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I–VIII Bearbeiten

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Die Ermordung der Medizinalrätin Molitor auf der Promenade in Baden-Baden

Der Hau-Prozeß

Dem Fortschritt der Kultur ist es zu danken, daß Kapitalverbrechen sich allmählich vermindern. Das Leben eines Menschen gilt jetzt mehr als vor etwa hundert Jahren. Wenn auch die Verbrecherwelt nicht ausstirbt, so werden doch Morde nicht mehr so häufig begangen als zur Zeit unserer Großeltern und Urgroßeltern. Eine große Erregung bemächtigt sich der gesitteten Menschheit, wenn die Kunde von einem Morde, dem größten Verbrechen, das das Strafgesetzbuch kennt, ruchbar wird. Es war daher naturgemäß, daß, als am Abende des 6. November 1906 auf der Promenade in Baden-Baden die Medizinalrätin Molitor meuchlings erschossen wurde, das Verbrechen in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen erregte. Die Erregung war um so größer, da der Verdacht der Täterschaft auf den Schwiegersohn der 62 Jahre alten Medizinalrätin, den Universitätsprofessor und amerikanischen Rechtsanwalt Dr. jur. Karl Hau fiel. Die Medizinalrätin Molitor hatte ein Vermögen von fast einer Million. Sie bewohnte mit ihrer damals noch unverheirateten Tochter Olga in dem idyllisch belegenen, nen, feinen Badeort Baden-Baden eine prächtige Villa und gehörte zu den Honoratioren des Badeortes, in dem bekanntlich auch im Winter viele Kurgäste weilen. Viele reiche Familien wohnen ständig in Baden-Baden, es herrscht daher auch im Winter ein sehr geselliges Leben. Im Frühjahr 1901 weilte die Medizinalrätin Molitor mit ihren damals noch unverheirateten Töchtern Lina und Olga in Ajaccio (Insel Korsika). Dort gesellte sich zu den Damen der zwanzigjährige Student Karl Hau. Dieser, der schon als blutjunger Gymnasiast ein sehr ausschweifendes Leben geführt und dadurch üble Folgen davongetragen hatte, war auf ärztliches Anraten nach Ajaccio gekommen. Es gelang ihm sehr bald, das Herz der damals 25 Jahre alten Lina Molitor zu erobern, Er hielt um die Hand der jungen Dame an. Allein mit Rücksicht auf seine große Jugend und den Umstand, daß er sich noch in den ersten Semestern befand, wurde er von der Medizinalrätin Molitor abgewiesen. Hau wußte aber Fräulein Molitor zu überreden, sich auf ein Sparkassenbuch 2000 Mark zu verschaffen. Mit diesem Gelde reisten die beiden jungen Leute heimlich ab, angeblich um sich trauen zu lassen. Sehr bald müssen wohl die jungen Leute zu der Überzeugung gelangt sein, daß ihrer Eheschließung unüberwindbare Hindernisse entgegenstanden. Frau Medizinalrätin Molitor erhielt eines Tages aus Realp am St. Gotthard ein Telegramm, in dem angezeigt war: ihre Tochter habe aus Verzweiflung auf sich geschossen und liege schwer verwundet danieder. Die alte Medizinalrätin eilte an das Krankenbett ihrer Tochter, die nach kurzer Zeit genas. Um nun die Ehre ihrer Tochter zu retten, willigte Frau Molitor in die Heirat. Das junge Paar begab sich nach der Hochzeit sehr bald nach Washington. Es lebte von den Unterstützungen der beiderseitigen Eltern, denn Hau hatte noch sechs Semester zu studieren. Nach bestandenem Examen wurde Hau, der der deutschen, englischen, französischen und italienischen Sprache in Wort und Schrift vollkommen mächtig ist, Privatsekretär des ottomanischen Generalkonsuls in Washington, Dr. Schönfeld. In dessen Begleitung fuhr er 1903 nach Konstantinopel, um die dortigen Handelskreise für die Weltausstellung in St. Louis zu interessieren. Er hatte aber mit seiner Mission wenig Erfolg. Als er nach Washington zurückgekehrt war, wurde er bei dem höchsten Gerichtshof in Washington als Rechtsanwalt zugelassen und assoziierte sich mit dem amerikanischen Rechtsanwalt Yenahan. Er wurde außerdem als außerordentlicher Professor für römisches Recht an die George-Washington-Universität in Washington berufen. Im Auftrage der amerikanischen Standard Oil Compagnie und einer amerikanischen Elektrizitätsgesellschaft war er wiederholt in Konstantinopel. Er soll aber dort wiederum keine Erfolge gehabt haben. Seine Schwiegermutter hatte seiner Frau einen Scheck von 65000 Mark überwiesen. Diesen hatte er sich kurz vor seiner Abreise nach Konstantinopel, wo er sich einige Monate aufhielt, auszahlen lassen. Dies Geld soll er fast vollständig in Konstantinopel verbraucht haben.

Professor Dr. Hau war in Washington eine allgemein beliebte Persönlichkeit. Er wurde Mitglied der ersten Klubs in Washington und Neuyork. Im Kosmosklub lernte er den Präsidenten Roosevelt, sowie ferner Morgan, Rockefeller, Harriman und andre kennen, Hau soll in Konstantinopel ein derartig ausschweifendes Leben geführt haben, daß die Türken daran Anstoß nahmen und die besseren Kreise der türkischen Hauptstadt sich von ihm zurückzogen.

Am 17. Oktober 1906, vormittags gegen 9 1/2 Uhr, trat in das Fremdenbureau einer großen Wiener Bank ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann. Er sprach Englisch und Französisch und nannte sich Dr. Karl Hau. Er wies einen auf 400 Lstr. lautenden Scheck der Londoner Bank Brown, Schiply u. Co. vor und wünschte, ihn ausgezahlt zu erhalten. Da an der Echtheit der Unterschrift nicht zu zweifeln war, wurden dem Mann 9592 Kronen anstandslos gezahlt. Zwei Tage später erhielt die Bank ein Telegramm des Londoner Bankhauses Brown, Schiply u. Co., in dem angezeigt wurde, daß der Scheck dem wirklichen Dr. Karl Hau auf der Reise von Konstantinopel nach Wien im Orient-Expreßzug gestohlen worden sei. Die Depesche kam selbstverständlich zu spät, der Scheck war bereits gezahlt. Die Wiener Bank erstattete dem Sicherheitsbureau der Wiener Polizeidirektion unverzüglich Anzeige. Das Sicherheitsbureau stellte fest, daß am Morgen des 17. Oktober, gegen 8 Uhr vormittags, mit dem aus Konstantinopel eingetroffenen Orient-Expreßzug ein Reisender angekommen sei, auf den die Personalbeschreibung des Präsentanten des Schecks genau paßte. Der Mann war nur etwa zwei Stunden aus dem Bahnhof gegangen und hatte alsdann die Reise nach Deutschland fortgesetzt. Er hatte in Frankfurt a.M. den Zug verlassen. Dem Personal des Orient-Expreßzuges war von einem Diebstahl keine Anzeige gemacht worden.

Professor Dr. Hau, dies war der geheimnisvolle Scheckeinlöser in Wien, war direkt nach Baden-Baden gereist. Dort weilte in der Villa ihrer Mutter Frau Dr. Hau mit ihrem kleinen Töchterchen. Professor Dr. Hau fuhr sogleich mit Frau, Kind und seiner Schwägerin Olga nach Paris und nahm dort im Hotel Regina Wohnung. Bald darauf erhielt die alte Medizinalrätin aus Paris ein Telegramm folgenden Inhalts: „Komme mit nächstem Zuge, Paris, Olga sehr krank, Lina.“ Frau Molitor reiste sofort ab. Als sie in der französischen Hauptstadt anlangte, war niemand zu ihrem Empfange auf dem Bahnhof. In großer Angst fuhr sie nach dem Hotel Regina. Zu ihrer großen Freude war Olga Molitor vollständig gesund. Die Kinder wunderten sich aber über das plötzliche Erscheinen der Mutter, denn sie hatten kein Telegramm gesandt, letzteres war gefälscht. Die alte Geheimrätin befürchtete: das Telegramm sei von jemandem gesandt worden, der die Absicht habe, in ihrer Villa in Baden-Baden einen Einbruchsdiebstahl zu begehen. Sie kehrte deshalb sehr bald mit ihrer Tochter Olga nach Baden-Baden zurück und erstattete dort wegen des gefälschten Telegramms Anzeige. Professor Dr. Hau fuhr mit Frau und Kind nach London. Er wollte nach kurzem Aufenthalt in der Hauptstadt Großbritanniens nach Washington reisen. Da erhielt er plötzlich von dem Direktor der Standard Oil Compagnie ein Telegramm folgenden Inhalts: „Kommen Sie sofort nach Berlin. Strengste Verschwiegenheit. Eile dringend notwendig.“ Hau reiste sogleich ab, Frau und Kind in London zurücklassend. Er fuhr aber nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt am Main. Dort weilte er mehrere Tage, fragte den Hotelportier, wo es schöne Weiber gebe und bestellte sich bei einem Friseur einen falschen Bart und eine Perücke. Inzwischen besuchte er in Gesellschaft von Halbweltdamen Theater, Konzerte und Zirkus und lebte in Saus und Braus. Nach Fertigstellung des Bartes und der Perücke reiste er nach Baden-Baden. Am Spätnachmittag des 6. November 1906 klingelte es in der Villa Molilor am Telephon. Ein Dienstmädchen fragte, wer da sei. „Hier Postvorsteher Graf“ war die Antwort. „Ich lasse die Frau Medizinalrätin bitten, sofort nach dem Postamt zu kommen, das Aufgabeformular der gefälschten Depesche hat sich gefunden.“ Die alte Medizinalrätin ließ dem Postvorsteher sagen: sie werde am Vormittag des folgenden Tages zur Post kommen, sie sei erkältet und wolle deshalb bei dem unwirschen Wetter in so später Abendstunde nicht noch einmal ausgehen. „Es ist aber dringend notwendig, daß die Frau Medizinalrätin noch heute, und zwar möglichst sofort kommt,“ wurde zur Antwort gegeben. Darauf kleidete sich die Medizinalrätin an. Ihre Tochter Olga war bei einer benachbarten Familie zum Tee. Um nicht allein über die dunkle Promenade zu gehen, holte die alte Dame ihre Tochter ab. Als beide Damen die Lindenstaffel passierten, krachte plötzlich ein Schuß. Er traf die alte Medizinalrätin in den Rücken und durchbohrte ihr das Herz. Die alte Dame fiel lautlos zur Erde, sie war sofort tot. Eine Anzahl Leute hatten Professor Dr. Hau an diesem Tage mit falschem Bart und Perücke in Baden-Baden gesehen. Dieser Mann war nach der Ermordung der Medizinalrätin spurlos verschwunden. Es wurde sofort festgestellt, daß weder das Aufgabeformular der gefälschten Depesche gefunden worden sei, noch daß Postvorsteher Graf die Medizinalrätin nach dem Postamt bestellt hatte. Das Mädchen, das am Telephon gesprochen, behauptete mit vollster Bestimmtheit: Sie habe am Telephon genau die Stimme des Professors Dr. Hau erkannt. Da man wußte, daß Frau Hau mit ihrem Kinde in London weilte, wurde sofort an die Londoner Polizei depeschiert und um Festnahme des Hau gebeten. Diese erfolgte sogleich. Hau wurde sehr bald ausgeliefert und in das Untersuchungsgefängnis nach Karlsruhe gebracht. Er bestritt mit vollster Entschiedenheit, den Mord begangen zu haben. Anfang Juni 1907 hatte Frau Hau mit ihrem Gatten eine längere Unterredung im Untersuchungsgefängnis. Die unglückliche Frau sagte dem Hau: Sie könne es nicht überleben, daß in öffentlicher Gerichtssitzung ihre Familienverhältnisse vor aller Welt erörtert werden, auch sei sie der Meinung, daß Hau ihre Mutter erschossen habe. Sie wolle sich deshalb das Leben nehmen. Zwei Tage darauf ertränkte sich Frau Hau im Pfäffikoner See bei Zürich. Am 17. Juli 1907 begann die öffentliche Verhandlung wider Professor Dr. Hau vor dem Großherzoglichen Schwurgericht zu Karlsruhe. Die Anklage war wegen Mordes, auf Grund des § 211 des Straf-Gesetzbuches, erhoben. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Dr. Eller. Die Anklage vertrat Staatsanwalt anwalt Dr. Bleicher. Die Verteidigung führte, und zwar als Wahlverteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz, Karlsruhe. Die Verhandlung, die fünf volle Tage dauerte, wurde in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt. Der Angeklagte war ein großer, schlanker, bartloser junger Mann von 26 Jahren. Sein dunkles Haupthaar war bereits etwas gelichtet. Man sah es ihm an, daß er sehr ausschweifend gelebt hatte. Er machte den Eindruck eines jungen Theologen; man konnte ihn auch für einen Schauspieler halten. Er stand zumeist mit gekreuzten Armen auf der Anklagebank und trug eine geradezu erstaunliche Ruhe zur Schau. Er war am 3. Februar 1881 als Sohn des Direktors der Vorschußbank zu Berncastel geboren und katholischer Konfession. Er wurde von vier Gendarmen auf die Anklagebank geführt. Hau unterhielt sich zunächst lächelnd mit seinem Verteidiger. Alsdann setzte er sich ein goldenes Pincenez auf und betrachtete sich mit auffallender Seelenruhe das im Gerichtssaale herrschende Getriebe. Auf dem Zeugentisch stand in einem mit Spiritus gefüllten Glasbehälter das Herz der ermordeten Medizinalrätin. Es war genau zu sehen, daß die Kugel mitten durch das Herz gegangen war. Die Vernehmung des Angeklagten gestaltete sich folgendermaßen:

Vors.: Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig, Ihre Schwiegermutter erschossen zu haben?

