefe nicht nur der Frau v. Elbe, sondern auch des Vaters und der Mutter, ich hatte alles schwarz auf weiß in meinem Schreibtisch, dickleibige Akten, und hätte doch tausendfach mehr veröffentlichen können, als ich veröffentlicht habe. Was die Haltung der Staatsanwaltschaft betrifft, so glaubt doch der Privatkläger im Ernst nicht, daß die Staatsanwaltschaft dem Harden im Grunewald zu Liebe von der Erhebung einer öffentlichen Anklage abgesehen hat – nein, die Staatsanwaltschaft hat eine Beleidigung überhaupt nicht in den Artikeln gefunden, und wenn eine solche vorhanden sein sollte, sich nicht damit befassen wollen. Ich habe auch keine mächtigen politischen Hintermänner, sondern pflege selbst für mich einzustehen und selbst das zu tun, was ich für richtig finde. Ein paar politische Worte will ich noch hinzufügen. Es ist hier erzählt worden, was Fürst Bismarck über den Fürsten Eulenburg gesagt hat, an dessen Sturz der letztere auch nicht ganz unbeteiligt teiligt war. Wodurch ist diese weltgeschichtliche Tragödie entstanden? Ich habe tagelang von früh bis spät bei dem Fürsten Bismarck geweilt. Ich sage es hier ganz offen: Fürst Bismarck war einer der schlechtesten Menschenkenner, den es je gegeben hat! Ah, ich sehe, Herr Justizrat Dr. v. Gordon macht sich sofort eine Notiz; er wird nun sagen: also kann er sich auch bezüglich des Fürsten Eulenburg getäuscht haben. Ich erwarte dies ruhigen Herzens. Dieser schlechte Menschenkenner, dieser kraterhafte Mann hatte sich auch in der Natur des dritten Kaisers getäuscht, und der psychologische Hauptgrund zu dem Sturz Bismarcks war, daß der Kanzler dem jungen Herrscher zwar ehrerbietig, aber kraftvoll vor Zeugen sachlich entgegenzutreten wagte. Neben der Persönlichkeit des vorwärtsstrebenden Monarchen war ein Grüppchen, das eigentlich große Ziele für das Deutsche Reich nicht verfolgte, aber auch nicht vaterlandsverräterische natürlich, das aber in seiner Weise doch nur ganz kleine Etappen vorrückte und vor allem den Wunsch hatte, im richtigen Licht zu stehen und den Herrn bei guter Laune zu erhalten, auch ihm nicht lästig zu werden durch Widerspruch. So hat Bismarck ganz ungeheure Schwierigkeiten dadurch gehabt, daß seiner durchaus männlichen offenen Art entgegenstand dieses sehr himmelnde Wesen der anderen Seite. Der zweite Kanzler ist in Liebenberg gestürzt worden, der dritte war Hohenlohe. Dieser alte Herr ist soweit gekommen, daß er schäumte, wenn der Name dieses Eulenburg auch nur genannt wurde. Der vierte Kanzler, der noch im Amte ist, ja, der ward Kanzler durch den Fürsten Eulenburg. Bülow war Botschafter in Rom, und Fürst Eulenburg war Botschafter in Wien und wollte Bülow zum Kanzler machen. Hier in diesem Hause, in diesem Saale ist der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Freiherr Marschall v. Biberstein unterlegen in der Tausch-Affäre, einer Affäre, über die der frühere Botschafter in Wien, wenn er uns die Ehre seiner Anwesenheit geschenkt hätte, genötigt gewesen wäre, sehr viele Sachen mitzuteilen. Marschall war nicht mehr möglich, aber Fürst Eulenburg ist, trotzdem er eng verwickelt war in diese Angelegenheit, noch stark genug gewesen, den Nachfolger selbst zu kreieren. Er ersah dazu den Bülow in Rom. Bülow wollte nicht; er hatte eine italienische Gemahlin, die fuhr zu Eulenburg, aber dort war nichts zu machen. Ich erwähne das ausdrücklich, da es beweist, daß es tatsächlich eine okkulte Instanz gab, die die Sache machte. Die Frau fuhr nicht nach Berlin und stellte Majestät die Sache vor, sondern nach Wien und bat Eulenburg, er möchte sie in Rom lassen. Eulenburg sagte: Bernhard muß nach Berlin – die Herren duzten sich ja auch. Als sie meinte: Tun Sie’s doch lieber!! sagte Eulenburg: „Nein, ich will Könige machen, aber nicht König sein!“

Das ist einer dieser Fälle, von denen ich Ihnen eine ganze Reihe aufzählen könnte. Auch dieser vierte Kanzler ist in Todfeindschaft geraten mit dem Manne, der ihn kreiert hatte. Auch dadurch geht ein tiefer, äußerlich kaum verhüllter Haß. Vier Kanzler haben es versucht, seinen Einfluß zu beseitigen, es ist ihnen nicht gelungen. Ich habe den Versuch auch gemacht. Er ist mir nicht gelungen, aber ich habe mitgewirkt, daß es geschehen ist. Ich habe mitgewirkt daran, daß heute Fürst Eulenburg keinen politischen Einfluß mehr hat; daß der Herr Botschaftsrat Lecomte nicht mehr in Berlin ist. Ich glaube nicht, daß er unsere Stadt wieder betreten wird. Halten Sie das für ein nationales Glück oder für ein nationales Unglück? Ich halte es für ein Glück. Wissen Sie, was geschehen war, wissen Sie, daß wir unmittelbar vor einem Kriege standen mit zwei Nationen? Wissen Sie, warum wir zu der Marokkoaffäre kamen? Hatten wir da was zu suchen, haben wir je daran gedacht, in Marokko Eroberungen zu machen? Bülow selbst hatte im Reichstage gesagt, daß wir daran nicht denken; Bismarck hatte gesagt: Laßt die Franzosen Marokko nehmen, um so sicherer sind wir im Elsaß. Was ist hier geschehen? Die allerhöchste Person im Deutschen Reich ist in den Glauben versetzt worden, in Frankreich sei die Stimmung soweit gediehen, daß eine offiziell ziell sichtbare, deutlich ostentativ bezeichnete Versöhnung stattfinden könne. In Frankreich waren gewisse Leute zu dem Glauben gebracht worden, Deutschland sei so weit, daß es nachgeben oder gewisse Konzessionen machen werde, daß es vom Frankfurter Frieden etwas nachlasse. Der Präsident der französischen Republik war aufgefordert worden, ein Zusammentreffen mit dem Deutschen Kaiser an der italienischen Küste zu haben. Und als diese Möglichkeit sich im letzten Moment als eine Unmöglichkeit erwies, als sich zeigte, daß es noch lange nicht in Frankreich ruhig sei, da empfand man das hier als eine Brüskierung, weil man getäuscht worden war über die Stimmung in Frankreich. Durch wen? Durch den Freund des Schloßherrn von Liebenberg

Lecomte. In dieser Sache ist alles fast abenteuerlich, was mein Erleben betrifft. Die Tatsache, daß Herr Lecomte in Liebenberg mit dem Kaiser zusammengetroffen ist, ist eigentlich ein Unikum, denn die Staatsoberhäupter verkehren nur mit den Chefs der Ressorts und nicht mit den Botschaftsräten. Diese Tatsache des Zusammentreffens des Monarchen mit dem Botschaftsrat Lecomte habe ich nicht von Geheimrat Holstein erfahren, sondern er von mir. Ich habe es erfahren von einem Freunde des Fürsten Eulenburg, von einem Ritter des Schwarzen Adlerordens. Dieser Herr sagte, so schlimm sind die Sachen in Liebenberg gar nicht, die Herren unterhalten sich dort nur über – Kunst und französische Architektur, und auch als S.M. mit „Phili“ und Lecomte im Garten ein paar Stunden spazieren gingen, wurde nur über Kunst gesprochen. Mit Lecomte? fragte ich. Ja, S.M., Phili und Lecomte! Es war mir schmerzlich, das zu hören. Daß diese ganze langnachwirkende Marokkoaffäre durch eine Täuschung entstanden ist, durch eine Täuschung der maßgebenden Stelle über das, was heute schon in Frankreich möglich ist. Wir haben nur dann das einmal Eroberte nicht wieder aufzugeben. Man hat hier viel zu früh geglaubt, ernten zu können. Eine zweite solche Täuschung ist in der Zeit der Konferenz geschehen, und es hat 3 1/2 Monate gewährt, daß zwei Politiken in Deutschland verfolgt wurden, deren eine nichts von der anderen wußte; eine Politik der allerhöchsten Person und eine Politik des Kanzlers. Es hat einen Moment gegeben, wo der Botschafter der französischen Republik zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sagte: Was Sie da erzählen, ist ja interessant, aber Euer Kaiser denkt ganz anders. Woher wußte es der Botschafter? Von seinem Botschaftsrat. Weil ich finde, daß dieser Mann ganz ungeheuerlich lange Botschaftsrat an einer Stelle war, weil er seiner Regierung hier unschätzbare Dienste leisten konnte, weil ich wußte, daß daraus Dinge entstehen mußten, die dem Deutschen Reich sehr schädlich lich würden. Darum gehört dieser Mann in die Gruppe. Er ist ein ganz intimer Freund des Fürsten Eulenburg von München her, und wenn der andere intime Freund so nahe seinem Kaiser steht, so kann ich, wenn ich auch nicht an seiner guten Absicht zweifle, das nur für ungeheuer schädlich für das Deutsche Reich halten. Es war auch nötig, darauf hinzuweisen, daß diese Persönlichkeiten Abweichungen von der Norm zeigen. Das gibt eine Gemeinschaft, die dem andern nicht sichtbar ist; das gibt eine Verbündelung, von der der andere, der Entscheidende nichts ahnt. Deswegen brauche ich gar nicht vom Päderasten zu sprechen, ich habe das auch nicht getan.

Ich habe nichts weiter getan, als daß ich die Grundform des Wesens eines zusammenhängenden Grüppchens objektiv unheilvoll wirkend bezeichnet habe. Das, was ich in dieser Beziehung erweisen wollte, habe ich erwiesen, und was nebenbei in sexuell-pathologischer Beziehung zu erweisen war, ist hier auch erwiesen. Das Verfahren hier hat doch einen merkwürdigen Verlauf genommen. Von allen Zeugen, die ich zu meiner Entlastung vorgeladen habe, sind ja die meisten nicht erschienen. Ich habe nicht die obszönen Dinge an die Öffentlichkeit gezogen, die widerwärtigen Dinge, die jetzt schon jeder weiß: daß sich schon ein ganzer Soldatenstrich in den Zelten in Berlin entwickelt hat, daß ganze Kavallerieregimenter verseucht sind, daß dem Minister v. Bethmann Hollweg – dem Polizeiminister! – unsittliche Anträge gemacht werden konnten. Mich gingen diese Dinge gar nichts an: ich habe nach meinen besten Kräften nur dazu mitzuwirken gesucht, eine schädliche politische Entwickelung abzuwenden. Nun ist mein Hauptzeuge, der Fürst Eulenburg, ausgeblieben. Merkwürdig, er ist immer todkrank, wenn es sich um heikle Dinge handelt. Er war krank, als er im Tausch-Prozeß aussagen sollte, er war krank, als Baron Berger in Unterhandlungen eintrat, und ist jetzt wieder krank. Ich hätte warten können, bis der Zeuge Fürst Eulenburg als Zeuge hier erscheinen kann, aber was hier zu erweisen war, ist erwiesen worden! Nach dem ersten Tag der Verhandlung mußte ich sagen, morgen muß doch Graf Moltke aufstehen und sagen: ich selbst bin unschuldig, aber ich muß anerkennen, daß dieser Harden, der seit fünf Jahren alles weiß und davon keinen Gebrauch machte, hier nicht die Absicht hatte, Skandal zu machen, sondern daß er als Politiker mit seinen Artikeln einen Zweck verfolgte, der von seinem Standpunkte aus berechtigt erschien. Da ich Christ, Edelmann und ein Moltke bin, will ich ihm nicht den unberechtigten Vorwurf machen, er habe hier nur verleumden wollen. Ich nehme deswegen die Klage zurück. Die Argumente des Privatklägers, daß er General ist und 40 Jahre treu gedient hat, sind ja nicht zu bestreiten, aber an höchster Stelle hat man ihn trotzdem seines Postens enthoben. Nicht in derselben Weise wie die anderen. Man hat ihm die Uniform gelassen und ich bin der letzte, der dahin wirken würde, daß er sie auszieht. Es gibt einen Kreis von Personen, ich kenne ihn auch ganz genau und könnte ihn hier im Gerichtssaale nennen, der das wollte, aber „oben“ hieß es: Eulenburg weg, Hohenau ganz weg, gegen Moltke liegt gar nichts Bestimmtes vor, aber wir müssen ihn zur Disposition stellen und er soll seine Integrität nachweisen. „Gereinigt oder gesteinigt!“ Diese Worte sind an höchster Stelle gesagt worden. Und wenn ich in dieser Sache ein Verdienst habe, so will ich das am Ende sagen: Was wäre denn geschehen, wenn eines Tages alles im „Vorwärts“ stand, alle diese Sachen, ich will’s nicht ausmalen, und mein Verdienst ist sehr groß an der Sache. Mein Verdienst ist nämlich dieses, daß der „Vorwärts“ nicht zuerst eingegriffen hat. Der erste, der eingegriffen hat, das war der Deutsche Kaiser, der hat gehandelt, bevor die Sache an die Öffentlichkeit kam, und der die Dinge so lange der Öffentlichkeit vorenthielt, das ist Ihr ergebenster – und das ist mein Verdienst allerdings. Und wenn Sie vom Ausland sprechen, so ist mir das ganz gleichgültig. Das Ausland kann, wenn es gerecht und vernünftig urteilen will, nur sagen: Deutschland ist ein Land wie andere, da kommen solche che Dinge auch vor. Aber es muß sagen: Donnerwetter, es sind doch famose Kerle; der erste, der eingriff, war der Kaiser, und der ihn dazu angeregt hat, das war sein erstgeborener Sohn, der Kronprinz. Und wenn ich vor 13 Jahren in diesem Hause ein Erkenntnis erstritten habe, in der Strafkammer, vor dem Landgerichtsdirektor Schmidt, wo ich gesagt habe, es gibt auch eine andere Art, dem Kaiser zu dienen, als vor ihm zu knien, nämlich ihm mit der Wahrheit zu dienen, so habe ich mich jetzt an dieses Erkenntnis gehalten und ich glaube, ich kriege noch ein solches. Ich habe nichts mehr zu sagen. (Lebhafte Bravorufe.)

Am fünften Verhandlungstage wurde das Urteil gesprochen. Sogleich nach Eröffnung der Sitzung erklärte der Rechtsbeistand des Privatklägers, Justizrat Dr. v. Gordon: Ich habe gestern ermitteln können, daß der Zeuge Bollhardt, der große Physiognomiker, der in dem 27jährigen Offizier den 50jährigen Botschafter erkannte, und sagte, „es wäre eine gewisse Ähnlichkeit zwischen einem Beteiligten und dem Grafen Moltke vorhanden,“ daß diese Persönlichkeit schwer bestraft ist, und zwar durch Urteil des Kriegsgerichts der Garde-Kavalleriedivision vom November 1903, wegen Unterschlagung in mehreren Fällen, Mißbrauchs der Dienstgewalt und wegen anderer Vergehen. Er ist deshalb degradiert und in die zweite Klasse des Soldatenstandes versetzt, was mit dem Verlust des Rechtes, die Nationalkokarde zu tragen, verbunden ist. Er ist auf die Festung Spandau geschickt worden. Dies ist der einzige Mann, der es gewagt hat, meinen Mandanten mit den Schmutzereien in Verbindung zu bringen. Es kommt mir darauf an, hier vor der Öffentlichkeit dies festzustellen, damit die Welt erfährt, was für ein Mann dieser Zeuge ist. Herr Harden wird mir wohl auch dankbar dafür sein, daß ich ihn über die Qualität und den Wert dieses Zeugen aufgeklärt habe, damit er sich im weiteren Verfahren nicht mehr auf diesen Zeugen beruft.

Vors. Amtsrichter Dr. Kern: Herr Justizrat! Der Zeuge Bollhardt war dafür benannt, daß in einem Kreise, in welchem der Privatkläger verkehrte, sexuelle Ausschweifungen vorgekommen seien, dann waren zwei andere Zeugen benannt, die bekunden sollten, daß der Privatkläger Kenntnis davon gehabt hat. Dieser zweite Beweis ist mißlungen und es liegt deshalb wohl keine Veranlassung vor, auf das Zeugnis des Bollhardt zurückzukommen.

Justizrat Dr. von Gordon: Dann habe ich nichts weiter zu bemerken.

Der Vorsitzende, Amtsrichter Dr. Kern, verkündete darauf folgendes Urteil: Das Gericht hatte allein zu prüfen, was der Angeklagte in diesen acht Artikeln, die der Anklage beigefügt sind, gesagt hat. Es ist unerheblich, wie er später seine Ausdrücke gedeutet hat. Es ist auch ganz unerheblich, was er hierzu in der jetzigen Hauptverhandlung behauptet hat. Es. kommt also zunächst der Artikel vom 27. September 1906 in Frage. Da sagt der Angeklagte: „Zwei Ästheten von sehr verschiedener Sinnesrichtung“ mit Bezug auf den Privatkläger und einen Hohenzollernprinzen. Der Angeklagte deutet das so, daß der eine dem weiblichen Geschlecht sehr zugeneigt sei, während der Privatkläger dem weiblichen Geschlecht abgeneigt sei. Das Gericht ist aber der Ansicht, daß der Ausdruck „Sinnesrichtung“ gegen diese Auslegung spricht, denn daraus ist zu entnehmen, daß das Sinnesempfinden des Privatklägers eine bestimmte Richtung gehabt hat, und daß, wenn auch selbstverständlich eine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht vorlag, diese auch mit einer Zuneigung zum männlichen Geschlecht verbunden war. Es wird dem Kläger also der Vorwurf gemacht, er sei sexuell anormal. Dann kommt der zweite Artikel vom 17. November 1906. Es heißt darin: „Lauter gute Menschen, musikalisch, poetisch, spiritistisch, so fromm, daß sie vom Gebet mehr Heilwirkung erhoffen, als von dem weisesten Arzt. Das alles wäre ihre Privatangelegenheit, wenn sie nicht zur Umgebung des Kaisers gehörten.“ Hier wird die erwähnte Freundschaftlichkeit offenbar zum Vorwurf gemacht, denn der Angeklagte selbst sagt, er ließe diese Freundschaftlichkeit als Privatangelegenheit gelten, aber da er, der Privatkläger, sich in politische Dinge mischt, müsse er diese Privatangelegenheit zur Sprache bringen. Es muß also eine Freundschaft sein, die von der Norm abweicht. Faßt man die beiden ersten Artikel zusammen, so wird man daraus den Schluß ziehen, daß der Angeklagte dem Privatkläger Homosexualität vorwirft. In der Nummer vom 8. Dezember ist derselbe Gedankengang enthalten. Hier heißt es: „Ich würde es mir dreimal überlegen, ehe ich von einem Manne behaupte, er unterhalte intime Beziehungen zu Eulenburg.“ Daß er dies dem Kläger vorwirft, geht aus einem vorhergehenden Satze hervor. Hier ist die Behauptung der Homosexualität noch deutlicher. Er spricht auf der andern Seite auch wieder von dem „Grüppchen“, dem er jedes Privatvergnügen gönne. Es kommt die Nummer vom 30. April 1907. Das Gericht hält hier nicht für nachgewiesen, daß der von dem Angeklagten gebrauchte Ausdruck den ihm vom Privatkläger untergelegten beleidigenden Sinn haben, sondern nur eine normwidrige Annäherung an Männer angedeutet werden sollte. Ausgeschieden sind sämtliche anderen Artikel. Da ist das bekannte Nachtgespräch des „Süßen“ mit dem „Harfner“. Der Privatkläger hat selbst angegeben, daß er zunächst nicht gewußt habe, wer mit dem „Süßen“ gemeint sei. Zum Tatbestand der Beleidigung gehört aber nach einem Reichsgerichtsurteil, daß mindestens eine für den Beleidigten leidigten verständliche Andeutung bei der Beleidigung vorhanden ist. Die auf diesen Artikel gestützte Anklage aus § 185 (Beleidigung) muß also fallen. Ausgeschieden hat das Gericht die Artikel vom 2. Februar und vom 6. April 1907. In dem ersten Artikel ist überhaupt nicht zu ersehen, wo eine Beleidigung stecken soll. Im zweiten Artikel ist nur von Lecomte die Rede, und es ist nicht ersichtlich, wodurch hier der Privatkläger beleidigt sein soll. Nun kommt der letzte Artikel vom 20. April, wo von der „vita sexualis“ die Rede ist. Dies ist aber nur eine Anspielung auf den Fürsten Eulenburg. Was hat der Angeklagte in den vier Artikeln behauptet? Offenbar behauptet er damit: Der Kläger hat ein anormales Sexualempfinden, er ist homosexuell! An sich mag diese Behauptung noch nicht beleidigend sein, aber andererseits wird doch damit weiter behauptet, dieser Trieb wäre seinen Freunden gegenüber erkennbar. Der Privatkläger habe also diesen Trieb nicht unterdrückt. Für die Frage, ob diese Behauptung geeignet ist, den Kläger verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, hat das Gericht die Ansicht vertreten, daß hier tatsächlich eine Herabwürdigung vorliegt. Denn von einem Manne in der Stellung des Privatklägers erwartet man, solange das Gesetz den § 175 kennt, also die Homosexualität, wenn auch nur in der schärfsten Form ihrer Ausführung verbietet, daß er einen solchen sexuellen Trieb derart unterdrückt, damit er keinem anderen erkennbar wird. Es ist nun vom Angeklagten die Frage der Verjährung angeregt worden. Das Gericht hat angenommen, daß sämtliche Artikel einem einheitlichen Entschluß entsprungen sind. Der Angeklagte wollte offenbar den Privatkläger so lange herabwürdigen, bis seine vermeintliche politische Tätigkeit aufgehört hätte. Das Gericht nimmt ferner an, daß in jedem einzelnen Artikel die Merkmale der Beleidigung gegeben sind, und hält ein fortgesetztes Delikt für vorliegend. Nun ist eine Beleidigung nur dann strafbar, wenn die Tatsache, die behauptet war, nicht erweislich wahr ist. Das Gericht hat angenommen, daß der Beweis der Wahrheit dem Angeklagten geglückt ist.

Zunächst, ist der Privatkläger homosexuell? Dafür kommt in erster Linie in Betracht die Aussage der Frau v. Elbe. Diese Aussage ist dem Gericht an sich glaubwürdig erschienen; aber sie wird noch wesentlich verstärkt durch das Auftreten des Privatklägers selbst. Das Gericht will durchaus nicht denselben Weg gehen wie die Verteidigung und etwa hier dem Grafen Moltke bewußte Unwahrheit vorwerfen. Dieser Vorwurf basierte auf Beweisen, die überhaupt gar nicht erhoben worden sind. Es waren also nur Unterstellungen. Das Gericht nimmt sogar an, daß der Privatkläger einen großen Zug von Wahrhaftigkeit an den Tag gelegt hat. Als hier gefragt wurde nach der Vernehmung der Frau v. Elbe: Herr Graf, sind die und die Behauptungen Ihrer früheren Gattin falsch, hat diese Frau einen Meineid geleistet? Da hat der Herr Graf geschwiegen. Er wußte, er muß, um seine Sache günstig zu gestalten, sagen: Die Aussage ist falsch. Er hat aber als Ehrenmann geschwiegen, und hieraus entnimmt das Gericht, daß auch er die Aussage für wahr gehalten hat. Wenn er auch später wirklich entgegengesetzte Beweisanträge gestellt hat, so ändert das doch nichts daran. Auf die Einzelheiten der Aussagen der Frau v. Elbe und ihres Sohnes wollen wir nicht eingehen. Bringen wir hiermit das durchaus zuverlässige Gutachten des Herrn Dr. Magnus Hirschfeld in Zusammenhang, so sind wir zu dem Schluß gekommen, daß tatsächlich der Privatkläger homosexuell veranlagt ist. Die Voraussetzung trifft zu: er ist dem weiblichen Geschlecht abgeneigt, hat eine Zuneigung zu dem männlichen Geschlecht und hat gewisse feminine Eigenschaften. Alles Merkmale der Homosexualität. Es ist nicht etwa ein Beweis dagegen, daß der Graf eine Ehe eingegangen ist, denn der Sachverständige Dr. Hirschfeld hat selbst gesagt, daß solche Ehen Homosexueller entweder auf Anraten von Verwandten oder um die sexuelle Veranlagung zu kachieren, öfter eingegangen werden. Der Kläger ist homosexuell veranlagt. Es fragt sich nun: Ist diese Homosexualität anderen deren gegenüber erkennbar geworden? Die Zeugen, die hier unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen wurden, sollten bekunden, daß in den Kreisen des Privatklägers Ausschreitungen vorgekommen sind. Es waren dann Zeugen dafür benannt worden, daß der Privatkläger diese Ausschreitungen gekannt hat. Die letztgenannten Zeugen haben vollkommen versagt, darüber ist gar kein Beweis erbracht. Also kommt die Aussage namentlich des Zeugen Bollhardt gar nicht in Frage. Nach Abgabe des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Hirschfeld konnte auch von weiterer Beweisaufnahme Abstand genommen werden, da durch die innige Freundschaft des Herrn Grafen zum Fürsten Eulenburg, die fast liebkosenden Anreden und auch durch die vielerörterte Taschentuchepisode, ein Anzeichen der Tatsache der Homosexualität gegeben ist. Diese Tatsache ist den Zeugen Frau v. Elbe und deren Sohn Leutnant Wolff v. Kruse deutlich erkennbar gewesen. Das geht aus ihren Aussagen hervor. Der Kläger hat sie nicht bestreiten können. Das Gericht nimmt also an, daß der Beweis der Wahrheit erbracht ist. Es muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß nicht etwa hier festgestellt ist, der Graf Moltke habe strafbare Betätigung der Homosexualität an den Tag gelegt. Es ist lediglich als festgestellt erachtet: er ist homosexuell und hat diesen Trieb andern; gegenüber nicht unterdrücken können. Es erübrigt sich ein weiteres Eingehen auf die politischen Ausführungen des Angeklagten. Diese sollten nur nachweisen, daß er in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe. Es liegt eine strafbare Handlung nach § 186 (üble Nachrede) nicht vor, ebensowenig ist § 185 (einfache Beleidigung) anwendbar, da aus der Form die beleidigende Absicht nicht zu schließen ist. Das Urteil lautet dahin: Der Angeklagte ist der fortgesetzten Beleidigung nicht schuldig, er wird freigesprochen, die Kosten des Verfahrens werden dem Privatkläger Grafen von Moltke auferlegt.

Das Urteil wurde von einem Teile des Publikums mit stürmischen Hochrufen begrüßt. Gegen dieses Urteil legte der Privatkläger Berufung ein. Inzwischen nahm die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin I die Sache in die Hand. Am 19. Dezember 1907 gelangte der Prozeß in der Berufungsinstanz, und zwar vor der vierten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zur Verhandlung. Den Gerichtshof bildeten) Landgerichtsdirektor Lehmann (Vorsitzender) und die Landgerichtsräte Dr. Fritzschen, Gohr, Simonson und Gerichtsassessor Dr. Langes (Beisitzer). Die Anklage vertraten Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel und Staatsanwalt Raasch. Der Privatkläger, bisheriger Stadtkommandant von Berlin und Generalleutnant z.D., Exzellenz Graf Kuno v. Moltke, schloß sich der nunmehr von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklage als Nebenkläger an. Mit seiner juristischen Vertretung hatte er Justizrat Dr. Sello (Berlin) betraut. Die Verteidigung führten Justizrat Bernstein (München) und Justizrat Kleinholz (Berlin). Als Sachverständige waren geladen: Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Hoffmann, Geh. Sanitätsrat Dr. Zwingenberg, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Eulenburg, Sanitätsrat Dr. Moll, Dr. med. Magnus Hirschfeld und die Kriminalkommissare v. Tresckow I und Dr. Kopp. Als Zeugen waren erschienen General Alex Graf v. Wartensleben, Botschafter a.D. Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld, Freiherr Alfred v. Berger, Graf Ernst v. Reventlow, Königl. Kammerherr Graf Edgar v. Wedel, Freiherr v. Wendelstadt, Frau von Elbe, geschiedene Gräfin Moltke und deren Sohn aus erster Ehe, Kürassierleutnant Wolff v. Kruse.

Fürst Philipp Eulenburg, ein großer, starker Herr von 60 Jahren, erschien, von einem seiner Söhne und einem Diener geführt, auf zwei Krücken gestützt, im Saale. Es war außerdem geladen der schweizerische Gesandte in Berlin, Alfred de Claparede nebst Gemahlin. Das Auswärtige Amt hatte der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, daß dem Gesandten von seiner Regierung nicht gestattet sei, als Zeuge zu erscheinen.

Der Angeklagte Maximilian Harden gab auf Befragen des Vorsitzenden an: er habe das französische Gymnasium in Berlin bis zur Obersekunda besucht, sei aus persönlichen Gründen von der Schule abgegangen. Von einem gewissen Freiheitsdrange getrieben, sei er als blutjunger Mensch zur Bühne gegangen, habe ihr etwa drei Jahre angehört, sich alsdann weitergebildet und etwa 1888 angefangen, sich schriftstellerisch zu versuchen. 1892 habe er die „Zukunft“ begründet.

Vor Eintritt in die materielle Verhandlung beantragten die Verteidiger auf Grund des § 16 der Strafprozeßordnung, das Verfahren einzustellen. Die Anklage sei zu einer Zeit erhoben, bevor das Verfahren vor dem Amtsgericht Berlin (Mitte) rechtskräftig abgeschlossen war. Das gegenwärtige Verfahren verstoße außerdem gegen den Grundsatz: Ne bis in idem.

Es entspann sich darauf eine längere juristische Auseinandersetzung zwischen dem Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel, dem Vertreter des Nebenklägers, Justizrat Dr. Sello und den Verteidigern über den Antrag auf Einstellung des Verfahrens.

Der Gerichtshof beschloß, den Antrag abzulehnen und in die materielle Verhandlung einzutreten.

Es entspann sich alsdann zwischen dem Vorsitzenden und dem Angeklagten eine lange Auseinandersetzung über die Frage, ob Harden dem Grafen Moltke den Vorwurf der Homosexualität im Sinne des Paragraphen 175 hat machen wollen. Der Vorsitzende verwies wies auf den letzten Artikel und auf den Brief Hardens an den Klosterpropst v. Moltke, in denen der Angeklagte selbst zugegeben habe, daß er den Grafen Moltke normwidriger Gefühlsregungen beschuldigt habe. Normwidrig sei aber doch dasselbe, was jeder gewöhnliche Mensch als homosexuell versteht. Die meisten Leser hätten das so aufgefaßt, und die Artikel hätten doch auch den Zweck gehabt, den Fürsten Eulenburg und seine Freunde mit einem Makel zu behaften, um sie aus ihrer politischen Stellung zu verdrängen. Wenn mit dem Vorwurf der Normwidrigkeit der Eulenburg-Gruppe nicht der Makel der Homosexualität angehängt werden sollte, dann hätten die Artikel doch ihren Zweck verfehlt.

Harden: Ich kann mich in meiner Zeitschrift nicht auf den Standpunkt stellen von Menschen, die gar nichts von solchen Dingen gehört haben. Wenn ich „normwidrig“ schreibe, so kann ich nicht darauf Rücksicht nehmen, was der oder jener sich darunter denkt. Ich habe dieses Wort aber gar nicht geschrieben, es ist etwas anderes, wenn ich das Wort später anwandte, um meine Artikel zu interpretieren. Meine Artikel waren längst erschienen, da ist das Ereignis am Hofe eingetreten, die Forderung des Privatklägers zum Zweikampf, und dann kam eine Reihe von Zeitungsartikeln, in denen das Hundertfache von dem behauptet wurde, was ich geschrieben hatte. Darauf mußte ich antworten. Ich habe damals schon erklärt, daß ich von alledem, was aus meinen Artikeln herausgelesen wurde, nichts geschrieben habe.

Der Vorsitzende wies immer wieder darauf hin, der Angeklagte hätte sich als Menschenkenner doch sagen müssen, daß andere Leute eine andere Deutung aus den Artikeln herauslesen mußten. Der Angeklagte erwiderte, daß eine solche Auffassung erst nach den von ihm ganz unabhängigen Ereignissen aufgetaucht sei. Als er die Artikel geschrieben, habe ihm niemand eine solche Auffassung entgegengehalten.