Angeklagter: Nein.

Vors.: Sie geben aber zu, am Tage des Mordes, den 6. November 1906, in Baden-Baden gewesen zu sein.

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Zu welchem Zwecke sind Sie nach Baden-Baden gekommen?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Aussage.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Seine Mutter sei gestorben, als er 3 Jahre alt war. Sein Vater habe zum zweiten Male geheiratet. Er habe das Gymnasium in Köln bis zur Obertertia, alsdann das Gymnasium zu Trier besucht und dort mit der Note „gut“ das Abiturientenexamen gemacht. Alsdann habe er vier Semester in Freiburg und ein Semester in Berlin studiert.

Vors.: Sie sollen schon als Gymnasiast in Köln viel mit Frauenzimmern verkehrt und üble Folgen davongetragen haben?

Angekl. (nach einigem Zögern): Darüber verweigere ich die Antwort.

Vert.: Sie sollen auch in Trier und auch als Student sehr opulent gelebt und ganz besonders viel mit Frauenzimmern verkehrt haben?

Angekl. (nach einigem Zögern): Ich will das nicht bestreiten.

Vors.: Augenscheinlich infolge Ihres ausschweifenden Lebenswandels haben Sie, als Sie in Berlin studierten, dierten, einen heftigen Blutsturz bekommen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Ärzte hielten den Blutsturz für so bedenklich, daß sie Sie nach Ajaccio auf der Insel Korsika schickten?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie alt waren Sie damals?

Angekl.: 19 Jahre.

Vors.: Wie hoch war Ihr Monatswechsel?

Angekl.: Das ist mir nicht mehr genau in Erinnerung.

Vors.: So ungefähr?

Angekl.: Etwa 150 bis 200 M.

Vors.: Sie waren auch in Monaco und haben dort gespielt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Haben Sie gewonnen oder verloren?

Angekl.: Gewonnen.

Vors.: In Ajaccio haben Sie die Familie Molitor kennengelernt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie haben, trotz Ihrer Jugend, sofort um die Hand Ihrer späteren Frau, des Fräuleins Lina Molitor, angehalten, aber abschlägigen Bescheid erhalten?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Da Sie aber trotzdem von Fräulein Lina Molitor nicht abließen, verlobte Frau Medizinalrätin Molitor litor ihre Tochter Lina mit einem Offizier. Sie wußten jedoch die junge Dame schließlich zu bewegen, 2000 M. auf ein Sparkassenbuch abzuheben und alsdann mit ihr zu flüchten?

Angekl.: Jawohl.

Der Angeklagte erklärte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, daß er über seine Beziehungen zu seiner späteren Frau die Aussage verweigere.

Vors.: Sie sind selbst Rechtsanwalt, vielleicht werden Sie einsehen, daß es nicht in Ihrem Interesse liegt, auf alle Fragen die Antwort zu verweigern.

Der Angeklagte schwieg und gab im weiteren Verlauf zu, daß er und seine spätere Frau in Realp beschlossen hatten, sich zu erschießen, da sie einsahen, daß ihrer Verheiratung unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen. Seine Frau hatte sich in die Seite geschossen. Er habe infolgedessen an Frau Molitor und an seinen Vater telegraphiert. Frau Medizinalrätin Molitor sei sehr bald in Realp erschienen und habe schließlich in die Heirat gewilligt. Er sei alsdann mit seiner Frau nach Washington gegangen, um dort seine Studien zu vollenden. Er habe in der Hauptsache internationales Recht studiert. Er sei nach Washington gegangen, weil dies der Sitz des Präsidenten und der meisten Regierungsbehörden sei. Nachdem er seine Examina bestanden, sei er zunächst Sekretär des ottomanischen Generalkonsuls in Washington, Dr. Schönfeld, geworden. In dessen Begleitung sei er im Jahre 1903 nach Konstantinopel gegangen, um die türkische Regierung und die dortigen Industriellen für die Weltausstellung in St. Louis zu interessieren. Er habe aber keinen Erfolg gehabt. Nachdem er nach Washington zurückgekommen war, sei er, obwohl er noch nicht amerikanischer Bürger war, beim höchsten Washingtoner Gerichtshof als Rechtsanwalt zugelassen worden. Er habe sich mit einem amerikanischen Rechtsanwalt, namens Yenahan, assoziiert. Gleichzeitig sei er zum außerordentlichen Professor für römisches Recht der George Washingtoner Universität berufen worden. Diese seine Lehrtätigkeit habe er mit Unterbrechungen drei Jahre lang ausgeübt. Er sei im Auftrage einer amerikanischen Elektrizitäts- und einer amerikanischen Gesellschaft für den Bau von Kriegsschiffen in Konstantinopel gewesen. Er habe in Konstantinopel keine Erfolge gehabt. Die Geschäfte wären gute gewesen, es habe aber damals eine Spannung zwischen Washington und Konstantinopel geherrscht. Die amerikanische Regierung hatte ihren Gesandten in Konstantinopel zum Botschafter ernannt, ohne sich mit der türkischen Regierung vorher in Verbindung zu setzen.

Der Angeklagte gab im weiteren zu, daß er in Konstantinopel überaus luxuriös gelebt habe.

Vors.: Ein Milliardär kann ja vielleicht so üppig leben, aber ein studierter Mann, der aus ganz kleinlichen Verhältnissen hervorgegangen ist, hätte sich doch ein wenig mehr nach seinen Vermögensverhältnissen richten müssen.

Angekl.: Das lag an den amerikanischen Verhältnissen.

Vors.: Sie sind doch aber kein Amerikaner!

Angekl.: Die vier Jahre, die ich in Amerika lebte, sind auf meine Lebensweise nicht ohne Einfluß gewesen.

Vors.: Sie haben aber die Amerikaner weit übertroffen. Ein vernünftiger Amerikaner in Ihren Verhältnissen hätte zweifellos etwas eingeschränkter gelebt. Sie sollen in Berlin und auch in Wien und Budapest vielfach mit Weibern verkehrt haben. Sie haben selbst zugegeben, in Wien mit der Otero und anderen Frauen verkehrt zu haben.

Der Angeklagte schwieg.

Im weiteren Verlauf der Vernehmung gab er zu, daß, als er aus Konstantinopel abreiste, er all sein Geld ausgegeben hatte; er besaß nur noch einen Scheck von 8000 M. Diesen habe er in Wien eingelöst. Er gebe zu, von Frankfurt a.M. an die Wiener Bank telegraphiert zu haben, der Scheck sei ihm gestohlen worden. Es war selbstverständlich ausgeschlossen, daß er das Geld noch einmal ausgezahlt erhalten hätte, er bezweckte aber, einen neuen Scheckbrief brief zu erhalten.

Vors.: Jedenfalls war dies Verhalten ein unlauteres.

Der Angeklagte schwieg.

Der Angeklagte erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Im Sommer 1906 sei er eine Zeitlang mit Frau, Kind und einem Kindermädchen in der Schweiz gewesen; er gebe zu, auch dort mit seiner Familie sehr luxuriös gelebt zu haben.

Vors.: Das Geld, das Sie auf den Scheck in Wien ausgezahlt erhalten hatten, es waren etwas über 8000 M., war damals Ihr einziges Geld?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie haben damals eine Zeitlang mit Frau und Kind bei Ihrer Schwiegermutter in Baden-Baden gewohnt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Ende Oktober 1906 sind Sie mit Ihrer Frau, Kind und Ihrer Schwägerin, dem Fräulein Olga Molitor, nach Paris gereist?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Hatten Sie Beziehungen zu Fräulein Olga?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Auskunft.

Vors.: War Ihre Frau eifersüchtig auf Ihre Schwägerin?

Angekl.: Das weiß ich nicht.

Vors.: Wenige Tage nachdem Sie in Paris waren, kam an Ihre Schwiegermutter aus Paris nach Baden- Baden ein Telegramm folgenden Inhalts: „Komme sofort nach Paris, Olga sehr krank; reise mit nächstem Zuge. Lina.“ Frau Molitor reiste sofort nach Paris und erfuhr hier, daß Olga nicht krank und das Telegramm gefälscht war. Haben Sie das Telegramm geschrieben?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Antwort. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Ich brauche wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, ob man etwas in Abrede stellt oder die Antwort verweigert. Sie haben bisher bestritten, das Telegramm geschrieben zu haben.

Angekl.: Ich habe immer erklärt, bezüglich des Telegramms die Antwort zu verweigern.

Vors.: Es ist jedenfalls sehr verdächtig, daß Sie bezüglich dieses für das vorliegende Verbrechen so überaus wichtigen Telegramms weder die Verfasserschaft bestreiten noch zugeben, sondern die Antwort verweigern. Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Ist es nicht in Paris zwischen Ihnen und Ihrer Frau Ihrer Schwägerin Olga wegen zu einer heftigen Eifersuchtsszene gekommen?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Auskunft.

Vors.: Daß Ihre Frau die Schreiberin des Telegramms war, ist doch wohl ausgeschlossen?

Angekl.: Darüber verweigere ich auch die Auskunft. kunft.

Vors.: Ihre Schwiegermutter ist nun, ärgerlich, daß sie durch eine gefälschte Depesche nach Paris gelockt worden sei, sehr bald mit ihrer Tochter Olga nach Baden-Baden wieder zurückgereist und hat dort auf dem Postamt nach dem Aufgeber der gefälschten Depesche Nachforschungen angestellt. Sie sind mit Frau und Kind nach London gefahren und haben dort im Cecil-Hotel Wohnung genommen. Dort haben Sie eine Depesche unterschrieben „Thies“ erhalten. Die Depesche lautete: „Kommen Sie unverzüglich nach Berlin. Diskretion notwendig. Eile geboten.“ Sie haben zugegeben, diese Depesche an sich gesandt zu haben, um Grund zu haben, noch einmal nach dem Kontinent zu reisen.

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Weshalb ließen Sie sich in London einen falschen Bart machen, fuhren aber nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt?

Angekl.: Ich hatte in Frankfurt geschäftliche Beziehungen.

Vors.: Mit wem standen Sie in Frankfurt in geschäftlichen Beziehungen?

Angekl.: Darüber verweigere ich auch die Auskunft.

Vors.: Es läge doch aber in ihrem dringenden Interesse, hierüber Auskunft zu geben.

Angekl. schwieg.

Vors.: Im Hotel „Englischer Hof“ in Frankfurt haben Sie den Portier gefragt, ob er Ihnen einige fesche Weiber besorgen könne. Am folgenden Tage haben Sie sich von einem Frankfurter Friseur einen falschen Bart und eine Perücke machen lassen. Nachdem Sie sich Bart und Perücke hatten anstecken lassen, sind Sie am 6. November nach Baden-Baden gefahren. Sie sind nachmittags in Baden-Baden angekommen und haben dort Ihr Gepäck auf dem Bahnhof aufgegeben. Sie sind nicht in ein Hotel gegangen, sondern haben an der Gepäckexpedition gesagt: Sie wollen abends weiterreisen. Bart und Perücke waren offenbar nicht gut gemacht, denn Sie sind mehrfach durch Ihren falschen Bart und Perücke in Baden-Baden beobachtet worden. Einem Schutzmann sind Sie derartig aufgefallen, daß er Ihre Persönlichkeit feststellen wollte. Sie haben auch zugegeben, Ihre Schwiegermutter am Spätnachmittag des 6. November 1906 ans Telephon gerufen zu haben. Sie haben sich als Postvorsteher Graf ausgegeben und Ihre Schwiegermutter aufgefordert, sofort nach dem Postamt zu kommen, das Aufgabeformular des gefälschten Pariser Telegramms habe sich gefunden. Ihre Schwiegermutter ist der Aufforderung nach anfänglicher Weigerung nachgekommen. Sie kam mit ihrer Tochter Olga nach dem Postamt. Als die Damen in der Nähe der Lindenstaffel waren, krachte ein Schuß. Er traf Frau Molitor in den Rücken. Die alte Dame fiel lautlos zur Erde, sie war sofort tot. In demselben Augenblick sah man einen großen, schlanken Mann eiligst nach dem Bahnhof laufen.

Angekl.: Ich verweigere über die gesamten Vorgänge in Baden-Baden en bloc die Aussage. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß, nachdem Sie das meiste zugegeben haben, Ihre heutige Erklärung auf die Richter, die an direkte Beweise nicht gebunden sind, einen schlechten Eindruck machen muß. Sie reisten nun, nachdem Ihre Schwiegermutter ermordet war, mit dem nächsten Zuge nach Frankfurt. Von dort telegraphierten Sie an Ihre Frau nach London: „War nicht in Berlin, habe Geschäfte in Frankfurt abgemacht, komme sofort zurück.“ Während Sie in Frankfurt waren und sich wahrscheinlich auf die Ermordung Ihrer Schwiegermutter vorbereiteten, schrieb Ihre Frau an ihre Mutter einen herzlichen Brief, in dem sie ihr Bedauern aussprach, daß sie sich den Strapazen einer so weiten Reise unterziehen mußte. Ich frage Sie nun, was hat Sie veranlaßt, nach Frankfurt zu reisen, sich dort einen falschen Bart und eine Perücke machen zu lassen und vermummt, d.h. mit falschem Bart und Perücke angetan nach Baden-Baden zu reisen?

Angekl.: Ich verweigere darüber die Antwort.

Vors. (mit erhobener Stimme): Wenn Sie sich unschuldig fühlen, können Sie uns alsdann sagen, wer Ihre Schwiegermutter erschossen hat?

Angekl.: Das weiß ich nicht.

Vors.: Was hat Sie veranlaßt, Ihre Schwiegermutter unter falscher Angabe ans Telephon zu rufen und nach geschehener Tat fluchtartig Baden-Baden zu verlassen?

Angekl.: Ich habe Baden-Baden nicht fluchtartig verlassen.

Vors.: Das wird von einer Reihe von Zeugen bekundet werden. Was hat Sie außerdem veranlaßt, nach geschehener Tat Bart und Perücke von sich zu werfen?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Antwort.

Vors.: Wollen Sie etwa behaupten, Sie wären wegen Ihrer Beziehungen zu Ihrer Schwägerin Olga oder anderer in der vermummten Form nach Baden-Baden gekommen?

Angekl.: Ich verweigere auf alle diese Fragen die Antwort.

Vors.: Sind Sie denn immer im Besitz Ihrer geistigen Kräfte gewesen?

Angekl.: Jawohl, vollständig.

Vors.: Ihr Verteidiger hat das bezweifelt.

Angekl.: Mein Herr Verteidiger hat überhaupt ein anderes Verteidigungssystem beobachtet als ich.

Vors.: Ihr Verteidigungssystem beschränkt sich darauf, auf die wichtigsten Fragen die Antwort zu verweigern. Man kann ein solches Verteidigungssystem als unklug, vielleicht aber auch als raffiniert bezeichnen. Sie werden jedenfalls zugeben, daß Ihr ganzes Vorgehen, die gefälschten Depeschen, Ihre Wiederabreise nach dem Kontinent, Ihre Vermummung, Ihre Reise nach Frankfurt a.M., nach Baden-Baden, Ihre fluchtartige Abreise von Baden-Baden, der Umstand, daß Sie nur noch wenig Geld hatten und alle Ihre Geschäfte nicht zustande gekommen waren, doch ungemein verdächtig ist.

Angekl.: Ich hatte noch viel Geld zu erwarten.

Vors.: Klammern Sie sich nicht an Nebensächlichkeiten. Ihre Frau hat im übrigen einen Brief hinterlassen, in dem sie der Vermutung Ausdruck gibt, daß Sie zeitweise geistesgestört seien. Aus dem von Ihrer Frau entworfenen Testament, in dem sie u.a. bestimmte, daß ihr Kind einen anderen Namen annehmen solle, gibt sie ziemlich unverhohlen der Überzeugung Ausdruck, daß sie Sie für den Mörder ihrer Mutter gehalten hat.

Angekl.: Wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, während meiner Untersuchungshaft mit meiner Frau eingehend zu sprechen, dann hätte ich ihr den unwiderleglichen Beweis geliefert, daß ich nicht der Mörder bin.

Vors.: Wollen Sie uns das nicht sagen, Sie haben auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Es läge in Ihrem dringenden Interesse, das, was Sie Ihrer Frau sagen wollten, jetzt hier anzugeben.

Angekl.: Was ich meiner Frau sagen wollte, kann ich niemand anderem mitteilen.

Vert.: Ich ersuche, den Angeklagten zu fragen, ob er am 6. November einen Revolver bei sich gehabt hat?

Angekl.: Darüber verweigere ich die Antwort. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Ein Beisitzer: Es ist aber in einem Ihrer Koffer ein Revolver gefunden worden?

Angekl.: Das ist richtig; mit diesem Revolver ist in Belgrad ein Attentat verübt worden; ich habe ihn in der Türkei geschenkt erhalten.

Vors.: Haben Sie den Schuß gehört, der Ihre Schwiegermutter tot zu Boden gestreckt hat?

Angekl.: Ich verweigere auch hierüber die Antwort.

Vors.: Nun Angeklagter, ich frage Sie noch einmal, bekennen Sie sich schuldig, Sie müssen doch selbst aus reinen Menschlichkeitsgründen sich sagen, daß Ihr Verteidigungssystem Sie stark verdächtig macht.

Angekl.: Ich habe nichts weiter hinzuzufügen.

Unter allgemeiner Spannung wurde Fräulein Olga Molitor, eine große, schlanke, hübsche, rötlich blonde Dame, als Zeugin in den Saal gerufen. Sie würdigte den Angeklagten keines Blickes. Der Angeklagte schlug die Augen nieder. Fräulein Molitor bekundete: Am 6. November 1906, nachmittags gegen 6 Uhr, klingelte es am Telephon. Das Mädchen fragte, wer da sei. Es wurde gesagt: Postinspektor Graf, er möchte Frau Medizinalrätin sprechen. Mama trat ans Telephon, da wurde ihr gesagt, sie solle sofort aufs Postamt kommen, das Aufgabeformular der gefälschten Depesche sei aus Paris gekommen. Mama sagte, sie werde am folgenden Tage kommen, da sie sehr erkältet sei. Es wurde ihr aber erwidert, die Sache sei so dringend, daß sie sofort selbst zum Postamt kommen müsse. Mama zog sich infolgedessen sofort an, sie wollte zunächst allein zum Postamt gehen; ich erbot mich jedoch sogleich, sie zu begleiten. Als wir aus der Bismarckstraße kamen, sah ich eine Männergestalt, die uns auf Schritt und Tritt nachkam. Dies kam mir unheimlich vor. Plötzlich, in der Nähe der Lindenstaffel, krachte ein Schuß. Mama war getroffen, sie fiel sofort lautlos zu Boden. (Die Zeugin schluchzte bei diesen Worten heftig.) Nach dem Schuß sah ich einen Mann mit langem Mantel nach dem Bahnhof zu laufen.

Vors.: Haben Sie den Mann genau gesehen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Ich bin genötigt, Ihnen die Frage vorzulegen, gen, hatten Sie irgendwelche nähere Beziehungen zu dem Angeklagten?

Zeugin: Niemals.

Vors.: Hat der Angeklagte Ihnen einmal die Kur gemacht?

Zeugin: Nein.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte bezüglich Ihrer Person einmal irgendwelche Absichten hatte?

Zeugin: Ich habe niemals derartiges wahrgenommen.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß der Schuß aus irgendeiner Ursache Ihnen gegolten hat, und daß irrtümlicherweise Ihre Frau Mutter getroffen wurde?

Zeugin: Das halte ich für ausgeschlossen.

Vors.: Es soll einmal zwischen Ihrer verstorbenen Schwester Lina und dem Angeklagten zu einer heftigen Eifersuchtsszene gekommen sein?

Zeugin: Das ist möglich; meine verstorbene Schwester war sehr eifersüchtig.

Vors.: Die Eifersuchtsszene soll Ihretwegen entstanden sein?

Zeugin: Das ist möglich, ich hatte aber niemals das Gefühl, daß der Angeklagte sich mir auch nur nähern wollte.

Vors.: Dann erübrigt sich wohl auch die Frage, ob Sie dem Angeklagten ein Telegramm nach Dover gesandt sandt haben?

Zeugin: Ich habe dem Angeklagten niemals ein Telegramm gesandt.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Sie könne sich nicht enträtseln, wer das Telegramm in Paris an ihre Mutter aufgegeben habe. Daß ihre Schwester Lina das Telegramm aufgegeben, halte sie für ausgeschlossen. Wenn ihre Mutter mit dem nächsten Zuge nach Paris gekommen wäre, wie es in der Depesche verlangt wurde, dann hätte sie gegen 10 Uhr abends auf dem Ostbahnhof in Paris eintreffen müssen. Nach dem Tode der Mama habe sie mit der Schwester natürlicherweise über den Fall gesprochen. Die Schwester habe oftmals gesagt: Ihre Lage sei geradezu entsetzlich. Es sei ihr (Zeugin) in der letzten Zeit einmal vorgekommen, als sei ihre Schwester eifersüchtig auf sie. Dies sei selbstverständlich ohne jeden Grund gewesen. Eine Eifersuchtsszene zwischen den Eheleuten habe sie niemals wahrgenommen. Auf weiteres Befragen bekundete die Zeugin: Sie seien sieben Geschwister gewesen, ihre Mutter hatte ein großes Vermögen. Die Mutter sei seinerzeit auf ärztliches Anraten nach Ajaccio gegangen. Es sei richtig, daß ihre Schwester mit dem Angeklagten geflohen sei. Ihre Schwester Luise habe erzählt, der Angeklagte habe in Realp auf ihre Schwester geschossen. Ihre Mutter habe auf dringendes Bitten ihrer Schwester eine sehr große Summe Geldes gegeben. Sie habe ihrer Schwester den Tod ihrer Mutter mit den Worten telegraphisch angezeigt: „Mama dann und dann beerdigt.“ Daraufhin habe sie ein gänzlich verstümmeltes Telegramm aus London erhalten. Ihre Schwester habe ihr erzählt: Die ersten Worte ihres Mannes nach dem Tode ihrer Mutter waren: „Denke dir, es wird behauptet, ich habe deine Mutter ermordet.“ Sie erinnere sich, daß, als sie bei der Villa Engelhorn vorüberkamen, die Uhr 5 Minuten über 6 zeigte; sie habe aber gehört, daß diese Uhr sehr vorgegangen sei. Unterwegs seien sie zwei elegant gekleideten Herren, einem älteren und einem jüngeren, ferner der Frau von Reitzenstein und einem Automobil begegnet. Ob sie einen Mann von der Größe des Hau gesehen habe, könne sie nicht mit Bestimmtheit behaupten.

Vors.: Sie haben nicht die Beobachtung gemacht, daß ein Mann von der Statur des Hau sich in der Nähe Ihrer Villa umhergetrieben hat?

Zeugin: Nein.

Vert.: Sie haben früher gesagt, Sie hatten das Empfinden, daß der Mann, der Ihnen nachgekommen war, geschossen habe?

Zeugin: Dieser Überzeugung bin ich noch heute.

Vert.: Sie haben ferner sogleich nach dem Morde gesagt: es müsse ein Racheakt sein.

Zeugin: Ich war der Ansicht, daß das Pariser Telegramm ein Racheakt war. Als nun Mama erschossen war, sagte ich: nun hat der Rächer seine Rache vollendet.

Vors.: Haben Sie eine bestimmte Person im Verdacht, die den Racheakt ausgeführt haben könnte?

Zeugin: Nein.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Sie halte es für ausgeschlossen, daß vom Dienstpersonal ein Racheakt ausgeübt worden sei. Sie hatten einen Diener, namens Wieland, dieser war aber sehr klein. Sie könne bestimmt versichern, daß nur ein Schuß gefallen sei.

Vors.: Angeklagter, was haben Sie auf die Aussage des Frl. Molitor zu sagen?

Angekl.: Nichts.

Vors.: Sie haben nichts auf die Aussage zu bemerken?

Angekl.: Nein.