Auf den Vorhalt, daß eine fortgesetzte Handlung vorliege, erklärte Harden, daß es ihm gar nicht eingefallen sei, eine Serie von Artikeln gegen den Fürsten Eulenburg und den Grafen v. Moltke zu schreiben. Er habe bei Gelegenheit anderer politischer Erörterungen hier und da wieder eine Ecke diesen beiden Herren gewidmet. Es vollziehen sich in der Seele eines Schriftstellers die Sachen doch nicht so, daß man sie später zu einem Ganzen zusammenhaken kann.

Vors.: Was verstehen Sie unter normwidrigen Gefühlsregungen?

Angeklagter: Normwidrig sind nach meiner Auffassung alle die Gefühlsregungen, die dem widersprechen, was Norm der Männer in diesen Dingen und Gepflogenheiten ist. Wenn Männer sich so anschwärmen, in derartiger inniger Weise ihr Leben aneinanderketten, derketten, so weit gehen, daß sie sich besondere Namen zulegen, wenn ihre Gefühle zueinander so stark sind, daß sie nach einer kurzen Abwesenheit voneinander ergriffen werden, wenn ihre Gefühle eine große Süße annehmen, so weicht dies von der Norm der Männer ab, so kann es schädlich werden, wenn es in die Politik übergreift.

Vors.: Die breite Öffentlichkeit wird es doch kaum anders verstehen, als daß unter normwidrigen Gefühlsregungen doch nur Homosexualität gemeint sein soll, oder Sie hätten andernfalls sich so deutlich ausdrücken müssen, daß ein Mißverständnis unmöglich war.

Angeklagter: Ich glaube, daß ich mich meinem Leserkreise gegenüber nicht anders auszudrücken brauche. Wenn solche Massensuggestion aber dann Platz greift, wie es hier der Fall war, dann wird natürlich aus den Dingen etwas ganz anderes, als sie sich ursprünglich darstellen sollten. Mir gegenüber hat niemand eine solche andere Auffassung ausgedrückt, auch der Nebenkläger hat sie ja ursprünglich nicht gehabt. Ich habe hier gesagt, was ich mit meinen Artikeln bezweckt habe, ich bitte, es mir zu glauben, und wenn ich mich geirrt haben sollte, so muß ich die Konsequenzen tragen.

Vors.: Der Zweck der Artikel war doch, die Herren zu beseitigen.

Angekl.: Die Artikel haben einen ganz anderen Hintergrund. Von etwa 120 Seiten handelt kaum eine halbe Seite vom Grafen Moltke. Fürst Eulenburg sollte bekämpft werden und seine Freunde, Graf Moltke ist nicht bekämpft worden, es mag sein, daß er hier und da ein wenig sich geärgert haben mag.

Vors.: Haben Sie sich nicht selbst gesagt, daß die Artikel auch formell beleidigend sind, da sie den Grafen Moltke verhöhnen, von dem „Süßen“ sprechen usw.

Angekl.: Das habe ich mir durchaus nicht gesagt. Auch heute nicht. Satire ist doch noch erlaubt, und wenn ein Witzblatt ein Bild bringen würde mit der Unterschrift „Der Süße“, so würde es deshalb gewiß nicht angeklagt werden. Hohn und Spott sind doch erlaubte Waffen im politischen Kampf, Spott ist doch nicht gleich eine ehrverletzende Beleidigung. Ich habe nur das Grüppchen politisch bekämpft und nur hin und wieder ein Wort eingefügt, was auf Sexualempfindungen hindeutet.

Vors.: Falls nun aber das Gericht dazu kommt, den Vorwurf der Perversität in den Artikeln zu finden – wollen Sie dann den Wahrheitsbeweis antreten?

Angekl.: Nein, ich habe ganz und gar nicht die Absicht, etwas zu beweisen oder zu enthüllen. Ich stehe hier als ein Mensch, der bestimmte Artikel geschrieben hat, in welchen nichts davon steht, was die Anklage klage behauptet. Ich glaube, dem Lande einen Dienst zu erweisen, wenn ich nicht darauf zurückkomme. Dem Gerichtshof liegen meine Artikel vor, er hat gehört, wie ich sie erkläre, und er möge sein Urteil sprechen. Ich habe auch das erstemal nicht den Wunsch gehabt, Beweise beizubringen. Der Gang der Dinge hat mir aber damals die Beweisführung aufgezwungen; wir haben alle darunter gelitten, Graf Moltke und auch ich. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß ich den Grafen nicht beleidigt habe. Ich denke nicht daran, den Beweis zu führen, daß sich der Nebenkläger homosexuell betätigt hat. Ich habe gar kein Interesse an irgendwelchen Beweisen. Wollen Sie mich schuldig sprechen, so muß ich es über mich ergehen lassen.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich bitte, nur eine einzige Frage möglichst präzise zu beantworten: Hat der Angeklagte mit all den Andeutungen in seinen Artikeln dem Grafen Moltke die Gefühle seiner Hochachtung oder seiner Mißachtung zum Ausdruck bringen wollen?

Angekl.: Diese Pointierung ist ganz ausgezeichnet. Ich habe aber keinen Grund, dem Grafen Moltke meine Hochachtung zu beweisen, und von einer Mißachtung ist mir nichts bewußt. Ich habe eben politische Artikel geschrieben.

Vors.: Die Wirkung der Artikel ist doch aber gewesen, daß Graf Moltke seinen bunten Rock ausgezogen hat.

Angekl.: Meines Wissens ist Graf Moltke noch im Besitze seiner Uniform.

Vors.: Jedenfalls hat er sein Amt als Stadtkommandant niedergelegt.

Angekl.: Ich habe noch keine Klarheit bekommen, aus welchen Gründen dies geschehen ist.

Vors.: Die Gründe hängen jedenfalls mit Ihren Artikeln zusammen.

Harden: Nach meiner Ansicht liegen für die Entlassung noch andere Gründe vor: Vorträge und Dissonanzen persönlicher Art, an denen ich nicht beteiligt bin. Ich sehe in meinen Artikeln kein einziges Wort, das für Graf Moltke beleidigend ist.

Vors.: Man kann auch mit halben Worten beleidigen, und das wird Ihnen zum Vorwurf gemacht.

Justizrat Bernstein: Herr Harden steht auf dem Standpunkt, den er heute präzisiert hat, daß er nämlich den Privatkläger in den inkriminierten Artikeln nicht beleidigt hat. Herr Harden hat bis zum Überdruß schriftlich und mündlich erklärt, daß er den Grafen Moltke nicht beleidigen wollte. Darauf ist ihm immer seitens der Anklagebehörde gesagt worden: Das ist nicht richtig, Sie haben schwer beleidigt! Dadurch ist sehr gegen unser Empfinden und unseren Willen uns die Beweisführung, welche soviel Mißempfinden erregt hat, aufgezwungen, aufgedrängt worden. Hätte man dem Wunsch, den Herr Harden als Ehrenmann und als anständiger Schriftsteller hegte, entsprechend seinen Versicherungen, daß er den Privatkläger nicht beleidigen wollte, geglaubt, so wäre zu einer Beweisaufnahme nicht der mindeste Anlaß gewesen. Durch die Nichterfüllung seines Wunsches ist Harden die Beweisführung aufgezwungen worden. Unsere Absicht ist, dasselbe wieder zu tun, was in erster Instanz geschehen ist, nur soweit mit der Beweisführung über die tatsächlichen Dinge zu gehen, wie im Interesse des Angeklagten notwendig ist. Es wird also lediglich von der Stellung der Anklagebehörde und des Gerichts abhängen, wieweit er Beweise zu führen hat. Da wir uns jetzt im öffentlichen Verfahren befinden, so hat ja nicht mehr der Angeklagte allein darüber zu entscheiden, sondern das Gericht.

Vors.: Falls das Gericht dazu kommt, anzunehmen, daß die Äußerungen in den Artikeln dazu angetan sind, auf Grund des § 186 StGB. eine Bestrafung herbeizuführen, dann würden die Äußerungen nur straflos werden, wenn der Beweis der Wahrheit erbracht wird. Somit muß der Angeklagte den Beweis führen.

Justizrat Bernstein: Herr Harden behauptet, daß die Artikel die Wirkung, die ihnen von der Anklage zugeschrieben, erst dadurch erzielt hätten, daß aus ihnen etwas herausgelesen wurde, was der Angeklagte gar nicht geschrieben hat.

Justizrat Kleinholz: Der Angeklagte sagt, er habe nie beleidigen wollen, habe auch nicht das Bewußtsein gehabt, daß diese Artikel beleidigen können, infolgedessen erklärt er: „Ich bin nicht der Beleidigung schuldig.“ Es ist ihm doch unmöglich, den Wahrheitsbeweis für Beleidigungen zu führen, die er nach seiner Auffassung gar nicht ausgesprochen hat. Das würde ihn in die unangenehme Lage bringen, jetzt erst mit Behauptungen vorzutreten, die er in den Artikeln nicht ausgesprochen hat. Deshalb sträuben wir uns gegen die Beweisaufnahme und wollen das vermeiden, was in der vorigen Sitzung aufgerollt wurde.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Das wäre alles sehr schön und gut, was die Herren da sagen, wenn sie das nur in der ersten Instanz im Privatklageverfahren gesagt hätten. Dann würde ich nur den Gerichtshof zu bitten brauchen, sich zurückzuziehen und zu entscheiden. So liegt die Sache aber nicht. Als ihm in der ersten Instanz gesagt wurde, er hätte den Grafen Moltke beleidigt, sagte der Angeklagte zwar erst: „Ich habe es nicht getan, wenn es aber behauptet wird, dann will ich den Beweis der Wahrheit antreten.“ Da hat Herr Harden den ganzen unerquicklichen Beweis aufgerollt. Deshalb muß ich dagegen protestieren, wenn er jetzt sagt, ihm ist der Beweis aufgezwungen worden. Herr Harden ist es, der den Ehescheidungsprozeß hineingebracht hat. Die Erklärungen des Angeklagten geklagten und seiner Verteidiger sind ja sehr dankenswert, aber dann verstehe ich nicht, warum die Herren so viele Zeugen geladen haben. Ich werde von meinem Standpunkt aus nicht zugeben, daß hier zunächst über die Vorfrage entschieden wird, ob Harden das gesagt hat, was ihm zur Last gelegt wird. Die Tatbestandsmerkmale hat allerdings der Staatsanwalt nachzuweisen. Deshalb werde ich beweisen, daß die behaupteten Tatsachen nicht erweislich wahr sind.

Harden:. Ich habe gesagt, was mein Wunsch in der Sache ist; wenn meine Herren Verteidiger Zeugen geladen haben, so hat sie ihr juristisches Gewissen dazu getrieben.

Justizrat Dr. Sello: Die Verteidiger haben meinem Wunsch nicht entsprochen, mir über das, was die von ihnen geladenen Zeugen bekunden sollen, Angaben zu machen. Ich werde deshalb einen umfangreichen Beweis antreten müssen, dessen ganze Wucht sich gegen die Frau v. Elbe richten soll.

Es wurde alsdann Klosterpropst Oberstleutnant v. Moltke als Zeuge vernommen. Er bekundete: Ich kenne den Generalleutnant Grafen Kuno Moltke schon seit 25 Jahren. Ich habe mit ihm in Breslau nicht allein in derselben Garnison, sondern auch in demselben Truppenteil zusammen gedient. Wir waren beide Eskadronschefs beim Leibkürassierregiment. Ich habe ihn beobachten können in seinem kameradschaftlichen schaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr, er hat auch viel in meinem Hause verkehrt. In späteren Jahren, als er hier Stadtkommandant war, und ich meinen Abschied genommen hatte, habe ich oft wochenlang in seinem Hause als Gast gewohnt. Ich glaube, ich bin in der Lage gewesen, seinen ganzen Verkehr und Umgang beobachten zu können. Ich habe nun zunächst festzustellen auf meinen Eid hin, daß Graf Kuno v. Moltke in der Zeit, wo wir uns kannten, bei seinen Kameraden nicht allein, sondern auch bei seinen Untergebenen sich einer ganz besonderen Beliebtheit und Hochachtung erfreute, einer Hochachtung, die ein gewisses Autoritatives hatte, einer Hochachtung, die begründet war auf dem allgemeinen Gefühl, daß man es mit einem pflichttreuen, tüchtigen und ehrenhaften Offizier zu tun hatte. Sowohl in Breslau als auch in Berlin hat Graf Kuno v. Moltke in den besten Familien und mit edlen Frauen verkehrt und ist überall ein lieber Gast gewesen. Es ist mir nicht allein das Gefühl gewesen, sondern mir auch von anderen gesagt worden, daß er zu jenen Personen gehört, die diejenigen, die zu ihnen in freundschaftliche Beziehungen treten, nicht herab-, sondern heraufziehen. Graf Kuno v. Moltke hat mit vielen edlen Frauen, die auch ich kenne, in innigem, regen brieflichen Verkehr gestanden. Ich habe vielfach Gelegenheit gehabt, nicht durch Stunden allein, sondern tagelang, ihn im Verkehr kehr zu beobachten und auch im Verkehr mit seinen Freunden und bin dabei gewesen, als Fürst Philipp zu Eulenburg als Gast bei ihm weilte und ebenso, als Graf Moltke in Liebenberg bei dem Fürsten als Gast weilte und dort übernachtete. Ich konstatiere auf meinen Eid, daß ich in den Beziehungen des Grafen Moltke zum Fürsten Eulenburg nichts Sexuelles, Erotisches, Unreines, der Sittlichkeit Widersprechendes bemerkt habe. Das erstemal ist mir darauf bezügliches aus der „Zukunft“ bekannt geworden.

In der Schöffengerichtssitzung hat Herr Harden eine Aussage dahin gemacht: Der Chef des Militärkabinetts, Graf v. Hülsen-Häseler, habe eine Äußerung über den Grafen Moltke getan, die er nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit mitteilen könnte. Ich habe im Auftrage des Grafen Moltke dem Grafen Hülsen-Häseler, der sich damals in Wien befand, geschrieben und ihn ersucht, mir umgehend mitzuteilen, ob Herr Harden irgendwie begründeten Anlaß zu dieser Angabe hatte. In einem hier zur Stelle befindlichen Schreiben des Herrn v. Hülsen-Häseler vom 28. Oktober heißt es: „Ew. Hochgeboren erwidere ich auf das Schreiben vom 25. Oktober, daß nach meiner Ansicht Herr Harden zu der mich berührenden Aussage irgend begründeten Anlaß nicht hat. Ich habe niemals mit Herrn Harden gesprochen, kenne ihn überhaupt nicht, es muß ihm also die angebliche Äußerung von mir von einer dritten Person überbracht worden sein. Ich bin mir nicht bewußt und muß es bestreiten, jemals über den Grafen Kuno v. Moltke eine Äußerung gemacht zu haben, die nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit wiederzugeben wäre.“

Auf Wunsch meines Vetters, des Grafen Kuno v. Moltke, so etwa fuhr der Zeuge fort, habe ich am 11. Mai d.J. Herrn Harden einen Besuch abgestattet. Der Zweck meines Auftrages, den ich zugleich auch als Kartellträger übernommen hatte, sollte sein, in einer persönlichen Unterredung mit Herrn Harden festzustellen, was er mit den Artikeln eigentlich beabsichtige und welche Auffassung er über meinen Vetter habe. Ich sagte zu Harden: Ich komme als ein Ihnen völlig Unbekannter und habe die Überzeugung, daß es uns gelingen wird, volle Klärung zu schaffen. Mein Vetter und ich gehören nicht zu den ständigen Lesern der „Zukunft“, aber wir haben aus verschiedenen Artikeln ersehen, daß Sie ihn der perversen Neigungen beschuldigten. In der Nummer vom Herbst 1906, in welcher von dem Prinzen Joachim Albrecht die Rede ist, der einer allzu großen Zuneigung zu dem weiblichen Geschlecht geziehen wird, sprechen Sie von „zwei Ästheten von verschiedener Sinnesrichtung“. Aus dem von Ihnen konstruierten Gegensatz muß man unbedingt herauslesen, daß eine Zuneigung zu dem männlichen Geschlecht bei meinem Vetter vorhanden sei. Ich bat Herrn Harden, mir seinen Standpunkt zu erklären. Herr Harden antwortete: Ich gebe zu, die fraglichen Artikel verfaßt zu haben, erkläre aber, daß ich sie nicht etwa aus gemeiner Sensationslust geschrieben habe, sondern im Interesse der allgemeinen politischen Lage, für das Gemeinwohl, um eine engere Verbindung zu sprengen, die geeignet ist, das Staatswohl zu gefährden. Ich habe mir die Überzeugung gebildet, daß Herr Graf Kuno v. Moltke nach männlicher Richtung hin sexuell veranlagt ist. Aus dem Kreise derjenigen, die mit Ihrem Vetter früher in sehr enger Verbindung standen, ist mir öfter gesagt worden, daß Graf Moltke anormal veranlagt ist. Die Gewißheit habe ich erst erlangt, als ich das in den Ehescheidungsakten vorhandene Material kennenlernte und Frau v. Elbe bei mir Schutz suchte. Ich (Zeuge) schaltete nun ein, daß jetzt aber ein ganz neues Moment in Erscheinung getreten sei. Ich erklärte Herrn Harden, daß mir mein Vetter am Abend zuvor, als er mir das Kartell übertrug, sein Ehrenwort gegeben, daß er niemals mit Männern geschlechtlich verkehrt hat. Ich ersuchte nun Herrn Harden, diesem Ehrenwort gegenüber eine bündige Erklärung abzugeben. Herr Harden antwortete mir, er würde glauben, sich selbst zu nahezutreten, wenn er an diesem Ehrenwort zweifeln wollte. Dieses Ehrenwort eines Edelmanns und Offiziers ändere die ganze Sachlage. Ich bat um eine schriftliche Erklärung hierüber: Am nächsten Tage erhielt ich von Herrn Harden folgendes Schreiben: „Euer Hochgeboren hatten die Güte, mir mitzuteilen, daß Ihr Herr Vetter, Graf Kuno Moltke, mit seinem Ehrenwort Ihnen bekräftigt hat, er habe niemals mit männlichen Personen geschlechtlichen Umgang irgendwelcher Art gehabt. Auf diese Mitteilung erwidere ich gern, daß ich keinen Grund habe, an der Wahrhaftigkeit des Euer Hochgeboren gegebenen Ehrenwortes zu zweifeln.“ Herr Harden äußerte dann noch im Laufe der weiteren Unterredung, daß er kaum einen Namen kenne, der ihm so achtungswert sei, wie gerade der Name Moltke. Er (Harden) wolle mir sein Ehrenwort geben, daß ihn, soweit ihn nicht seine politische Pflicht dazu zwingen würde, nichts mehr dazu veranlassen könnte, sich mit der Person des Grafen Kuno v. Moltke des weiteren zu beschäftigen. Der Zeuge versicherte hierauf unter seinem Eid, daß er die Angaben des Protokolls auch jetzt noch aufrechterhalte. Er verlas schließlich das bekannte Schreiben Hardens, in dem dieser einen Zweikampf ablehnt mit der Begründung, daß durch einen solchen Zweikampf eine spätere Feststellung der Wahrheit unmöglich werden würde.

Justizrat Bernstein: Herr Harden ist der Meinung, daß die Artikel der „Zukunft“ erst in einer den Grafen Moltke verletzenden Weise interpretiert worden sind, als man in der Öffentlichkeit die bekannten Entschlüsse Seiner Majestät erfuhr und nun daraus Folgerungen zog, die man vor diesen Entschlüssen aus den Artikeln nicht gezogen hatte. Nun ist der letzte der inkriminierten Artikel in der Nummer vom 27. April erschienen. Sie haben bekundet, daß Graf Moltke Sie um ein Eingreifen am 8. Mai ersucht hatte. Zwischen dem 27. April und dem 8. Mai liegt das Bekanntwerden der Beschlüsse Sr. Majestät. Erst infolge dieser Ereignisse ist der Lärm entstanden. Da Graf Moltke vor dem 27. April diese Artikel als beleidigend aufgefaßt haben will, so ist es auffallend, daß er den Herrn Zeugen erst am 8. Mai mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hat.

Zeuge v. Moltke: Ich bin mit der Sache erst Anfang Mai befaßt worden. Eine Äußerung meines Vetters, daß er über die Zeit vom November bis Ende April diese oder jene Auffassung von den Artikeln hatte, ist mir nicht erinnerlich.

Auf weitere Fragen erklärte der Zeuge, daß der Nebenkläger ihn erst Anfang Mai gesprochen habe, als er (Zeuge) nach Berlin gekommen sei, um sein Abgeordnetenmandat auszuüben. Etwa am 5. oder 6. Mai sei Graf Kuno von Moltke zu ihm gekommen und habe ihm gesagt: er sei in schwere Bedrängnis geraten, und bitte um seinen Beistand.

In der Erörterung über dieses Thema erklärte Justizrat stizrat Bernstein, daß diese Sache für die Verteidigung von besonderer Wichtigkeit sei, denn der Angeklagte behauptet, daß die Interpretation seiner Artikel nach der Seite hin, daß sie beleidigend seien, erst aufgetreten sei nach den bekannten Ereignissen, also ex post. Der Nebenkläger habe nach Hardens Ansicht in der Tat vor dem 2. oder 3. Mai die Artikel nicht als beleidigend erachtet.

Justizrat Dr. Sello stellte hierzu fest, daß der Nebenkläger sein Abschiedsgesuch am 3. Mai eingereicht hatte und dies erst am 22. Mai bekanntgegeben worden sei. Diese „Ereignisse“ hätten also auf die Interpretation der Artikel keinen Einfluß ausüben können.

Angeklagter Harden: Am 1. Mai wurde bei mir antelephoniert, es meldete sich ein Abgeordneter bei mir an, dessen Namen ich nicht verstehen konnte. Ich war deshalb durch den Besuch des Zeugen überrascht. Irgendeine Aufzeichnung über das Gespräch ist zwischen uns beiden nicht vereinbart worden. Wenn ich gewußt hätte, daß dieses Gespräch hier einen Teil des Verfahrens der Anklage hätte bilden können, so wurde ich den Grafen gebeten haben, daß wir gemeinsam das Protokoll aufnehmen. Nach meiner Erinnerung hat der Herr Graf weder von dem Fürsten Eulenburg zu mir gesprochen, noch bestimmte Artikel in dieser Ausführlichkeit herangezogen. Er hat mich gefragt, fragt, ob daraus die Ansicht hervorgehen soll, daß ich Herrn Grafen Kuno Moltke der Perversion verdächtige. Darauf habe ich ihm gesagt: Gedruckt ist davon nichts, meine Ansicht aber Ihnen zu verhehlen, würde ich für eine Feigheit halten. Ich sage Ihnen darum offen: ich habe allerdings seit Jahren die Überzeugung gewonnen, daß Graf Kuno v. Moltke ein von der Norm abweichendes Empfindungsleben hat nach der Richtung hin, daß er die Freundschaft zu Männern mit einer Überschwenglichkeit, mit einem leise erotischen Ton empfindet, die man nicht als normal bezeichnen kann. Der Zeuge machte mir darauf die Mitteilung von dem Ehrenwort des Grafen Kuno v. Moltke. Ich sagte, ich könne die Wahrhaftigkeit des Klägers nicht bezweifeln, das falle aber nicht in das Gebiet meiner Behauptungen. Nachdem mich Graf Moltke verlassen hatte, überlegte ich das Gespräch noch einmal und schrieb dann sofort den hier schon verlesenen Brief. Meine Anschauungen über das Empfindungsleben des Grafen Kuno Moltke hatte ich aber schon lange vorher dem Freiherrn von Berger mitgeteilt, und dieser hatte bereits im Jahre 1906 dem Kläger darüber Klarheit gegeben. Was die Äußerung des Chefs des Militärkabinetts über den Privatkläger betrifft, so ist mir von glaubwürdigen Personen, die ich als Zeugen benennen könnte, gesagt worden, daß Graf v. Hülsen-Häseler Äußerungen getan hat, die verletzend sein müßten für die Herren, die damals in der Umgebung des Kaisers sich befanden.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Der springende Punkt in den Auslassungen des Angeklagten liegt darin, daß er behauptet, er habe dem Zeugen erklärt, in den Artikeln stehe nichts von den Beschuldigungen. Der Zeuge sagt aber das Gegenteil.

Zeuge: Ich konnte meinen Auftrag nur so auffassen, daß volle Klarheit über den Inhalt der Artikel geschaffen werden sollte. Deshalb habe ich immer bei der Unterredung auf diese Artikel Bezug genommen.

Justizrat Dr. Sello: Ich bitte den Herrn Zeugen, sich nochmals darüber zu äußern: Ihr Kartellauftrag ging doch dahin, festzustellen, was mit den Artikeln festgestellt sein sollte, nicht aber, die Herzensmeinung des Herrn Angeklagten festzustellen.

Zeuge: Das ist richtig.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Mir wird mitgeteilt, daß das Leiden des Fürsten Philipp zu Eulenburg sich wesentlich verschlimmert hat. Er hat daher darum gebeten, sobald als möglich vernommen zu werden, da er sonst vielleicht verhindert sein könnte, Zeugnis abzulegen. Ich möchte das Gesuch des Herrn Zeugen unterstützen, denn niemand ist ja, wie Herr Harden aus eigener Erfahrung weiß, Herr seiner Gesundheit. Fürst zu Eulenburg hat, wie ich wiederhole, dringend gebeten, ihn möglichst sofort abzufertigen, weil er an einer schweren Bronchitis leidet. Es würde sich daher empfehlen, ihn vor dem Grafen Kuno v. Moltke zu vernehmen.

Justizrat Kleinholz: Die Verteidigung muß doch Wert darauf legen, daß der Herr Nebenkläger zuerst vernommen wird, da auf Grund seiner Bekundung weitere Fragen an den Fürsten Eulenburg zu richten sein werden.

Justizrat Dr. Sello: Wir schließen uns der Bitte an, den Herrn Fürsten Eulenburg zunächst zu vernehmen.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich beantrage, die Vernehmung des Fürsten zu Eulenburg bei verschlossenen Türen stattfinden zu lassen, dagegen halte ich es für zulässig, den Herrn Nebenkläger in öffentlicher Sitzung zu vernehmen, falls er nicht selbst den Ausschluß der Öffentlichkeit wünscht. Für die Vernehmung der Frau v. Elbe und deren Mutter, der Frau v. Heyden, beantrage ich den Ausschluß der Öffentlichkeit.

Die Justizräte Kleinholz und Sello schlossen sich dem Antrage des Staatsanwalts voll an.

Angekl. Harden: Ich schließe mich durchaus dem Wunsche an, bei der Vernehmung des Fürsten Eulenburg die Öffentlichkeit auszuschließen.

Bevor sich der Gerichtshof zurückzog, trat der Obersekretär des Landgerichts Berlin I, Rechnungsrat Prestel vor und meldete, daß Fürst Eulenburg mit Rücksicht auf seinen sehr kranken Zustand gebeten habe, von seinen Söhnen in den Gerichtssaal begleitet und gestützt zu werden, da er befürchtet, daß ihm etwas zustoßen könnte.

Justizrat Kleinholz: Wir haben nur das Bedenken, die Herren Söhne zuzulassen, weil in unseren Anträgen gerade Stellen enthalten sind, von denen wir wünschen müssen, daß die Söhne lieber keine Kenntnis davon erlangen. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Die Öffentlichkeit wird im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit ausgeschlossen nur für die Vernehmung des Fürsten zu Eulenburg, des Grafen v. Moltke, der Frau v. Elbe, deren Mutter und weiterer Zeugen. Auch die Presse wird ausgeschlossen. Wann wir die Öffentlichkeit wieder zulassen können, bleibt späteren Beschlüssen vorbehalten.

Der Ausschluß der Öffentlichkeit wurde sehr streng gehandhabt. Den beteiligten Personen wurde es als Pflicht auferlegt, nichts über die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindende Verhandlung verlautbaren zu lassen. Trotzdem wurde bekannt, daß Vergleichsverhandlungen im Gange seien. Die Grundlage für einen Vergleich sollte ganz besonders durch die Aussage der Frau v. Elbe geschaffen worden sein. Diese sollte in nichtöffentlicher Sitzung bekundet haben: Sie habe ihrem früheren Gatten, dem Grafen Kuno v. Moltke nicht homosexuelle Veranlagung nachsagen wollen, er sei vielmehr ein durchaus einwandfreier und vornehmer Kavalier gewesen. Kriminalkommissar v. Tresckow bekundete in nichtöffentlicher Verhandlung. Er habe niemals gehört, daß Graf Kuno v. Moltke homosexuell veranlagt sei; er sei auch nie an solchen Orten gesehen worden, wo sich Leute von anormaler Gefühlsrichtung aufzuhalten pflegen. Ein anderer Graf Moltke aus der dänischen Linie sei einmal in Erpresserhände gefallen. Auch über den Fürsten Philipp zu Eulenburg seien ihm Tatsachen über etwaige Verfehlungen gegen § 175 absolut nicht bekannt. Über Herrn Lecomte dürfe er sich nicht äußern, da dieser der Vertreter einer fremden Macht sei. Auf Befragen erklärte v. Tresckow, daß homosexuelle Menschen in den höchsten und in den niedrigsten Kreisen vorkommen. Kriminalkommissar Dr. Kopp schloß sich dieser Bekundung an. Gerüchte über den Grafen Moltke seien in sehr vager Form aufgetaucht, sie seien aber erst nach den Ehescheidungsvorgängen entstanden. Kriminalwachtmeister Tietze wußte über homosexuelle Neigungen des Nebenklägers gleichfalls nichts. Er habe gerüchtweise nur folgendes gehört: ein Mann, der an Gehirnerweichung gestorben sei, habe vier Wochen vor seinem Tode erzählt, daß ein Graf Moltke dänischer Linie einem Erpresser 3000 Kronen aus Kopenhagen gesandt habe. Vom Grafen Kuno v. Moltke wisse er absolut nichts. Hierauf wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt. Es erschien zunächst als Zeugin die Krankenpflegerin Schwester Hedwig Lange, die Frau v. Elbe in der Zeit vom Herbst 1899 bis 1900 während schwerer Krankheit gepflegt hat. Sie bekundete: Frau v. Elbe sei sehr nervös gewesen und habe sehr wenig über ihren Gatten geredet. Es ist der Zeugin nicht aufgefallen, daß Frau v. Elbe unwahr oder unglaubwürdig sei.

Vors.: Wie hat sich Frau v. Elbe denn über ihren Gemahl geäußert.

Zeugin: Sie sagte gesprächsweise, der Graf wäre eifersüchtig auf seinen Stiefsohn.

Justizrat Dr. Sello: Wie ist das zu verstehen: der Graf sei eifersüchtig auf seinen Sohn, sollte damit gemeint sein, daß der Graf meinte, der Stiefsohn entzöge ihm die Liebe seiner Gemahlin?

Zeugin: Ich habe selbst nicht darüber nachgedacht.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Hat Frau v. Elbe niemals Ihnen gegenüber den Grafen Moltke beschuldigt, er habe sie unfreundlich behandelt, habe sie geschlagen oder dergleichen?

Zeugin: Niemals.

Vors.: War Frau v. Elbe während Ihrer Pflege sehr krank?

Zeugin: Ja, sie hat schwer phantasiert und hat erst allmählich wieder gehen gelernt; sie erholte sich sehr langsam.

Professor Dr. Eulenburg: Haben Sie bemerkt, daß während Ihrer Pflegezeit das Gedächtnis der Frau v. Elbe schwach war?

Zeugin: Nein, davon habe ich nichts bemerkt.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Die Gräfin hat niemals Ihnen gegenüber den Grafen Moltke beschimpft?

Zeugin: Nein.

Es wurde hierauf zur Vernehmung der Zeugin Rosenbauer geschritten, die bei Frau von Elbe als Gesellschafterin tätig war. Die Zeugin erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war von Juli 1900 bis Mai 1901 bei Frau v. Elbe Gesellschafterin. Frau v. Elbe hat mir öfters von ihrer zweiten Ehe und ihrem Ehescheidungsprozeß erzählt und dabei gesagt: „Einem von uns kostet es den Kragen, hoffentlich ihm.“

Vors.: Wie kamen Sie auf das Gespräch?

Zeugin: Wir haben beim Spazierengehen und auch im Hause häufig gesprochen, dabei kam auch oft die Rede auf die zweite Ehe. Sie sagte mir mit Bezug auf die Aussage einer früheren Gesellschafterin, diese habe ihr die Äußerung nachgesagt: „Graf Moltke liebt mich nicht, er liebt nur seine Freunde.“ Daraufhin sei sie bei der Ehescheidung als allein schuldiger Teil erklärt worden. In Wirklichkeit hätte sie aber diese Äußerung nicht getan, sondern nur gesagt, das Zusammenleben mit dem Grafen sei nicht so, wie es ein Ehemann mann mit seiner Frau führt. Er sei spät zu Tisch gekommen und habe sie warten lassen; er habe auch den Ausdruck gebraucht: die Frau sei ein Klosett.