Vors.: Angeklagter, Sie haben heute vormittag Andeutungen gemacht, als ob zwischen Ihnen und der Zeugin nähere Beziehungen bestanden haben. Geben Sie jetzt zu, daß die Aussagen des Frl. Molitor wahr sind?

Angekl.: Ich habe nichts dagegen einzuwenden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte die Zeugin: Sie habe den Hau für einen abnorm klugen, gen, geistig sehr hochstehenden Mann gehalten.

Auf Befragen des Geh. Hofrats Professor Dr. Hoche bemerkte die Zeugin: Der Angeklagte sei ihr wohl oftmals etwas komisch vorgekommen, sie habe aber keinerlei Wahrnehmungen gemacht, die auf Geistesgestörtheit des Angeklagten hätten schließen lassen. In den ersten Jahren der Verheiratung ihrer Schwester mit dem Angeklagten habe eine gewisse Spannung bestanden. Sie habe lediglich ihrer Schwester geschrieben, den Mann aber niemals grüßen lassen. Man hatte ihm nicht verziehen, daß er ihre Schwester verführt hatte. Es sei erst später zu einem Ausgleich gekommen. Der Angeklagte habe sehr große Ausgaben gemacht. Er habe allerdings stets von großartigen Plänen, durch die er Unsummen verdienen werde, gesprochen.

Vors.: Haben Sie ihm das geglaubt?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Wenn Sie gewußt hätten, daß seine Pläne nur Flunkerei seien, würden Sie alsdann sein luxuriöses Leben gebilligt haben?

Zeugin: Dann keineswegs.

Es wurde alsdann der türkische Schifferkat-Orden vorgelegt. Es ist das ein Orden mit vielen Brillanten besetzt. Diesen Orden hatte der Angeklagte seiner Frau mitgebracht.

Vors.: Von wem hatten Sie den Orden?

Angekl.: Er ist für meine Frau verliehen worden.

Vors.: Von wem ist er Ihnen verliehen worden?

Angekl.: Von der Pforte.

Vors.: Wer ist die Pforte?

Angekl.: Das türkische Ministerium des Auswärtigen.

Vors.: Bei uns verleiht Orden der Souverän. Vom deutschen Botschafter in Konstantinopel ist festgestellt worden, daß seit März 1906 ein solcher Orden nicht verliehen worden ist. Haben Sie den Orden vielleicht bei einem Juwelier gekauft?

Angekl.: Nein, ich habe den Orden von einem türkischen Großwürdenträger erhalten.

Vors.: Wer war dieser Großwürdenträger?

Angekl.: Ich lehne es ab, den Namen zu nennen. (Große Heiterkeit im Zuschauerraum.)

Fräulein Olga Molitor bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Orden sei ihr sehr komisch vorgekommen. Sie habe gesagt: Das seien gar keine Brillanten, sondern nur Kiesel.

Auf Antrag des Verteidigers wurde ein Brief der verstorbenen Gattin des Angeklagten verlesen. In diesem klagte diese ihrer Mutter ihre Not. Sie müsse sich sogar selbst die Wäsche waschen. Sie sei trotzdem mit ihrem Schicksal ganz zufrieden, es wäre eine Grausamkeit, ihr Familienglück stören zu wollen. Ihr Mann habe trotz seiner Jugend eine hervorragende Stellung bei der Universität erlangt.

Geh. Medizinalrat Dr. Naumann (Baden) bekundete: Er sei viele Jahre Hausarzt bei Molitor gewesen. Die ermordete Frau Molitor habe ihm oftmals gesagt, Sie ahnen nicht, wieviel ich nach Amerika schicken muß, mehr, als meine anderen Kinder wissen dürfen. Der Angeklagte habe in der letzten Zeit oftmals von seinen großen Einnahmen gesprochen und seine Frau mit Geschenken überschüttet. Auf Vorhalt der alten Frau Molitor habe der Angeklagte gesagt: Wir haben schlimme Zeiten durchgemacht, jetzt, da es uns gut geht, muß es mir auch gestattet sein, meine Frau reichlich zu beschenken. Der Angeklagte habe es auch veranlaßt, daß Frl. Olga mit nach Paris gefahren sei. Daß zwischen letzterer und dem Angeklagten nähere Beziehungen bestanden haben, halte er für ausgeschlossen.

Frau Molitor sei eine kerngesunde Frau gewesen, die gut noch 15 bis 20 Jahre leben konnte, zumal in ihrer Familie mehrere Leute sehr alt geworden seien. Der Täter müsse in kniender Stellung geschossen haben, um das Herz zu treffen. Die Kugel sei in den Rücken durch die Rippen mitten durch das Herz gegangen. Der Gerichtshof beschloß, Frl. Olga Molitor zu vereidigen. Letztere bekundete noch auf Befragen: Ihre Schwester Lina habe sich vor einigen Wochen im Pfäffikoner See bei Zürich ertränkt. Ihre Schwester habe ein Testament hinterlassen und sie (Zeugin) in einem längeren Brief gebeten, sich ganz besonders ihres Kindes anzunehmen. Das Kind solle einfach, aber fein erzogen werden.

Auf Befragen des Verteidigers bemerkte die Zeugin: Ihre Schwester Lina habe in Paris zu ihrer Mutter gesagt: „Weißt du, ich kann mir nicht helfen, ich bin auf ?Ogeli? eifersüchtig.“ Sie (Zeugin) sei in der Familie „Ogeli“ genannt worden.

Es erschien hierauf als Zeuge Redakteur Bratter: Er sei ständiger Korrespondent der „New York Sun“ in Konstantinopel. Er wohne augenblicklich vorübergehend in Berlin. Er habe den Angeklagten in Konstantinopel kennengelernt. Der Angeklagte, der sich einfach „Herr Hau“, nicht Doktor nannte, habe in Konstantinopel mit den höchsten türkischen Würdenträgern und Vertretern großer europäischer Zeitungen verkehrt. Er habe angeblich für eine amerikanische Reederei und für eine Gesellschaft Geschäfte zu machen gesucht, die sich mit Schießverbesserungen beschäftige. Er sei in Konstantinopel als „Grand seigneur“ aufgetreten, habe viel Geld verbraucht. Hau habe erzählt: sein Vater sei ein steinreicher Bankier, seine Mutter oder Stiefmutter eine geborene Gräfin. Seine Stiefmutter sei eine bildschöne Frau, in die er sich schon als 14jähriger Knabe verliebt habe. Seine Schwiegermutter sei ebenfalls eine steinreiche Frau von Molitor. Er habe gesagt, er sei Rechtsbeirat der türkischen und chinesischen Botschaft in Washington, konsultativer Rechtsanwalt und Universitätsprofessor in Washington. Sein Gesamteinkommen betrage 250000 M. jährlich. Er hatte sich in Konstantinopel eine Jacht gepachtet, die ihm jährlich 2000 M. kostete. Er hatte eine so große Vorliebe für Edelsteine, daß er (Z.) zu der Ansicht gekommen sei, Hau sei pathologisch zu beurteilen. Er habe so viel von sexuellen Ausschweifungen erzählt, die er schon als Student getrieben, daß er das für Übertreibung gehalten habe. Auch von sexuellen Ausschweifungen, die er in Konstantinopel getrieben, habe der Angeklagte ungeheuerliche Dinge erzählt. Der Angeklagte habe mit Halbweltdamen geradezu Orgien gefeiert, viele Bälle besucht usw. Einer Sängerin namens Otero hatte er ein Zimmer gemietet, für das er 60 Kronen monatlich zahlte. Er habe einmal den Angeklagten gefragt, was denn seine Frau machen würde, wenn sie von seinem ausschweifenden Leben erfahre; darauf habe er erwidert: Dann würde sie sich sofort scheiden lassen. Hau habe ein anderes Mal erzählt: Sein Vater sei ein angesehener Bankdirektor, Rittergutsbesitzer und Abgeordneter des Deutschen Reichstages. Hau habe so viel erzählt, daß er ihn für pathologisch gehalten habe. Von Hau selbst und anderen sei ihm mitgeteilt worden: Hau werde scharf von Spionen überwacht und den Anarchisten denunziert. Vom Sultan sei Hau nicht empfangen worden. Daß der Sultan Frau Hau empfangen wollte und daß Hau vom deutschen Kaiser empfangen werden sollte, habe er (Zeuge) nicht gehört. Er bezweifle, daß Hau den „Schifferkat-Orden“ erhalten habe.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Er habe gelegentlich bei dem Angeklagten einen Revolver gesehen. In Konstantinopel müsse jeder einen Revolver haben.

Auf Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Der Verkehr, den der Angeklagte mit Vertretern der Presse usw. hatte, habe keinerlei Anstoß erregt, wohl aber sein Verkehr mit dem Kammerdiener eines Botschafters. Mit diesem durfte ein Mann von der sozialen Stellung des Angeklagten nicht verkehren. Es sei richtig, daß es längere Zeit dauere, ehe man imstande sei, in Konstantinopel ein Geschäft zu machen.

Hierauf wurde der gerichtliche Schreibsachverständige Langenbruch, Berlin, als Sachverständiger vereidigt. Als Langenbruch seinen Vortrag beginnen wollte, bemerkte der Verteidiger R.-A. Dr. Dietz: Der Angeklagte gibt die Erklärung ab, daß er das Pariser Telegramm geschrieben habe. (Große, anhaltende, allgemeine Bewegung.)

Vors.: Angeklagter, wollen Sie diese Erklärung selbst abgeben?

Angekl.: Ich gebe zu, das Pariser Telegramm geschrieben zu haben. (Erneute allgemeine Bewegung.)

Vors.: Hat Ihre Frau davon Kenntnis gehabt?

Angekl.: Darüber gebe ich keine Erklärung ab.

Vors.: Sie geben aber zu, das Pariser Telegramm an Ihre Schwiegermutter geschrieben und es auf dem Telegraphenamt in Paris aufgegeben zu haben?

Angekl.: Ich habe nur erklärt, daß ich das Telegramm geschrieben habe.

Vors.: Und wer hat es aufs Telegraphenamt befördert?

Angekl.: Darüber will ich keine Erklärung abgeben.

Frau Dr. Müller (Linz), die Tante des Angeklagten, bekundete: Ich fragte einmal Frau Hau: ist es wahr, daß Ihre Schwester Olga in Ihren Mann verliebt ist? Frau Hau antwortete: Jawohl, das ist leider wahr. Haben Sie das nicht Ihrer Mutter erzählt und Ihre Schwester zur Rede gestellt, fragte ich. Frau Hau versetzte: Ich habe es meiner Mutter erzählt und auch meine Schwester mit den Worten zur Rede gestellt: Was hast du mit meinem Mann für ein „Techtelmechtel“? Auf Befragen eines Geschworenen bemerkte die Zeugin: Sie wäre in der Lage und auch bereit gewesen, dem Angeklagten 10000 M., ihren Kindern bis zu 50000 M. zu leihen. Der Angeklagte sei, solange er bei ihr in Pension war, sehr religiös gewesen. Sie habe erfahren, daß der Angeklagte in Untersuchungshaft den Geistlichen empfangen, gebeichtet und Absolution erhalten habe.

Ein Geschworener: Der Angeklagte hat heute Vormittag zugegeben, die Pariser Depesche geschrieben zu haben, weiß Frl. Olga Molitor vielleicht, weshalb der Angeklagte auf alle weiteren diesbezüglichen Fragen die Antwort verweigert hat?

Frl. Olga Molitor: Davon ist mir nichts bekannt.

Pfarrkurat Link (Karlsruhe) bezeichnete es als falsch, daß er dem Angeklagten Absolution erteilt habe.

Oberleutnant Molitor vom 145. Infanterie-Regiment in Metz: Er sei der Sohn der Ermordeten. Als er die Nachricht von dem Tode seiner Mutter erhielt, glaubte er zunächst, seine Mutter sei einem Schlaganfall erlegen. Erst als er in Baden-Baden in die Villa seiner Mutter eingetreten war, habe er erfahren, daß die Mutter erschossen worden sei. Der Verdacht der Täterschaft fiel sofort auf Hau. Nur seine Schwester Lina hielt die Täterschaft ihres Mannes für unmöglich. Sie sagte: Ihr Mann habe so viel Feinde, daß die Tat jemand begangen haben könne, um den Verdacht auf ihren Mann zu lenken. Schließlich habe sie aber nicht mehr an die Schuldlosigkeit ihres Mannes geglaubt.

Vors.: Es ist Ihnen bekannt, daß Ihre verstorbene Frau Mutter ein Telegramm aus Paris erhalten hat, in dem sie aufgefordert wurde, mit dem nächsten Zuge nach Paris zu kommen. Hätte Ihre Frau Mutter den nächsten Zug benützt, dann wäre sie abends nach 10 Uhr auf dem Ostbahnhof in Paris angekommen. Der Angeklagte hat gestern zugegeben, das Telegramm geschrieben zu haben, und zwar um die Entfernung Ihrer Schwester Olga zu bewirken. Haben Sie irgend etwas wahrgenommen, was auf nähere Beziehungen zwischen Ihrer Schwester Olga und dem Angeklagten schließen ließe?

Zeuge: Nein.

Der Zeuge gab alsdann näheren Aufschluß über den Leichenbefund seiner Schwester Lina, Gattin des Angeklagten, die sich bekanntlich am 7. Juni 1907 im Pfäffikoner See in der Schweiz ertränkt hat.

Der Vorsitzende verlas einen bei der Frau Lina Hau gefundenen Brief, in dem sie die Schweizer Polizei ersuchte, sie am Fundort ohne Geistlichen beerdigen zu lassen. „Mein Testament befindet sich in einer Schublade in der Villa Molitor zu Baden-Baden. Der Grund meines Selbstmordes ist leicht zu erraten. Mein Mann, den ich über alles liebte, wird der Ermordung meiner Mutter beschuldigt. Ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen.“

Der Zeuge Oberleutnant Molitor bemerkte im weiteren auf Befragen des Staatsanwalts: Nachdem er seiner ner Schwester Lina die Sachlage klargemacht hatte, begann sie zu weinen. Sehr bald darauf sagte sie: Sie habe sich nunmehr von der Schuld ihres Mannes überzeugt, sie habe dies auch dem Verteidiger ihres Mannes in London mitgeteilt. (Der Angeklagte wurde bekanntlich in London verhaftet und erst nach diplomatischen Unterhandlungen ausgeliefert.) Oberleutnant Molitor bekundete ferner: Seine Schwester sei nachher noch mehrfach schwankend gewesen. Sie sagte einmal: „Solange noch ein Atom vorhanden ist, das gegen die Schuld meines Mannes spricht, werde ich meinen Mann verteidigen. Wenn ich mich aber von der Schuld meines Mannes überzeugen sollte, dann ist es mit meinem Leben zu Ende.“

Vors.: Nun, Angeklagter, was haben Sie hierzu zu sagen?

Hau: Auf die ganze Aussage? Nichts.

Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen zu vereidigen.

Der Vorsitzende verlas noch einen von Lina Hau an den Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz, gerichteten Brief, der etwa folgendermaßen lautete: „Geehrter Herr Doktor! Der Besuch bei Hau im Gefängnis war vollständig unbefriedigend. Wir waren beide nahe an hysterischen Anfällen. Ich kann nicht mehr weiter leben. Ich kann die Verhandlung nicht überleben. Ich habe meinem Manne Vorstellungen gemacht, aber dabei die Menschlichkeit nicht außer acht gelassen. Ich will hoffen, daß dieser Brief keine üble Nachfolge haben wird. Dringen Sie in ihn.“

Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Seine Frau habe ihm in Gegenwart des Gefängnisinspektors gesagt: Sie könne unmöglich die Verhandlung überleben, da, wie doch der Staatsanwalt angedeutet habe, Dinge vorkommen werden, die für die Familie sehr unangenehm sein dürften. Seine Frau habe ihn aufgefordert, einen Selbstmord zu begehen, um die Verhandlung unmöglich zu machen. Er habe erwidert: er könne diesen Rat nicht befolgen, da dies ein Schuldbekenntnis wäre.

Vors.: Weshalb haben Sie nicht wenigstens den Versuch gemacht, Ihre Frau von dem Selbstmord abzuhalten?

Angekl.: Ich habe das sofort getan; ich habe sogleich gebeten, den Verteidiger telephonisch zu mir zu rufen. Herr Rechtsanwalt Dr. Dietz versprach mir auch auf mein Bitten, sofort alles zu tun, um meine Frau von dem Selbstmord zurückzuhalten.

Verteidiger Rechtsanwalt Dietz: Ich kann dies bestätigen; ich habe auch sofort das Erforderliche getan, Frau Hau war aber bereits abgereist, ihr Aufenthalt konnte nicht ermittelt werden.

Vors.: Jedenfalls scheint Ihre Frau von Ihrer Schuld überzeugt gewesen zu sein.

Angekl.: Keineswegs, sie sagte nur, sie könne die Verhandlung nicht überleben, in der Dinge vorkommen dürften, die für die Familie unangenehm sein werden.

Staatsanwalt: Ich habe Frau Hau seit November 1906 nicht mehr gesprochen. Ich habe mir eines Tages den Angeklagten vorführen lassen, ihm das gesamte Beweismaterial vorgehalten und ihn gefragt, ob er wirklich die gesamten Verhältnisse der Familie Molitor vor aller Welt verhandeln lassen wolle. Ich wollte den Angeklagten dadurch zu einem. Geständnis bewegen, zumal er bereits zugestanden hatte, das Telegramm nach London an sich selbst geschickt zu haben.

Frau Stahl (Frankfurt a.M.): Sie sei die Schwester der Stiefmutter des Angeklagten. Der Angeklagte habe ihr einmal erzählt: Er habe in Konstantinopel ein Souper gegeben, das 1600 Franken gekostet habe, allerdings sei das nicht oftmals vorgekommen. Er sei in Konstantinopel einmal von einem maskierten Räuber in seinem Hotelzimmer überfallen worden. Er habe den Räuber mit einem geladenen Revolver so lange in Schach gehalten, bis auf sein Hilfegeschrei das Hotelpersonal herbeigeeilt sei und den Räuber festgenommen habe. Er habe ihr ferner erzählt: Der Sultan habe den Wunsch geäußert, seine Frau zu empfangen. Da diese aber nicht kam, habe der Sultan einen Vertreter nach Baden-Baden gesandt, um seine Frau zu bitten, nach Konstantinopel zu kommen. Der deutsche Kaiser habe ihn empfangen wollen, damit er dem Monarchen Vortrag über amerikanische Verhältnisse halte. Auf dem Wege von Konstantinopel nach Wien habe sich ihm mit aller Gewalt eine Dame aufgedrängt. Diese mußte er mit vielem Gelde unterstützen, obwohl er deren Anerbietungen abgelehnt hatte. Er trug 5000 Franken bei sich. Auf ihre (der Zeugin) Frage, weshalb er soviel Geld bei sich trage, sagte er: Jawohl, das muß ich tun. Wenn ich Brillanten sehe, die mein Gefallen erregen, dann kaufe ich sie meiner Frau, wenn sie auch mehrere tausend Mark kosten.

Dienstmädchen Marie Bechle: Sie habe sofort, als sie ans Telephon trat, mit voller Bestimmtheit die Stimme des Dr. Hau erkannt und habe dies auch sogleich der Medizinalrätin mitgeteilt.

Auf nochmaligen Vorhalt des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Ich habe bezüglich meines Aufenthalts in Baden-Baden vieles zugegeben, um nicht nach Baden-Baden transportiert zu werden. Ich kann aber nicht zugeben, daß ich am 6. November 1906 meine Schwiegermutter mittelst Fernsprecher nach dem Postamt bestellt habe. Ich verweigere im übrigen bezüglich meines am 6. November in Baden-Baden geschehenen Aufenthalts jede Erklärung.

Untersuchungsrichter Amtsrichter Dr. Ritter bekundete kundete als Zeuge: Der Angeklagte habe zunächst alles bestritten, schließlich aber gesagt: er wolle Tatsachen, die durch Zeugen bewiesen werden können, nicht bestreiten, nur über Motive lehne er jede Erklärung ab. Er gab schließlich auf Vorhalt zu, in Frankfurt gewesen zu sein, sich dort einen falschen Bart und Perücke habe anfertigen lassen, am 6. November 1906 in Baden-Baden gewesen zu sein, dort auf einer Bank in der Kaiser-Wilhelm-Straße gesessen und an diesem Tage einen falschen Bart getragen zu haben. Ich sagte: Geben Sie auch zu, am Abend des 6. November in Baden-Baden an Ihre Schwiegermutter, die Frau Medizinalräti Molitor, telephoniert und sie nach dem Postamt bestellt zu haben? Nach einigem Zögern versetzte er: „Das gebe ich zu.“ Geben Sie auch zu, Ihre Schwiegermutter erschossen zu haben? fragte ich. Nach einigem Zögern sagte der Angeklagte: Das kann mir der Herr Untersuchungsrichter nicht beweisen.

Im weiteren Verlauf wurde Referendar und Maler Lenk als Zeuge vernommen: Er sei wegen Verdachts eines Sittlichkeitsvergehens verhaftet gewesen. Er hatte die Vermutung, daß er verhaftet, zum mindestens, daß seine Haft in die Länge gezogen worden sei, damit er in dem Prozeß Hau als Zeuge auftreten könne. Er sei so wenig belastet gewesen, daß er vom Schöffengericht ohne weiteres freigesprochen worden sei, das Gericht habe aber selbst eine hohe Kaution abgelehnt. Er habe deshalb von vornherein den Entschluß gefaßt, wenn er als Zeuge geladen werden sollte, sein Zeugnis zu verweigern. Durch die Verhandlung, die er in den Zeitungsberichten verfolgt habe, sei er jedoch in seinem Entschluß schwankend geworden. Er erkläre, wenn er von der Schuld des Angeklagten überzeugt wäre, würde er Zeugnis ablegen. Da das aber nicht der Fall sei, so verweigere er über die von ihm im Untersuchungsgefängnis gemachten Wahrnehmungen die Aussage. Ich habe gestern nacht, so etwa fuhr der Zeuge fort, an Fräulein Olga Molitor geschrieben und sie um eine Unterredung ersucht. Fräulein Olga Molitor und ihr Bruder haben aber die Unterredung abgelehnt. Als ich Oberleutnant Molitor sagte: es handle sich um sehr wichtige Dinge, und zwar sowohl im Interesse der Familie Molitor, als auch des Angeklagten, sagte Oberleutnant Molitor: Das Interesse des Angeklagten ist mir vollständig gleichgültig.

Vors.: Wenn Fräulein Olga Molitor Ihnen die Unterredung gewährt hätte, dann würde sie doch zur Kenntnis des Gerichts gekommen sein?

Zeuge: Das mag sein, jedenfalls lehne ich es ab, über das, was mir der Angeklagte gesagt hat, Zeugnis abzulegen, selbst auf die Gefahr hin, daß das Zwangsverfahren gegen mich angewendet werden sollte. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vert.: Ich beantrage, gegen den Zeugen das Zwangsverfahren anzuwenden. Die Sache ist doch zu wichtig, als daß ich auf das Zeugnis des Herrn Lenk verzichten könnte.

Vors.: Vielleicht teilt der Angeklagte mit, was er dem Zeugen mitgeteilt hat, wir kämen dadurch über das sehr mißliebige Zwangsverfahren hinweg. Zunächst ersuche ich Sie, Herr Verteidiger, anzugeben, welche Fragen ich dem Zeugen vorlegen soll.

Vert.: Ich beantrage, den Zeugen zu fragen, 1. ob der Angeklagte ihm Mitteilungen gemacht hat, 2. in welcher Stimmung sich der Angeklagte befunden hat, 3. im Falle der Bejahung der Frage zu 1: was ihm der Angeklagte mitgeteilt hat.

Zeuge: Ich erkläre, daß mir der Angeklagte Mitteilungen gemacht hat.

Vors.: In welcher Stimmung befand sich der Angeklagte?

Zeuge: Diese Frage kann ich nicht ohne weiteres beantworten.

Vors.: Weshalb nicht?

Zeuge: Ich war 14 Tage mit dem Angeklagten zusammen im Gefängnis. Wenn ich die Frage ohne weiteres beantworte, dann könnte das zu falschen Schlüssen führen. (Lautes Bravo im Zuhörerraum.)

Vors. (mit erhobener Stimme): Das Publikum hat sich jeder Beifalls – und Mißfallsbezeugung zu enthalten. halten. Sollte sich ein solcher Vorgang wiederholen, dann werde ich den Zuhörerraum unverzüglich räumen lassen. (Zum Zeugen gewendet): Wollen Sie also die zweite Frage beantworten?

Zeuge: Im allgemeinen kann ich nur sagen, der Angeklagte war außergewöhnlich aufgeregt.

Vors.: Und was hat Ihnen der Angeklagte mitgeteilt?

Zeuge: Darüber verweigere ich die Aussage. Wir haben uns gegenseitig das Wort gegeben, über unsere Unterhaltung gegen niemanden etwas verlauten zu lassen, ich fühle mich verpflichtet, dies mein Wort zu halten.

Vors.: Hatte auch der Angeklagte die Vermutung, daß Sie zu ihm gesetzt worden seien, um ihn auszuhorchen?

Zeuge: Wir waren beide von vornherein dieser Überzeugung.