Justizrat Dr. Sello: Hat die Frau Gräfin Ihnen nicht einmal selbst erklärt, sie hätte gelogen?

Zeugin: Ich hielt Frau Gräfin vor, wie unrecht sie mir mit ihren Anschuldigungen getan hätte. Sie sagte mir darauf, ja, sie hätte gelogen und bäte mich um Verzeihung. Um mir zu zeigen, wie lieb sie mich habe, schenkte sie mir dann noch ein Buch.

Frau v. Elbe: Ich bitte dabei zu berücksichtigen, daß ich mit Fräulein Rosenbauer sehr herzlich verkehrte und unsere Gespräche als durchaus vertraulich betrachtete. Was ich alles gesagt habe, um unsere Differenzen wieder in Reih und Glied zu bringen, kann ich jetzt nicht sagen.

Justizrat Dr. Sello: Ich habe ja auch die Briefe, die die Zeugin aus freien Stücken an den Grafen v. Wartensleben gerichtet hat, will aber davon jetzt keinen Gebrauch machen.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel zu Fräulein Rosenbauer: Hat Frau v. Elbe nicht auch davon gesprochen, daß sie sich mit Journalisten in Verbindung setzen wollte, um den Grafen bloßzustellen?

Zeugin: Frau v. Elbe hat mich gefragt, ob ich ihr nicht Journalisten nennen könnte, namentlich solche aus Wien, denen sie Material aus ihrer zweiten Ehe zur Verarbeitung geben könnte. Dieses Material hat sie aber nicht näher bezeichnet.

Justizrat Bernstein: Was wollte die Gräfin damit sagen: das Zusammenleben mit dem Grafen war nicht so, wie sonst zwischen Eheleuten?

Zeugin: Sie meinte, es wäre kein richtiges Familienleben gewesen; wenn sie vor einem Schaufenster stehenblieb, so ging der Graf weiter und ließ sie allein stehen.

Beis. Landgerichtsrat Dr. Simonson: Hat Frau v. Elbe die Bekanntschaft eines Schriftstellers gesucht, um aus ihrer zweiten Ehe Veröffentlichungen zu machen und den Grafen Moltke bloßzustellen? Das haben Sie vorigesmal nicht gesagt.

Zeugin: Wir sprachen gelegentlich von einigen Schriftstellern, da sagte Frau v. Elbe: Verschaffen Sie mir die Bekanntschaft irgendeines dieser Herren, ich habe viel Material über meine zweite Ehe, um den Grafen Moltke bloßzustellen.

Justizrat Dr. Sello: Sie hat also ausdrücklich gesagt: „um den Grafen bloßzustellen“.

Zeugin: Jawohl, ich habe das damals genau aufgezeichnet.

Frau v. Elbe: Erinnert sich die Zeugin genau, daß ich das schreckliche Wort „bloßzustellen“ gebraucht habe, oder ist sie erst aus dem Gespräch zu ihrer Auffassung gekommen?

Zeugin: Ja, das Wort ist gebraucht worden.

Auf einige weitere Fragen des Vert Justizrats Kleinholz bekundete die Zeugin Frl. Rosenbauer: Frau Gräfin v. Moltke war oft sehr gereizt und sehr launisch, wenig wahrheitsliebend, ich konnte es ihr nie recht machen. Ich habe oft namenlos gelitten, wurde krank und mußte in ärztliche Behandlung. Die Mutter der Frau Gräfin, Frau v. Heyden, versuchte mich fortzubringen. Ich wollte schon nach einer Vierteljahr das Haus wieder verlassen, blieb dann aber wieder, weil ich dachte, die Erregung sei auf den Ehescheidungsprozeß zurückzuführen. Die Gräfin hat mir wiederholt gesagt: Hüten Sie sich vor meiner Mutter, sie sucht jeden, mit dem ich zufrieden bin, wegzubringen. Als ich dann wieder beabsichtigte, wegzugehen, blieb ich wieder, weil sie mir sagte, ich möchte sie doch nicht verlassen, da sie noch nicht wüßte, was aus ihrem Prozeß werde. Die Frau Gräfin hat dann, als ich weg war, über mich selbst allerlei verbreitet, was absolut unwahr ist. Auf die Frage des Oberstaatsanwalts erklärte die Zeugin: die Frau Gräfin habe ihr nichts von unsauberen Freundschaftsverhältnissen ihres Gatten gesagt, ebensowenig, daß er sie geschlagen, mit Füßen getreten, daß sie schwarze Flecke gehabt habe.

Oberstaatsanw. Dr. Isenbiel: Hat Ihnen die Frau Gräfin nicht einmal gesagt: ursprünglich habe ja der Graf die Schuld im Ehescheidungsverfahren auf sich nehmen wollen, weil der Graf ursprünglich gesagt habe, er wolle sich wegen unüberwindlicher Abneigung scheiden lassen?

Zeugin: Ich weiß nur, daß sich die Gräfin nicht scheiden lassen wollte, weil sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht gerne aufgeben wollte.

Auf eine Frage des Justizrats Dr. Sello bestätigte die Zeugin weiter, daß sie einmal aus gänzlich nichtiger Veranlassung von der Gräfin beschuldigt worden sei, ein Liebesverhältnis mit einem Diener angefangen zu haben. Alles was man tat, wurde einem anders ausgelegt, die Gräfin bewegte sich immer in Extremen.

Frau v. Elbe erklärte, sie erinnere sich nicht, eine solche Beschuldigung ausgesprochen zu haben.

Vors.: Das war noch zu der Zeit, als Sie an Trionalvergiftung litten.

Die Zeugin schwieg.

Inzwischen verbreitete sich das Gerücht, daß die Einigungsverhandlungen endgültig gescheitert seien, da ein allerhöchster Befehl vorliege, wonach gewünscht werde, daß die Verhandlungen weitergehen und die Sache durch ein gerichtliches Urteil zur Erledigung kommen soll.

Im weiteren Verlauf bekundete Dr. med. Frey (Wien) als Zeuge und Sachverständiger: Er habe Frau von Elbe, frühere Gräfin Moltke, 1897 eine Zeitlang behandelt. Die Frau, die an Blinddarmentzündung litt, sei hochgradig hysterisch gewesen.

Vors.: Hat die damalige Frau Gräfin Moltke Äußerungen gemacht, daß ihr Gatte homosexuell sei?

Dr. Frey: Ich bitte, mir die Beantwortung dieser Frage zu erlassen. Ich bin als Arzt gezwungen, das Berufsgeheimnis zu wahren.

Es erhoben sich über die Frage, ob der Zeuge zur Ablehnung einer Antwort auf diese ihm unterbreitete Frage berechtigt sei, kurze Erörterungen. Der Oberstaatsanwalt erklärte: Es sei ja bedauerlich, daß man diesen hochinteressanten und hochwesentlichen Punkt nicht wird aufklären können, aber man müsse doch nach Lage der Sache darauf verzichten. Er habe aber noch viele andere Zeugen zur Hand, um die Frau Gräfin zu kennzeichnen. Der Oberstaatsanwalt fragte den Zeugen nochmals ausdrücklich, ob die Frau Gräfin, eine hochgradig hysterische Person sei.

Dr. Frey: Er könne bestimmt bekunden, daß er bei der früheren Gräfin Moltke eine außerordentliche hysterische Veranlagung für dargetan erachte. Die Frau Gräfin habe eine hohe Intelligenz, eine tiefe Geistesbildung, ein hohes ethisches Empfinden, gepaart mit seltener Vorurteilslosigkeit. Damit stehe ihre Handlungsweise in einem so diametralen Gegensatz, daß schon aus diesem Grunde das Vorliegen von Hysterie wahrscheinlich sei. Dazu haben sich ganz bestimmte Stigmata der Hysterie gesellt, daß nach seiner Ansicht die Gräfin für viele ihrer Handlungen und Aussprüche nicht verantwortlich gemacht werden könne, da die Phantasie dabei hervorragend mitspiele. Infolge der Hysterie könne von solchen Leidenden manches in dem Bilde vollster Wahrhaftigkeit erzählt werden, und sie reden sich manches ein, was sie schließlich selbst glauben und was andere Leute ihnen gleichfalls glauben. Alle Angriffe der Gräfin auf den Grafen Moltke beruhen nach seiner Ansicht auf Phantasie, wenn sie auch selbst die Angaben für begründet halte.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Heißt es nicht in der Medizin: Quaevis hysterica mendax? (Jede Hysterische ist lügenhaft.)

Dr. Frey: Jawohl!

Auf weitere Fragen bekundete der Zeuge noch: die Gräfin sei von einer großen Launenhaftigkeit gewesen, zeigte einen hochgradigen Wechsel ihrer Gefühle, sie war gewissermaßen „himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.“ Sie habe chronische Zuckungen an verschiedenen Teilen des Körpers, dagegen könne er die Frage des Oberstaatsanwaltes, ob die Gräfin hypererotisch sei, nicht bejahen; er könne auf Grund seiner Beobachtungen sie kaum für eine sehr sinnliche Natur erkennen. Daß sich hysterische Leute auch unter Umständen zu Boden werfen und mit dem Kopf an die Wand schlagen, komme vor.

Justizrat Dr. Sello stellte durch Befragen und an der Hand eines Briefes des Zeugen vom 21. November 1898 fest, daß der Zeuge sich der Gräfin gegenüber habe verwahren müssen, daß sie ihm eine Äußerung über die angebliche Perversität des Grafen Moltke in den Mund legen wollte, die sie in Wahrheit selbst getan hatte.

Justizrat Bernstein suchte aus anderen Briefen des Dr. Frey festzustellen, daß dieser augenscheinlich früher selbst von den glänzenden Eigenschaften der ehemaligen Gräfin Moltke überzeugt gewesen und wohl erst später zu einer abweichenden Auffassung über die Glaubwürdigkeit der Frau Gräfin gekommen sei.

Dr. Frey: Er müsse mit aller Bestimmtheit dabei bleiben, daß bei Frau v. Elbe eine schwere Hysterie vorhanden sei. Von seiten des Geh. Medizinalrats Prof. Eulenburg und des Dr. Magnus Hirschfeld wurde eine Reihe medizinischer Fragen gerichtet.

Justizrat Dr. Sello machte das prozessuale Bedenken geltend, daß das Schweningersche Ehepaar vor der Vernehmung nicht wieder vereidigt werden könne, da diese beiden Zeugen vielleicht dem Angeklagten Mitteilungen über den Moltkeschen Ehezwist zum Zwecke der publizistischen Veröffentlichung gemacht haben. Es wäre also immer noch die Möglichkeit gegeben, das Ehepaar Schweninger noch wegen übler Nachrede zur Verantwortung zu ziehen. Das könne sich erst nach ihrer Vernehmung ergeben.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich habe keinen Verdacht, daß sich diese Zeugen irgendwie der Beihilfe schuldig gemacht haben. Wie ich Herrn Harden kenne, hat er gewiß ganz selbständig gehandelt, und ich habe nicht das geringste Bedenken, das Ehepaar Schweninger sofort zu vereidigen.

Angekl. Harden: Herr Geh. Rat Schweninger hat mir niemals auf diese Sache Bezügliches mitgeteilt, um es zu veröffentlichen. Er hatte keine Ahnung davon, was und wie ich schreiben würde, er ist an meinem Artikel völlig unbeteiligt.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Hat Herr Harden nicht auch einmal den Versuch zu einer Verständigung zwischen dem Ehepaar Moltke machen sollen?

Harden: Es handelt sich nicht um einen Ausgleich, sondern darum, daß ich gebeten wurde, den Versuch zu machen, mit Justizrat Sello die Ehescheidungssache zu besprechen; das war der Wunsch, der mir von der Frau Gräfin und deren Anwälten ausgesprochen wurde. Mit Justizrat Sello war ich sehr gut bekannt und glaubte, etwas Nützliches zu erreichen.

Ein weiterer Zeuge war Chefredakteur Dr. Paul Liman. Verteidiger Justizrat Kleinholz: Sie sollen vernommen werden über eine Äußerung des Fürsten Bismarck betreffend den Fürsten Eulenburg.

Zeuge: Es kann sich nach meiner bestimmten Erinnerung nerung nur um eine Unterredung handeln, die ich mit dem Fürsten Bismarck hatte in der Zeit, als die Prozesse gegen Leckert-Lützow und v. Tausch schwebten im Jahre 1896/97. In dieser Zeit war ich oft in Friedrichsruh als Gast des Fürsten. Es wird hierdurch die Möglichkeit geschaffen, daß ich Äußerungen aus zwei verschiedenen Unterredungen in meiner Erinnerung zusammenfasse. Bei diesen Unterredungen bildete das Hauptthema die Frage, wieweit der Prozeß Tausch gegen den Fürsten Bismarck geführt wurde. Es trat damals in den Zeitungen die Behauptung auf, die Hintermänner des Herrn v. Tausch befänden sich in Friedrichsruh. Diese Behauptung erhielt noch einen gewissen sachlichen Nachdruck durch die Tatsache, daß ich in der Voruntersuchung über Herrn v. Tausch vernommen worden bin, und zwar mit mehreren Fragen auch über die Beziehungen zwischen Tausch und Fürst Bismarck. Man fragte mich auch über die Äußerungen des Fürsten bei Tisch über v. Tausch. Als ich dem verewigten Fürsten hiervon Mitteilung machte, geriet er in sehr heftige Erregung, namentlich auch wegen der Anwendung des Wortes „Hintermänner“ auf ihn und seinen Sohn. Bei dieser Gelegenheit war es, wo er das Wort „Die Kamarilla der Hintermänner“ und später die „Kamarilla der Kynäden“ prägte. Ich muß gleich sagen, er hat auch dann auf einen fragenden Blick von mir keinen Zweifel darüber gelassen, sen, daß er den Ausdruck noch in einem besonderen Sinne meinte, und ich habe damals verstanden, daß dieser Sinn auszudrücken wäre mit den Worten, mit denen Götz von Berlichingen die Kommissare des Kaisers verabschiedet. Diese Bemerkungen waren wesentlich gerichtet gegen den damaligen Grafen Philipp zu Eulenburg, der ja auch in dem Prozeß irgendwie beteiligt war. Daß bei dem Ausdruck „Kamarilla der Kynäden“ sexuelle Momente den Fürsten irgendwie beeinflußt haben könnten, kann ich nicht sagen. Das habe ich damals nicht angenommen und nehme es auch jetzt nicht an. Diese Auffassung kann nur durch eine Ideenassoziation erweckt worden sein durch Veröffentlichungen, die heute in der Presse kursieren. Ich hatte den Eindruck, als wenn der Fürst bei seiner Äußerung auf einen Schelmen anderthalbe setzen wollte, als wenn er sagen wollte: Die Hintermänner sind ja anderswo. Bei dieser Gelegenheit fiel das Wort von der „Liebenberger Tafelrunde“, das von Bismarck zuerst geprägt wurde. Es wurde im Anschluß daran das Thema der Beeinflussung des Kaisers durch unverantwortliche Ratgeber erörtert. Bei dieser Gelegenheit sprach der Fürst davon, daß der Kaiser umgeben sei von einer Anzahl von Männern, die nicht beamtet sind, die dennoch aber auf ihn, der sich selbst gegen alle Eingriffe gefestigt glaube, einen starken Einfluß ausüben. Dieses Thema ist dem Fürsten nahegelegt worden durch die Tatsache, daß von ihm die Ursache seiner Entlassung in dem Einfluß dieser Ratgeber erblickt wurde. Er ist dauernd der Ansicht gewesen, daß Liebenberger Einflüsse auch dafür die Ursache waren, daß später die Entfremdung zwischen dem Kaiser und ihm nicht abgenommen hat.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Sie bewegen sich in einem gewissen Widerspruch. Sie sagten: „Männer, die nicht beamtet waren.“ Im Jahre 1896/97 war doch Fürst Eulenburg beamtet als Botschafter.

Zeuge: Aber nicht an verantwortlicher Stelle. Ein Botschafter in Wien ist doch schließlich nicht verantwortlich für das, was hier vorgenommen wird.

Oberstaatsanwalt: Harden hatte ausdrücklich betont, daß Fürst Bismarck ein außerordentlich schlechter Menschenkenner wäre.

Harden: Ich habe mich darüber ausführlich ausgesprochen, auch wie ich das meinte. Ich weiß nicht, ob ich das wiederholen muß?

Fürst Eulenburg: Ich habe zu dem Hause Bismarck stets in den allerfreundlichsten Beziehungen gestanden und zwar deshalb, weil meine Eltern bereits mit dem Fürsten und seiner Gattin seit Jugend auf bekannt waren, weil meine einzige Schwester die intimste Freundin der Tochter des Fürsten war und weil mich nachher die allerintimste Freundschaft mit dem Grafen Herbert Bismarck verbunden hat, eine Freundschaft, schaft, die den Charakter ungefähr trug, wie sie mich mit dem Grafen Moltke verbindet. Nachher, als die außerordentlich beklagenswerte Trennung zwischen dem Fürsten Bismarck und Seiner Majestät stattfand, hat der Verkehr vollkommen zwischen mir und dem Hause Bismarck aufgehört. Man hätte mich in diesem Hause auch wohl nicht mehr gesehen, denn es ist ja bekannt, welche Formen diese Gegensätze damals angenommen haben. Mir ist aber sehr wohl von unendlich vielen Seiten bekannt geworden, in welcher Weise man mein Auftreten in Friedrichsruh damals beurteilt hat. Ich halte es für möglich, daß man geglaubt hatte, weil ich gerade zu dem Hause Bismarck bisher in guten Beziehungen stand – als Beispiel dafür kann ich anführen, daß ich stets das Recht hatte, uneingeladen an den Tisch des Fürsten zu kommen und daß ich dort wohl soviel erlebt habe, daß ich ein gutes Recht hätte, meine Erinnerungen niederzuschreiben, was ich aber sicher nicht tun werde, da ich Erinnerungen im allgemeinen mehr für Wahrheit und Dichtung halte – man hat infolgedessen das Gefühl gehabt, als der Fürst ging, hatte ich auch gehen müssen. Das habe ich nicht getan und aus guten Gründen nicht getan. Die Feindseligkeit hat lange angedauert, von allen Seiten ist mir diese Feindseligkeit entgegengetreten, und ich kann mit gutem Gewissen versichern – und ich stehe hier unter meinem Eide – daß ich wahrhaftig nicht geschürt habe und in der unglückseligen Zeit der Gegensätze wahrhaftig nicht dazu beigetragen habe, die Gegensätze noch zu verschärfen. Ich darf wohl auch noch auf ein häßliches Wort zurückkommen, welches der Fürst von mir gesagt haben soll. Der Fürst war eine vulkanische Natur und gebrauchte vulkanische Ausdrücke, er war auch vulkanisch in seinem Haß, und wenn er das Wort gebraucht hat, so war das ein Partherpfeil, der sehr geschickt gewählt war und der wohl seine Wirkung nicht verfehlen konnte. Aber wie gesagt, ich denke mit Dankbarkeit, mit tiefer Dankbarkeit an die Zeit zurück, in der ich das Glück genossen habe, in seinem Hause zu weilen, und ich denke mit Trauer an die Zeit zurück, wo ich von jener Seite Feindschaft erlitten habe.

Zeuge Dr. Paul Liman: Noch einige Bemerkungen gegenüber dem Wort „Partherpfeil“. Ich habe tatsächlich unter dem Ausdruck „Kamarilla der Kynäden“ nichts anderes verstanden, als eine Übersetzung des Wortes „Kamarilla der Hintermänner“. Dieser Ausdruck ist in der Presse schon vorher gebraucht worden, und ich habe ihm eine besondere Färbung nach einer anderen Seite hin nicht geben wollen.

Fürst zu Eulenburg: Es ist von Herrn Dr. Liman gesagt worden, Fürst Bismarck habe sich darüber beklagt, daß in der nächsten Umgebung des Kaisers sich unverantwortliche Ratgeber befunden hätten, mit anderen Worten, keine beamteten. Se. Majestät hat das Recht, zu sich zu rufen, wen er will und welchen Beamten er will. Ich bin Beamter gewesen, vereidigter Beamter; habe drei Kaiser begleiten müssen, sogar in Vertretung des Auswärtigen Amtes, so und so oft auf Nordlandreisen, Jagdausflügen usw. Dazu kann der Kaiser wählen, wen er will. Ich bin deshalb unendlich oft mit Sr. Majestät in amtlichen Gesprächen und in amtlichen Aufträgen beschäftigt gewesen. Ich habe niemals darin auch nur den Schatten von einem Unrecht empfinden können. Wäre ich Besitzer von Liebenberg und weiter nichts gewesen und hätte der Kaiser mich rufen lassen, so hätte ich dem Kaiser gesagt: Von den Dingen bitte ich mir nichts zu sagen, denn ich könnte in den Geruch kommen, unverantwortlicher Ratgeber zu sein.

Justizrat Dr. Sello: Ich möchte von Herrn Dr. Liman Auskunft haben, ob das von ihm erwähnte Urteil des Fürsten Bismarck über die unverantwortlichen Ratgeber zurückzuführen ist auf die Zeit nach dem Ausscheiden des Fürsten aus dem Amte.

Dr. Liman bestätigte dies, verneinte aber die weitere Frage, ob der Fürst die eigene Entlassung auf die Tätigkeit der unverantwortlichen Ratgeber schieben wollte.

Justizrat Dr. Sello: Ich habe den Fürsten zu Eulenburg burg doch richtig verstanden, daß der Botschaftsrat Lecomte nach Liebenberg gekommen ist auf ausdrückliche Anregung des Hofmarschallamtes Sr. Majestät. Es ist also nicht richtig, daß Herr Lecomte erst durch den Fürsten Eulenburg Sr. Majestät vorgestellt worden ist?

Fürst zu Eulenburg: Das wäre vollständig absurd, denn ein Botschaftsrat wird stets durch den Chef der Mission Sr. Majestät vorgestellt. Und Herr Lecomte ist nur ein einzigesmal in Liebenberg auf Wunsch Sr. Majestät gewesen. Das erste Begegnen Sr. Majestät mit diesem Beamten der französischen Botschaft hatte schon längst auf dem vorgeschriebenen Wege stattgefunden.

Harden: Ich habe auch niemals behauptet, daß der Fürst zu Eulenburg den Herrn Lecomte Seiner Majestät vorgestellt hat.

Oberstaatsanwalt: Um jedes Mißverständnis auszuschließen, möchte ich auf folgendes hinweisen: Wenn Se. Durchlaucht Fürst zu Eulenburg sagte, Herr Lecomte sei nur einmal in Liebenberg gewesen, so heißt das nur: er sei nur einmal zu gleicher Zeit mit Sr. Majestät dortgewesen.

Fürst zu Eulenburg: Das ist allerdings so gemeint gewesen. Herr Lecomte war nur einmal mit Sr. Majestät zusammen und dann noch einige Male zum Besuch bei mir und meiner Familie.

Vorsitzender: Wann hörte Ihre Botschaftertätigkeit auf?

Fürst zu Eulenburg: Im Jahre 1902. Ich habe von dem Moment an auch nicht einen. Augenblick Politik getrieben.

Vors.: Nur das eine Mal, als Herr Lecomte Ihnen Nachrichten aus Paris brachte, sind Sie, wie Sie sagten, zum Reichskanzler gegangen und haben ihm Mitteilung gemacht?

Fürst zu Eulenburg: Ich begegnete Herrn Lecomte in Berlin, der eben von Paris kam. Ich fragte ihn, was es Neues gebe, – damals spielte gerade die Marokkoangelegenheit – er erzählte mir über die in Paris herrschende Stimmung. Das war mir so interessant, daß ich zum Reichskanzler, mit dem ich sehr befreundet bin, ging und ihm dies mitteilte. Das ist das Ganze, was ich bezüglich Marokkos getan habe. Ich habe mit Sr. Majestät niemals über Marokko gesprochen, mit Sr. Majestät überhaupt nicht über Politik gesprochen.

Der nächste Zeuge, Graf Ernst v. Reventlow bekundete: Am Abend des 13. Dezember vorigen Jahres habe ich mit Herrn Harden eine mehrstündige Unterhaltung gehabt. Kurz vorher waren in der „Zukunft“ Andeutungen gefallen, die teilweise von der übrigen Presse aufgenommen, soweit ich es beurteilen kann, aber nirgends verstanden worden waren. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich um politische Dinge. Herr Harden hat mir wiederholt ausgedrückt, daß es ihm sehr unangenehm gewesen sei, das sexuelle Moment in diese Sache mit hineinziehen zu müssen. Er sagte dabei auch noch, er habe die Gewißheit, daß ihn die Beteiligten verstehen werden. Als erste Folge der Artikel betrachte er die Abreise des Fürsten zu Eulenburg nach dem Süden, so daß er nicht nötig habe, noch deutlicher zu werden. Wie mir Herr Harden wiederholt versicherte, habe er sich verpflichtet gefühlt, diese Andeutungen erscheinen zu lassen, da er eben aus der behaupteten sexuellen Normwidrigkeit die politische Schädlichkeit ableitete. Ich erkundigte mich speziell über den Grafen Moltke, weil die liberale Presse seinerzeit Andeutungen gebracht hatte, nach welchen Graf Kuno Moltke als zukünftiger Reichskanzler in Betracht komme. Herr Harden erklärte mir, daß es ihm außerordentlich peinlich sei, schon wegen des denunziatorischen Charakters, den die Öffentlichkeit seinen Artikeln unterlegen könne, in dieser Weise zu Werke gehen zu müssen. Nach diesem Gespräch war ich der festen Überzeugung, daß für Herrn Harden bei der Veröffentlichung der Artikel ausschließlich politische Gründe maßgebend waren.

Vors.: Sie sind doch später noch einmal mit Herrn Harden zusammengetroffen?

Zeuge: Jawohl, es war dies im vergangenen Sommer. Bei dieser Unterredung sagte Herr Harden, es wäre ihm besonders unangenehm, daß es nun doch zum Skandal gekommen sei. Die ganze Sache hätte man viel geräuschloser erledigen können. Auch dieses Mal versicherte mir der Angeklagte, daß ihm von vornherein jede Absicht einer Beleidigung ferngelegen habe. Er habe keinesfalls an das sexuelle Moment als Hauptsache gedacht, sondern nur politische Momente in erster und einziger Linie berücksichtigen wollen.

Vors.: Das sexuelle Moment sollte doch aber das Mittel sein, um jenen angeblichen „Kreis“ zu sprengen.

Zeuge: Es war ja auch allgemein bekannt, daß im Milieu des Hofes ein eigentümlicher Ton herrscht, der anderen höchst merkwürdig vorkam. Derartige Gerüchte bestanden schon seit langer Zeit, ohne daß natürlich jemand an eine Beimischung eines sexuellen Moments dachte.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Weshalb hatte denn Herr Harden einen so tiefen Haß gegen den Grafen Moltke? Er hat doch vor dem Schöffengericht die Anregung zu einem Vergleich mit der Erklärung abgelehnt, daß es zwischen ihm und dem Grafen keinen Vergleich gebe und er lieber ins Zuchthaus gehen würde.

Zeuge: Haß hat ihm ferngelegen, er hat vielmehr bedauert, daß er auf den Grafen Moltke zurückgreifen müsse, denn er halte ihn für sehr unbedeutend.

Auf eine Frage des J.-R. Dr. Sello bestätigte der Zeuge, daß er der Verfasser des Buches: „Kaiser Wilhelm und die Byzantiner“ sei. Das Buch sei im vorigen Herbst erschienen. Er habe aber trotzdem kein so großes Interesse an den Persönlichkeiten gehabt, um bei jener Unterredung mit Harden danach zu forschen, wer mit dem „Süßen“ gemeint sei. Harden meinte, die Betreffenden, die es angeht, hätten ihn schon verstanden; er folgerte dies aus der Tatsache, daß Fürst Eulenburg nach dem Süden abgereist war. Von der Clique Eulenburg habe er schon lange Zeit sprechen hören; daß Graf Moltke dazu gehörte, sei ihm nicht bekannt gewesen. Nach seiner Meinung hatte der Angeklagte wohl die Ansicht, daß jener ganze Kreis in der Abneigung gegen das weibliche Geschlecht einig sei.

Vors.: Das kann man vom Fürsten Eulenburg wohl kaum sagen, denn dieser hat doch acht Kinder.

Harden: Ich habe den Zeugen geladen, um folgendes von ihm zu hören: 1. daß er in dem Gespräch vom 13. Dezember den bestimmten Eindruck gewonnen hat, daß mir der Gedanke, sexuelle Verfehlungen zu betonen und der Standpunkt eines Sittenrichters völlig ferngelegen habe, es für mich vielmehr nur auf die Schilderung einer gewissen Atmosphäre ankam; 2. daß er das bestimmte Gefühl hatte, daß ich ausschließlich schließlich in dem Wunsche geschrieben habe, nach meinem subjektiven Wissen dem Reiche zu nützen. Auf diese Feststellung, daß ich schon damals diesen Standpunkt eingenommen und nicht erst später – wie mir imputiert wird – kommt es mir besonders an. Ich bin nicht von einem Rachegefühl oder dem Wunsch, einen Menschen zu ärgern, geleitet worden, sondern von dem – vielleicht irrigen – Wunsche, mit dieser Sache und in dieser Situation dem Vaterlande nützlich zu sein.

Graf Reventlow bestätigte dies aus dem Eindruck, den er gewonnen, und bekundete auf verschiedene Fragen des Justizrats Bernstein, daß er Harden schon eine Reihe von Jahren kenne und fest davon überzeugt sei, daß dieser bei seinem Vorgehen unlautere Motive nicht gehabt habe. Er sei auch fest überzeugt, daß Harden bei allen seinen politischen Aktionen nur immer den Nutzen des Vaterlandes im Auge habe. Er habe in diesem Sinne an einige Zeitungen geschrieben, aber diese Bemühungen seien ohne Erfolg geblieben.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Offenbar waren diese Zeitungen anderer Meinung.

Graf Reventlow: Es gibt Zeitungen, die es nicht für opportun halten, ihre Meinung zu äußern, selbst wenn sie der Ansicht sind.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel wies nochmals auf Hardens Erklärung hin, daß er lieber ins Zuchthaus gehe, als sich mit dem Grafen zu vergleichen, Harden entgegnete, daß dies mit einem „Haß“ gegen den Grafen Moltke gar nichts zu tun habe. Er habe solchen Haß nie empfunden und empfinde ihn auch heute nicht.