Vors.: Wollen Sie sagen, ob und wie sich der Angeklagte über die ihm vom Staatsanwalt gemachte Mitteilung betreffs des Selbstmordes seiner Frau geäußert hat?

Zeuge: Jawohl, der Angeklagte sagte: Der Staatsanwalt hat mit dem Selbstmord meiner Frau in einer Weise operiert, die ich nur als im höchsten Grade unmoralisch bezeichnen kann.

Vert.: Und was haben Sie weiter mit dem Angeklagten klagten gesprochen?

Zeuge: Wir haben uns viel über Religion, Politik und andere wissenschaftliche Fragen unterhalten.

Vert.: Das interessiert uns nicht. Wollen Sie nicht sagen, was der Angeklagte Ihnen für Mitteilungen gemacht hat?

Zeuge: Nein.

Staatsanwalt: Sie sind gestern abend im Hotel „Erbprinz“ mit der Familie Hau zusammen gewesen?

Zeuge: Ich war gestern abend mit Herrn Rechtsanwalt Vögele im Hotel „Erbprinz“. Mit der Familie Hau war ich nicht zusammen. Ich hörte erst später, daß einige Tische vor uns die Familie Müller gesessen hat.

Rechtsanwalt Vögele bestätigte das und bemerkte: Er habe dem Angeklagten gesagt: er könne das Zwangsverfahren nur dann umgehen, wenn ihm der Angeklagte erlaubt, die Mitteilung preiszugeben.

Vors.: Angeklagter, wollen Sie den Zeugen von seinem Versprechen, nicht auszusagen, entbinden?

Angekl.: Nein. (Große Bewegung im Zuhörerraum.

Vert.: Dann beantrage ich, das Zwangsverfahren gegen den Zeugen in Anwendung zu bringen.

Vors.: Herr Zeuge, ich frage Sie, ob Sie bei Ihrer Zeugnisverweigerung beharren?

Zeuge: Ich muß erklären, daß ich mich dem Angeklagten gegenüber verpflichtet fühle, mein Zeugnis zu verweigern.

Vors.: Sie haben bereits gesagt, daß der Angeklagte über die Tat selbst sich nicht geäußert hat.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sie haben alsdann gesagt, Sie haben den Angeklagten gefragt, was ihn veranlaßt habe, noch einmal nach dem Kontinent zu kommen. Auf die Frage, was Hau darauf geantwortet hat, haben Sie die Aussage verweigert.

Zeuge: Jawohl, ich verweigere sie jetzt noch, sowie überhaupt über alle weiteren Mitteilungen, die mir Hau gemacht hat.

Vors.: Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird das Gericht, wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren sollten, nicht umhin können, das Zwangsverfahren gegen Sie anzuwenden.

Staatsanwalt Dr. Bleicher: Der Herr Zeuge hat sich wichtig gemacht und sich selbst als Zeuge angeboten, er ist daher auch verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Da der Zeuge sich weigert, so beantrage ich zunächst den § 69 Abs. 1, eventuell auch den Abs. 2 gegen ihn in Anwendung zu bringen.

Vert.: Es ist falsch, daß Herr Referendar Lenk sich selbst als Zeuge angeboten hat. Er hat lediglich mit seinem Verteidiger, Herrn Rechtsanwalt Vögele Rücksprache genommen. Herr Rechtsanwalt Vögele hat, angesichts des schweren Falles, sich verpflichtet gefühlt, dies dem Gerichtshof mitzuteilen. Da der Herr Zeuge sich weigert, Zeugnis abzulegen, so beantrage ich, da es sich um das Leben des Angeklagten handelt, den § 69 Abs. 1 und eventuell auch den § 69 Abs. 2 in aller Schärfe gegen ihn in Anwendung zu bringen.

Der Gerichtshof trat schließlich in Beratung. Der Vorsitzende verkündete alsdann: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Zeugen Kunstmaler Lenk, weil er ohne gesetzlichen Grund sein Zeugnis verweigert, auf Grund des § 69 Abs. 1 der Strafprozeßordnung zu einer Geldstrafe von 50 M., für die im Nichtbeitreibungsfalle 3 Tage Haft zu substituieren seien, zu verurteilen; von einer Zwangshaft auf Grund des § 69 Abs. 2 der Strafprozeßordnung hat der Gerichtshof vorläufig Abstand genommen.

Vert.: Dann bleibt eine äußerst wichtige Sache in diesem Prozeß unaufgeklärt.

Vors.: Der Gerichtshof hat doch den Zeugen zu einer Strafe verurteilt.

Vert.: Es hätte doch auf alle Fälle durch Anwendung der Zwangshaft der Versuch unternommen werden müssen, den Eigensinn des Zeugen zu brechen, damit er seine Wissenschaft über einen sehr wichtigen Punkt kundgibt.

Vors.: Es entsteht doch die Frage, ob, wenn der Zeuge in Haft genommen worden wäre, er aussagen würde.

Vert.: Der Versuch hätte unternommen werden müssen, jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, daß in Karlsruhe ein Mann, ein Kunstmaler und Referendar, umherläuft, der sich weigert, in einem Prozeß, in dem es sich um Leben und Tod handelt, in einer hochwichtigen Sache eine Aussage zu machen.

Referendar Lenk: Ich muß dem Herrn Verteidiger bemerken, daß ich nicht aus Eigensinn mein Zeugnis verweigere, ich muß daher diesen Vorwurf zurückweisen. Ich bemerke aber außerdem, daß mich auch die Zwangshaft nicht veranlassen würde, von meinem Entschluß abzugehen.

Vors.: Der Gerichtshof hat bei der Beschlußfassung erwogen, daß es in den Händen des Angeklagten liegt, den Zeugen zum Sprechen zu bringen; jedenfalls ist der Beschluß gefaßt, und vorläufig ist daran nichts mehr zu ändern.

Nunmehr erhob sich der Angeklagte und bemerkte unter größter allgemeiner Spannung: Ich will nicht, daß der Herr Zeuge meinetwegen bestraft wird, ich will deshalb eine Erklärung abgeben: Ich bin nach dem Kontinent und nach Baden-Baden gereist, um meine Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen, ehe ich nach Amerika zurückgehe. Die Eifersuchtsszenen in Paris sind Gegenstand der Erörterung gewesen. Meine Schwägerin Olga hat daran nicht die mindeste Schuld, leider kann ich nicht dasselbe von mir sagen.

Vors.: Das ist ganz eigentümlich. Weshalb sind Sie alsdann zunächst nach Frankfurt gefahren und haben sich dort einen falschen Bart und Perücke bestellt, um sich zu vermummen?

Angekl.: Ich wollte nicht erkannt werden.

Vors.: Sie sind aber auch nach Baden-Baden vermummt gefahren?

Angekl.: Ich habe schon gesagt, ich wollte nicht erkannt werden.

Vors.: Wollten Sie in der vermummten Weise Ihrer Schwägerin Olga entgegentreten?

Angeklagter schwieg.

Vors.: Wollten Sie Ihre Schwägerin nur sehen oder auch sprechen?

Angekl.: Auch sprechen.

Vors.: Dann lag doch die Gefahr vor, daß Ihre Schwägerin sich vor Ihnen gefürchtet hätte?

Angekl.: Ich hätte zu rechter Zeit den Bart abgenommen.

Vors.: Deshalb sandten Sie eine Depesche an sich nach London?

Angekl.: Jawohl, ich konnte doch meiner Frau nicht sagen, daß ich nach dem Kontinent bzw. nach Baden-Baden reisen wolle, um noch einmal mit meiner Schwägerin Olga zu sprechen.

Vors.: Was wollten Sie denn mit Ihrer Schwägerin Olga sprechen?

Angekl.: Ich empfand das dringende Bedürfnis, noch einmal meine Schwägerin Olga zu sehen und mich mit ihr auseinanderzusetzen, um in der Lage zu sein, wieder mit meiner Frau in Frieden zu leben.

Vors.: Dann sind Sie also der Mann gewesen, den Frau v. Reitzenstein beobachtet hat?

Angekl.: Das ist möglich.

Vors.: Auf welche Weise wollten Sie sich Ihrer Schwägerin Olga nähern?

Angekl.: Ich glaubte, ich werde Gelegenheit haben, meine Schwägerin allein sprechen zu können.

Vors.: Haben Sie sich deshalb in der Nähe der Villa Molitor auf die Bank gesetzt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie haben alsdann wohl Ihre Schwiegermutter deshalb auf die Post bestellt, weil Sie der Ansicht waren, Sie hätten infolgedessen Gelegenheit, mit Olga zu sprechen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie geben also zu, Ihre Schwiegermutter unter dem Vorgeben, der Postinspektor Graf zu sein, auf das Postamt bestellt zu haben?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Dann können Sie uns auch vielleicht sagen, wer den Schuß abgegeben hat?

Angekl.: Das weiß ich nicht, ich habe nicht schießen hören.

Vors.: Haben Sie nicht geschossen?

Angekl.: Keineswegs.

Vors.: Haben Sie vielleicht die Absicht gehabt, Ihre Schwiegermutter zu erschießen?

Angekl.: Keineswegs.

Vors.: Haben Sie, um schneller in den Besitz der Erbschaft zu kommen, auf Ihre Schwiegermutter geschossen?

Angekl.: Keineswegs.

Vors.: Weshalb sind Sie aber, wenn Ihr Gewissen rein war, mit so großer Eile am selben Abend nach London zurückgereist?

Angekl.: Ich wurde doch allgemein beobachtet, ich sah also ein, daß meine Bemühungen, meine Schwägerin zu sprechen, nutzlos waren.

Vors.: Weshalb haben Sie sich denn nicht früher erklärt, Ihre Untersuchungshaft wäre doch wesentlich abgekürzt worden?

Angekl.: Ich wollte nicht, daß meine Frau erfährt, daß ich meiner Schwägerin wegen nach Baden-Baden gefahren war.

Vors.: Wenn Sie gesprochen hätten, dann hätten Sie zum mindesten den Selbstmord Ihrer Frau verhindert.

Angekl.: Wenn ich alles so ruhig überlegt hätte wie heute, dann würde ich es getan haben.

Vors.: Als Ihre Frau Sie zum letzten Male im Gefängnis besuchte, dann muß sie aus Ihren Erzählungen offenbar die Überzeugung gewonnen haben, daß sie der Mörder ihrer Mutter seien. Sie hat Ihnen ja auch direkt gesagt, Sie könne das nicht überleben. Weshalb machten Sie nicht wenigstens den Versuch, Ihre Frau von dem Selbstmord zurückzuhalten?

Angekl.: Ich habe ja schon gesagt, daß ich alles aufgeboten habe, um meine Frau vom Selbstmord zurückzuhalten. Meine Frau hat mich im übrigen nicht für den Mörder ihrer Mutter gehalten; sie sagte: Sie könne es nicht überleben, daß unsere gesamten Familienverhältnisse vor aller Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung breitgetreten werden.

Vors.: Wie stimmt aber Ihre Handlungsweise zu der Erhebung des Schecks in Wien?

Angekl.: Ich habe bereits gesagt, daß ich den Scheckbetrag in einem Zustande der Bewußtlosigkeit erhoben habe.

Vors.: Aus welchem Grunde sandten Sie das Telegramm aus Paris an Ihre Schwiegermutter?

Angekl.: Ich wollte, daß Olga mit meiner Schwiegermutter so schnell als möglich zurückkehrte, weil durch deren Anwesenheit unser ehelicher Friede gestört war.

Vors.: Dann hätte es doch nähergelegen, an Ihre Schwiegermutter zu telegraphieren: „Laß Olga sofort nach Baden-Baden kommen.“

Angekl.: Man handelt nicht immer mit ruhiger Überlegung.

Vors.: Weshalb haben Sie hinter dem Rücken Ihrer Frau ihre Mitgift im Betrage von 65000 M. mit nach Konstantinopel genommen?

Angekl.: Weil ich das Geld zu Spekulationszwecken verwenden wollte, das sollte meine Frau nicht wissen.

Vors.: Wenn Sie nicht den Mut fanden, sich Ihrer Frau mündlich zu offenbaren, dann hätten Sie es doch schriftlich tun können. Sie hätten alsdann jedenfalls den Selbstmord Ihrer Frau verhindert?

Angekl.: Ich befürchtete, ein solcher Brief, der doch erst durch mehrere Hände gehen muß, würde nicht befördert werden.

Vors.: Diese Befürchtung war vollständig grundlos. Es ist auch kaum glaubhaft, daß dieser Umstand Sie von einem solchen Schreiben abgehalten hat. Sie sind von allen Seiten als ein intelligenter, geistbegabter Mensch geschildert worden, Sie sind Universitätsprofessor gewesen und sind Rechtsanwalt, wenn man dies alles erwägt, Angeklagter, so erscheint Ihre ganze Handlungsweise schwer erklärlich.