In der folgenden Sitzung wurde die kommissarische Aussage des inzwischen in München vernommenen Geh. Medizinalrats Prof. Dr. Schweninger verlesen. Danach hat Geh. Rat Schweninger bekundet: er habe den Grafen Kuno v. Moltke, den Oheim seiner Gattin, Anfang der 1880er Jahre bei dem Obertribunalsrat Hollberger in Tutzing kennengelernt. Es sei möglich, daß er einmal mit dem Grafen in Friedrichsruh ein längeres Gespräch geführt habe, jedenfalls sei er dem Grafen, mit dem er nur auf dem Höflichkeitsstandpunkt stand, nicht feindlich gesinnt. Harden habe ich 1882 in Varzin kennengelernt. Er wurde mir dort vom Fürsten Bismarck vorgestellt. Aus dieser Begegnung entwickelte sich ein dauernder Verkehr, der noch heute besteht. Wir duzen uns seit etwa drei bis vier Jahren. Harden hat mich einige Male hier im Schloß Schwaneck besucht. Bei beiden Besuchen war die Frau Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen zugegen, die etwa 14 Tage lang in dieser Zeit hier in meiner Behandlung war. Herr Harden wußte, ich nehme das als wahrscheinlich an – von dem Aufenthalt der Frau Erbprinzessin. Er fragte telephonisch bei mir an, ob er kommen dürfe. Ich meldete es zunächst der Frau Erbprinzessin. Die hohe Frau erklärte sich mit dem Kommen Hardens einverstanden. Harden wurde in diesem Sinne telephonisch benachrichtigt. Ich möchte aber ausdrücklich bemerken, daß der Besuch Hardens mir und meiner Frau galt. Harden aß mit uns und der Frau Erbprinzessin zusammen und blieb bis etwa 10 Uhr abends bei uns. Ob an diesem Abend zwischen der Frau Erbprinzessin, Harden, meiner Gattin und mir ein Gespräch über den schwebenden Prozeß und über die ganze fragliche Angelegenheit stattfand, kann ich heute nicht mehr sagen. Bei dem zweiten kürzeren Besuch Hardens am folgenden Tage wurde, soweit ich mich zu entsinnen glaube, zwischen Harden und der Frau Erbprinzessin kurz über den Grafen Hohenau gesprochen. Frau Erbprinzessin äußerte ihr Bedauern, Erstaunen und ihre Ungläubigkeit über die angeblichen Verfehlungen des Grafen Hohenau und setzte ungefähr hinzu: „Allerdings kommen ja solche Dinge wohl bis in die höchsten Kreise hinein vor, wie man weiß.“ Seit der Zeit, wo ich hier in Schloß Schwaneck bin, habe ich mit Harden bis zum Juni dieses Jahres in brieflichem Verkehr, aber in sehr magerem, gestanden. Seit Juni habe ich, glaube ich, von ihm keinen Brief mehr bekommen. Die frühere Gräfin Moltke, jetzige Frau v. Elbe, habe ich meines Wissens erst 1900 während meines Lichterfelder Aufenthaltes kennengelernt. Gehört halte ich von Frau v. Elbe bereits vorher durch meine Gattin, jedoch eigentlich weiter nichts, als daß sie Gräfin Moltke sei und sie meiner Frau auf der Hochzeitsreise mit Graf Moltke in München einen Besuch gemacht hatte. Ich glaube, während der Zeit, wo die Gräfin mit mir und meiner Frau verkehrte, die Gräfin ziemlich genau kennengelernt zu haben. Unsere Gespräche waren nicht nur rein konventionelle, sondern wurden allmählich sehr vertraulich insofern, als sie sowohl ärztliche Fragen als auch die ehelichen Zerwürfnisse betrafen. Meine Unterredungen auf ärztlichem Gebiete waren nicht von langer Dauer, da ich es im allgemeinen abgelehnt habe, Frau v. Elbe ärztlich zu behandeln. Von einer Trionalvergiftung bei Frau v. Elbe habe ich nichts bemerkt. Hysterie hielt ich für ausgeschlossen. Ihre Darstellung war ruhig, klar, kalt und gelassen und für eine in einen so schwierigen Prozeß verwickelte Frau sogar ungewöhnlich verständig und sicher abgegeben. Es ist mir nicht bekannt, daß sie sich selbst mitunter zu Boden geworfen, sich mit dem Körper gegen Möbel gewälzt und mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen habe. Sie hat einmal betreffs des Verhältnisses des Grafen Moltke zum Fürsten Eulenburg in meiner Gegenwart ungefähr geäußert: „Der Graf hat den Fürsten mehr lieb als mich.“ Im übrigen sind mir Gerüchte über angebliche perverse geschlechtliche Neigungen im Kreise des Fürsten Eulenburg schon zu Lebzeiten des Fürsten Bismarck zu Ohren gekommen. Der Name des Grafen Moltke ist bei diesen Gerüchten nicht erwähnt worden. Tatsachen in dieser Richtung weiß ich nicht. Ich persönlich hatte den Eindruck, daß Graf Moltke ein süßlicher, weibischer Mann war, ein Eindruck, der meines Wissens in Schlesien und in der Bekanntschaft meiner Frau geteilt wurde. Ich kann mich erinnern, daß die Gräfin in meiner Gegenwart von den angeblichen Äußerungen ihres Gatten: „Frauen sind Klosetts“, „er wolle sie als Märchen haben“, erzählt hat. Auch Kosenamen ihres Gatten gegenüber dem Fürsten Eulenburg hat sie mir genannt. Die angebliche Taschentuchaffäre habe ich, wie ich glaube, erst aus den Zeitungen erfahren. Den Wunsch, Harden kennenzulernen, hat die Gräfin uns, d.h. meiner Frau und mir gegenüber geäußert. Sie sagte dabei, meiner Erinnerung nach, Harden könne ihr vielleicht einen guten Rat geben. Auf Grund dieses Wunsches haben wir, d.h. meine Gattin und ich, die Gräfin mit Harden bekannt gemacht. Ich erinnere, daß ich Herrn Harden, der nach meiner Ansicht keine rechte Freude an der Sache hatte, gebeten habe, sich der Frau und ihrer Lage anzunehmen, da sie Mitleid verdiene. In den Gesprächen mit Harden ist von mir erwähnt worden, Graf Kuno Moltke treibe zwar nicht selbst Politik, sei für seinen Freund Eulenburg aber als Beobachter und Vertrauensmann und Berichterstatter sehr wichtig. Woher ich dieses weiß, ob ich es insbesondere von Frau v. Elbe weiß, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich Herrn Harden über den Grund der angeblichen Antipathie Eulenburgs gegen Frau v. Elbe Mitteilungen gemacht habe. Ich habe Herrn Harden gegenüber bei diesen Gesprächen auch Bismarcks Urteil über den Fürsten Eulenburg erzählt. Insbesondere, daß der Fürst Otto v. Bismarck und sein Sohn Herbert das Wirken des Fürsten Eulenburg, namentlich auf dem Gebiete der Personalien und in der Rolle eines befreundeten unverantwortlichen Ratgebers für unheilvoll gehalten und wiederholt auch von einer geschlechtlich abnormen Veranlagung des Fürsten Eulenburg gesprochen hat, die, verbunden mit einer Neigung ins Mystische, nebelhaft Schwärmerische, den Fürsten Eulenburg nicht zum Vertrauten eines regierenden Fürsten qualifiziere. Woher die Ansicht des Fürsten Bismarck stammt, der Fürsten Eulenburg sei geschlechtlich abnorm veranlagt, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich ferner an die Äußerung des Fürsten Bismarck: „Ein kaiserlicher Adjutant, der sich offiziell gar nicht mit Politik beschäftige, könne auf politische Entschlüsse mehr Einfluß haben als ein Reichskanzler, schon, weil er den Herrn öfter sehe und sich schmiegsamer samer dessen Stimmungen anpasse.“ Ich erinnere mich auch dem Sinne nach an folgende Worte, mit denen Bismarck die Ableugnung einer Kamarillapolitik abzutun pflegte: „Wenn solche Sachen so dumm gemacht würden, daß der regierende Herr die Absicht merkt, oder daß sie von draußen haarscharf nachweisbar sind, könnte sich eine Kamarilla nirgends halten.“ Ich glaube, auch diese Äußerungen Herrn Harden mitgeteilt zu haben. Ich kann jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob diese politischen Äußerungen von mir Herrn Harden im Zusammenhange mit den Äußerungen der Frau v. Elbe gemacht worden sind. Ich erinnere mich ferner, daß in meiner Gegenwart von Frau v. Elbe davon gesprochen worden ist, Graf Moltke habe, solange er dem Berliner Hofe nahe war, sehr häufig dem Fürsten Eulenburg über die politischen Vorgänge und Stimmungen berichtet. Wenn ich einen Zweifel an der Glaubwürdigkeit und der ungetrübten Geisteskraft der Gräfin gehabt hätte, dann würde ich Harden, dessen schlechten Gesundheitszustand und Überbürdung mit ernster, ehrlicher Arbeit ich kannte, nicht gebeten haben, Zeit und Mühe an die Sache der Gräfin zu verwenden. Wenn ich sagen soll, warum Harden die inkriminierten Artikel geschrieben hat, so kann ich nur meiner Überzeugung dahin Ausdruck geben, daß Harden sich weder von persönlichem Haß noch von unlauteren Motiven hat leiten lassen, und daß er den Grafen Moltke nicht als unehrenhaften Mann, sondern das an einer bestimmten Stelle schädliche Werkzeug eines anderen bezeichnen wollte, auch daß er als Politiker diese Erwähnung im Reichsinteresse für nötig hielt. Gerüchte über den Grafen Moltke in sittlicher Beziehung sind insofern zu meinen Ohren gelangt, als ich gelegentlich über ihn und seine Freunde den Ausdruck „Frontverwechselung“ gehört habe. Es ist dieser Ausdruck meines Wissens schon vor der Trennung der beiden Ehegatten gebraucht worden. Wo der Ausdruck gefallen ist, kann ich aber nicht sagen. Ich habe mich nicht darum gekümmert, ob dieser Ausdruck eine tatsächliche Grundlage hat.

Frau Geheimrat Schweninger hatte in kommissarischer Vernehmung bekundet: Ich bin die Nichte des Grafen Kuno von Moltke. Zwischen meinen Verwandten und mir ist nach meiner Scheidung eine Entfremdung eingetreten. Welchen Grund sie hatte, kann ich nicht angeben. Meine erste Ehe mit Franz von Lenbach ist meiner Erinnerung nach 1896 getrennt worden. Vor meiner Trennung waren die Beziehungen zum Grafen Moltke sehr freundschaftliche. Eine feindliche Stimmung gegen meinen Onkel habe ich niemals gehabt, habe sie auch jetzt nicht. Mit Frau v. Elbe bin ich auf Grund eines Briefes, in dem sie mich bat, sie einmal zu besuchen, näher bekannt geworden. Es kann das 1900 gewesen sein. Auf Grund dieses Briefes bin ich zu ihr gegangen. Es war das nur ein kurzer Besuch ... Wir traten dann auch wegen des Mitleids, das ich mit ihr empfand, in näheren Verkehr, ohne daß daraus eine direkte tiefe Freundschaft geworden ist. Mir ist es so, als wenn Frau v. Elbe später den Wunsch ausgesprochen habe, mit Harden bekannt zu werden. Es kann aber auch sein, daß mein Mann oder ich ihr den Namen Harden zuerst genannt haben. Wir haben dann Frau v. Elbe mit Harden bekannt gemacht.

Harden betonte im Anschluß an die Verlesung, daß die Hilfe, die er der Frau v. Elbe bringen, nicht darin bestehen sollte, etwas aus ihrem Ehescheidungsprozeß zu veröffentlichen. Seine Hilfe sollte nur darin bestehen, daß er sich mit Justizrat Dr. Sello, den sie für einen scharfen Verfolger hielt, in Verbindung setzen und für einen Ausgleich ein wenig plädieren sollte.

Justizrat Dr. Sello: Er sei mit Harden mehr als bekannt und sehr erstaunt gewesen, eines Tages von Herrn Harden einen Brief zu erhalten, in welchem er etwa schrieb: „Ich möchte gern einmal kriminalistisch mit Ihnen plaudern. Ich habe über einen Prozeß, den Ihr Kollege, Herr Rechtsanwalt Dr. Silberstein, für den Grafen Moltke führt, Mitteilungen erstaunlicher Art zu machen. Ich habe Material zur Hand, das einen der größten politischen Skandale in Deutschland hervorrufen könnte.“ Er sei darüber ganz entsetzt gewesen und habe Herrn Harden ersucht, nicht nur eine Person zu hören, sondern beide Teile, und habe ihm angeboten, auch das der Gegenseite zu Gebote stehende Material zur Kenntnis zu nehmen. Bald darauf habe die Korrespondenz einen sehr gereizten Ton angenommen und ihm sei nicht mehr Gelegenheit gegeben worden, Herrn Harden sein Material zu unterbreiten.

Angeklagter Harden widersprach dieser Darstellung, indem er behauptete, Justizrat Sello habe zuerst einen gereizten Ton angeschlagen. Ich habe, so bemerkte Harden auf einen Einwurf des Oberstaatsanwalts, nur darauf hingewiesen, daß sich diese Sache zu einem großen politischen Skandal auswachsen könnte. Solchen zu verhindern, war der Zweck meines Schreibens. Ich habe aus der Ehescheidungsgeschichte der Frau v. Elbe nichts, aber auch gar nichts publiziert.

Graf Moltke: Nach der Scheidung der Frau Geheimrat Schweninger von Prof. Lenbach sei ein tiefer Riß in dem Verhältnis zwischen seiner Nichte und deren Mutter eingetreten, und dadurch sei auch das gespanntere Verhältnis zwischen ihm und der Nichte erfolgt.

Fräulein Meye, die 1897 eine Zeitlang Kammerfrau bei der damaligen Gräfin Moltke, jetzigen Frau v. Elbe, in Potsdam war, erklärte, daß sie in dieser ihrer Tätigkeit furchtbar unter der Launenhaftigkeit der ganz unberechenbaren Frau zu leiden gehabt habe. Der Graf, der allen Angestellten sehr leid getan habe, sei stets liebenswürdig zu aller Welt gewesen, auch zu seiner Frau, die ihn furchtbar gequält habe.

Die nächste Zeugin, Frau v.d. Marwitz, geborene v. Prillwitz, eine Nichte des Grafen Moltke, erzählte, die Mutter der Frau v. Elbe, Frau v. Heyden, habe ihr bei einer Gelegenheit ihr Herz über ihre, wie sie sagte, ungeratene und verlogene Tochter ausgeschüttet. Sie habe ihr schon viel Kummer gemacht, sie sei in jeder Weise lieblos und verlogen gewesen. Als die Ehescheidung im Gange war, habe sie Frau v. Elbe gebeten, zwischen ihr und dem Grafen Moltke zu vermitteln. Sie gab dabei zu, daß sie an allem schuld und ihr Gatte immer sehr lieb zu ihr gewesen sei; sie liebe ihn sehr.

Baronesse Saß war Gesellschafterin bei Frau v. Kruse bis zu deren Verheiratung mit dem Grafen Moltke. Sie schilderte den Charakter der jetzigen Frau v. Elbe als einen sehr leichtfertigen.

Gräfin Danckelmann, geb. Gräfin Moltke, Schwester des Privatklägers, bekundete: Ich habe den Namen der Frau v. Kruse, der jetzigen Frau v. Elbe, zum erstenmal im Herbst 1892 aus einem Brief meines Bruders, des Grafen Kuno Moltke, gehört, der mir von dem tiefen Eindruck schrieb, den es auf ihn gemacht hätte, als er an der Seite eines schwerkranken Mannes eine blühende Frau sah, die den Mann zu pflegen hatte. Im Herbst erhielt ich dann von ihm einen Brief, in dem er mir mitteilte, er sei verlobt mit Frau v. Kruse. Dieser Brief schloß mit den Worten: „Etwas des Glücks zuviel für einen alten Knaben wie ich.“ Darauf sah ich den Bruder Anfang September, wie er mit dem Kaiser nach Breslau kam: total verändert, strahlend vor Glück und ganz begeistert von der Frau. Als wir allein waren, fragte ich ihn, wie das alles so schnell gekommen sei. Darauf sagte er mir: „Ja, wir haben aus unserer langen Korrespondenz gemerkt, wie wir uns verstanden. Ich habe ihr aber doch noch ein Buch Tolstois geschickt, damit sie lesen könnte über das Problem einer Ehe zwischen verschieden gearteten Menschen.“ Die Antwort hat mich sehr beruhigt. Dann bin ich im Januar mit ihr zusammengekommen, so etwa fuhr Frau Gräfin Danckelmann fort, ich war von dem ersten Eindruck sehr befriedigt, sie zeigte sich geistvoll und liebevoll. Die ersten Launen von ihr habe ich an mir selbst erfahren. Als ich im Opernhaus einen Ohnmachtsanfall bekam und mein Bruder mich ins Foyer brachte, war sie darüber sehr gereizt, beim nachfolgenden Souper rührte sie nichts an. Bei einer anderen Gelegenheit, als sie über Blinddarmentzündung klagte, hatte ich ihr einen Arzt geschickt, der sie untersuchen sollte. Sie war darüber sehr ungehalten; der Arzt sagte mir, er hätte keine Spur von einer Blinddarmentzündung gefunden. Schließlich wurde sie immer launischer; sie war eifersüchtig auf mich und auf alle Freunde meines Bruders, der inzwischen nach Wien gereist war. Er erhielt nach Wien von Frau Kruse viel schlechtgelaunte Briefe und schließlich ein Telegramm, das so gereizt klang, daß mir mein Bruder telegraphierte, ich möchte nach Wien kommen. Bei meiner Ankunft sagte er mir, er hätte an Frau v. Kruse geschrieben, daß es besser sei, die Verlobung zu lösen. Darauf kam eine Mitteilung von ihr, sie würde nachts ankommen. Sie erschien dann in später Nachtstunde an der Tür meines Schlafzimmers, schrie und tobte. Sie könne das Telegramm nicht geschrieben haben, sonst wäre sie wahnsinnig gewesen, sie liebe meinen Bruder viel zu sehr. Endlich brachte ich sie so weit, daß sie nach Hause fuhr, es war wohl 1/22 Uhr morgens. Am anderen Morgen suchte sie mich wieder auf. Sie warf sich immer gegen die Tür, rang die Hände, fiel mir zu Füßen, immer beteuernd, sie liebe Graf Kuno so grenzenlos, sie machte auch Andeutungen, daß sie nicht leben könnte ohne meinen Bruder. Ich sagte, sie sollte doch auch an die Erziehung ihres Sohnes denken, noch sei es an der Zeit, von dem Bruder zu lassen. Sie erwiderte: „Ich liebe nur Kuno und will ihn besitzen, was ist mir der Sohn?“ Diese Szenen setzten sich fort. Am nächsten Tage war der Dienst Moltkes vorbei. Bei dem Wiedersehen hing sie an seinem Halse und schwor, daß alles Mißverständnisse seien. Sie bat und flehte mich an, ich glaubte ihr und bat meinen Bruder, sich mit ihr zu versöhnen. (Mit schluchzender Stimme): Das ist die schwerste Schuld meines Lebens, denn mein unglücklicher Bruder mußte darunter auf das tiefste leiden. Zwei Tage darauf frühstückten wir zusammen, da war Frau v. Kruse schon wieder launisch. Sie bat mich dann, mit ihr nach Berlin zu fahren, um die Brautkleider zu kaufen. Sie sagte mir, wie peinlich es ihr sei, allein vom Hotel zu ihrer Hochzeit zu fahren und niemand zu haben. Auf meine Hinweise auf den Vater und die Mutter der Frau v. Kruse sagte sie mir: Der Vater ist mir nichts, die Mutter ist nicht präsentabel. Darauf erklärte ich mich bereit, in diesem Falle Mutterstelle zu vertreten. All meine Rührung aber verschwand, als ich sah, wie Frau von Kruse bei den Einkäufen bei Gerson die armen Modistinnen behandelte und quälte. Bei der Zentenarfeier 1897 zeigte sich ihre Launenhaftigkeit auch darin, daß sie mich und Gräfin Perponcher ignorierte, weil wir Billette zum Weißen Saal erhalten hatten und sie nicht. Dann waren wir auf Peterwitz im Schloß der Gräfin Pourtalès. Dort machte sie meinem Bruder erregte Szenen, man hörte das Schreien bis auf den Schloßplatz. Als dann die unglückselige Nordlandreise kam, an der Graf Moltke teilnehmen sollte, wollte Frau v. Kruse meinen Bruder von der Teilnahme an dieser Reise abhalten. Vor der Reise gab es eine furchtbare Szene. Frau v. Kruse forderte meinen Bruder auf, mit ihr im Garten spazieren zu gehen. Er kam nach zwanzig Minuten zurück, bleich und aufgeregt. Er bat meinen Sohn, den Grafen Danckelmann, doch einmal im Garten zu suchen, die arme Lilly sei ganz verzweifelt wegen der Nordlandreise. Nach langem vergeblichen Suchen kam die Gräfin schreiend auf Graf Danckelmann zu, klammerte sich an seinen Arm und sagte: „Rette mich vor ihm, dein Vater ist mir erschienen!“ Als sie ins Schloß zurückgekehrt war, hörten wir sie noch oben schreien. Ich ging in mein Zimmer und sah, wie mein Bruder sie um die Taille gefaßt hatte und zu beruhigen versuchte. Sie riß sich los und warf sich gegen die Schlafstubentür mit Kopf und Rücken. Ich verbat mir solche Szenen und legte die Gräfin ins Bett. Am andern Tage zeigte sie mir lächelnd ein Billett des Grafen Kuno v. Moltke und sagte dabei: „Dies Billett hat mir der gute Kuno geschickt.“ Ich sagte darauf: „Ja, er ist eben zu gut.“ Sie meinte dann, sie bedauere nun doch nicht, damals das Telegramm nach Wien geschickt zu haben. Vom Fürsten Eulenburg erhielt ich dann einen Brief, in dem es hieß: „Ich kann Dir nicht sagen, wie ich unter dem Geschick Kunos leide. Ich habe keine Ruhe und zerbreche mir Tag und Nacht den Kopf, wie das zu Ende gebracht werden könnte, denn das muß es, wenn wir den Kuno nicht zugrunde gehen lassen wollen. Seit gestern hat er ein geschwollenes Auge.“ Das war im März 1902. Acht Tage darauf traf mein Bruder ein. Er sah so aus, daß ich ihn nicht wiedererkannte. Nach und nach erzählte er mir das ganze Elend seiner Ehe. Schließlich streifte er den linken Ärmel auf und zeigte mir Wunden, wohl an zwanzig, wie von einem Raubvogel mit Krallen herausgehackt. Er sagte, diese Wunden hätte ihm seine Frau beigebracht. Er fuhr dann zu einem Justizrat, um sich bei diesem über Scheidungsgründe zu erkundigen. Ich erhielt alsdann von der Gräfin einen Brief, in dem sie mich bat, einen Versöhnungsversuch zu unternehmen. Sie sei zu dieser Bitte durch eine spiritistische Manifestation gekommen. In einem geschlossenen Buch auf ihrem Tische wäre am anderen Morgen die Stelle unterstrichen gewesen: „Wende dich an sie.“ Das sollte von meinem verstorbenen Mann herrühren. Auf Befragen des Oberstaatsanwalts und des Justizrats Sello bekundete die Zeugin noch, ihr Bruder habe viele Frauenfreundschaften gehabt, er sei immer ein edler Charakter gewesen.

Es folgten die Gutachten der Sachverständigen. Medizinalrat Dr. Hoffmann antwortete auf die Frage, ob nach seiner Ansicht der Graf Moltke homosexuell sei: Ich möchte sagen, auf Grund dessen, was wir hier gehört und gesehen haben, habe ich keinerlei Anhaltspunkte gefunden, daß bei dem Herrn Nebenkläger Homosexualität vorliegt. Aus der Verhandlung ist hervorgegangen, daß die Aussage der Frau v. Elbe eine der Quellen ist, wenn nicht die einzige Quelle, aus der die Anschuldigungen gegen den Grafen Moltke geflossen sind. Da muß man Frau v. Elbe ärztlich daraufhin beleuchten, ob diese Quelle eine solche ist, aus der die rein objektive, lautere Wahrheit quillt. Ich glaube ja, daß Frau v. Elbe meint, nach bestem Wissen die Wahrheit zu sagen, aber man muß doch an ihre schwere Trionalvergiftung aus dem Jahre 1898/99 denken. Frau von Elbe hat mehr als 5/4 Pfund Trional genossen; solche chronische Trionalvergiftung hat ganz bestimmte Erscheinungen im Gefolge und gibt ein Krankheitsbild, wie es sich bei der Frau v. Elbe zeigt. Aus einer solchen Zeit kann man keine klare Erinnerung haben. Frau v. Elbe hat ja hier selbst bekundet, daß sie eine Lücke in ihrem Gedächtnis hat. Bei einer solchen Patientin kommen durch die Phantasie Zeichnungen und Bilder zutage, die der objektiven Wahrheit nicht entsprechen. Dr. Frey hat uns hier eingehend dargetan, daß Frau v. Elbe schwer hysterisch, ihre Einbildungskraft sehr groß sei, sie leicht in Erregung gerate, und der Herr Oberstaatsanwalt hat ganz recht, wenn er auf das Wort hinwies: quaevis hysterica mendax. (Jede Hysterische ist eine Lügnerin.) Wenn man aus solcher Quelle schöpfen soll, dann darf man der betreffenden Person nur soweit trauen, als man sie kontrollieren kann auf ihre Reproduktionsfähigkeit. Frau v. Elbe war keine zuverlässige Quelle. Sie war eifersüchtig gegen jedermann. Aus dieser Quelle können wir nichts folgern, was als Unterlage für unser Gutachten dienen kann. Die Äußerungen, die von der Frau dem Grafen Moltke in den Mund gelegt werden, sind nicht gegen die Ehe im allgemeinen gerichtet gewesen, sondern hatten nur auf diese Ehe Bezug. Die Behauptung, daß der Graf Rot auflege, und was Frau v. Elbe in bezug auf die ihr einmal verdorbene Weihnachtsfreude gesagt, hat in der jetzigen Verhandlung eine mehr als harmlose Aufklärung erhalten, ebenso die Szene mit dem Taschentuch, die als Persiflage jetzt hier dargestellt ist. In den Augen der Frau v. Elbe ist daraus ganz etwas anderes geworden. Es kann aus dem, was diese Verhandlung ergeben hat, absolut nichts gefolgert werden, was für eine Homosexualität des Grafen Moltke sprechen könnte. Es mag sein, daß der Verkehr des Grafen mit seinem Freunde, dem Fürsten Eulenburg, ein etwas schwärmender oder, wie Herr Harden sagt, verhimmelnder war, aber es handelt sich dabei doch nur um ideale, künstlerische Schwärmerei. In dem kürzlich in der „Voss. Ztg.“ hervorgehobenen Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Wagner und Liszt kommen noch ganz andere schwärmerische Ausdrücke vor, ohne jeden erotischen Beigeschmack. Gegen ein etwaiges Vorhandensein einer „unbewußten Homosexualität“ müßte man im vorliegenden Falle energisch Front machen, denn hier handelt es sich nicht um einen jungen Mann, sondern um einen Mann, der die Liebe selbst genossen hat und wissen muß, ob seine Freundschaft frei von erotischem Beigeschmack ist. Ich halte Homosexualität nicht für vorliegend.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Damit jeder Zweifel völlig ausgeschlossen ist, bitte ich, durch nochmalige Frage an den Herrn Medizinalrat festzustellen, daß nicht nur nicht genügend Gründe zur Annahme einer Homosexualität des Grafen Moltke vorliegend sind, sondern daß auch nicht der leiseste Grund zu dieser Annahme vorliegt.

Medizinalrat Dr. Hoffmann bestätigte dies und erklärte auf weiteres Befragen: Es sei eine bekannte Tatsache, daß Hysterische ihre Stimmungen und Gefühle sehr leicht wechseln und vielfach aus einem Extrem in das andere fallen. So wie Frau v. Elbe ihren Mann früher geliebt habe, so hasse sie ihn jetzt.

Auf Befragen des Justizrats Kleinholz erklärte Dr. Hoffmann, daß es für einen Laien wie Herrn Harden sehr schwer, wo nicht unmöglich gewesen sei, den geistigen Zustand der Frau v. Elbe zu erkennen. Es sei möglich, daß sie auf Harden den Eindruck einer ganz gesunden Frau gemacht habe.

Vors.: Meinen Sie, daß Herr Harden, wenn er von den Ehescheidungsakten Kenntnis gehabt hat, bei der Annahme festhalten durfte, daß Graf Moltke homosexuell sei?

Medizinalrat Dr. Hoffmann: Wenn der Angeklagte die Gutachten in der Ehescheidungssache gelesen hatte, so mußte er sehr vorsichtig sein.

Justizrat Kleinholz: Glauben Sie, Herr Sachverständiger, daß der Angeklagte damit rechnen konnte oder mußte, daß ihm Frau v. Elbe die bewußte Unwahrheit mitteilen würde?

Medizinalrat Dr. Hoffmann: Herr Harden ist nicht der einzige und wird auch nicht der letzte sein, der von einer hysterischen Frau getäuscht wird.

Justizrat Bernstein: Ich bemerke, daß das erste Gericht dem Zeugnis der Frau von Elbe vollen Glauben geschenkt hat.

Graf Moltke: Ich bitte darum, hier nochmals sagen zu dürfen, daß ich niemals die Äußerung gebraucht habe: „Ich hasse diese Frau.“ Jene Äußerungen von der Ehe als Cochonnerie (Schweinerei) und so weiter habe ich nicht in der Wut gesagt und auch nie auf meine eigene Ehe bezogen. Ich will hier nochmals feststellen, daß ich gesagt habe: Wenn die Liebe und Hochachtung als sittliche Basis einer Ehe fehlt, dann ist tatsächlich die Ehe eine Schweinerei.

Sachverständiger Sanitätsrat Dr. Moll: Ich habe aus der Verhandlung keine Spur von Homosexualität des Grafen Moltke entnehmen können, keine Spur von homosexueller Veranlagung oder irgendwelcher homosexueller Richtung, weder bewußter, noch unbewußter. Ich kann sagen, daß ich nicht das geringste gefunden habe. Die Freundschaft mit dem Fürsten Eulenburg darf nicht so bewertet werden wie eine gewöhnliche Freundschaft. Selbst wenn solche zärtlichen Ausdrücke zwischen den Freunden gewechselt sind, wie behauptet worden, so muß man doch daran denken, daß es sich hier um eine Freundschaft handelt, die 40 Jahre währt, in welcher die beiden Freunde durch gemeinsame künstlerische Interessen verbunden sind. Ich habe während der ganzen Verhandlung absolut nichts von einem sogenannten femininen Einschlag bei dem Grafen Moltke bemerkt, keine Spur von weibischer Richtung. Höchstens könnte ein Übelwollender in dieser Beziehung vielleicht geltend machen, daß hier Graf Moltke hin und wieder ein Riechfläschchen benutzte. Aber selbst bei femininen Einschlägen kann man überhaupt nicht gleich auf Homosexualität schließen. Auch in dem Benehmen des Grafen gegenüber seiner Ehefrau ist nichts Homosexuelles zu bemerken. Bis kurz vor der Trennung der Ehe hat der Graf seine ehelichen Pflichten erfüllt. Ich lege den Aussagen der Frau v. Elbe gar keine Bedeutung bei. Den Satz „quaevis hysterica mendax“ kann ich nicht unterschreiben. Es gibt eine ganze Anzahl Hysterischer, die ebenso wahrheitsliebend sind wie andere. Aber hier hat sich doch, namentlich nach der Darstellung der Gräfin Danckelmann, ein Bild der Hysterie dargestellt, daß ich aus diesem Grunde einer solchen Persönlichkeit so leicht nicht Glauben schenken würde.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Da bei böswilliger Auslegung des Gebrauchs des Riechfläschchens auf femininen Einschlag gedeutet werden könnte, müßte doch festgestellt werden, ob der Herr Graf immer das Riechfläschchen anwendet, oder nur hier während der Verhandlung.

Graf Moltke: In dem Fläschchen befindet sich englisches Riechsalz, welches ich benutze, weil ich seit Oktober meinen Schlaf eingebüßt habe.

Auf eine Frage des Justizrats Bernstein gab Sanitätsrat Dr. Moll zu, daß Harden keine besondere Veranlassung haben mochte, an der Glaubwürdigkeit der Frau v. Elbe zu zweifeln. Er selbst habe mit Behauptungen hysterischer Frauen in Ehescheidungssachen die Erfahrungen gemacht, daß er in solchen Dingen überhaupt nichts mehr glaube. Er habe die „Zukunft“ von ihrem Erscheinen an gelesen und würde annehmen, men, daß an der Überzeugungstreue Hardens bei dem, was er sagt, kaum zu zweifeln sei.

Harden: Ich betone auch hier, daß ich niemals eine Homosexualität des Nebenklägers behauptet habe, sondern nur eine erotisch betonte Freundschaft und ein Abweichen von der Norm des Sexualempfindens. Wird es für den Herrn Sachverständigen von Einfluß sein, daß diese Freundschaft zu einem anderen Manne (Eulenburg) bestand, von dem nach zwei beschworenen Aussagen der Gründer des Deutschen Reiches gesagt hat, daß er pervers veranlagt sei?

Vors.: Von zwei beschworenen Aussagen kann noch keine Rede sein, denn Dr. Limans Aussage war doch anders.

Auf Befragen Hardens bemerkte Sanitätsrat Dr. Moll: Der Nachweis, daß Fürst Eulenburg eine perverse Neigung dem Grafen Moltke gegenüber betätigt habe, sei nicht geführt. Voraussetzung sei überhaupt die Richtigkeit des Bismarckschen, Urteils.

Vors.: Bismarck war doch ein schlechter Menschenkenner, wie der Angeklagte selbst zugab.

Oberstaatsanwalt: Nach dem, was hier in der Beweisaufnahme festgestellt ist, kann also von einer erotisch betonten Freundschaft nicht die Rede sein?

Dr. Moll: Nein.

Geheimrat Prof. Dr. Eulenburg: Ich kann mich den beiden Vorgutachtern unbedenklich anschließen. Ich habe keine Spur von irgendeiner homosexuellen Veranlagung, Empfinden oder Betätigung bei dem Grafen Moltke erkennen können. Eine unbewußte Homosexualität kann ich überhaupt nicht zugeben. Auch ich kann den Satz „quaevis hysterica mendax“ nicht als richtig ansehen. Es gibt ja hysterische verlogene Personen, die aber schon vorher verlogen waren. Eine Hysterische lügt niemals, sie sagt aber auch niemals die Wahrheit, diese beiden Begriffe kennt sie eben nicht. Die Möglichkeit, von Hysterischen getäuscht zu werden, ist außerordentlich groß, auch mir ist das oft passiert. Niemand ist vor solcher Täuschung sicher, am wenigsten ein Laie. Ich kenne Harden seit langen Jahren, ich würde ihm bei jeder Art seines Vorgehens niemals unlautere Motive zutrauen.

Graf Moltke: Ich möchte, um alle Mißverständnisse zu beseitigen, noch einmal die mysteriöse Taschentuchaffäre erörtern. In der Schöffengerichtsverhandlung wurde eidlich ausgesagt, diese Szene sei aus dem Nebenzimmer beobachtet worden von Frau v. Elbe und ihrem Sohn. Hier ist es schon nicht mehr ganz so zweifelsfrei gelassen worden. Ich möchte diesen Gegensatz nur konstatieren. Ich hatte wochenlang nicht in persönlichem Verkehr mit dem Eulenburgschen Hause gestanden, nur um Szenen zu vermeiden. Als ich das Taschentuch fand, wollte ich einen gewissen Fühler kurz vor dem Zusammenbruch unserer ganzen Ehe ausstrecken, um zu sehen, ob das eine Brandfackel bilden oder harmlos hingenommen würde.

Es wurde hierauf Dr. med. Magnus Hirschfeld vernommen: Ich habe mein Gutachten vor dem Schöffengericht über den jetzigen Herrn Nebenkläger – in der Hauptsache – auf die beeidete Zeugenaussage der Frau v. Elbe gestützt. Es lag damals keine Veranlassung vor, an der Wahrheit dieser Aussage zu zweifeln, zumal sie von dem Herrn Vorsitzenden des Schöffengerichts ausdrücklich als Grundlage des zu erstattenden Gutachtens bezeichnet worden war. Diese Grundlage ist durch die neue Beweisaufnahme vor der Strafkammer wesentlich erschüttert worden, und zwar zunächst dadurch, daß die Zeugin Frau v. Elbe ihre frühere Aussage in tatsächlicher Beziehung abgeschwächt bzw. nicht mehr in der früheren bestimmten Form aufrechterhalten hat. Sie selbst hat während dieser Verhandlung, als ihr eine subjektive Färbung der Ereignisse vom Herrn Oberstaatsanwalt vorgehalten wurde, ausgerufen: „Kann denn ein Mensch, der solche Nöte erlitten hat, noch objektiv sein?“ Es kommt hinzu, daß bei der Zeugin nach dem Gutachten des Herrn Dr. Frey ein neuropathischer Zustand vorlag, namentlich auch während der Zeit der Ehe, welcher geeignet war, sowohl ihr Empfindungsleben als auch die Erinnerungsbilder stark zu beeinträchtigen. Endlich steht der beeideten Aussage der Frau v. Elbe jetzt das beeidete Zeugnis des Grafen Moltke entgegen, der, im Gegensatz zu der früheren Verhandlung, eingehende Erklärungen zu den einzelnen Behauptungen der Zeugin abgegeben hat, deren Darstellung die Zeugin zum Teil selbst bestätigte. Von vornherein kann es sich auf Grund der Beweisaufnahme vor der Strafkammer wieder lediglich um die Frage handeln, welche ich auch das vorige Mal nur erörtern konnte, ob bei dem Herrn Nebenkläger eine ihm selbst unbewußte Abweichung seines sexuellen Empfindens vorliegt. In dem konkreten Fall kommt es weniger auf die Gefühlsrichtung und die Gefühlsstärke als auf den Gefühlston an. Daß dieser Gefühlston in dem vorliegenden Falle den Freunden gegenüber ein ungewöhnlich inniger ist, muß zugegeben werden. Selbstverständlich könnte man daraus allein keine Homosexualität folgern. Entsprachen aber die von der Frau v. Elbe mitgeteilten scharfen Äußerungen über die Frauen, die Ehe usw. der Wahrheit, so konnten sie bei einem Manne von so hohem ästhetischen Empfinden und solcher Feinfühligkeit nur durch tiefe Kontrainstinkte gegen das Weib erklärt werden. Waren sie aber objektiv unrichtig, so entfielen natürlich damit auch die daraus gezogenen Schlüsse. Der Herr Nebenkläger selbst erklärt seine Abneigung in dem besonderen Falle durch die „psychisch und physisch ungewöhnlich große Leidenschaftlichkeit“ schaftlichkeit“ seiner Ehegattin. Nach allem resumiere ich mein Gutachten über die Beweisfrage wie folgt: Aus den Grundlagen, wie sie diese Verhandlung vor der Strafkammer ergeben hat, läßt sich ein Schluß auf eine homosexuelle Veranlagung des Grafen Moltke nicht mehr ziehen.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Sie hatten doch früher in der poetischen und musikalischen Veranlagung des Privatklägers einen femininen Einschlag erblickt.

Dr. Hirschfeld: Nur in ihrer Gesamtheit habe ich die einzelnen Eigenschaften als Kennzeichen des femininen Einschlags betrachtet.

Vors.: Auf poetisch-musikalischem Gebiet ist doch aber die Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts so groß.

Dr. Hirschfeld: Das ist richtig, aber auf der anderen Seite hat gerade der stark brutale Vollmann meist keine Begabung auf diesem Gebiete aufzuweisen.

Oberstaatsanwalt: Dann würden Sie unter Vollmännlichkeit nur eine gewisse Roheit verstehen.

Dr. Hirschfeld: Nein, ganz gewiß nicht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind sehr schwankende Begriffe.

Oberstaatsanwalt: Es ist das wohl auch bloß das Geschützfeuer, das den eklatanten Rückzug decken soll. Sie treten doch wohl vollständig von Ihrem Gutachten achten vor dem Schöffengericht zurück?

Dr. Hirschfeld: Jawohl, das muß ich tun; ich glaube, das kann mir nur zur Ehre gereichen, wenn ich bei der veränderten Grundlage zu anderen Schlüssen komme.

Oberstaatsanwalt: Meinen Sie nicht, daß die Grundlage für Ihr damaliges Gutachten nicht nur verändert, sondern vollständig beseitigt ist?

Dr. Hirschfeld: Diese Frage kann ich bejahen.

Oberstaatsanwalt: Ich kann wohl feststellen, daß jetzt nach Ihrer Meinung beim Grafen Moltke weder Anhaltspunkte für Homosexualität noch für erotisch betonte Freundschaft vorhanden sind.

Dr. Hirschfeld: Ich halte den Ausdruck „erotisch betonte Freundschaft“ nur für ein Synonym für „geistige Homosexualität“.

Als letzter Sachverständiger wurde Geh. Sanitätsrat Dr. Zwingenberg vernommen, der 37 Jahre in der Familie des Grafen Moltke ärztlich tätig war und vier Generationen kennengelernt hat. Auch er erklärte, daß Graf Moltke weder homosexuell war, noch ist.

Es entspann sich hierauf ein längerer Disput über die Aussage des Dr. Liman.

Justizrat Bernstein las aus seinem Notizbuch die Äußerung Dr. Limans vor, die dieser vor dem Schöffengericht machen wollte, aber nicht machen konnte, da er nicht vernommen wurde. In dieser Äußerung, die Dr. Liman dem Verteidiger diktiert habe, heißt es, Fürst Bismarck habe von den Hintermännern im doppelten Sinne, auch im physischen Sinne gesprochen und mit Bezug auf die Liebenberger Hintermänner das Wort „Kinäden“ gebraucht. Er beantragte die nochmalige Vernehmung des Zeugen Dr. Liman. Auf telephonischem Anruf erschien hierauf Dr. Liman nochmals als Zeuge. Er wiederholte, Fürst Bismarck habe, als davon gesprochen wurde, daß im Tauschprozeß auf Hintermänner im Sachsenwalde hingewiesen wurde, dies übertrumpfen wollen und den Ausdruck „Kamarilla der Kinäden“ in Anwendung gebracht. Ein geschlechtlicher Beigeschmack sollte damit nach seiner Ansicht nicht verbunden sein.

Justizrat Bernstein hielt dem Zeugen wiederholt vor, daß dieser ihm doch genau die Stelle diktiert habe, in welcher es hieß: Fürst Bismarck habe von den „Hintermännern auch im physischen Sinne – siehe Eulenburg –“ gesprochen.

Dr. Liman erklärte hierzu, daß er dem Justizrat nur mitgeteilt habe, was er vor dem Schöffengericht habe aussagen wollen. Was er diktiert habe, habe nur ein Leitfaden sein sollen, er habe über die Worte des Fürsten weiter keinen Kommentar gegeben, sondern sei sofort auf das übergegangen, was ihm wichtig schien.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ich bitte, präzise die Frage zu beantworten: Hat Fürst Bismarck die Worte gebraucht: „Hintermänner im doppelten Sinne, auch im physischen?“

Zeuge: Nein.

Hierauf wurde allseitig endgültig auf jede weitere Beweisaufnahme verzichtet.

Am folgenden Tage begannen die Plädoyers. Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel führte etwa folgendes aus: Herr Harden nahm an, daß sich in der Umgebung des Kaisers eine Gruppe hochstehender und einflußreicher Personen befunden habe, die dem Wohle des Vaterlandes abträglich gewesen sei. Er hielt sich für berufen, diese Gruppe zu sprengen. Wen er eigentlich zu dieser Gruppe rechnete, war nicht ganz klar. Er nannte Fürst Eulenburg und Graf Kuno v. Moltke. Er scheint ferner noch zu dieser Gruppe zu rechnen die Herren v. Varnbühler, v. Below, den französischen Botschaftsrat Lecomte. Auch der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Herr v. Tschirschky ist an einer Stelle erwähnt. Herr Harden glaubte jedenfalls in der Lage zu sein, den Fürsten Eulenburg und den Grafen Moltke vernichten zu können. Vor einigen Jahren hat er einige Kenntnis von dem Eheleben des Grafen Moltke und von nicht ganz verständlichen Andeutungen des Fürsten Bismarck erlangt. Auf dieser Grundlage glaubte er, der Gruppe perverse Geschlechtlichkeiten nachsagen zu können. Wegen dieser seiner Überzeugung ist er richterlich nicht zu bestrafen, sondern dern nur, weil er einen Teil seiner Überzeugung in der „Zukunft“ veröffentlicht hat. Er hat sich dabei in wenigen Zeilen mit dem ihm eigenen Geschick ausgedrückt. Herr Harden behauptet, er habe keine Beleidigung ausgesprochen, sondern den Herren nur eine normwidrige erotische Freundschaft nachgesagt. Aber auch das ist strafbar. Der Oberstaatsanwalt erörterte alsdann in eingehender Weise die inkriminierten Artikel und fuhr darauf fort: Soviel Rücksicht man auch auf krankhafte Triebe nehmen will, mag der § 175 aufgehoben werden oder nicht, der Vorwurf geschlechtlicher perverser Triebe, des Umgangs von Männern untereinander ist für Deutsche etwas Herabwürdigendes, etwas Gemeines, eine Hundemoral. Ich glaube nachgewiesen zu haben, daß Harden dem Grafen Moltke den Vorwurf der Homosexualität gemacht hat. Von diesem Vorwurf ist nicht ein Atom wahr. Wir haben gesehen, wie dieser Vorwurf haltlos zusammenbrach. Nicht eine Spur von Homosexualität, nicht ein Atom femininer Eigenschaften ist dem Grafen Moltke nachgewiesen. Alle Sachverständigen sind darüber einig, und wir haben unter ihnen die hervorragendsten Vertreter der Sexualwissenschaft. Auch einer, der zuerst anderer Meinung war, hat sich jetzt bekehrt, Herr Dr. Hirschfeld. Errare humanum est. Ich mache Herrn Dr. Hirschfeld für seine Bekehrung mein Kompliment. Ich habe mich sehr ausführlich mit der Frage der Homosexualität beschäftigt. Und nun stehe ich hier und kann meine mühsam erworbenen Kenntnisse auf diesem Gebiete nicht verwerten, denn von dieser Leidenschaft ist hier gar keine Rede mehr. Ich kenne Herrn Harden seit langer Zeit, habe seinen Werdegang und den der „Zukunft“ genau verfolgt. Ich kenne seinen Streit mit Lindau, Delbrück, Mehring, Leuß und anderen, und ich muß sagen: er ist in seiner Art ein Genie. Er ist der arbeitsreichste Publizist der Neuzeit; er hat Scharfsinn, einen eigenartigen, unnachahmlichen Stil, eine faszinierende Persönlichkeit. Aber diesen glänzenden Eigenschaften stehen sehr häßliche Mängel gegenüber. Er ist von einer brutalen Rücksichtslosigkeit, er geht bei Verfolgung eines Zieles über Leichen. Herr Harden hat, als er seine Aktion ins Werk setzte, den obersten Rechtsgrundsatz verletzt: „Eines Mannes Rede ist keine Rede, man muß sie billig hören beede.“ Er hat nicht einmal auf eines Mannes, sondern auf eines kranken hysterischen Weibes Rede hin gehandelt. Das war leichtfertig, vielleicht mehr als das. Herr Justizrat Bernstein hat im ersten Prozeß gesagt:

„Wenn ich die Tür aufmache und rufe Päderast, da steckt Graf Moltke den Kopf zur Tür herein.“ Diese Äußerung hat ja Herr Justizrat Bernstein klipp und klar zurückgenommen. Aber Herr Harden hat eine Tür aufgemacht, die verboten ist, deren Geheimnis jedem Gebildeten heilig ist, die Tür zum Ehegemach. Er hat einen Ehrenmann zum Lotterbuben stempeln wollen. Das war unverantwortlich, unsühnbar. Ich habe einen alten Brief Hardens gelesen, in dem er den Adressaten „Mein Herz“ anredet. Und trotzdem halte ich Herrn Harden nicht für anormal. Der Mann, der in so schrecklicher Weise hier mit Schmutz beworfen worden ist, Graf Kund v. Moltke, geht gereinigt aus diesem Saal. Nicht ein Stäubchen ist auf seinem Ehrenschild haften geblieben. Ein Edelmann vom Kopf bis zum Fuß. Der Staatsanwalt hat sich über nichts zu freuen und über nichts zu ärgern, er hat streng seine harte Pflicht zu tun. Nicht als Beamter, aber als Mensch freue ich mich, daß Fürst Eulenburg so rein aus dieser Verhandlung hervorgegangen ist. Der große Altreichskanzler, der Alte im Sachsenwalde, hat sich in heiligem Zorn gegen die Hintermänner, die ihm das Leben schwer gemacht haben, zu einer Äußerung hinreißen lassen. Er hat von Kinäden gesprochen. Wir wissen, wie explosiv Fürst Bismarck war. Es liegt nahe, daß er sich ebenso wie Dr. Liman über den von ihm gewählten Ausdruck nicht klar geworden ist. Ich bin überzeugt, wenn dieser große Mann jetzt aufstehen. konnte aus seiner Gruft, dann würde er uns sagen, daß er mit dem Wort Kinäden keine Verdächtigung aussprechen, sondern nur schimpfen, fluchen und wettern wollte. Nun noch ein Wort in eigener Sache. Ich weiß nicht, was Seine Majestät der Kaiser mit Graf Moltke gesprochen hat, aber ich bin der Ansicht, Majestät wird gesagt haben: Gehen Sie hin, Moltke, reinigen Sie sich, treten Sie das Otterngezücht zu Boden, jetzt haben Sie Ihren Abschied und die nötige Ellbogenfreiheit. Ich habe beiden hervorragenden Männern erst Gelegenheit gegeben, ihre Sache selbst zu vertreten, als aber das öffentliche Interesse begann, bin ich sofort eingeschritten. Herr Harden hat am ersten Tage gesagt: er glaubte, dem Lande, dem er angehöre und das er liebe, einen guten Dienst zu leisten. Ich glaube ihm das, weil ich Herrn Harden kenne, und weil ich weiß, daß er vielfach gute Zwecke verfolgt. Aber er hat seinem Vaterlande einen herzlich schlechten Dienst geleistet. Er hat sein Vaterland vor dem Auslande diskreditiert. Lesen Sie nur die Blätter des Auslandes, da werden Sie sehen, wie man jubelt, daß an unserem Kaiserhof eine Gruppe perverser Leute sich gebildet habe, die um unseren geliebten tatkräftigen Kaiser ihre Fäden spinne. Wie einst der Sohn des Dädalos mit wachsgehaltenen Flügeln zur Sonne strebte und ins Meer stürzte, so ist Herr Maximilian Harden, der nach der Majestät zu fliegen glaubte, mit seinen schwachen Kräften hineingestürzt in ein Meer von Lüge und Entstellung. Der § 193 kann Harden nicht zur Seite stehen, denn der Schutz des Paragraphen ist nicht uferlos. In der ersten Verhandlung handlung hat sich der Vertreter der Privatklage darauf beschränkt, eine strenge Bestrafung anheimzugeben. Ich kann mich darauf nicht beschränken. Ich habe alles erwogen. Der Angeklagte hat sich täuschen lassen, wie manche anderen klugen Leute. Er hat von den Mitteilungen der Frau v. Elbe Gebrauch gemacht und muß dies vertreten. Ich habe lange erwogen, ob eine Geldstrafe möglich wäre. Allein ich muß Gefängnisstrafe in Antrag bringen, weil der Angeklagte unsägliches Unglück angerichtet hat über den Grafen Moltke, den Fürsten Eulenburg und unseren Staat. Ich beantrage deshalb gegen den Angeklagten 4 Monate Gefängnis, Publikationsbefugnis für den Nebenkläger in mehreren Zeitungen und in der „Zukunft“. Außerdem beantrage ich, die gesamten Kosten, auch die Kosten des Privatklageverfahrens, dem Angeklagten aufzuerlegen. Ich möchte Herrn Harden zum Schluß noch eine vielleicht erfreuliche Mitteilung machen. Herr Harden hat begeisterte Anhänger, die bereit sind, für ihn in den Tod zu gehen. Ich habe kürzlich einen Brief erhalten, in dem mir gedroht wird, falls Herr Harden verurteilt wird, dann wird man mich aus dem Hinterhalt erschießen. Ich würde mich selbst verachten, wenn ich glaubte, daß Herr Harden diesen Brief veranlaßt hätte; aber ich habe in meinem Leben wissentlich nie jemandem Unrecht getan. Ich sage mit Herrn Hardens großem Freund, dem verstorbenen Fürsten Bismarck, der bekanntlich, wenn er gut gelaunt war, plattdeutsch sprach: „Da lach ich öwer.“

Als Vertreter des Nebenklägers nahm hierauf Justizrat Dr. Sello das Wort: Ich habe in meiner Verteidigertätigkeit immer der Ansicht gehuldigt: auf das bißchen Plädieren ist gar kein so großer Wert zu legen. Was hätte ich denn hier noch aufzuklären und zu erläutern. Die Tatsachen stehen doch jetzt felsenfest. Frau v. Elbe hat vielen Leuten Unrecht getan, auch mir, indem sie die falsche Ansicht ausgesprochen hat, daß ich ein fanatischer Verfolger ihrer Person sei. Das bin ich ganz gewiß nicht, viel eher bin ich jemand, der wirkliches Mitleid mit ihr hat. Ich werde mich darauf beschränken, den Nebenkläger zu rechtfertigen gegen den Vorwurf, daß er an einer krankhaften Gestaltung seiner Sinnesrichtung leide. Dieser Vorwurf ist beleidigend. Trotz der übertriebenen Tätigkeit des wissenschaftlich-humanitären Komitees ist dieser Vorwurf ein Schimpf, nicht bloß in unserem Vaterlande, sondern, wie ich kürzlich aus einem Buche über Sibirien ersehen habe, selbst dort. Der Angeklagte kann nicht davon freigesprochen werden, daß er der eigentliche Urheber der unendlichen Flut von Schmutzliteratur gewesen ist, die sich dieser Affäre bemächtigt hat und einen Schandfleck in unserem Volksleben bildet. Er ist der Urheber dieser Flut, die er vorausahnen mußte, einer Flut von Schmutz, Ekel und Entwürdigung. Das wird er von seinen Rockschößen nicht mehr los, wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht wieder loswurde. Die Beleidigungen in den Artikeln des Angeklagten waren von tödlicher Tragweite und mußten den Erfolg haben, daß der Angegriffene in den Abgrund der Lächerlichkeit versank. In einer längeren, dialektisch meisterhaften Ausführung suchte Justizrat Dr. Sello darzulegen, daß alle Interpretationskünste nicht über den wirklichen Sinn der Artikel hinwegtäuschen können. Der gute Glaube soll Herrn Harden nicht abgesprochen werden, denn es wäre doch teuflisch, wenn man annehmen wollte, daß jemand im politischen Kampfe zum Mittel der bewußten Lüge greifen würde. Harden ist ein Opfer seiner durch Parteinahme getrübten Intelligenz geworden, und ihn trifft der Vorwurf, den Satz des alten römischen Rechts: „audiatur et altera pars!“ nicht befolgt zu haben, der Vorwurf, daß er die leidenschaftlichen Ergüsse einer durch ihren Ehescheidungsprozeß verärgerten Frau ohne weiteres für bare Münze genommen hat und seinen Angriffen, die ohnegleichen an Tödlichkeit sind, zur Grundlage gemacht hat. Und doch hätte er durch Einsicht des der anderen Seite zu Gebote stehenden Materials seine Ansicht korrigieren können. Was Fürst Bismarck im Ingrimme über seine politischen Gegner gesprochen hat, kann er nicht für sich verwerten, da nicht einmal feststeht, in welchem Sinne es gesprochen ist. Wir haben aber gehört, daß ein Ohrenzeuge geschlechtliche Beziehung in diesen Worten nicht erkannt hat. Es wäre leicht, die Schale unseres Zornes auf das Haupt der Frau v. Elbe auszugießen. Aber wir tun es nicht. Ich habe Mitleid mit dem Leide der Frau v. Elbe, in welches sie sich selbst gebracht hat. Nie habe ich daran gedacht, daß sie ihren Zeugeneid verletzt hat, aber ihre Krankheit hat ihr das schönste Recht des sittlichen Menschen, das Recht, wahr zu sein, genommen. Der fanatischste Gegner, der gehört hat von den Sachverständigen, wie bemitleidenswert entartet die Psyche der Frau v. Elbe ist, wird genau meiner Ansicht sein. Wir haben, der Herr Nebenkläger und ich, keine Veranlassung gehabt, irgendwelche Sachverständige zu laden, obwohl uns Dutzende von Autoritäten zur Verfügung stehen, die wir gegen die damalige Ansicht des Herrn Dr. Magnus Hirschfeld ins Feld führen konnten. Wir haben es nicht getan, aus guten Gründen. Wir stehen auf dem Standpunkt: „Ich sehe aus der Ferne schadenfroh zu, wie sich der Feind von selbst vernichtet.“ Unser schon von Anfang an eingenommener Standpunkt hat sich auf das glänzendste bewährt. Die von der Verteidigung geladenen Sachverständigen haben hier unter ihrem Eide ausgesagt, nicht der Schatten eines Verdachts liegt vor, daß bei dem Grafen Moltke eine erotisch betonte Freundschaft schaft vorhanden ist.

Als Frau v. Elbe hier im Gerichtssaal in dieser zweiten Verhandlung das erste Wort gesprochen hatte, war der Prozeß eigentlich schon zu Ende. Wer ist es denn gewesen, der in der Verhandlung erster Instanz durch die genau detaillierten Fragen an Frau v. Elbe einen Sturm der Entrüstung in dem deutschen Blätterwalde angefacht hat? Wer ist es gewesen, der ihr die Geheimnisse des Ehebettes entlockt hat? Wir nicht! Ich rufe alle als Zeugen dafür auf, daß ich mich stets dem widersetzt habe, daß diese Dinge hier zur Sprache kommen.

Möge doch endlich die unheilvolle Frucht verdorren, die aus dieser Drachensaat entsprossen ist! Als hier im Gerichtssaal gestern durch das Zeugnis der Schwester des Grafen Moltke, der Gräfin Danckelmann und anderer Zeugen, die Wolken von dem Himmel gefegt wurden, die die Ehe verdunkelt hatten, da überkam es mich eigenartig, gewaltig: Der Wahrheit war zum Siege verholfen worden. „Und Stille wie des Todes Schweigen lag überm ganzen Hause schwer, als wenn die Gottheit nahe wär!“ Ich selbst erkannte wieder einmal, daß wir nicht nur ein Handwerk mit Worten betreiben, wie uns vielfach angegriffenen Anwälten oft nachgesagt wird. Selbst wetterharte Gerichtsberichterstatter, die tragische Szenen gewöhnt sind, haben mir erklärt, daß bei der ergreifenden Schilderung der Gräfin Danckelmann über das Eheleben des Grafen Moltke ihnen die Tränen nahe waren. Demgegenüber steht die Aussage der Frau v. Elbe, durch deren Zeugnis die Person des Grafen Moltke zu einem elenden Zerrbilde gemacht werden sollte. Als ihm in den Schloßgefilden von Netzow eine Blume erblühte, hat Graf Moltke mit ritterlicher Minne um sie geworben. Zaghaft und mit feinsinnigem Verständnis hat Graf Moltke durch den Mund des Dichters um diese Blume geworben. Als er das Jawort erhielt, brach er in die rührenden Worte aus: „O, zuviel Glück für mich alten Knaben!“ Gleich den schleimigen Schneckenspuren zog sich die ekle Verleumdung hinter einem anderen Worte her – ein Märchen fürs Leben wollte sich Graf Moltke gewinnen. Die Ohren, die für Reinheit unempfänglich sind, haben hieraus sogar etwas herauskonstruiert. Herr Medizinalrat Dr. Hoffmann hat sich sehr richtig ausgedrückt, wenn er von einem Märchen sprach, das dann später die Krallen auszustrecken begann. Glauben Sie uns das eine, wir haben hier nicht den zehnten Teil aus dem Eheleben des Grafen Moltke zur Sprache gebracht. Unendlich viel Traurigeres, Schmählicheres könnten wir hier vorbringen, um die Ehegeschichte des Herrn Nebenklägers in dem richtigen Lichte darzustellen. Nicht wie ein Held der modernen Erzählungskunst hat Graf Moltke diese Sachen hier vorgebracht – nein, wie ein Held aus der alten guten Zeit hat Graf Moltke geschwiegen. Er hat geschwiegen, als ihn sein Freund, mit dem er in dem behaupteten, so sehr nahen Verhältnis angeblich stehen sollte, fragte, woher die Spuren von Mißhandlungen kämen. Er hat die wahre Ursache verschwiegen und hat erklärt, das blaue Auge rühre von einem Sturz gegen eine Etagere her. Als Graf Moltke, an Leib und Seele gebrochen, seiner Schwester, der Gräfin Danckelmann, seine eheliche Leidensgeschichte eingestand und ihr an seinem linken Arm die blutigen Nageleindrücke zeigte, als die damalige Gräfin Moltke, wie ein Raubvogel seine Krallen, ihre Fingernägel in den Arm ihres gequälten Ehegatten eingeschlagen hatte – als da seine Schwester in gerechter Empörung über diese Vorgänge nach Breslau fuhr, um dort mit ihrem Bruder einen Rechtsanwalt aufzusuchen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, auch da noch schwieg Graf Moltke. An der Tür des Anwalts kehrt er um, da er seine Schande nicht offenbaren wollte. Meine Herren, das ist der Mann, dem in der vorigen Verhandlung hier gesagt wurde, es wäre nicht anständig, tapfer, christlich und nicht deutsch, wenn man das Zeugnis der Frau v. Elbe als unwahr bezeichne. Das Herz muß sich einem zusammenkrampfen, wenn man diese dialektische Verdrehung hört.

Das ist der Mann, von dem hier gesagt worden war, er habe sich einer Lüge bedient, um seinen Rock zu behalten, das ist der Mann, von dem hier an bedeutungsvoller Stelle gesagt wurde: Auch Graf Moltke ist nicht ganz rein! Der hohe sittliche Ton des Herrn Oberstaatsanwalts wird allen hier ins Herz gedrungen sein, mit dem er die Persönlichkeit des Grafen Moltke in so trefflicher Weise charakterisierte. Wer reiner ist als er, der stehe hier jetzt auf. Der Paragraph 193 ist meines Erachtens auf den Angeklagten gar nicht anwendbar, es müßte denn ein Umschwung des Rechts eintreten. Ich werde mich in die Erörterung über das Strafmaß nicht einmischen. Auch der Nebenkläger will das nicht. Selbst das Leid dieser Tage hat in dieser Seele keinen Haß zu erregen vermocht. Ich meine aber, daß sich nicht bloß der kämpfende Journalist auf seinen Journalismus berufen darf, sondern daß auch wir uns eines gewissen Patriotismus rühmen dürfen. Kein Patriotismus lodert in heller Freude auf darüber, daß endlich die volle und ungetrübte Sonne des Rechts über dem Wirrsaal dieses unheilvollen Prozesses aufzugehen im Begriff steht, die Sonne eines neuen Jahres, eines neuen Lebensjahres hoffentlich für uns alle, und daß diese Sonne den Namen Moltke, auf den jeder Deutsche stolz ist, in altem Glanze wiederherstellt. Ich hege die Überzeugung, daß die Tat, die wir hier in angestrengter Arbeit verrichtet haben, nicht im Dienste der Göttin Politik mit den leidenschaftlich schaftlich verzerrten Zügen, deren Priester meinen, daß zur Bekämpfung des Gegners jedes Mittel recht sei, sondern im Dienste der Göttin Gerechtigkeit geschehen ist. Ich bin überzeugt, daß unser Vaterland diese Tat uns dermaleinst danken wird, danken, daß wir die Ehre deutschen Namens, deutschen Mannestums und die Ehre eines Mannes, der im wirklichen Sinne des Wortes sein Blut auf dem Schlachtfelde vergossen hat für das Vaterland, wiederhergestellt haben im In- und Ausland. Das Gute, was aus diesen Artikeln entsprungen ist, ist das, daß wir in Zukunft jedem Rauner, Flüsterer, Hintertreppenkolporteur, der nachher von nichts etwas gesagt haben will, von „Frontwechsel“ und dergleichen spricht, den Mund werden stopfen und ihm zurufen können: „Du lügst!“ Auch die Spatzen im Grunewald, auf die sich Herr Harden in der ersten Verhandlung berufen hat, werden, nachdem die Wahrheit ihren Triumph hier gefeiert hat, in Zukunft ein anderes Lied pfeifen als vorher.

Nebenkläger Graf Kuno v. Moltke: Ich möchte hier noch in breiter Öffentlichkeit die Frage beantworten, weshalb ich mein Abschiedsgesuch eingereicht habe: Als ich den Artikel der „Zukunft“ vom 27. April zur Kenntnis nahm, ging ich zu meinem direkten Vorgesetzten, dem Gouverneur Generalfeldmarschall v. Hahnke. Ich habe ihm dargelegt, ich glaube informiert zu sein, daß der Herr Angeklagte sich eine Gruppe konstruiere und dann sie angreife in der Art, um sich nicht mit ihr zu schlagen, sondern um sie in breiter Öffentlichkeit in der Art zu verdächtigen, daß sie unmöglich wird. Ich beriet mit meinen Anwälten, in welcher Weise gegen ein solches Vorgehen eingeschritten werden könnte. Zwei Tage darauf kam zu mir General von Plessen, der Chef des allerhöchsten Hauptquartiers, dem ich mein Ehrenwort gegeben habe, daß ich nie mit Männern geschlechtlichen Umgang gepflogen habe. Ich habe darauf gleichzeitig mein Abschiedsgesuch meiner innersten Überzeugung nach eingereicht, unter der Motivierung, es erscheine mir nicht angängig, daß eine Persönlichkeit in meiner Stellung unter einem nicht gleich zu beseitigenden Verdacht fernerhin im Dienst stehen könne. General v. Plessen schien durchaus meiner Meinung zu sein. Am 24. Mai habe ich meinen Abschied von allerhöchster Stelle in Gnaden bewilligt bekommen, in der üblichen Form. Ich bin dankbar dafür Sr. Majestät, weil er mir dadurch die Freiheit gab, auf dem Wege der Klage vorzugehen, wie es meine Pflicht erfordert und meine Ehre. Ich will nicht auf die Schöffengerichtsverhandlung weiter zurückkommen, ich will nur betonen, daß sie mir noch qualvoller gewesen wäre, wenn ich sie in der Uniform hätte aushalten müssen, die ich seit 42 Jahren in Ehren getragen habe. Nun möchte ich noch mit einigen Worten eine Darstellung zerstreuen, streuen, wie sie auch die Darlegungen des Grafen Reventlow enthielten, nämlich, daß an unserem Hofe ein süßer, unmännlicher Ton geherrscht hätte oder überhaupt herrschen könnte. Ich bin hier im Augenblick der einzige im Saale, der persönlich durch lange Jahre hindurch darüber berichten kann und deshalb sich auch verpflichtet fühlt, davon Kenntnis zu geben. Ich habe sieben Jahre als Flügeladjutant und General à la suite Sr. Majestät Dienst getan und versichere demnach: Niemals hat ein süßer, unmännlicher Ton am kaiserlichen Hofe geherrscht. Dafür bürgt schon die frische ursprüngliche Persönlichkeit des Kaisers. Niemals hat ein Grüppchen existiert, niemals eine politische Zuträgerei, niemals eine Kamarilla; auch eine Tafelrunde hat nie existiert in der Art, wie sie der Angeklagte andeutete. Die Tafelrunde ist an unserem kaiserlichen Hofe die kaiserliche Familie mit den wenigen dazu Befohlenen, und das Bild dieser kaiserlichen Familie, zu dem das engere und weitere Vaterland mit Stolz und Hochachtung emporblickt, das wollen wir uns nicht verkümmern lassen.