Angekl. schwieg.

Staatsanwalt: Weshalb haben Sie nicht an Ihre Schwägerin eine Karte geschrieben, in der Sie sie um eine Unterredung ersuchten? Das wäre doch bedeutend besser gewesen, als Ihre Schwiegermutter fälschlich nach dem Postamt zu bestellen?

Angekl.: Ich befand mich in geistig anormalem Zustande.

Vert.: Es ist hervorgehoben worden, daß zwischen meinem und dem Verteidigungssystem des Angeklagten ein Unterschied besteht. Ich bemerke, daß ich nur nach meinen Informationen handeln konnte. Nachdem ich die Verteidigung übernommen hatte, sagte ich zum Angeklagten: Ich kann nicht wissen, ob Sie der Täter sind, das müssen Sie aber wissen. Sie sind Jurist und Rechtsanwalt, Sie werden mithin wissen, was Sie mir für Informationen zu geben haben. Der Angeklagte versetzte: Halten Sie mich meinetwegen für den Täter, ich gebe keine weitere Erklärung.

Alsdann erbat sich Referendar Lenk das Wort.

Vors.: Wollen Sie jetzt Zeugnis ablegen?

Zeuge: Teilweise.

Vors.: Was wollen Sie sagen?

Zeuge: Ich will sagen, daß Hau sich allerdings in einer hochgradigen seelischen Depression befunden hat. Im übrigen stimmen seine heutigen Angaben nicht mit denen, die er mir gemacht hat. Der Angeklagte hat mir Mitteilung gemacht, die einen Schluß auf die Tat zulassen; im übrigen verweigere ich die Aussage.

Es wurde alsdann nochmals Fräulein Olga Molitor hervorgerufen.

Vors.: Sie haben gehört, Fräulein Molitor, was der Angeklagte gesagt hat, was sagen Sie dazu?

Zeugin: Ich hatte bisher keine Ahnung von alledem.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß der Angeklagte von London nach Baden-Baden gekommen ist, lediglich um noch einmal Sie zu sehen und zu sprechen?

Zeugin: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

Vors.: Hätten Sie denn den Angeklagten, wenn er sich Ihnen mit einem falschen Bart genähert hätte, erkannt?

Zeugin: Es ist möglich.

Vors.: Wenn der Angeklagte sich Ihnen offenbart hätte, was würden Sie dazu gesagt haben?

Zeugin: Ich hätte ihm gesagt, er solle zu seiner Frau zurückgehen.

Staatsanwalt und Verteidiger erklärten hierauf, auf jede weitere Zeugenvernehmung zu verzichten.

Geh. Hofrat Prof. Dr. Hoche, Freiburg: Der Angeklagte war ein frühreifer Jüngling, der sehr verschlossen war. Er habe, als er fast noch im Knabenalter war, ein sehr ausschweifendes Leben geführt und sich dadurch eine böse Krankheit zugezogen. Er habe später an Kopfschmerz und Schlaflosigkeit gelitten. Andererseits habe er ein ausgezeichnetes Gedächtnis. In der Verhandlung habe er eine staunenswerte Ruhe und Schlagfertigkeit an den Tag gelegt. Dem Angeklagten wäre es vermöge seiner großen Intelligenz und Energie ein leichtes gewesen, etwa vorhandene geistige Abnormitäten zu überwinden. Er könne sein Gutachten dahin zusammenfassen: Der Angeklagte habe sich am 6. November 1906 nicht in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder Geistesstörung befunden, wodurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

Prof. Dr. Aschaffenburg, Köln: Der Angeklagte habe ihm erklärt, er habe die Tat nicht begangen, es sei ihm nicht einmal bekannt gewesen, daß seine Schwiegermutter tot sei. Er habe kein pathologisches Moment an dem Angeklagten wahrgenommen, dagegen sei der Angeklagte ein durch und durch psychopathischer Mensch. Er komme ebenfalls zu dem Schluß: Der Angeklagte habe sich am 6. November 1906 nicht in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder Geistesstörung befunden, die seine freie Willensbestimmung ausschloß.

Unter allgemeiner Spannung wurde der Diener Paul Wieland als Zeuge in den Saal gerufen. Er war ein schlanker, großer junger Mann von 21 Jahren; er machte einen sehr harmlosen und vertrauenswürdigen Eindruck.

Der Verteidiger protestierte gegen die Vorvereidigung des Zeugen. Wenn der Angeklagte auch sagt: er sei der Meinung, daß Wieland als Täter nicht in Betracht komme, so sei doch ein leiser Verdacht der Täterschaft nicht ausgeschlossen.

Staatsanwalt: Es ist bisher auch nicht der geringste Schimmer eines Verdachts der Täterschaft gegen den Zeugen zutage getreten, es liegt mithin keinerlei Grund zur Aussetzung der Vereidigung vor.

Angekl.: Ich habe gegen die Vereidigung des Zeugen nichts einzuwenden.

Der Gerichtshof beschloß, die Vereidigung auszusetzen.

Der Zeuge erklärte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei in der Frankfurter Dienerschule ausgebildet worden. Am 20. Oktober 1906 sei er bei Frau Molitor in Stellung getreten. Es könne sein, daß er sich etwas ungeschickt angestellt habe, es sei seine erste Stellung gewesen. Frau Molitor sei deshalb oftmals erzürnt gegen ihn gewesen. Er habe sich aus diesem Anlaß mit Frau Molitor überworfen. Am Sonntag vor dem Morde habe er um Urlaub gebeten unter dem Vorgeben, in die Kirche gehen zu wollen. Er sei aber anstatt dessen zu dem Stellenvermittler Langguth gegangen und habe diesen gebeten, ihm eine andere Stellung zu verschaffen. Er habe zu Langguth gesagt: Der Frau Molitor könne man nichts recht machen. „Sie sei verrückt“, habe er nicht gesagt. Er habe allerdings gesagt: Frau Molitor nehme ihre Diener stets aus der Frankfurter Dienerschule, von anderer Seite erhalte sie überhaupt keine Diener.

Vors.: Waren Sie mit dem Essen zufrieden?

Zeuge: Mit dem Essen war ich sehr zufrieden.

Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Am 6. November 1906, nachmittags gegen halb 6 Uhr, hatte er verschiedene Gepäckstücke nach dem Bahnhof zu tragen. Alsdann habe er verschiedene Einkäufe besorgt. Kurz nach 6 Uhr habe er in der Nähe der Lindenstaffel eine Anzahl Leute stehen sehen. Diener Frank, der ihm begegnete, sagte ihm auf seine Frage: was da los sei: Es sei soeben eine alte Dame aus der Villa Molitor erschossen worden. Um nun schneller an die Mordstätte zu kommen, habe er einen Staketenzaun überstiegen und sich dadurch seine Hosen zerrissen. Er habe sich sehr bald von der Mordstätte entfernt und sei in die Villa gegangen, weil er sich wegen seiner zerrissenen Hosen geschämt habe.

Vors.: Welche Kündigungsfrist war ausgemacht?

Zeuge: Gar keine.

Vors.: Wann gingen Sie ab?

Zeuge: Einige Wochen nach dem Morde, als der Haushalt der Familie Molitor aufgelöst wurde.

Vors.: Haben Sie noch einen Anspruch an die Familie Molitor?

Zeuge: Nein, ich bekam meinen Lohn bis 1. Januar 1907 ausgezahlt und noch 10 M. Weihnachtsgeschenk.

Vors.: Wie verhielt sich der Angeklagte Ihnen gegenüber?

Zeuge: Sehr reserviert.

Vors.: Wissen Sie irgend etwas über den Mord oder den Täter zu sagen?

Zeuge: Nein, es wurde einmal gesagt: „Der Diener sei verhaftet.“ Als ich mich aber den Leuten vorstellte, schämten sie sich und liefen davon. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Hatten Sie irgendeinen Haß gegen Frau Molitor?

Zeuge: In keiner Weise. Frau Molitor war ja bisweilen etwas heftig, aber wieder sehr gut.

Vors.: Wie kam es, daß Ihre Vorladung zu dieser Verhandlung als unbestellbar zurückkam?

Zeuge: Ich habe in Potsdam meine genaue Adresse angegeben. Als ich gestern in den Zeitungsberichten las, daß mein Aufenthalt nicht zu ermitteln sei, habe ich meinen Dienstherrn – ich befinde mich auf dem Rittergut Warenbeck bei Kiel in Stellung – gebeten, dem Herrn Staatsanwalt meinen Aufenthalt telegraphisch anzuzeigen. Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen zu vereiden.

Freifrau v. Reitzenstein bekundete als Zeugin: Am 6. November 1906 sei sie gegen 5 Uhr 50 Min. nachmittags von ihrer Villa zur Villa Nagel gegangen, um einen Brief in den Briefkasten zu werfen. Als sie auf dem Rückwege fast bis zu ihrer Villa gelangt war, sei sie Frau Molitor mit ihrer Tochter Olga begegnet. Hinter den Damen ging in einiger Entfernung ein Mann mit graumeliertem Vollbart. Der Mann war mittelgroß, nicht so groß wie der Angeklagte.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte die Zeugin: Sie wisse nicht, ob der Mann in die Kronprinzenstraße eingebogen oder nach der Lindenstaffel gegangen sei.

Vors.: Kam Ihnen der Mann verdächtig vor?

Zeugin: Nein.

Vors.: Ging der Mann derartig hinter den Damen, daß man auf die Vermutung kommen konnte, er verfolge die Damen?

Zeugin: Nein.

Der Vorsitzende hielt der Zeugin vor, daß sie beim Untersuchungsrichter gesagt habe: es war ein großer Mann.

Zeugin: Ich möchte lieber sagen: es war ein mittelgroßer Mann. Als sie zum Briefkasten ging, sei sie einem großen Mann mit schwarzem Spitzbart in der Kaiser-Wilhelm-Straße in der Nähe der Villa Nagel begegnet. Es war ein Mann von der Größe des Angeklagten. Der Mann, der hinter den Damen Molitor herging, war kleiner als der Angeklagte und hatte einen graumelierten Vollbart.

Der Angeklagte gab zu, der große Mann mit dem schwarzen Spitzbart gewesen zu sein, dem die Zeugin begegnet sei.

Frau Terci: Sie sei kurz vor 6 Uhr abends in der Kaiser-Wilhelm-Straße in der Nähe der Villa Nagel einem großen Mann mit schwarzem Spitzbart begegnet. Der Freifrau v. Reitzenstein sei sie nicht begegnet, sie habe sie wenigstens nicht gesehen.

Freifrau v. Reitzenstein bemerkte, sie habe Frau Terci gesehen. Es gelangten hierauf mehrere Briefe der Frau Hau an den Angeklagten zur Verlesung. In einem Briefe schreibt Frau Hau aus Baden-Baden an ihren in Berncastl weilenden Mann: Olga habe ein Bändchen Gedichte geschrieben, sie könne aber nur schwer einen Verleger dafür finden.

Es sollte im weiteren ein Brief verlesen werden, gegen dessen Vorlesung der Angeklagte protestiert, da er reine Familienangelegenheit enthalte.

Vert.: Ich muß auf Vorlesung des Briefes bestehen; der Angeklagte behauptet: er sei wegen eines Rendezvous mit seiner Schwägerin Olga von London nach dem Kontinent zurückgereist, da muß er sich schon gefallen lassen, daß Briefe, die Familienangelegenheiten ten enthalten, verlesen werden. In einem der Briefe, die Frau Hau an ihren Mann geschrieben hat, heißt es: „Seitdem Olga Gedichte gemacht hat und keinen Verleger finden kann, stirbt sie an Größenwahn.“

Als weitere derartige Briefe verlesen werden sollten, bemerkte der Angeklagte halblaut zu seinem Verteidiger: Lassen Sie das doch, Herr Doktor, es hat doch keinen Zweck.

R.-A. Dietz: Ob es Zweck hat, überlassen Sie meiner Beurteilung.

In einem ferneren Brief von Frau Hau an ihren Mann teilte die Schreiberin eine Rede mit, die ihr Olga gehalten hat. Olga habe ihr Belehrung erteilt, wie sie ihren Mann behandeln solle. Du behandelst Deinen Mann ganz falsch. Du mußt Deinen Mann eifersüchtig machen und ihm den Glauben beibringen, daß er sich nicht todsicher auf Deine eheliche Treue verlassen kann, dann wirst Du ihn fester an Dich ketten. Frau Hau antwortete in humoristischer Weise und bemerkte: Nach meiner Rückkehr wollen wir so verfahren. In einem ferneren Briefe schrieb Frau Hau an ihren Gatten; Olga ist ein netter, kleiner Käfer, sie ist sehr hübsch und kann sehr interessant sein.