Auf die Frage des Vorsitzenden erklärte Graf Moltke die Richtigkeit dieser seiner Aussage auf seinen Eid.

Verteidiger Justizrat Bernstein (München): Fast drei Stunden haben wir hier zwei glänzende Redner für die Schuld des Angeklagten sprechen hören. Bewiesen wiesen haben sie diese Schuld aber nicht. Man hat von allen möglichen Dingen gesprochen, von Katull bis zu den Spatzen im Grunewald, aber den Beweis, daß diese Artikel strafbare Beleidigungen enthalten, ist man schuldig geblieben. Dem Oberstaatsanwalt ist zu danken für die loyale Art, in welcher er die Persönlichkeit des Angeklagten beleuchtet hat, aber die Vorwürfe, die von beiden Seiten gegen Maximilian Harden erhoben werden, sind vollständig unbegründet und beruhen auf unrichtiger Beurteilung der Sachlage, sowie absolut falschen tatsächlichen Annahmen. Herr Harden ist ein anständiger Mann und ein anständiger Schriftsteller und kann beanspruchen, daß ihm das konzediert werde, was daraus folgt, nämlich, daß man ihm glaubt, wenn er erklärt, in welchem Sinne er die Artikel geschrieben hat und welches ihre Bedeutung ist. Herr Harden ist kein Pamphletist, kein gewerbsmäßiger Verleumder, kein unanständiger Skribent. Der Oberstaatsanwalt wirft ihm brutale Rücksichtslosigkeit und Unbedenklichkeit in der Wahl seiner Mittel vor. Inwiefern ist dieser Vorwurf berechtigt? Gar nicht! Herr Harden hat niemals und auch vor Gericht nie gelogen, und man wird es ihm glauben können, daß er mehr weiß, als er sagt. Was er vorgebracht hat, beruhte nicht auf Phantasien von Flüsterern und Lügnern, sondern auf Mitteilungen eines Mannes wie Geh. Rat Schweninger und dessen Ehefrau, die die eigene gene Nichte des Grafen Moltke ist. Er ist nicht leichtfertig vorgegangen und hat nicht zu schnell geglaubt. Dieser Vorwurf würde auch alle anderen treffen, die die Frau v. Elbe für glaubwürdig erachteten, auch den ersten Gerichtshof. Harden ist nicht aus Lust am Skandal an die Sache herangetreten, sondern er ist in die Sache eigentlich wider seinen Willen hineingedrängt worden. Ihn kann nicht der Vorwurf treffen, daß er aus den Ehescheidungsakten vor der Welt etwas mitgeteilt hat, denn aus den Artikeln kann niemand ersehen, ob Graf Moltke überhaupt verheiratet ist oder nicht. Harden ist der anständige Mensch, der über Familienverhältnisse schweigt, selbst wenn er sie näher kennt! Die Behauptungen von der „Kamarilla“ und der „Liebenbergerei“ sind doch keine Erfindungen Hardens. Nun sehe man doch überhaupt einmal die Artikel an: sie füllen 120 Druckseiten, und alle Stellen, in denen vom Grafen Moltke die Rede ist, machen zusammen kaum eine Seite aus! Der Verteidiger ging die einzelnen Artikel durch und suchte nachzuweisen, daß in keinem der Sinn liege, den der Oberstaatsanwalt herausgelesen habe. Er fragte wiederholt unter Anführung einzelner Stellen: Darf man das in Deutschland nicht sagen? Selbst wenn aber die Artikel so gedeutet werden könnten, wie behauptet wird, so würde Harden für die beiden ersten Artikel nicht bestraft werden können, da nach der Auskunft des Frhrn. v. Berger bezüglich ihrer Verjährung eingetreten ist. Ein fortgesetztes Delikt liegt nicht vor. Kein Mensch hat die Artikel so verstanden und so interpretiert, wie es jetzt geschieht. Der Lärm, der nachträglich entstanden, ist ihm nicht aufs Konto zu setzen. Ich bin nunmehr bei den Personen angelangt, die Harden in seinen Artikeln erwähnt hat. Da muß ich nun in erster Linie sagen: Wo sind denn eigentlich die Herren Hohenau und Lynar? In der Verhandlung sind bisher diese Namen nicht genannt worden, ich will mich deshalb auch nicht weiter mit ihnen beschäftigen. Derjenige, von dem Herr Harden am meisten gesprochen hat, war der Fürst zu Eulenburg. Der Herr Oberstaatsanwalt hat hier von mir verlangt, daß ich dem Fürsten Eulenburg, den ich allerdings scharf angegriffen hatte und angreifen mußte, Abbitte leiste. Ich erkläre hier, ich bin nicht feindselig gegen den Fürsten, ich habe ihm und er mir niemals etwas getan. Wenn es nicht meine Pflicht gebietet, habe ich noch niemals einem Menschen etwas Übles nachgeredet. Ich mußte aber als Anwalt und Rechtsvertreter des Angeklagten so handeln. Ich kann zu meinem Bedauern der Aufforderung des Staatsanwalts nicht entsprechen. Ich kann meine Vernunft, meine Logik nicht zwingen. Es wäre nicht gewissenhaft und nicht anständig, wenn ich jetzt sagen würde, um des lieben Friedens willen will ich das alles jetzt zurücknehmen. Ich will ganz offen erklären, daß ich vielleicht etwas weit gegangen bin, aber ich trete auch voll dafür ein. Fürst Eulenburg hat zu Baron Berger damals gesagt: „Harden nimmt an meiner politischen Tätigkeit Anstoß, ich gehe nach Territet.“ Fürst Eulenburg ging dann nach Hause und schrieb an den Baron Berger sofort einen Brief, in dem er nochmals erklärte, daß er nach Territet gehe. Weshalb schrieb denn wohl Fürst Eulenburg diesen absolut überflüssigen Brief? Meiner Ansicht nach liegt der Grund darin, daß der Brief Herrn Harden gezeigt werden und er Ruhe und Frieden halten sollte, da Eulenburg ja gehe. Harden sollte sich dann sagen: „Der Fürst geht, du brauchst ihn ja dann nicht weiter anzugreifen.“ Baron Berger hat dies ebenso verstanden. Hätte Fürst Eulenburg so handeln brauchen, wenn nicht irgendwo etwas faul im Staate Dänemark gewesen wäre? Das scheint mir alles nicht auf dem geraden Wege zu gehen. Ich will aber trotzdem dem Fürsten Eulenburg nicht Unrecht tun, aber erklärt hat er diese eigenartige Stellung keinesfalls. Die Anklage liest aus den Artikeln den Vorwurf der Homosexualität heraus. In Frage kommen hierfür nur die vier genannten Personen, nämlich Fürst Eulenburg, Graf Moltke, Graf Hohenau und der französische Herr Lecomte. Ich kann meinem logischen Denken nicht Gewalt antun, ich kann es mir nicht erklären, woher es kommt, daß, wenn vier Personen in einer ganz gleichen Weise beschuldigt werden – d.h. bezüglich des Grafen Moltke ist ja nie eine derartige Beschuldigung ausgesprochen worden – nur einer von ihnen sich rechtfertigt, wenn die ausgesprochene Beschuldigung fälschlich ausgesprochen worden ist. Graf Moltke hat auf den Vorwurf mit einer Klage geantwortet. Er hat gesagt: „Hier wird mir etwas vorgeworfen, ich erkläre, es ist nicht wahr, wenn ihr es könnt, so beweist es.“ Das ist der normale gerade Weg, den jeder ehrliche und anständige Mensch beschreitet. Was soll ich mir denken, wenn der Mitbeleidigte, ja, der Hauptbeleidigte, der um die gleiche Zeit Kenntnis von den Beschuldigungen erhalten hat, keinen Strafantrag stellte. Herrn Harden ist wenigstens bis zum heutigen Tage keine Privatklage des Fürsten Eulenburg zugestellt worden. Das alles gab mir zu schwerwiegenden Bedenken Anlaß. Ich will Ihnen weiter sagen, weshalb ich hier von dem, was ich gegen den Fürsten Eulenburg in der Schöffengerichtsverhandlung gesagt habe, nichts zurücknehme und nicht die von mir verlangte Abbitte leiste. Ich will Ihnen klarlegen, was mich dazu zwingt, meiner Überzeugung treu zu bleiben. Wenn ein Mann wie Fürst Bismarck ein Wort gebraucht, so ist wohl ohne weiteres anzunehmen, daß er auch die Bedeutung des Wortes kennt. Ich kann mich nicht dazu entschließen, wenn Fürst Bismarck auf den Fürsten Eulenburg das Wort „Kinäde“ gebrauchte, daß er dann nicht gewußt haben soll, was das Wort „Kinäde“ bedeutet. Ich kann mich nicht entschließen, mich mit der jetzt von Herrn Chefredakteur Dr. Liman gegebenen Interpretation einverstanden zu erklären. Fürst Bismarck hätte, wenn er das Wort „Kinäde“ in der jetzigen Auslegung verstanden hätte, nicht auch noch die bekannte Äußerung Götz von Berlichingens gebraucht. Ich muß dies um so mehr annehmen, da auch der Geheimrat Schweninger und andere ähnliche Äußerungen des Fürsten Bismarck über den Fürsten Eulenburg bekundeten. In München und Wien haben ebenfalls derartige Gerüchte über den Fürsten Eulenburg lange genug kursiert. Herr Kriminalkommissar v. Tresckow, der Vertreter des Polizeipräsidiums, hat von dem Grafen Moltke die Erlaubnis gehabt, alles auszusagen, was er von Gerüchten über ihn wisse. Fürst Eulenburg hat jedoch die Erlaubnis nicht gegeben, über Gerüchte hier auszusagen, die über ihn möglicherweise zirkulierten. Soll man bei all dem nicht darauf kommen, daß von dem Fürsten Eulenburg in dieser Sache nicht immer der gerade Weg gegangen ist? Herr Lecomte hat seinerseits nicht reagiert. Und dann die Art, wie Fürst Eulenburg in dem Prozeß Brand unter seinem Eide die Beschuldigung des damaligen Angeklagten widerlegte! Sie stach ganz bedeutend von der Art ab, wie der Reichskanzler seinen Eid leistete. Fürst Bülow hat rund und nett der wahnsinnigen Verleumdung nach jeder Richtung hin den Boden entzogen. Fürst Eulenburg schwor aber sehr juristisch, daß er niemals Verfehlungen gegen Paragraph 175 StGB. begangen habe. Auffällig war doch auch, daß Fürst Bülow, der nach der Behauptung des Fürsten Eulenburg dessen Freund sein soll, bei jener Verhandlung im Brand-Prozeß nach den Berichten der Zeitungen mit diesem seinem Freunde kein Wort gewechselt haben soll. In diesem Prozeß haben wir hier eine halbe Stunde über die den Fürsten Eulenburg betreffenden sexuellen Fragen gesprochen, ohne daß er eingegriffen hat. Er hat nur erklärt: „Ich habe niemals Schmutzereien gemacht.“ Das Gericht stellt sich auf den Standpunkt, daß darüber genügende Feststellungen gemacht sind, nachdem der Nebenkläger unter seinem Eide erklärt hat: er stelle es in Abrede, daß ihm bezüglich des Fürsten Eulenburg etwas Unschickliches bekannt sei. Ich erkläre hierzu: wir bezweifeln durchaus nicht, was Graf Moltke unter seinem Eide gesagt hat, aber damit wird doch nicht die Tatsache aus der Welt geschafft, daß wir einen Antrag gestellt hatten, der das Gegenteil von dem beweisen sollte, was Fürst Eulenburg dargetan hatte. Deshalb bin ich nicht in der Lage, der Aufforderung des Staatsanwalts zu entsprechen. Der Herr Oberstaatsanwalt weist auf den Lärm hin, den die Artikel verursacht haben. Wer an diesem Lärm schuld ist, ergibt sich aus den einzelnen Daten, in denen sich die Vorgänge abspielten. Die bekannt gewordene Tatsache, daß Se. Majestät gewisse Entschlüsse gefaßt habe, war es, die Aufsehen erregte. Ich glaube nicht, daß Se. Majestät so schwerwiegende Beschlüsse bloß auf Artikel der „Zukunft“ hin faßt. Diese konnten doch nur die Veranlassung sein, die Sache sich anzusehen. Hardens Schuld ist es nicht, daß Graf Moltke anders zu Sr. Majestät steht als früher. Der Oberstaatsanwalt verweist auf das Ausland und auf den Jubel, den die zur Sprache gebrachten Dinge dort verursacht haben. Dabei ist auch mein Verhalten ein wenig gerügt worden. Nun, ich kann in der Form fehlen – das hat doch aber gar nichts mit der Sache zu tun, wenn die Verteidigung zuwenig höflich ist. Ist denn Harden an den Zuständen schuld, die in jener Verhandlung enthüllt wurden? Nein! Ein Schriftsteller kann seinem Vaterlande keinen größeren Dienst leisten, als wenn er auf Mißstände aufmerksam macht, die im Vaterlande herrschen. Ist es denn beklagenswert, daß die Adlervilla geschlossen ist und diejenigen entfernt sind, die der Kriegsminister mit Recht „Buben“ nannte? Düngerhaufen muß man entfernen, nicht zudecken! Die Krankheit ist das Übel, nicht der Arzt! Der deutsche Schriftsteller muß das Recht haben, auf Übelstände hinzuweisen, ohne sich eine Anklage zuzuziehen. Man sagt: die erste Verhandlung hat Schmutz in die Familien getragen. Einige Zeitungen kämpften in Leitartikeln gegen den Schmutz, und auf der zweiten Seite stand der ausführliche Verhandlungsbericht. Wer trägt denn den Schmutz in die Familie? Die Zeitungen haben allerdings nur ihrer publizistischen Pflicht genügen müssen, und da soll Harden auf der Anklagebank nicht das Recht haben, solche Dinge zur Sprache zu bringen? Harden hat von Anfang an gesagt, homosexuelle Dinge habe er vom Grafen Moltke nicht behauptet. Er war aber durch den Gang der Verhandlungen gezwungen, schließlich etwaige Beweise dafür heranzuziehen. Ich meinerseits hätte eine Pflichtvergessenheit begangen, wenn ich mich von etwas anderem hätte leiten lassen, als von dem Interesse meines Klienten. Ich habe nichts getan, was ich nicht tun zu müssen glaubte, und mehr kann vor Gott und den irdischen Richtern niemand von mir verlangen. Was der Oberstaatsanwalt über die juristische Seite des neuen Verfahrens vorgebracht hat, ist mir nicht einleuchtend. Auch alle deutschen Rechtslehrer mit Ausnahme des Herrn v. Lilienthal-Greifswald sind darin einig, daß das jetzige Verfahren unzulässig ist. Paragraph 193 muß dem Angeklagten zugebilligt werden, denn Vaterlandsliebe und deren Betätigung sind doch gewiß berechtigte Interessen. Der Oberstaatsanwalt, der trefflich alle Gründe angeführt hat, die für eine Geldstrafe sprechen, ist mit seinem Antrage plötzlich vom Wege abgewichen. Von einer Freiheitsstrafe kann nach meiner Meinung gar nicht gesprochen werden, von einer Geldstrafe nur, wenn Paragraph 193 dem Angeklagten nicht zugute käme, was doch in ausgiebigstem Maße der Fall ist. Ich bitte zum Schluß den Gerichtshof, die Schuldfrage zu prüfen lediglich vom gesetzlichen und juristischen Standpunkt aus und sich um die politische Aktion und die etwaigen schlimmen Folgen nicht zu kümmern. Der Angeklagte hat, wie die Oberstaatsanwalt selbst anerkennt, aus einem Beweggrund gehandelt, der ihn allein schon vor einer Freiheitsstrafe schützen müßte: nämlich dem Vaterlande zu nützen. Wir sollten uns nicht möglichst wenige, sondern recht viele Menschen wünschen, für die die Vaterlandsliebe das Motiv zum Handeln ist. So zahlreich sind die Männer nicht, die einmal ein mutiges Wort wagen. Dies zu wagen ist ein Recht, auf das der individuell geartete Deutsche besonders stolz ist, und dieses Recht möge auch ferner erhalten bleiben: Auch im neuen Jahre das alte Recht!

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Ein Wort der Wahrheit zu wagen, wird’s hoffentlich auch in Deutschland immer Männer geben. Hier handelt es sich aber nicht um ein Wort der Wahrheit, sondern um ein Wort der Unwahrheit. Es ist ja gerade als unwahr erwiesen, was der Angeklagte dem Grafen Moltke ke nachgesagt hat. Deshalb war Herr Harden durchaus nicht berechtigt, solche Worte auszusprechen. Es ist doch nicht etwa das Verdienst des Herrn Harden, daß die „Adlervilla“ geschlossen worden ist, die vom Zeugen Bollhardt vorgebrachten Dinge lagen doch schon viele Jahre zurück. Die Behauptung des Herrn Justizrats Bernstein, wir wollten die Folgen des Eingreifens eines Mächtigeren auf die Schultern des Herrn Harden legen, ist unlogisch. Herr Harden muß nun die Folgen dessen tragen, weswegen der Mächtigere eingegriffen hat.

Justizrat Dr. Sello: Graf Moltke hat doch als Zeuge unter seinem Eid ausgesagt, daß ein Artikel der „Zukunft“ ihm Anlaß gegeben hat, am 3. Mai d.J. seine Verabschiedung zu erbitten.

Verteidiger Justizrat Kleinholz: An der Ruhmespyramide, die der Herr Oberstaatsanwalt und der Herr Vertreter des Nebenklägers für den Angeklagten errichtet haben, will ich nicht weiter arbeiten. In dieser Pyramide ist ein Bestandteil von großem Wert, nämlich die Eigenschaft des Anstandes und der Wahrhaftigkeit, die meinem Klienten zugebilligt wurde. Herr Harden ist ein wahrhaftiger Mann, er würde das nicht ableugnen, was er geschrieben hat, und man muß ihm glauben, wenn er sagt, er habe die Beleidigungen, die ihm imputiert wurden, überhaupt nicht in die Worte hineinlegen wollen. Ein fortgesetztes Delikt kann unter keinen Umständen vorliegen, selbst wenn man tatsächlich das Vorhandensein der Beleidigungen annehme wollte. Bei den ersten beiden Artikeln ist aber auch die Verjährung schon eingetreten. Der gute Glaube wird dem Angeklagten nicht bestritten werden können. Der erste Grund zu seinem Vorgehen war die Äußerung Bismarcks. Dieser Äußerung durfte Harden glauben, denn Bismarck überlegte immer sorgfältig, was er sagte. Auch Frau v. Elbe mußte Herrn Harden durchaus glaubwürdig erscheinen, ihr haben doch auch so viele andere Ärzte und Laien geglaubt. Sie hat mehrfach Angaben dahin gemacht, daß zwischen Fürst Eulenburg und Graf Moltke nicht bloß eine innige Freundschaft besteht, sondern daß auch Perversitäten vorgekommen seien. Der Schutz des Paragraphen 193 muß dem Angeklagten zugebilligt werden. Er wollte die berechtigten Interessen des Staates vertreten. Im 15. Bande der Reichsgerichtsentscheidungen, S. 19, ist ausdrücklich angeführt, daß Paragraph 193 auch dort in Anwendung kommen muß, wo die öffentliche Besprechung als der einzig geeignete Weg erschien, Mißstände zu kennzeichnen. Der Presse muß es anheimgegeben werden, in dieser Richtung vorzugehen, denn die Presse muß als Stimme der Allgemeinheit dafür sorgen, daß das Staatswohl in jeder Beziehung gewahrt bleibt. Als eine Gefährdung des Staatswohls mußte es dem Angeklagten aber erscheinen, nen, wenn ihm mitgeteilt wurde, Graf Moltke habe erklärt: „Wir haben um den Kaiser einen Ring gebildet, den niemand mehr durchbrechen kann“ und er habe zu seiner Gattin gesagt: „Wenn ich erst geschieden bin, werde ich als Flügeladjutant aus der Nähe Sr. Majestät immer Bericht erstatten können.“ Der Angeklagte erblickte in der Kamarilla eine Schädigung des Staatsganzen. Sie hat gegen eine Versöhnung des Kaisers mit Bismarck gearbeitet. Drei Kanzler sind durch ihre Wirksamkeit entfernt worden, auch der alte Hohenlohe hat nur mit wutentbranntem Herzen von Eulenburg gesprochen. Wenn also in den Artikeln des Angeklagten wirklich etwas Strafbares enthalten sein sollte, dann dürfte schon auf eine Gefängnisstrafe nicht erkannt werden mit Rücksicht auf den guten Glauben und die lauteren Motive des Angeklagten. Aber ich bestreite nach wie vor, daß die Artikel etwas Strafbares enthalten, denn man kann doch in solche Worte nicht etwas hineinlegen, was der Schreiber gar nicht hineinlegen wollte. Auch der Kläger hatte eine Beleidigung ursprünglich nicht herausgelesen. Die Aufgabe des Klosterpropstes war es ja, Harden zu fragen, was eigentlich mit den Artikeln gemeint sei. Die Beleidigungen sind erst nach der allerhöchsten Entschließung herausgelesen worden. Der Reichskanzler hat es als eine höchst lobenswerte Tat bezeichnet, daß der Kronprinz die Zukunfthefte dem Kaiser vorgelegt hat. Um wieviel mehr ist demnach der Angeklagte zu loben, der im Interesse des Vaterlandes handelte. Er verdient nicht Strafe, sondern den Dank des Volkes.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Wenn man die Verteidigung hört, muß man sich wundern, daß Graf Moltke nach Kenntnisnahme der Artikel sich nicht hingesetzt hat, um dem Angeklagten herzlich zu danken. (Heiterkeit.) Das ist doch eine Interlinear-Akrobatik. Harden selbst hat zugegeben, daß er Spott und Hohn anwenden wollte, um die Herren aus der Nähe des Kaisers zu bringen. Es hat keine Gruppe bestanden, die Herrn Harden zu seinen Artikeln veranlassen konnte. Die Existenz einer solchen Gruppe besteht nur in dem Hirn des Herrn Harden. Die Gruppe ist ein Irrtum von ihm, ebenso die Beleuchtung der Homosexualität. Herr Graf Moltke ist ein gänzlich unpolitischer Mann, wie Harden selbst nicht bezweifelt. Ein Mann, der eine solche Macht besitzt, wie ein Redakteur der „Zukunft“ – mehr Macht, wie ein Kommandierender General – ist zu allergrößter Vorsicht verpflichtet, und diese hat der Angeklagte nicht geübt, denn er ist auf das Geschwätz einer hysterischen Frau reingefallen! Davon kann ihn kein Wasser reinwaschen. Der Oberstaatsanwalt bedauerte im weiteren Verlauf, daß die elende Verdächtigung gegen den Fürsten Eulenburg noch immer nicht ganz zurückgezogen werde und suchte nachzuweisen, daß Fürst Bismarck, selbst wenn er das Wort „Kinäden“ in dem schlechten Sinne gebraucht hätte, es doch schließlich nicht begründet hat und er sich doch auch getäuscht haben kann.

Justizrat Dr. Sello: Keinem Menschen sei es eingefallen, dem Angeklagten bösen Glauben vorzuwerfen. Es müsse aber behauptet werden, daß er bei seiner Informationseinziehung objektiv, unparteiisch, sachlich nicht gewesen ist.

Die Verhandlung mußte einige Tage ausgesetzt werden, da der Angeklagte Harden erkrankt war. Als am 3. Januar 1908 die Verhandlung wieder aufgenommen wurde, kam es noch zu einer längeren Auseinandersetzung zwischen dem Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel und dem Verteidiger J.-R. Bernstein über den Fürsten Eulenburg.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel führte aus: Von Herrn Harden ist hier ein hochwichtiger Zeuge, Fürst Bismarck, der längst im Grabe ruht, angeführt worden, der zu ihm selbst, zu Dr. Liman, Geh. Rat Schweninger und seinem Sohne Herbert ein gewisses Wort, auf den Fürsten Eulenburg bezüglich, gebraucht haben soll. Ich verehre den großen Altreichskanzler im Innersten meines Herzens, aber auf dieses eine Wort des Fürsten Bismarck würde ich es nicht wagen, irgend jemand etwas Schlechtes nachzusagen. Mit einem Schimpfwort kann man doch nicht einem Menschen Zeit seines Lebens einen untilgbaren Makel anheften. Das von Bismarck gebrauchte Wort „Kinäde“ soll übrigens, wie mir von durchaus sachverständiger Seite versichert worden ist, auch mit der Bedeutung „Weichling“ gebraucht werden. Selbst wenn aber Fürst Bismarck das Wort in der schlimmsten Bedeutung gebraucht hat, so folgt daraus noch nicht das mindeste für eine Verfehlung des Fürsten Eulenburg. Der Oberstaatsanwalt wiederholte dann die von ihm abgegebenen Mitteilungen über die Aktion des Freiherrn v. Berger zur Verständigung zwischen Harden und Eulenburg. In einem offenen ehrlichen Kampfe würde man dem Fürsten Eulenburg nichts anhaben können. Zu bemängeln sei auch ein Artikel in der „Zukunft“ vom 30. November, in der die bekannte Geschichte des meineidigen Ritters Lindenberg erzählt wird unter der Überschrift „Lindenberg und Liebenberg“, obwohl Fürst Eulenburg schon am 6. November den Eid im Bülowprozeß geleistet hatte. Auch die Aussage des Kriminalkommissars v. Tresckow, der erklärte, er habe nicht die Genehmigung, von Gerüchten über den Fürsten Eulenburg auszusagen, sei nicht so aufzufassen, wie es Justizrat Bernstein aufgefaßt habe.

Verteidiger Justizrat Bernstein: Ich bin dem Fürsten Eulenburg nicht feind, ich habe gegen ihn nicht das geringste Gefühl der Animosität. Hier aber ist er einfach Zeuge. Gericht, Staatsanwalt und Verteidigung sind vollkommen frei in ihrer Beweiswürdigung. Sie haben das Recht, auch einem beschworenen Zeugnis den Glauben zu versagen. Auch der Herr Oberstaatsanwalt hat von diesem Rechte Gebrauch gemacht, indem er über Frau von Heyden, welche ebenfalls ihre Aussage beeidigt hatte, gesagt hat: „Als Zeugin glaube ich ihr kein Wort.“ Auch Fürst Eulenburg muß es sich als Zeuge gefallen lassen, daß seine Aussage bezweifelt wird, daß gegen ihn Argumente vorgebracht und Gegenbeweis durch andere Zeugen geführt wird. Solche Argumente hat die Verteidigung vorgebracht, solchen Gegenbeweis durch andere Zeugen, die sie dem Gericht genannt hat, angeboten. Im gegenwärtigen Augenblick besteht die Verteidigung nicht darauf, daß diese Argumente jetzt einzeln diskutiert und diese Beweise jetzt erhoben werden, da es sich hier zunächst nicht um den Fürsten Eulenburg, sondern den Herrn Grafen Moltke handelt. Aber dem Gericht ist gesetzlich jederzeit die Erhebung jedes Beweises freigestellt. Die Verteidigung hat nichts dagegen. Damit ist wohl auch die Frage der mir angesonnenen Abbitte erledigt. Wenn ich in irgendeinem Falle mich überzeugen würde, daß ich als Verteidiger durch ungünstige Beurteilung einer Zeugenaussage mich geirrt, so würde ich, aus Gründen der Billigkeit, es offen aussprechen. Aber auch dann würde ich das Bedauern, dem allgemeinen Menschenlose des Irrtums nicht entgangen zu sein, niemals in die demütigende Form einer Abbitte kleiden. Denn damit würde ich der für die Berufsausübung notwendigen und gesetzlich gewährleisteten Prärogative der Verteidigung etwas vergeben. Ich würde damit gegen die Anwaltspflicht, welche mir die Aufrechterhaltung der Würde meines Standes gebietet, mich verfehlen. Hier kommt all dies überhaupt nicht in Frage: Die Verteidigung hat eine Zeugenaussage bezweifelt und Gegenbeweis angeboten. Das ist ihr gesetzliches Recht. Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft sogar freigesprochenen Angeklagten Abbitte geleistet, sind mir übrigens vollkommen unbekannt. (Heiterkeit.)

Nun noch ein Wort über die Person des Angeklagten, von der vor Gericht bisher in dieser Verhandlung sehr wenig die Rede war. Ich will gar nicht panegyrisch von dem Angeklagten sprechen, dem der Staatsanwalt in loyaler Weise ja schon sein persönliches Recht hat zuteil werden lassen. Ich will keine Idealfigur aus dem Angeklagten machen. Angenommen aber, der Nebenkläger hätte recht, wenn er etwas aus den Artikeln herausliest, was nach der Behauptung des Angeklagten nicht darin steht, angenommen, der Angeklagte hätte so etwas schreiben wollen, er hätte Beweise gebracht und der Beweis wäre mißglückt – was hat er dann getan? Er hätte von einer Gruppe etwas behauptet, was auf einen dieser Herren nicht zutrifft. Dann kann man sagen: in bezug auf den Nebenkläger hat sich der Angeklagte geirrt. Würde da – selbst wenn § 193 nicht zutreffen würde – eine so schwere Strafe, wie sie beantragt ist, am Platze sein bei einem Manne, der seit 1 1/2 Dezennien über alles schreibt, was das öffentliche Interesse in Anspruch nimmt und der sich nun einmal geirrt hat? Wer seit 1 1/2 Jahrzehnten im Felde steht als Kämpfer, hat auch Feinde, und der Angeklagte ist ein gefährlicher Gegner wegen seines Mutes und seiner Geschicklichkeit. Daher kommt es, daß er sehr viele erbitterte, zahlreiche und mächtige Gegner hat, die nun Harden alles aufbürden wollen, was infolge des Prozesses an Mißständen und Abscheulichkeiten enthüllt worden ist. Was hat er denn getan, daß der Sturm der öffentlichen Meinung sich so sehr gegen ihn wendet? Er hat einige Männer von Einfluß, den er für schädlich hält, bekämpft. Wenn er dabei beleidigt hat, was nach wie vor bestritten wird, so mag er wegen der Beleidigung, die er demjenigen, der geklagt hat, zugefügt, bestraft werden. Aber wer nicht geklagt hat, muß aus dieser Verhandlung herausbleiben. Es darf unter keinen Umständen durch Mitteilungen, die ein Dritter an den Oberstaatsanwalt hat ergehen lassen, das Urteil des Gerichts auch nur um ein Atom beeinflußt werden. Wenn dem Angeklagten die bona fides konzediert wird und man ihm auch lautere Motive konzediert, so muß ihm doch sicher der Schutz des § 193 zugebilligt werden. Sogar die Anklage konzediert ihm, daß er aus lauteren Motiven gehandelt hat, in dem Bestreben, seinem Vaterlande nützlich zu sein. Der Quell seiner Handlungen ist doch eine billigenswerte Gesinnung, und deshalb liegt, wenn der Angeklagte überhaupt strafbar erscheint, keinerlei Veranlassung vor, den Mann ins Gefängnis zu schicken.

Hierauf erhielt der Angeklagte Harden das Schlußwort.

Angeklagter Harden: Ich möchte zunächst ein Wort auf die tadelnden Bemerkungen und Aufforderungen des Herrn Oberstaatsanwalts an mich erwidern. Er erwähnte einen kleinen Artikel vom Ritter Lindenberg. Weder der Verfasser noch ich haben den Artikel in irgendwelchem Zusammenhang mit wirklichen oder vermeintlichen Verfehlungen des Fürsten Eulenburg gebracht. Zweitens: Was den Fürsten Eulenburg betrifft, von dem ich ja noch zu sprechen haben werde im Zusammenhang mit diesem Prozeß, so möchte ich dem Herrn Oberstaatsanwalt sagen, daß nach seinem Appell von mir aus alles geschehen wird, was zur vollen Aufklärung der Wahrheit dienen kann und daß ich in vollem Vertrauen dabei die Hilfe der Königlichen Anklagebehörde in Anspruch nehmen werde.

Ich bitte nun den hohen Gerichtshof um Entschuldigung, daß ich gestern hier nicht erscheinen konnte. Ich glaube, daß der Vorwurf des Oberstaatsanwaltes, der bei dieser Gelegenheit erhoben wurde, daß ich selbst so schroff gewesen sei, nicht begründet ist. In dem Stenogramm der Schöffengerichtsverhandlung befindet sich nirgends eine Äußerung von mir, wonach es mir gleichgültig wäre, ob Fürst Eulenburg im Gerichtssaale tot hinsinkt. Ich habe im Gegenteil in jener Verhandlung gesagt, daß es mir fernliegt, den kranken Mann zu quälen. Hoher Gerichtshof! Ich bin in diese Verhandlung als Invalide eingetreten, ich habe mich auf das Allernotwendigste beschränken müssen, und eigentlich ohne jede Aktivität habe ich teilgenommen. Deshalb muß ich leider, so schwer es mir wird, körperlich, und so sehr ich empfinde, daß die Herren nach den vielen Tagen wie Fafnir das Ende herbeisehnen, doch Ihre Geduld noch ein kleines Weilchen in Anspruch nehmen und Sie bitten, noch einmal, von aller Suggestion losgelöst, mich anzuhören und mich sagen zu lassen, was mir unerklärlich erscheint. Die Tatsachenreihe, die jetzt mit dem Namen „Elbe“ etikettiert ist, hat hier einen so großen Rahmen eingenommen, daß ich davon zunächst sprechen möchte. Ich hatte im Hause des Fürsten Bismarck Eindrücke empfangen über den Eulenburgschen Kreis und insbesondere über die Person des Fürsten Eulenburg, die nicht nur ein Wort hervorgerufen hatte, nicht ein mißverstandenes Wort, sondern die auf ganz ruhigen, sachlichen, sehr häufig wiederholten Äußerungen beruhen. Der Kanzler hatte eine ungünstige Meinung über den damaligen Grafen Eulenburg. Er sah in ihm nicht etwa einen Bösewicht, schlechten Patrioten oder ähnliches, er hielt ihn an einer gewissen Stelle für gefährlich und wies häufig darauf hin, daß ein Teil dieser Gefährlichkeit auf sexualpsychischen Momenten beruhe. Wie deutlich er sich in dieser Hinsicht ausgedrückt hat, ist leider erwähnt worden, ist auch beschworen. Ich möchte in dieser Beziehung nicht mehr sagen als unerläßlich ist. Mir waren die Worte des Fürsten Bismarck bekannt, mir war auch bekannt, daß ein Mann wie er, ehe er ein so hartes Urteil in dieser Beziehung fällte, doch am Ende geprüft hat, was vorliegt. Einige Jahre später nahm sein Arzt und dessen Gattin, die Nichte des Grafen Moltke, mein Interesse für die damalige Gattin des Nebenklägers in Anspruch. Der Eindruck, den die Dame machte, war wirklich ein absolut zuverlässiger. Sie zeigte keinerlei Exzentrizität im Wesen. Sie sprach durchaus nicht gehässig von ihrem früheren Gatten, wenn sie auch manches sagte, was mich in einzelnen Punkten mißtrauisch machte. Zwei so wirklich gesunde Leute wie die Schweningerschen Eheleute sahen nicht den geringsten Grund zu einem Mißtrauen trauen gegen diese Frau, und auch ihre Rechtsvertreter hielten sie für durchaus glaubwürdig. Ich habe dann eingehend die Ehescheidungsakten geprüft und mir mein Urteil gebildet. Fünf Jahre lang habe ich diese Sachen wie andere Erlebnisse bei mir gehabt, es war gar kein Grund vorhanden, mich irgendwie mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Ich habe ja auch von der Ehe gar nichts geschrieben. Harden erörterte hierauf eingehend die einzelnen Artikel, um zu zeigen, daß die darin gesuchten Beleidigungen nicht ausgesprochen seien. Er wendete sich u.a. dagegen, daß nur er es gewesen sei, der von einer Kamarilla gesprochen habe. Ich habe im Gegenteil, so etwa fuhr Harden fort, nie etwas von einer Kamarilla in die Welt gebracht. Dutzende von anderen Zeitungen haben lange Zeit vorher schon etwas von einer Eulenburg-Kamarilla veröffentlicht. Ob eine Kamarilla bestand oder nicht, wird schwer nachzuweisen sein, denn solange es Höfe gibt, wird sich niemand bereit finden, zu beeiden, daß es eine Kamarilla gibt. Das Wesen einer solchen besteht ja gerade darin, daß sie unsichtbar ist. Eine Kamarilla wird natürlich nicht im Telephonbuch zu finden sein. Ebenso wie meine politischen Gegner mitunter Tatsachen veröffentlichen, deren Richtigkeit sie vor Gericht nicht beweisen können, so ist es auch in diesem Falle sehr schwer, in derartigen Dingen einen vollgültigen Beweis zu erbringen. Wenn z.B. jemand schreibt, ein Minister ist aus diesem oder jenem Grunde gegangen, und er soll dies vor Gericht beweisen, so wird es heißen, er ist aus Gesundheitsrücksichten gegangen.

Der von mir in dem bekannten „Nachtgespräch“ gebrauchte Ausdruck „der Süße,“ kann zwar für den so Genannten ein gewisses unangenehmes Gefühl verursachen, niemals aber beleidigen. Wenn man sich die moderne satirische Literatur ansieht, so wird man noch ganz andere, viel schärfere Ausdrücke finden, ohne daß mit diesen belegte Personen sich beleidigt fühlen können. Der Angeklagte wendete sich ferner dagegen, daß von seiten des Fürsten Eulenburg und des Grafen Moltke in der Verhandlung behauptet worden sei, es hätte sich bei den vielfachen Unterredungen zwischen dem Fürsten Eulenburg und dem französischen Herrn Lecomte niemals um politische Dinge gedreht. Es sei dies genau so, als wenn er selbst sagen würde, er habe in den letzten vierzehn Tagen nicht mit den Justizräten Bernstein und Kleinholz über den Prozeß gesprochen. Er habe lediglich in diesem Zusammentreffen zwischen Eulenburg und Lecomte eine Gefahr gesehen, und wenn er das sage, so spreche er nicht von seiner eigenen kleinen Person, das hätten ihm auch andere Leute gesagt, die heute noch an verantwortungsreicher Stelle stehen. Dies müsse er heute aussprechen.

Die Verbindung des Wortes „warm“ mit „Gunst“, so führte der Angeklagte weiter aus, ist leider eine stilistische Schwäche von mir. Ich habe zu verschiedensten Zeiten und in verschiedenen Artikeln von „warmen Eckchen“ und dergleichen gesprochen, und kein Mensch hat daran gedacht, diesem Worte einen, schmutzigen Beigeschmack zu geben.

Diese Artikel also und diese Sätze haben das alles hervorgerufen, was nun geschehen ist! Niemand hatte in der ganzen Zeit gesagt: Hier wird dem Grafen Moltke Schmutzerei vorgeworfen. Die Sachen sind überhaupt gar nicht verstanden worden, oder sie wurden nicht beachtet. Die Möglichkeit, irgend etwas darin zu finden, war ganz ausgeschlossen. Der einzige, der sich über das, was ich meinte, offen ausgesprochen hat, war ich. Es ist für mich gar keine Frage, daß ich keine Absicht der Beleidigung, nicht einmal das Bewußtsein der Beleidigung hatte. Ich habe gestattet, daß Freiherr v. Berger den Herren gesagt hat, welche Anschauung ich über die Herren habe. Freiherr v. Berger hat hier unter seinem Eide gesagt, daß ich nur gewisse Normwidrigkeiten des Empfindens gemeint habe. Im Buch des Sanitätsrats Dr. Moll über „Konträres Sexualempfinden“ sind die verschiedenen Zwischenstufen bezeichnet, die auf diesem Gebiete in Frage kommen. Man soll doch also mir nicht immer unterschieben, daß ich etwas gesagt haben soll, was nicht in den Artikeln steht. Ich habe nur den Standpunkt eingenommen, daß mir die Herren aus psychologischen und politischen Gründen in ihrer Stellung nicht vertrauenerweckend waren. Wenn der Stärkere von ihnen seine Hand aus dem Spiele ließe, wäre mir das andere gleichgültig, denn ich habe gegen den Grafen Moltke nie etwas gesagt; wir haben im Gegenteil eine ganze Reihe gemeinschaftlicher Freunde und Freundinnen – v. Berger, v. Keßler, Lilli Lehmann, Graf Voß u.a. Ich habe niemals öffentlich ein Wort gesagt, was die Ehre des Grafen Moltke affizieren könnte. Graf Moltke muß doch selbst lange Zeit dieses Gefühl gehabt haben, denn es dauerte sehr lange, ehe er den Klosterpropst Otto v. Moltke zu mir schickte. Dieser kam nicht als Kartellträger, sondern er behielt sich die Möglichkeit vor, als Kartellträger demnächst einzugreifen.

Über die Unterhaltung, die ich mit dem Herrn Klosterpropst gehabt habe, ist nicht ein Wort fixiert worden. Der Herr Klosterpropst trat dann aber plötzlich mit einem Schriftstück hervor, welches er Protokoll nennt. Ich will ihm keineswegs die bona fides absprechen, ich kann doch aber wohl behaupten, daß ihn sein Erinnerungsvermögen im Stich gelassen hat. Wenn jemand, der zu mir in mein Haus kommt, in diesem meinem Hause solche Sätze gesprochen hätte, wie sie jenes Protokoll enthält, so wäre doch gewiß ohne weiteres das Gespräch mit diesem Besucher sofort beendet gewesen. Jeder weiß, wie schwer es ist, ein Gespräch, welches man in seinem eigenen Hause mit einem plötzlich eintretenden Besucher hat, in seinen feinsten Nuancen nach langer Zeit wiederzugeben, so daß man es beschwören kann. Ich glaube nicht, daß das, was der Klosterpropst Otto v. Moltke ein Protokoll nennt, irgendeine Grundlage für diese Verhandlung bieten kann. Wenn Herr Klosterpropst v. Moltke ein Protokoll hätte feststellen wollen, so hätte er mir sagen müssen: „Wir wollen jetzt den Inhalt unseres Gespräches fixieren;" jetzt ist dies Protokoll doch zu einseitig, um gegen mich verwertet werden zu können.

In meinen Artikeln war eine Silhouette des Grafen v. Moltke entworfen, die nicht zu gefallen brauchte, die nicht Hochachtung ausdrücken sollte, aber auch nicht Mißachtung ausdrücken konnte nach meiner Überzeugung, eine Silhouette, die für mein Bewußtsein nichts Beleidigendes hatte und hat. Graf Moltke war darin mit ganz kleinen Strichen so charakterisiert, wie ihn sehr nahe Verwandte – ich könnte mich auch auf einen Neffen des Grafen berufen – geschildert haben. Die Dominante darin, ist das, was ich offen, aber ohne bitteren Beiklang die Hingebung an den Fürsten Eulenburg nennen muß. Irgend etwas Weitergehendes hat meines Wissens niemand in den Artikeln keln gefunden, insbesondere nicht Frhr. v. Berger, insbesondere nicht Graf Reventlow. Beide Herren haben’s beschworen. Da kam das Ereignis des kaiserlichen Eingriffs.

Niemand ist legitimiert, hier darüber zu sprechen, als Graf Moltke selbst. Er hat ja einiges darüber gesagt. Ich glaube nur, daß vielleicht die begreifliche tiefe Mißstimmung gegen mich, der Groll, den die Umstände rechtfertigen, daß dieses Gefühl die Darstellung ein klein wenig beeinflußt hat. Denn wenn Graf Moltke meint, ich sei schuld daran, daß er aus dem Amte geschieden ist, so ist er vielleicht nicht ganz gerecht, vielleicht auch in seiner Erinnerung nicht ganz zuverlässig. Ich glaube, daß er über ganz andere Instanzen zu klagen hätte in dieser Angelegenheit, als über mich. Ich will nicht wiederholen, was Herr Justizrat Bernstein schon darüber gesagt hat, daß nicht anzunehmen sei, der Deutsche Kaiser richte sich bei seinen Beschlüssen danach, was in der „Zukunft“ gestanden hat. Das Wort: „Alles hängt davon ab, wie dem Kaiser die Sache dargestellt wird“ hat ja seine Berechtigung. Damals hieß es aber, es seien langwierige Vorträge gehalten worden, und dann sei die Verabschiedung der Herren verfügt worden. Jetzt seit kurzer Zeit geht eine andere Version um, jetzt heißt es: ja, den Herren ist gar keine Ungnade widerfahren, sondern man hat ihnen nur Gelegenheit gegeben, sich zu reinigen, und sie werden wiederkehren in dem alten oder noch höherem Glanz. Das könnte mich, was die Person des Grafen Moltke betrifft, nur freuen. Aber ich halte diese Version doch für unwahrscheinlich, ich kann mich überhaupt nicht des Falles erinnern, daß Persönlichkeiten in hoher Stellung bei uns, weil etwas über sie geschrieben ist, was man für unwahr hält, sich aus dieser Stellung entfernen. Es ließen sich viele Beispiele für die Richtigkeit meiner Auffassung anführen. Wenn die letzte Version zuträfe, dann kann ich mir nicht denken, daß der Vertreter der Anklagebehörde den Strafantrag abgelehnt und die Herren auf den Weg der Privatklage verwiesen hätte. Ich glaube, daß man es in verschiedenen Redaktionen damals anders angesehen hat. Wenn das ganz Unwahrscheinliche Ereignis geworden wäre, daß man in Preußen auf ein paar Zeilen hin aus einer Zeitschrift, die sich nicht gerade der Gunst des Thrones erfreut, einen General à la suite aus seiner Stellung entfernt hätte, so wäre das ein völlig unvorhergesehenes Ereignis gewesen, das mich recht schmerzen müßte und schmerzen würde. Aber ich glaube nicht, daß es so war, ich glaube, daß dazwischen einige Persönlichkeiten stehen, deren unfreundliche Gesinnung schädlicher gewirkt hat als das, was Harden gesagt hat. Ich wäre in der Lage, wenn ich nicht als Angeklagter hier stände, die rechte Hand zu erheben und zu sagen: jemand hat gesagt: „Man hat mich ja gar nicht gehört!“ Ich bitte, mich nicht mit Dingen zu belasten, für die ich nicht verantwortlich bin, und ich bitte, in keinem Schmerz und Groll auch nur um eine Nuance anders zu empfinden, als man zu empfinden hat.

Herr Justizrat Sello hat sich geirrt, wenn er meinte, die Mitteilung von dem Ehrenwort des Grafen Moltke sei mir ein Novum gewesen. Ich kannte dieses Ehrenwort, aber es berührt gar nicht das, was ich behauptet habe. Ich war sehr erstaunt darüber, daß dieses Ehrenwort einen so begrenzten Umfang hatte, das ist das Unglückseligste an dieser ganzen Affäre. Es verhielt sich damit ähnlich wie mit der Zeugenaussage des Fürsten Eulenburg, der nur bekundete, er habe nie gegen den bekannten Paragraphen verstoßen, während doch noch ganz andere Möglichkeiten vorlagen. Leid getan hat mir, daß mir damals niemand, auch Frhr. v. Berger und viele andere Freunde, Bekannte und Verwandte nicht, gesagt hat: Das alles ist ein Irrtum, die hängen ja gar nicht so eng zusammen. Mir ist nur immer gesagt worden: Ja, es ist so. Hätte man mir damals das gesagt, was jetzt unter Eid gesagt worden ist, dann wäre vieles anders. Dann kam noch ein anderer Faktor hinzu: die Tagespresse. Die Tatsache, daß ich eine Herausforderung erhalten und abgelehnt hatte, wurde in die Zeitungen gebracht, und daraus wurden Rückschlüsse gezogen auf das, was geschehen hen sein sollte. Entweder hatten die Herren überhaupt nicht gelesen, was ich geschrieben habe, sie erinnerten sich nicht daran, oder sie wollten zeigen, daß sie alles schon vorher gewußt haben; kurz: es erschien eine große Zahl von Artikeln, in denen alles mögliche dem Fürsten Eulenburg, dem Grafen Hohenau usw. vorgeworfen wurde, zum Teil in recht beleidigender Form. Am 6. Januar war noch alles wahr. Dann bildete sich ein Nebelschleier um alles das, was ich in dem halben Jahr geschrieben hatte. Da trat ich auf und sagte: Das ist ja gar nicht wahr, das habe ich ja gar nicht behauptet. Nun hieß es überall: Harden kneift. Ich hatte in einigen umfangreichen Artikeln ganz kurze kleine Warnungssignale erlassen und dabei einige Herren sekundenlang beleuchtet. Es ist nicht nachweisbar, daß durch diese kleinen Bemerkungen große Sensation erregt werden konnte. Wenn wirklich verfügt worden ist: Reinigt euch! so hat sich bisher doch nur einer gereinigt: Graf Moltke. Der eine Graf, der jetzt vor dem Kriegsgericht steht, ging ins Ausland, Lecomte wurde abberufen, Eulenburg machte den mißglückten Versuch, mich in derselben Sache, wo ich angeklagt war, als Zeuge vernehmen zu lassen, und nur Moltke klagte. Da mußte ja der Glaube entstehen, nur Moltke kann klagen. Ein Irrglaube! Als die Verhandlung kam, habe ich den Fehler gemacht – zum ersten- und letztenmal – mich durch die Presse in meiner Haltung beeinflussen zu lassen. Ich sagte mir: Jetzt will ich nichts tun, was als Schwäche gedeutet werden könnte. Dadurch kam in Verbindung mit der häßlichen Protokollangelegenheit des Klosterpropstes das pathetische Wort zustande: Lieber ins Zuchthaus, als vergleichen! Ich bedaure die glänzenden Stilisten, die auf diesem Wort, das in der Hitze der Verhandlung fiel, herumreiten und nun darauf verweisen, daß doch Vergleichsverhandlungen schwebten. Ja, diese Verhandlungen haben geschwebt, ich war nicht aktiv daran beteiligt, aber ich wäre bereit zu einem Vergleich gewesen. Wer will mir daraus einen Vorwurf machen? Die ganze Verhandlung will ich nicht rechtfertigen, soweit sie mich betrifft, obgleich ich (zu Bernstein gewendet) ja immerhin nicht der Schlimmste war. (Heiterkeit.) Ich sagte auch dort: Zwingen Sie mir nicht Beweise auf, die ich nicht führen will. Das Gericht hat mich zu den Beweisen gezwungen, für die sich mein Verteidiger gerüstet hatte. Ich habe an dem Ergebnis des Prozesses keine rechte Freude gehabt, weil ich wußte, die Sache wird noch fürchterliche Folgen haben, und weil nach meiner Meinung auch dem Grafen Moltke viel zu viel geschehen war. Man ist doch schließlich im Schöffengericht zu einem freisprechenden Urteil gekommen, man hat doch auch dort die Frau v. Elbe für glaubwürdig gehalten. Und ein Jurist hat doch zum mindesten auch im damaligen Gericht gesessen. Muß ich nun die Sachen anders gesehen haben? Nach dem Prozeß habe ich nur einen Wunsch gehabt: die völlige Entgiftung der Sache.

Ich habe in diesem Verfahren von Anfang an die äußerste Resignation bewiesen, ich habe in jedem Stadium der Sache ausschließlich nach politischen Motiven gehandelt. Ich habe es für notwendig gehalten, in jedem Stadium den Haß auf mich zu nehmen, habe mich nicht in Eitelkeiten gewiegt oder gesagt, man werde mir Kränze flechten – und so ist es denn gekommen, daß in der ganzen Sache nur auf mich geschimpft worden ist. Es ist doch beispiellos, daß man während eines schwebenden Prozesses in öffentlichen Organen versucht, aus tausend Schlünden den Gerichtshof noch immer wilder zu machen und Artikel zu schreiben gegen meine Person, die dem Richter nahelegen, daß dieses Scheusal doch in die Wolfsschlucht geworfen werden müsse. Das ist eine Schmach für den ganzen Beruf! Wenn die Dezernenten des Polizeikommissariats bemerken: Über den Vertreter einer fremden Großmacht ist uns verboten, irgend etwas auszusagen, und wenn sie von den beiden anderen sagen: Ich kenne die beiden Herren; von dem einen kann ich alles aussagen, über den anderen kann ich mich nur über positive Tatsachen im Sinne des § 175 verneinend äußern, so gibt das doch zu denken. Wenn man bedenkt, um wen es sich handelt, so kann ich doch nicht sagen, daß Erfindung und Leichtfertigkeit vorliegt, und zwar um so weniger, wenn ich nach Potsdam hinübersehe, wo doch einige Dinge an das Tageslicht gekommen sind und Verfügungen gezeitigt haben, welche beweisen, daß ich doch auch einiges Nützliche bewirkt habe.

Was das Ausland anbetrifft, so hat es anfänglich überwiegend gesagt: In Deutschland sind es doch famose Kerle; wie das doch gleich funktioniert und angefaßt wird. Später allerdings begann die öffentliche Meinung alles zuzudecken, und Harden allein sollte und mußte daran glauben.

Ich könnte das Schreiben eines Diplomaten vorlegen, der von seinem hiesigen Botschafterposten jetzt in sein Vaterland zurückgekehrt ist. In diesem Schreiben heißt es: „Alle leitenden Männer dieses Landes sind einig darin, daß Sie etwas Ausgezeichnetes getan, und man bewundert, wie in Deutschland alles ausgezeichnet funktioniert.“ Auch bei uns haben mir recht viel, recht mächtige Männer mit recht gutem Namen gesagt: Es war doch eine recht anständige und mutige Sache. Ich habe sie jedenfalls als solche gefühlt.

Was konnte mir die Aktion nützen? Nicht den geringsten Vorteil hatte ich von ihr. Wenn ich heute zurückblicke, so muß ich sagen: So tief bedauerlich es mir persönlich ist, daß ein Mann, den ich aus den Schilderungen anderer Leute gekannt habe und der mir als ein ganz charmanter und liebenswürdiger Herr geschildert ist, sehr viel gelitten hat, so muß ich sagen, es ist das nicht meine Schuld. Menschenwerk ist immer Stückwerk! Wo ist der Meister, der da nicht einen Fehler macht? Fürst Bismarck hat einmal gesagt, daß bei allen Fehlern, die man ihm vorwirft, er doch immer das Bestreben gehabt hat, seinem Lande zu dienen. Ähnliches kann ich, in die viel kleineren Verhältnisse übertragen, auch von mir behaupten. Nun soll ich dafür eingesperrt werden, und ich soll eine ganz ungeheure Geldstrafe, nämlich die hohen Prozeßkosten, auch der ersten Instanz tragen? Wenn ich mich prüfe in meinem Bewußtsein, so muß ich sagen, ich habe es nicht verdient! Aber ich appelliere nicht an Ihre Milde. Wenn Sie glauben, daß es notwendig ist und es dem Lande nutzt – dem Grafen Moltke wird es nicht nutzen – dann verurteilen Sie mich! Ich bitte um Ihren Spruch!

Nach 2 3/4 stündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Lehmann, folgendes Urteil:

1. Der Angeklagte wird wegen Beleidigung im Sinne des § 186, in Tateinheit mit § 185 StGB. zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

2. Alte Exemplare der Zukunft, die die Inkriminierten Artikel enthalten, werden eingezogen, und die Platten und Formen sind zu vernichten.

3. Die Kosten des Verfahrens, mit Einschluß der dem Nebenkläger erwachsenen notwendigen Auslagen, werden dem Angeklagten auferlegt.

4. Dem Nebenkläger Generalleutnant Grafen Kuno v. Moltke wird die Befugnis zugesprochen, den Urteilstenor 6 Wochen nach Ausfertigung des Urteils in der „Zukunft“ auf der ersten Textseite, ferner in der „Vossischen Zeitung“, dem „Berliner Tageblatt“, der „Kreuzzeitung“, dem „Hannoverschen Kurier“ und der „Kölnischen Zeitung“ auf Kosten des Angeklagten öffentlich bekanntzumachen.

In prozessualer Beziehung wendet der Angeklagte ein, daß das Privatklageverfahren auch nach Übernahme der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft weiter seinen Gang hätte gehen müssen. Es sei unzulässig gewesen, daß das Privatklageverfahren unter Aufhebung des ersten Urteils eingestellt und auf Grund einer neuen Anklage das jetzige Verfahren erfolgt sei. Nun stellt sich aber das gegenwärtige Verfahren, wenn es auch durch den auf Intervention der Staatsanwaltschaft im Privatklageverfahren ergangenen Einstellungsbeschluß veranlaßt worden ist, als ein neues Verfahren dar, welches auf einem selbständigen Eröffnungsbeschluß beruht und durch keine andere prozessuale Voraussetzung als diejenige des Strafantrages des Beleidigten bedingt war. In diesem Verfahren ist für die Entscheidung der innerhalb dieses Bereichs liegenden Frage, ob der Einstellungsbeschluß mit Recht oder Unrecht ergangen ist, kein Raum. Selbst wenn er zu Unrecht erfolgt wäre, fehlt doch dem zur Entscheidung des gegenwärtigen Verfahrens berufenen Gericht jede prozessuale Möglichkeit, in das Gebiet des Privatklageverfahrens zurückzugreifen und den Beschluß in Wegfall zu bringen. Deshalb hat das Gericht den gegenwärtigen Eröffnungsbeschluß ohne Rücksicht auf die Vorgänge im Privatklageverfahren zu erledigen.

In materieller Hinsicht weist der Angeklagte den Vorwurf der Anklage zurück, daß er in den inkriminierten Artikeln den Grafen Moltke als homosexuell hingestellt habe. Er will lediglich darauf hingewiesen haben, daß zwischen dem Fürsten Eulenburg und seinen Freunden, zu denen auch Graf Moltke gehörte, eine normwidrige, wenn auch ideelle Männerfreundschaft bestehe, und daß diese dem Kaiser nahestehenden Personen wegen ihres süßlichen, weibischen Wesens einen unheilvollen Einfluß ausgeübt haben. Als politischer Schriftsteller habe er sich verpflichtet gehalten, diesen Einfluß zu brechen. Infolgedessen habe er, wie er selbst in einem Artikel zugibt, die Angehörigen des Freundeskreises gehöhnt und verspottet und auf das Normwidrige einzelner zum Liebenberger Kreise gehörigen Personen hingewiesen. Die Verhandlung handlung hat aber ergeben, daß er mehr getan hat, er hat den Grafen Moltke und den Fürsten Eulenburg als homosexuell hingestellt. Der erste Angriff gegen ihn ist in dem „Zukunft“- Artikel zu finden, in dem von „zwei Ästheten mit verschiedener Sinnesrichtung“ die Rede ist. Durch die starke Betonung des Gegensatzes wird zum Ausdruck gebracht, daß das Schöne und Genußreiche, was der Prinz beim weiblichen Geschlecht findet, der Graf in entgegengesetzter Richtung, also beim männlichen Geschlecht, findet. So ist die Stelle sofort vom Frhrn. v. Berger gelesen und verstanden worden und auch vom Angeklagten gemeint gewesen, denn er leitete aus der sexuellen Normwidrigkeit die politische Schädlichkeit ab; wie er dem Grafen Reventlow gegenüber selbst erklärt hat, als er sagte, daß er aus diesem Grunde das sexuelle Moment hineinziehen mußte. Auch bei den übrigen inkriminierten Artikeln ist der Gerichtshof der Auslegung des Oberstaatsanwalts gefolgt und hat die Einwendungen des Angeklagten nicht für stichhaltig angesehen. Der Angeklagte hat nach der Ansicht des Gerichts den Grafen Moltke als einen an Perversion des Geschlechtstriebes leidenden Mann hingestellt. Nicht anders sind die Artikel in der Öffentlichkeit aufgefaßt worden, sie sind vielfach sogar dahin aufgefaßt worden, daß er den Mitgliedern des Kreises strafbare Bekundungen des homosexuellen Triebes nachsagen wollte. Der Angeklagte hat auch dem Freiherrn v. Berger und dem Klosterpropst Otto v. Moltke zugestanden, daß er den Nebenkläger für homosexuell halte und auf seine normwidrige Veranlagung hingedeutet habe, um dessen politischen Einfluß zu brechen. Ähnliches habe er dem Grafen Reventlow gesagt. Der Angeklagte meint nun, es stehe nichts von homosexueller Betätigung in den Artikeln, er mußte sich aber klar darüber sein, daß ein Homosexueller ein solcher Mensch sei, der sich homosexuell betätigt, daß dies also mit aktiver Homosexualität identisch ist. Deshalb hat der Angeklagte einen Erfolg der Artikel nach dieser Richtung hin unzweifelhaft in seinen Willen aufgenommen und ist strafrechtlich dafür verantwortlich zu machen. Es sind dies Tatsachen, die geeignet sind, den Nebenkläger verächtlich zu machen und ihn in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Schon durch den bloßen Vorwurf homosexueller Neigung wird nach der Auffassung aller normaldenkenden Volkskreise der davon Betroffene in seinem moralischen Wert herabgesetzt; geradezu verächtlich aber wird er, wenn er diese Neigung betätigt. Der Makel wird um so größer, wenn es sich um einen Mann handelt, der vermöge seiner hervorragenden Stellung dienstlich und moralisch vorbildlich wirken soll. Die mündliche Verhandlung hat nun ergeben, daß der gegen den Grafen Moltke erhobene Vorwurf nicht nur nicht erweislich wahr, sondern direkt unwahr ist. Graf Moltke hat eidlich bekundet, daß er nicht in unsittlicher Neigung zu Männern hingezogen wird und nicht normwidrige Gelüste an sich gespürt, geschweige denn betätigt hat. Die Beweisaufnahme hat auch nicht den geringsten Anlaß gegeben, an der Richtigkeit dieser Erklärung zu zweifeln. Graf Eulenburg hat ebenfalls eidlich bekundet, daß zwischen ihm und dem Grafen Moltke lediglich ein rein ideelles Freundschaftsverhältnis besteht, welches, in jungen Jahren in jugendlicher Schwärmerei geschlossen, durch gemeinsame künstlerische Bestrebungen sich immer mehr gestaltet und bis ins Aller den idealistischen Zug beibehalten hat. Von Erotik ist dabei keine Spur. Auch Frau v. Elbe hat eidlich bekundet, daß sie den Grafen Moltke nicht für homosexuell hält, daß sie auch keine Momente dafür anführen kann, die auf Erotik, namentlich gegenüber dem Fürsten Eulenburg, schließen lassen. Ebensowenig kann aus dem Eheleben des Nebenklägers irgendein Anhalt für homosexuelle Veranlagung entnommen werden. Aus Äußerungen, die vom Grafen Moltke zu seiner Gattin im engsten Familienkreise gemacht sind und Ausbrüche schlechter Stimmung und Gereiztheit darstellen, ist auf homosexuelle Veranlagung gar nicht zu schließen. Von einer solchen ist also bei dem Grafen Moltke gar keine Rede. Der Angeklagte hat ihn vollständig zu Unrecht bezichtigt. Graf Moltke steht sittenrein da, kein Makel haftet ihm an und blank und fleckenlos steht sein Ehrenschild da. Harden, der diese Ehre durch üble Nachrede verunglimpft hat, ist nach § 186 zur Rechenschaft zu ziehen. Er hat sich aber auch nach § 185 schuldig gemacht. Zunächst dadurch, daß er den Nebenkläger als „Süßen“ bezeichnet hat, ferner dadurch, daß er mit Bezug auf die Liebenberger Tafelrunde sagte, „sie haben’s schon warm genug.“ Dadurch hat er auf die Homosexualität der Mitglieder der Tafelrunde hingewiesen und einen Anklang an eine landläufige Bezeichnung geliefert. Die Beleidigungen sind auch nicht verjährt, denn es handelt sich um ein einheitliches fortgesetztes Delikt; die beleidigenden Äußerungen beruhen auf einem einheitlichen Vorsatz und sind als eine Tat anzusehen, die erst in dem letzten Angriffsartikel ihren Abschluß erlangte. Der Strafantrag ist hiernach rechtzeitig gestellt. Der Angeklagte kann auch nicht den Schutz des § 195 in Anspruch nehmen, denn auch als politischer Schriftsteller hat er nicht das Recht, politische Interessen unter Verletzung der Ehre anderer zur Geltung zu bringen. Was die Strafzumessung betrifft, so konnte von einer Geldstrafe bei der außerordentlichen Schwere der Beleidigung nicht die Rede sein; sie war nur durch eine Gefängnisstrafe zu sühnen. Daß der Angeklagte als politischer Schriftsteller seine politischen Gegner so scharf wie möglich bekämpft, ist sein Recht, aber dreimal hätte er es sich überlegen sollen, ehe er die vita sexualis bestimmter Personen in die Öffentlichkeit zerrte. Der Verdacht kann nicht zurückgewiesen werden, daß auch eine Sensationslust mit im Spiele war. Gerade die von ihm gewählte Form seiner Artikel deutete darauf hin. Die schärfste Rüge verdient es aber, wenn mit einer Leichtfertigkeit, wie in diesem Falle, vorgegangen wird. So wie im vorliegenden Falle darf kein ernster politischer Schriftsteller handeln. Er muß sich bewußt sein, daß er damit Unheil anstiftet, welches nie wieder gutzumachen ist. Die Grundlage seiner Beschwerden und Beschuldigungen sind einige Bemerkungen des Fürsten Bismarck über die Hintermänner der Kinäden, ferner Gerüchte, die wahrscheinlich auf diese Äußerungen zurückzuführen sind, und Mitteilungen der Frau v. Elbe. Die Äußerungen des Fürsten Bismarck sind wahrscheinlich im Zorne gefallen, aus ihnen konnte und durfte der Angeklagte nichts auf Homosexualität des Fürsten Eulenburg und seiner Freunde Hinweisendes entnehmen. Ganz besonders unvorsichtig war es, einer Frau Glauben zu schenken, die einen erbitterten Ehescheidungskampf geführt hat und bei der es doch nahelag, daß sie die Dinge subjektiv gefärbt ansah –, mag auch die Person der Dame dem Angeklagten und anderen Personen einen glaubhaften Eindruck gemacht macht haben. Ihm war aus den Ehescheidungsakten bekannt, daß die Dame von Dr. Frey als hysterisch bezeichnet war und an schwerer Trionalvergiftung gelitten hatte. Es wäre doch wahrlich wohl geboten gewesen, ehe er einen Mann in so exponierter Stellung wie den Graf Kuno v. Moltke mit soviel Schimpf und Schande öffentlich bewarf, nicht seiner eigenen Diagnose zu trauen, die trotz seines reichen Wissens doch immer nur die eines Laien war, sondern einen der ihm zur Verfügung stehenden großen fachmännischen Spezialisten zu Rate zu ziehen. Wenn der Gerichtshof trotz all dieser erschwerenden Momente dem so maßvollen Antrage der Staatsanwaltschaft lediglich beigetreten ist, so ist das in Rücksicht darauf geschehen, daß die Gefängnisstrafe den Angeklagten bei seiner geschwächten Gesundheit härter trifft als einen andern gesunden Menschen. Danach rechtfertigt sich die Entscheidung des Gerichts.

Gegen dieses Urteil legte Harden Revision ein. Inzwischen beschworen Milchhändler Riedel (München) und Fischer Jakob Ernst (Starnberg) in einem von Harden angestrengten Beleidigungsprozeß gegen den Redakteur eines Münchener Blattes, daß sie vor vielen Jahren mit dem Fürsten Eulenburg, als dieser preußischer Gesandter in München war, Dinge getrieben haben, die im Sinne des § 175 des StGB. strafbar seien. Aus Anlaß dieser im April 1908 vor dem Münchener chener Schöffengericht eidlich erhärteten Bekundungen wurde gegen den Fürsten Eulenburg das Strafverfahren wegen wissentlichen Meineids und versuchter Verleitung zum Meineid eröffnet und auch die Verhaftung des Fürsten beschlossen. Letztere stieß allerdings wegen des Krankheitszustandes des Fürsten auf große Schwierigkeiten. Der Fürst mußte sofort nach seiner Verhaftung in der Königl. Charité in Berlin untergebracht werden. Am 27. Juni 1908 begann die Verhandlung gegen den Fürsten Philipp Eulenburg vor dem Schwurgericht des Landgerichts I wegen wissentlichen Meineids und versuchter Verleitung zum Meineid. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Kanzow. Die Anklage vertraten Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel und Staatsanwalt Raasch, die Verteidigung hatten Justizrat Max Wronker und Justizrat Ludwig Chodziesner übernommen. Der Angeklagte mußte täglich in einem Koppschen Krankenwagen, unter persönlicher Leitung des Herrn Kopp, von der Charité nach dem alten Moabiter Gerichtsgebäude gefahren und alsdann in den im ersten Stock belegenen großen Schwurgerichtssaal getragen werden. Die Verhandlung fand wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Dem Vernehmen nach wurde Fürst Eulenburg sehr belastet. Der Angeklagte bestritt mit großer Entschiedenheit, schuldig zu sein; er behauptete, die beiden Münchener Zeugen und einige andere seien von der Gegenseite beeinflußt. Nach etwa 12tägiger Verhandlung erklärten die Ärzte: Es sei unmöglich, den Angeklagten nach dem Schwurgericht zu bringen, ohne seine Gesundheit aufs ärgste zu gefährden. Es wurde deshalb dem Gericht in der Charité ein Sitzungssaal zur Verfügung gestellt und in diesem, nachdem der Angeklagte, im Bett liegend, in den Saal getragen war, die Verhandlung fortgesetzt. Nach drei Tagen erklärten aber die Ärzte: Die Verhandlung, deren Ende nicht abzusehen sei, müsse auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Durch die fortgesetzte Anstrengung und Aufregung sei für das Leben des Angeklagten das schlimmste zu befürchten. Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel beantragte daraufhin die Vertagung, fügte aber hinzu, daß er auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme den Antrag auf Schuldig stellen müßte.

Die Verteidiger schlossen sich dem Antrage auf Vertagung an. Der Angeklagte protestierte jedoch gegen den Antrag. Er stehe unter dem Druck einer furchtbaren Anklage; er fühle sich. stark genug, der Verhandlung weiter zu folgen in dem Bewußtsein seiner vollen Unschuld. Er zweifle nicht, daß es ihm gelingen werde, seine volle Unschuld nachzuweisen.

Der Gerichtshof beschloß jedoch die Vertagung auf unbestimmte Zeit. Ende September 1908 wurde die Haftentlassung des Fürsten Eulenburg gegen eine Sicherheitsleistung von 500000 Mark beschlossen. Daraufhin kehrte der Fürst nach seinem Schloß Liebenberg zurück. Im Mai 1909 erschienen im Auftrage der Staatsanwaltschaft einige Mitglieder der Medizinischen Wissenschaftlichen Deputation in Liebenberg. Diese erklärten den Fürsten nach vorgenommener Untersuchung für verhandlungsfähig. Die am 17. Juli 1908 unterbrochene Verhandlung begann daher am 7. Juli 1909 von neuem. Allein zwei Stunden nach Eröffnung erlitt der Angeklagte einen derartigen Schwächeanfall, daß die Ärzte das schlimmste befürchteten. Die Verhandlung mußte deshalb abgebrochen und wiederum auf unbestimmte Zeit vertagt werden.

Im Mai 1908 fand vor dem zweiten Strafsenat des Reichsgerichts die Revisionsverhandlung gegen Harden statt. Nach zweitägiger Verhandlung beschloß der Senat, das Urteil der vierten Strafkammer des Landgerichts Berlin I nebst allen tatsächlichen Feststellungen aufzuheben und zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausschlaggebend für diesen Beschluß des Reichsgerichts war, daß ein Zeuge, der bereits entlassen, noch einmal vorgeladen und vernommen wurde, ohne ihn nochmals zu vereidigen.

Aus Anlaß des Beschlusses des Reichsgerichts gelangte die Angelegenheit am 20. April 1909 nochmals vor der vierten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zur Verhandlung. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte wiederum Landgerichtsdirektor Lehmann. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Dr. Preuß. Für den Nebenkläger Grafen Kuno von Moltke war Justizrat Dr. Sello erschienen. Die Verteidigung führte Justizrat Bernstein (München). Sofort nach Eröffnung der Sitzung überreichte der Verteidiger dem Gerichtshof folgende Schreiben:

1. Herr Harden wiederholt die in seiner Zeitschrift, vor dem Schöffengericht und vor dem Landgericht abgegebene Erklärung, daß er in seiner Wochenschrift Seine Exzellenz den Herrn Grafen Kuno Moltke nicht der Homosexualität beschuldigt hat. Seine Exzellenz Generalleutnant z.D. Graf Moltke akzeptiert diese Erklärung. Beide Herren sind der Überzeugung, daß sich nach diesen Erklärungen, jede Beweisaufnahme erübrigt. Berlin, den 1. März 1909. Graf Kuno Moltke. Maximilian Harden. 2. In der Strafsache gegen Harden beehren sich die unterzeichneten Parteien die anliegende Erklärung in der Annahme zu überreichen, daß dadurch eine Unterlage für eine rasche und einfache Erledigung gegeben ist, gegen dessen Einstellung sie nichts einzuwenden haben. Berlin, den 22. März 1909. Graf Kuno Moltke. Maximilian Harden.

Justizrat Dr. Bernstein beantragte auf Grund dieser beiden Schreiben die Einstellung des Verfahrens.

Oberstaatsanwalt Dr. Preuß: So sympathisch mir der Vergleich an und für sich ist, so halte ich die Einstellung des Verfahrens aus prozessualen Gründen nicht für zulässig. Eine andere Frage ist ja, wieweit man auf die Vergleichsverhandlungen Rücksicht zu nehmen haben wird erstens bei der Beweisaufnahme und dann vor allen Dingen nachher bei Abmessung der Strafe; ich darf vielleicht auch hier gleich betonen, daß meiner Meinung nach von einer Beweisaufnahme vielleicht wird ganz abgesehen werden können, falls der Herr Angeklagte und der Herr Nebenkläger uns ausreichende Erklärungen noch weiterhin, über einzelne Punkte, die von Wichtigkeit sein können, abgeben.

Justizrat Dr. Sello: Ich bin der Meinung, daß die vom Herrn Kollegen Bernstein angeregte Unzuständigkeitsfrage der ernstesten Beachtung wert ist und muß seine Einwendungen unterstützen. Da kein Zweifel bestehen kann, daß bei richtiger, zutreffender Auslegung des § 417 der StPO. die Strafkammer als Erste Instanz zur Aburteilung dieser Sache nicht berufen sein kann, wäre eine Fortsetzung des Verfahrens mit dem Keim einer unheilbaren Nichtigkeit behaftet.

Nach längerem Disput zwischen dem Oberstaatsanwalt, dem Vertreter des Nebenklägers, dem Verteidiger und dem Angeklagten beschloß der Gerichtshof, den Antrag auf Einstellung des Verfahrens abzulehnen. nen.

Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde darauf beschlossen, die Öffentlichkeit während der ganzen Dauer der Verhandlung, einschließlich der Vertreter der Presse, auszuschließen.

Der Vorsitzende forderte Harden auf, sich über die inkriminierten Artikel und deren Motive zu äußern.

Harden: Graf Moltke hat erklärt, daß er in den inkriminierten Artikeln keine Beleidigung mehr findet. Er wünscht keine Beweisaufnahme. Ich bin und bleibe auch als Angeklagter ein Mann von leidlicher Lebensart und werde den Versuch machen, auf dem Boden dieser Erklärung mich zu halten. Das kann aber nur geschehen, wenn von keiner Seite der alte Streit, der geschlichtet worden ist, aufgenommen wird. Ich äußere mich also einstweilen auf die Anklage nicht und antworte auf keine Frage. Auf Ersuchen des Vorsitzenden äußerte sich der Angeklagte über die Gründe, die nach seiner Überzeugung gegen jede Beweisaufnahme sprechen, ungefähr folgendermaßen: Harden: Ich habe in den inkriminierten Artikeln einen Kreis von Menschen zunächst leise gewarnt und dann angegriffen, die höchst unheilvoll im Deutschen Reich gewirkt haben, deren Treiberei mir seit vielen Jahren bekannt und deren Haupt Philipp Eulenburg war. Ich habe sehr lange gezögert, auch die Seite der Perversität zu beleuchten. Ich bin aber endlich dazu gezwungen gen worden, auch das zu tun; denn man hat in diesen Kreis abnorm empfindender Menschen auch Vertreter des Auslandes aufgenommen; ich nenne nur den Botschaftsrat Lecomte, der in Berlin der König der... hieß. Diesen Herrn Lecomte hat man in die Nähe des Deutschen Kaisers gebracht; hat überhaupt auf allerlei Gipfel und Gipfelchen homosexuelle Menschen hingesetzt. Dadurch ist eine sehr gefährliche Situation geschaffen worden. Der Kaiser konnte nicht wissen, durch welchen Kitt diese Menschen zusammengehalten wurden. Ich mache eine Parenthese: Mir liegt nichts ferner als eine fanatische Bekämpfung der Homosexuellen. Unter anderen Lügen, die über mich verbreitet worden sind, ist auch die, ich habe eine Petition gegen den § 175 unterschrieben. Ich habe es nicht getan, habe mich geweigert, es zu tun; erstens schien mir die Sache aussichtslos und zweitens bin ich der Meinung, daß im Deutschen Reiche heute für andere Freiheit gekämpft werden muß als für die Freiheit perverser Triebe. Aber ich bin weit von dem Wahn entfernt, dieser Paragraph sei ein wirksames Heilmittel, und weit von dem Wunsch, drakonische Maßregeln gegen Homosexuelle zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch kann aber daran zweifeln, daß es gefährlich ist, ganze Gruppen solcher Menschen an irgendeiner Stelle zu versammeln; mag es nun in einem Polizei oder Landgerichtspräsidium geschehen. Die Gefahr ist natürlich viel, viel größer, wenn es sich um die höchste Stelle im Staat handelt, und sie ist unermeßlich bei einer Persönlichkeit, die von Schmeichlern sogar impulsiv und impressionabel genannt wird. Ich habe behauptet und behaupte heute, daß an allen Konflikten, die der Deutsche Kaiser von der ersten Stunde an mit seinen Landsleuten und mit anderen gehabt hat, Philipp Eulenburg und seine Leute mitschuldig gewesen sind; daß sie höchst unheilvoll auf diese für das Reich wichtigste Seele eingewirkt haben. Wieweit es gegangen ist: ich komme hoffentlich nie in die Notwendigkeit, es zu sagen. Aber ich glaube, Sie werden heute meine Worte anders beurteilen als vor anderthalb Jahren, wo hier von der „Hardenschen Mär“ gesprochen und getan wurde, als sei das von mir Gesagte als falsch erwiesen. In dem Prozeß Eulenburg ist nicht ein irgendwie wichtiger Zeuge aufgetreten, der nicht von mir dem Untersuchungsrichter genannt worden war; auch in dem Verfahren gegen den Grafen Hohenau war ich durch den Eid gezwungen, alle Hauptzeugen zu nennen. Leider. Ich rühme mich dessen nicht. Aber Sie dürfen nicht mehr annehmen, daß ich unhaltbare Geschichten verbreite. Was ist geschehen? Ein Hohenzollernprinz, zwei Eulenburg, zwei Hohenau, Graf Lynar, Graf Edgar Wedel, Baron Wendelstadt, Lecomte: alles erledigt. Ich glaube, es ist genug. Im weiteren Verlauf bemerkte Harden: In den Artikeln wird gesagt: Wir treiben im Deutschen Reich eine viel zu süßliche und weichliche Politik. Wenn wir, im Bewußtsein unserer Kraft, jede unwürdige Zumutung ablehnten, wenn wir zeigten, daß im Notfall das Schwert gezogen werden kann, gezogen werden wird, sobald die Ehre und die Zukunft der Nation es fordert, dann würde unsere Weltstellung besser sein. Daß der Gedanke richtig war, ist ja jetzt erwiesen. Aber darauf kommt es hier nicht an. Eine Ursache dieser weichlichen Politik sah ich (mit Recht oder mit Unrecht) darin, daß Mystiker, Süßholzraspler, Spiritisten, kränkliche Männer aller Sorten sich um die Person des Monarchen geschart hatten. Damals gab es zweierlei Politik: die amtliche und die eulenburgische. Die zweite, die okkulte, wurde von Herren betrieben, die den Kaiser umknieten. Ich bitte, das nicht nur bildlich zu nehmen. Diese Herren haben den Enkel Wilhelms des Nüchternen in eine ungesunde, ihren Zwecken ersprießliche Romantik zu zerren versucht. Sie sind weg: und der Dunst ist zerflattert. Weggekommen sind sie nach meinen Artikeln. Ich bitte, endlich sich einmal von dem Gedanken loszumachen, hier handle sich’s um die Bekämpfung und Entschleierung Homosexueller. Die Angegriffenen waren Spiritisten, meinetwegen Theosophen, Mystiker, Leute, die kranke Menschen und Tiere durch Gebete heilen wollten und von denen einzelne auch sexuell ell abnorm waren. Wird etwa geleugnet, daß solche Abnormität auf die Gesamtpsyche wirkt? Lassen Sie sich von der wissenschaftlichen Literatur, von Krafft-Ebing bis auf Kraepelin, belehren! Daß solche „Männer“ von Eulenburg an solche Stelle gebracht wurden, war ein nationales Unglück. Dadurch ist die Atmosphäre entstanden, die eine so schwache, eine so weiche Politik, eine so verhängnisvolle Täuschung über die Realitäten ermöglichte. Und da einzugreifen, war nach meiner Überzeugung meine Pflicht. Daß es dabei zu Enthüllungen kam, die Menschenleben vernichteten, ist nicht meine Schuld. Ich habe niemanden denunziert; trotzdem ich mir dadurch manches erspart hätte. Habe ich nicht hier in diesem Saal gesessen und den biederen Eulenburg ruhig schwören lassen? Ich hätte ihn jeden Moment vernichten können. Heute wissen Sie es. Ich wollte nicht. Ich habe Justizrat Bernstein gebeten, ruhig zu sein, als er aufspringen und sagen wollte: Sie haben falsch geschworen, Herr Fürst. Ich wollte und konnte Ihr Urteil abwarten. Dann, nach den Hymnen, den Barettorgien, dem Urteil, das mich entehren sollte, mußte ich handeln. Hätte ich’s nicht getan, so wäre Eulenburg, als ein Gereinigter, am Ende gar in die Gunst zurückgekehrt. Das durfte nicht sein.

Auf nochmaliges Befragen erklärte Harden wiederholt: Er habe dem Grafen Kuno von Moltke den Vorwurf wurf der Homosexualität nicht gemacht und auch nicht machen wollen, er sei daher der Meinung, daß sich eine Beweisaufnahme erübrige.

Der Verteidiger Justizrat Bernstein und der Vertreter des Nebenklägers, Justizrat Dr. Sello schlossen sich dieser Erklärung an.

Graf Kuno von Moltke erklärte nach vorheriger Vereidigung auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin meiner festen Überzeugung nach nicht homosexuell veranlagt, habe nie zu männlichen Personen eine sinnliche Leidenschaft empfunden und nie mit männlichen Personen geschlechtlichen Umgang gehabt. Auf weitere Beweisaufnahme wurde verzichtet. Oberstaatsanwalt Dr. Preuß beantragte 600 Mark Geldstrafe, Einziehung der inkriminierten Artikel und Auferlegung der Kosten.

Vertreter des Nebenklägers Justizrat Dr. Sello: Ich habe nur nochmals zu erklären, daß mein Herr Klient mit dem Herrn Angeklagten in der Anerkennung der Tatsache übereinstimmt, der Vorwurf der Homosexualität sei in den Artikeln dem Grafen Moltke nicht gemacht. Eine andere Erklärung ist in diesem Stadium nicht abzugeben.

Verteidiger Justizrat Bernstein: Ich stelle fest, daß für die Annahme, dem Nebenkläger sei in den Artikeln Homosexualität vorgeworfen worden, nicht der Schatten eines Beweises erbracht worden ist. Jeder Angeklagte, selbst der obskurste, erst recht aber einer von Ruf und Ansehen, darf verlangen, nicht ohne Beweis für unglaubwürdig gehalten und verurteilt zu werden. Der Verteidiger wies alsdann darauf hin, daß ein großer Teil der Tagespresse auf Sensation erpicht sei. Glauben Sie, daß diese nicht einen Riesenlärm gemacht hätte, wenn in der „Zukunft“ zu lesen gewesen wäre: Die bekanntesten Hofherren seien homosexueller Vergehen schuldig. Sie hat aber Derartiges in der „Zukunft“ nicht gefunden. Der Verteidiger schloß: Geben Sie Herrn Harden ein Urteil, bei dem er als Ehrenmann sich beruhigen kann, das ihn nicht nötigt, den Schleier noch weiter zu lüften, und freuen Sie sich des Rechtes, diese Sache so zu beenden! Herr Harden hat mich gebeten, über Strafart und Strafmaß kein Wort zu sagen. Wie Sie auch urteilen mögen: der Satz, mit dem ich schließen will, wird von keinem Unparteiischen bestritten und von der höchsten Instanz, von der Geschichte, bestätigt werden. Der Satz: In der Sache, die ihn heute zum vierten Male vor ein deutsches Gericht bringt, hat Maximilian Harden sich um das Deutsche Reich und das deutsche Volk unvergängliche Verdienste erworben.

Angeklagter Harden: Nie werde ich der Spottsucht den Weg in die Beletage des Deutschen Reiches bahnen und die Vernichtung von Leuten, die noch im Glanze sitzen, herbeiführen, wenn sich’s um keine andere dere Gefahr handelt als um die meiner möglichen Bestrafung. Darum den Boulevards Futter auf die Pharisäerkrippe schütten? Da gibt’s für mich gar kein Schwanken. Ob und wie ich bestraft werde: Das ist mir vollkommen gleichgültig. Ich sage Ihnen ganz ruhig: Je härter ich bestraft werde in dieser Sache, in diesem Forum, nach diesem Verfahren, nach diesen Aussagen, um so besser; um so lehrreicher für Mitlebende und Nachwachsende.

Ich gehe auf Einzelheiten gar nicht mehr ein. Es wäre ein Verbrechen gegen Sie, aber auch gegen mich, wenn ich zum aberhundertstenmal die Artikel interpretieren wollte.

Der erste politische Eindruck meines Lebens, so äußerte sich Harden im weiteren Verlauf, entstand durch die außerordentliche Freundlichkeit, ja ich darf sagen: Freundschaft, die Fürst Bismarck mir gewährte. Ich darf es sagen, denn er hat es ja selbst oft so genannt. Freilich konnte ein soviel jüngerer und soviel kleinerer Mensch nur in begrenztem Sinn als Freund gelten; er hatte ja viel mehr zu empfangen, als zu geben. Dieser Mann hat mir immer wieder gesagt: „Ihnen mißfällt der Kaiser als politische Persönlichkeit in vielen wesentlichen Zügen; mir auch. Aber Sie können mir glauben: alle oder mindestens neun Zehntel dieser nicht erfreulichen Seiten wären nicht sichtbar, wenn Philipp Eulenburg nicht seine Sippschaft an ihn herangebracht hätte. Das sind gräßliche Leute; ganz anders als wir; sentimental, geistergläubig, spukscheu (Eulenburg hat an dem Herrn neben anderen Wunderqualitäten ja das zweite Gesicht der Stuarts entdeckt); ohne Sinn für die Nüchternheit des politischen Lebens, ohne den Nerv der Tapferkeit, die eine große Nation braucht; und der größte Teil ist auch noch geschlechtlich abnorm und nicht sauber. Da gibt’s Zusammenhänge und Hautsympathien, die unsereins gar nicht versteht.“ Das habe ich in Varzin, Friedrichsruh und Schönhausen oft gehört und besprochen, aber nie in meiner Zeitschrift erwähnt. Ich habe den Fürsten Eulenburg manchmal politisch, wenn es mir nötig schien, bekämpft, aber nie diese Sachen erwähnt.

Da geschah das Entscheidende. Der Deutsche Kaiser wies diesen Männern die Tür. Fest steht die Tatsache, daß Graf Kuno v. Moltke niemals gehört worden ist, sich niemals irgendwie rechtfertigen durfte, daß der ewige Plessen ihm einfach brüsk das Abschiedsgesuch abverlangt hat. Ist anzunehmen, daß meine Artikel der „Zukunft“ zu diesem Schritt getrieben haben? Leben wir in einem Reich, wo die beliebtesten Herren weggejagt werden, weil in einem leidlich angesehenen, aber vom Kaiser durchaus nicht geliebten Blatt ein paar Artikel gegen sie erschienen sind? Darum werden alte Freunde, die man duzte, einfach hinausgeworfen? Darum wird dem Vertreter des beurlaubten Polizeipräsidenten gesagt: Über Eulenburg, Moltke, Hohenau, Lecomte brauchen Sie mir nichts mehr zu erzählen; die sind erledigt; aber von den anderen aus Hof und Garde will ich schnell eine Liste?

Als die Geister ausgeräuchert waren und Graf Moltke in die Presse sickern ließ, er habe mich gefordert, kam der Lärm. Und nun wollte jeder Esel natürlich langst alles gewußt haben. Meine Artikel waren in der Erinnerung verblaßt oder auch nie gelesen worden. Hatte da nicht was von Päderasten gestanden? Gewiß. Und der Spektakel war fertig. Ich wurde gebeten, der Meute abzupfeifen; und tat’s vielleicht etwas zu laut. Aber wenn Sie die ganze Weltgeschichte durchgehen: Sie können niemals eine schwierigere Aufgabe finden als den Kampf eines einzelnen gegen eine Hofclique. Der hat kaum jemals zum Siege geführt. Das ist beinahe unmöglich. Und Fehler? Wer hat in dieser Sache denn keine Fehler gemacht? Sie, meine Herren? Die Staatsanwaltschaft? Graf Moltke? Meine Fehler sind noch lange nicht die ärgsten, scheint mir; sind nicht sehr beträchtlich neben denen der anderen Beteiligten.

Genug. Zuviel schon. Ein Mann, von dem wir alle gern noch Großes hoffen möchten und der das Reich, das Volk repräsentiert, hatte, ohne es zu ahnen, diesem sem unheilvollen Einfluß die Schleusen geöffnet. Vier Kanzler hatten sich vergebens bemüht, den Eulenphili um seine okkulte Macht zu bringen; und der größte, der einzig große der vier hat mir oft gesagt: Manches mag Ihnen noch gelingen, aber nie, Eulenburg zu stürzen. Und doch ist’s gelungen; und die Folgen waren heilsam für Reich und Kaiser. Das sage ich nicht etwa nur: Das sagen alle Sachverständigen, die wissen, was geschehen war. Darum kann ich verächtlich das Gesindel belächeln, das brüllt, ich habe das Reich geschädigt. Recht hohe Leute haben’s mir anders geschrieben. Ein aktiver Botschafter zum Beispiel, den der Kaiser öffentlich seinen Freund genannt hat, und dem ich vorher den bittersten Hohn nicht erspart hatte, schrieb mir spontan, wie allgemein auch von den besten Männern des Landes, in dem er akkreditiert sei, mein Handeln anerkannt werde. Ich will Ihnen solche Briefe nicht vorlegen. Wozu? Sie, nicht die Politiker, sind ja hier Richter. Nur: glauben Sie den Lügnern nicht, die sagen, durch mich habe das Reich gelitten. Wir konnten und können uns sehen lassen. Ich habe lange gezögert. Ich ließ den Rädelsführer zweimal schwören. Doppelt hält besser, sagt der Volksmund. Schließlich hat der Mann selbst den Schlaukopf in die Schlinge gelegt; und die Möglichkeit, sich selbst zu henken, würde ich auch minder kräftigen Schädlingen nicht vereiteln. Seitdem ist’s bei uns besser geworden, und die letzten Vorposten werden wohl auch bald von den Gipfelchen verschwinden. Heute liegt es anders. Für das Reich wäre nichts zu gewinnen? Und um mich einer Strafe zu entziehen, werde ich den Sumpf nicht aufrühren. Auch nicht, wenn es mich nur einen Griff in ein Kuvert kostete, der Sache eine andere Wendung zu geben. Niemals. Ich hoffe noch, auch Ihr Spruch wird mich nicht zwingen, so zu handeln, wie ich nicht handeln wollte.

Harden schloß: Ihr Urteil kann mir nicht ernstlich schaden. Ich glaube, von allen Beteiligten, habe ich Ihr Urteil am wenigsten zu fürchten. Und deshalb bitte ich Sie, in Ihrem Beratungszimmer viel mehr an sich als an mich zu denken. Daran, daß unter einem neuen Fehlspruch wieder Ihr Name stünde. Lange würde er ja nicht gelten. Denn wenn Ihr Urteil mich unerträglich dünkt: es gibt mehr als ein wirksames Mittel dagegen. Das habe ich Ihnen bewiesen. Auch diesmal würde es vielleicht eine Weile dauern. Aber wir würden uns wiedersehen. Nur: Ihr Name wäre auch von diesem Dokument deutscher Rechtspflege nicht wegzukratzen. Ich habe nichts mehr zu sagen.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Angeklagte wird, als Verbreiter nicht erweislich wahrer Tatsachen, die einen anderen in der öffentlichen Achtung herabsetzen, zu einer Geldstrafe von sechshundert Mark und zur Tragung gung der in allen drei Verfahren entstandenen Kosten verurteilt; das Gericht hat ihn in allen Punkten schuldig gefunden.

Am Tag nach dem Termin ließ Graf Moltke dem Verurteilten sagen, er sei ihm für die „Ritterlichkeit seiner Haltung“ aufrichtig dankbar. Vorher war an den Generalleutnant z.D. Grafen Kuno Moltke der folgende Brief („eingeschrieben“) abgegangen:

Grunewald, 21. 4. 09.

Eurer Exzellenz

teile ich das Folgende mit:

Auf Ihren Wunsch und im Vertrauen auf eine loyale Durchführung des im Lauf der letzten Wochen auf Ihre Anregung Vereinbarten habe ich am einundzwanzigsten März meinen Namen unter die Erklärung gesetzt, die Sie am neunzehnten unterzeichnet hatten und die wir, mit einem gemeinsamen Begleitschreiben, am zweiundzwanzigsten März der Königlichen Staatsanwaltschaft eingereicht haben.

Ihr Herr Prozeßvertreter wird Ihnen bestätigen, daß ich in der Hauptverhandlung das dem Menschenmaß Erreichbare geleistet habe, um eine schonende Behandlung der Sache und der Person zu ermöglichen und dadurch Eurer Exzellenz Schmerzliches zu ersparen. Durch Ihr Verhalten haben Sie mir die Fortsetzung dieser Taktik unmöglich gemacht und mich zugleich von der Verantwortung für alles Weitere entbürdet. bürdet. Ich bin an das Vereinbarte nicht mehr gebunden und habe heute an die Königliche Staatsanwaltschaft geschrieben:

„Der Königlichen Staatsanwaltschaft beehre ich mich mitzuteilen, daß ich nach den gestrigen Aussagen des Grafen Kuno v. Moltke von den beiden am zweiundzwanzigsten März der Königlichen Staatsanwaltschaft eingereichten Erklärungen meinen Namen zurückziehe und mich von den darin ausgesprochenen Wünschen lossage. Ich ersuche den Herrn Ersten Staatsanwalt, diese Mitteilung unverzüglich dem einstweilen zuständigen Gericht, der Vierten Strafkammer am Königlichen Landgericht I Berlin, zugänglich zu machen.“

In vorzüglicher Hochachtung

Harden.

Harden legte gegen seine Verurteilung Revision ein. Die Verhandlung vor dem zweiten Strafsenat des Reichsgerichts sollte am 5. Juli 1909 stattfinden. Am 12. Juni 1909 erhielt Harden folgenden Brief:

„Seiner Hochwohlgeboren Herrn Maximilian Harden.

Eurer Hochwohlgeboren

teile ich, in Beantwortung Ihres Briefes

vom einundzwanzigsten April, folgendes mit:

Sämtliche von meinem Anwalt, Herrn Justizrat Dr. Sello, vor Gericht abgegebenen Erklärungen entsprechen chen meinen Intentionen und dem von mir unterzeichneten Vergleich. Auch ich habe in meiner Vernehmung zum Ausdruck bringen wollen, daß in den streitigen Artikeln der ?Zukunft? der bewußte Vorwurf nicht gemacht worden ist. Wenn meine in der Erregung vor Gericht gemachte Aussage die Auslegung zulassen sollte, als ob ich mich nicht streng an den wohlerwogenen Wortlaut und Sinn des Vergleiches gehalten hätte, wie dies in der Beweisaufnahme Euer Hochwohlgeboren in loyaler Weise getan haben, so bedaure ich dies und kann nur wiederholen, daß dies meiner Absicht nicht entsprach.

Diese Erklärung läßt mich annehmen, daß auch Euer Hochwohlgeboren sich wieder auf den Boden des Vergleiches stellen und die Angelegenheit als erledigt ansehen werden.

Mit vorzüglichster Hochachtung

Graf Moltke.“

Darauf antwortete Harden:

Sr. Exzellenz dem Generalleutnant

Herrn Grafen Kuno v. Moltke.

Diese (zur Veröffentlichung bestimmte) Erklärung genügt mir. Um Ihren Wunsch zu erfüllen, habe ich am fünfzehnten Juni dem Zweiten Strafsenat des Reichsgerichtes mitgeteilt, daß ich auf die Revision des Urteils vom zwanzigsten April verzichte.

Mit vorzüglichster Hochachtung

Maximilian Harden.