Hierauf wurde das Testament der Frau Hau verlesen. In diesem heißt es: Ich wünsche auf die einfachste, billigste Weise ohne Pfarrer und ohne Blumen in unauffälliger Weise beerdigt zu werden. Ich kann die Schmach, die über unsere Familie gebracht worden ist, nicht überleben, ich muß in den Tod gehen. Ich hinterlasse 10000 M., außerdem Juwelen, die in der Oldenburger Landesbank in einer verschlossenen Kassette sich befinden. Ich habe ferner ein Siebentel Anteil der Villa in Baden. Meine einzige Erbin ist mein Kind. Wenn mein Mann in Not sein sollte, so soll ihn sein Kind unterstützen. Sollte mein Mann alt und erwerbsunfähig sein, so soll ihm mein Kind eine Rente von 600 M. jährlich aussetzen, vorausgesetzt, daß sie sich in günstiger Vermögenslage befindet. Wenn mein Kind unverheiratet bleibt, so sollen ihr Vermögen meine Geschwister erben. Das beste wäre, das Kind käme in Pension zu meinem Schwager Bachelin. Mein Mann kann nicht Erbe meines Kindes sein, sie kann ihm aber 10000 M. für eine Lebensversicherungspolice aussetzten, damit mein Mann, wenn er herauskommt, vor Not geschützt ist.

Vors.: Nun, Angeklagter, Sie haben erklärt, Sie sind lediglich deshalb von London nach dem Kontinent zurückgekommen, weil Sie das Bedürfnis empfanden, Ihre Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen. Sie haben gesagt: Sie haben mit dieser Erklärung aus Rücksicht auf Ihre Frau zurückgehalten. Weshalb haben Sie aber auch nach dem Tode Ihrer Frau geschwiegen?

Angekl.: Ich hatte die Absicht, die Erklärung abzugeben, geben, und habe den Besuch des Herrn Vorsitzenden erwartet. Wäre der Herr Vorsitzende zu mir in das Gefängnis gekommen, dann hätte ich mich jedenfalls erklärt.

Vors.: Sie hätten sich doch aber auch dem Untersuchungsrichter, Herrn Amtsrichter Dr. Ritter, gegenüber erklären können.

Angekl.: Dem Herrn Untersuchungsrichter gegenüber wollte ich mich nicht erklären.

Vors.: Dann hätten Sie sich mir vorführen lassen können.

Angekl.: Ich erwartete von Tag zu Tag den Besuch des Herrn Vorsitzenden.

Vors.: Weshalb haben Sie alsdann nicht wenigstens bei Beginn der Hauptverhandlung die Erklärung abgegeben?

Angekl.: Bei Beginn der Hauptverhandlung hatte ich meinen Entschluß geändert.

Vors.: Nun frage ich Sie nochmals, haben Sie auf Ihre Schwiegermutter geschossen?

Angekl.: Nein, ich stehe dem Morde vollständig fern.

Vors.: Haben Sie irgendeinen Verdacht?

Angekl.: Nein.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Ihre Schwägerin Olga geschossen haben könnte?

Angekl.: Das halte ich für ausgeschlossen.

Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie auf Ihrer Rückreise nach London zwischen Calais und Dover Bart und Perücke in den Kanal geworfen?

Angekl.: Weil ich sie nicht mit nach London nehmen wollte.

Es wurde alsdann Fräulein Olga Molitor hervorgerufen.

Vors.: Fräulein Molitor, Sie haben bereits gesagt, Sie haben niemanden gesehen, sondern nur Schritte hinter sich gehört.

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Ich frage Sie nun, so leid mir das tut, hatten Sie irgendeine Ursache, Ihre Frau Mutter zu beseitigen?

Zeugin: Nicht im entferntesten.

Vors.: Hatte jemand von Ihrem Hauspersonal oder sonst jemand eine Ursache, Ihre Frau Mutter zu beseitigen oder sonst an ihr Rache zu nehmen?

Zeugin: Das halte ich für ausgeschlossen.

Die Schießsachverständigen gaben die Erklärung ab, daß der Schuß aus nächster Nähe abgegeben sein müsse.

Hierauf wurde die Beweisaufnahme für geschlossen erklärt und die den Geschworenen vorzulegende Schuldfrage, die auf vorsätzliche, mit Überlegung begangene Tötung lautete, verlesen. Staatsanwalt Dr. Bleicher, der hierauf das Wort zur Schuldfrage nahm, führte aus:

Meine Herren Geschworenen! Wenn wir die Mordtat, die uns 5 Tage lang beschäftigt hat, in einem Zolaschen oder Tolstoischen Roman gelesen hätten, dann würden wir gesagt haben: Das ist furchtbar, aber es ist glücklicherweise nur ein Roman. Es ist ja eine bekannte Sache, die furchtbarsten Dinge spielen sich nicht auf der Bühne, sondern im Leben ab. Genußsucht und Geldgier haben leider schon so manches Verbrechen gezeitigt. Auch im vorliegenden Falle war Genußsucht und Geldgier die Triebfeder und hat ein furchtbares Unglück über zwei hochachtbare Familien gebracht. Die 62 Jahre alte Medizinalrätin Molitor fiel, von der Schußwaffe getroffen, nachdem sie von dem Mörder in tückischster Weise in den Hinterhalt gelockt war. Die Erregung, die über diese furchtbare Tat sich der ganzen Kulturwelt bemächtigte, hatte sich noch nicht gelegt, da kam aus der Schweiz die erschütternde Nachricht, in den Wellen des Pfäffikoner Sees habe sich die Frau des Angeklagten ertränkt, weil sie die Überzeugung erlangt hatte, daß ihr Mann der Mörder ihrer Mutter war. Sie hatte erklärt, sie könne das furchtbare Unglück nicht überleben. Der Angeklagte hatte schon einmal auf ein Mitglied der Familie Molitor, auf seine spätere Frau, geschossen. Es war das sein erstes Verbrechen, wenn auch die Tat mit Einwilligung seiner Frau geschehen war. Der Angeklagte geklagte hat in dritter Reihe namenloses Unglück über seinen alten Vater gebracht, der vor Schmerz einen Schlaganfall erlitten hat. Das vierte Unglück hat der Angeklagte über das einzige Kind gebracht, das der Ehe des Angeklagten entsprossen ist. Wenn auch das Kind sich in einem Alter befindet, daß es sein furchtbares Schicksal, das es betroffen, noch nicht versteht, so liegt doch die Befürchtung nahe, daß eine ungeschickte rauhe Hand das Kind über sein Schicksal in späteren Jahren aufklärt. Welch furchtbares Schicksal für das Kind, zu erfahren: Der Vater ein Mörder, die Mutter hat sich selbst den Tod gegeben. Dies sind die vier Verbrechen, deren sich der Angeklagte schuldig gemacht hat. Nach dem Buchstaben des Gesetzes kann der Angeklagte nur wegen des hier zur Anklage stehenden Verbrechens zur Rechenschaft gezogen werden. Wegen der drei weiteren Verbrechen hat sich der Angeklagte nur vor seinem Gewissen und dem Richterstuhle der Moral zu verantworten. Dreiviertel Jahre sind seit jener furchtbaren Bluttat in der idyllischen Bäderstadt Baden-Baden verflossen. Daß die Angelegenheit erst jetzt zur Verhandlung kommt, ist nicht zu beklagen. Wir können jetzt wenigstens ohne Erregung und Leidenschaft an die Beurteilung der Sache herantreten. Ich werde versuchen, Ihnen in möglichst knapper Form den Lebenslauf des Angeklagten zu schildern. Nachdem er in Köln und Trier das Gymnasium besucht und das Abiturienten-Examen gemacht, hat er in Freiburg und Berlin studiert, 1901 ging er auf ärztliches Anraten nach Ajaccio, dies war für ihn verhängnisvoll. In Ajaccio lernte er seine Frau kennen. Da seine Schwiegermutter die eheliche Verbindung nicht zugeben wollte, wußte er seine spätere Frau zu überreden, 2000 M. auf ein Sparkassenbuch zu erheben und mit ihm zu entfliehen. Nachdem das Geld zu Ende war, entschloß er sich, mit seiner Frau zu sterben. Er schoß auf seine Frau mit deren Willen, verwundete sie und fand alsdann nicht den Mut, sich selbst zu erschießen. Er telegraphierte an seine Schwiegermutter und seinen Vater. Beide willigten dann in die Heirat, um die Ehre des Mädchens zu retten. Alsdann begab sich der Angeklagte mit seiner Frau nach Washington, studierte noch 6 Semester und wurde dann als außerordentlicher Professor für römisches Recht an die St.-Georg-Washington-Universität berufen. Sehr bald ging er aber mit dem Generalkonsul Dr. Schönfeld nach Konstantinopel, ohne jedoch geschäftliche Erfolge zu erzielen. Als er nach Washington zurückkehrte, wurde er Rechtsanwalt; in Wirklichkeit phantastischer Spekulant; der sich schon im Geiste als Millionär oder gar als Milliardär sah. Auf diesem Wage strauchelte er. Seine Frau sagte einmal: „Es wäre bedeutend besser gewesen, wenn er Professor geblieben wäre.“ Der Staatsanwalt schilderte alsdann das ausschweifende Leben des Angeklagten in Konstantinopel, die Einlösung des Schecks in Wien usw. Der Angeklagte hatte sein ganzes Vermögen und das seiner Frau fast vollständig verjubelt. Er hatte noch etwa 5000 M. in seinem Besitz. Da kam er mit seiner Frau nach Baden-Baden. Die Frau, die ihm Gastfreundschaft gewährte, unter deren Dach er wohnte, erkor er sich zum Opfer, um in Besitz von Geld zu kommen. Er machte mit seiner Frau und seiner Schwägerin Olga eine Vergnügungsreise nach Paris. Von dort sandte er ein Telegramm mit der Unterschrift seiner Frau nach Baden-Baden, in dem es hieß: „Komme sofort mit nächstem Zuge. Olga sehr krank.“ Da hatte der Angeklagte bereits seinen Mordplan gefaßt. Mit nächstem Zuge sollte Frau Molitor nach Paris kommen. Wäre Frau Molitor mit nächstem Zuge gefahren, dann wäre sie in später Nachtstunde auf dem Ostbahnhofe in Paris eingetroffen. Der Ostbahnhof in Paris liegt gänzlich außerhalb des Weichbildes der Stadt. Wäre Frau Molitor mit dem nächsten Zuge nach Paris gereist, dann wäre sie höchstwahrscheinlich schon in der Hauptstadt Frankreichs ermordet worden. Frau Molitor tat aber dem Angeklagten nicht den Gefallen, mit dem nächsten Zuge nach Paris zu fahren. Von Paris fuhr der Angeklagte mit seiner Frau nach London, um von dort nach Washington zu gehen. Da traf in London ein vom Angeklagten an sich selbst aufgegebenes Telegramm ein: er solle sofort nach dem Kontinent zurückkommen. Er fuhr eiligst ab und ersuchte seine Frau, strengstes Stillschweigen zu bewahren, damit die Konkurrenz von seiner Reise nichts erfahre. Der Staatsanwalt schilderte im weiteren den Aufenthalt des Angeklagten in Frankfurt und alsdann die Bluttat in Baden-Baden. Am Abend des vierten Verhandlungstages da bequemte sich der Angeklagte zu einem sogenannten Geständnis. Er sei lediglich nach dem Kontinent und Baden-Baden gekommen, weil er seine Schwägerin Olga, zu der er eine leidenschaftliche Zuneigung hatte, noch einmal vor seiner Abreise nach Amerika sehen und sprechen wollte. Auf die Frage des Herrn Vorsitzenden, weshalb er diese Erklärung nicht schon früher abgegeben, antwortete er: er habe es seiner Frau wegen nicht getan. Als seine Frau zu ihm ins Gefängnis kam und mit ihm eine Unterredung hatte, da erlangte sie die Überzeugung von der Schuld ihres Mannes und ließ in ihm keinen Zweifel, daß sie in den Tod gehen werde. Der Angeklagte fühlte sich nach alledem nicht veranlaßt, seiner Frau zu sagen: Ich will dir gestehen, ich bin nicht der Mörder deiner Mutter, ich hatte vorübergehend eine Zuneigung zu deiner Schwester Olga. Diese wollte ich noch einmal, ehe ich nach Amerika zurückreiste, sehen und sprechen. Nachdem aber die Frau tot war, da hatte der Angeklagte geklagte doch gewiß keine Ursache mehr, länger zu schweigen. Der Angeklagte schwieg aber weiter, auch in der Hauptverhandlung. Erst am vierten Verhandlungstage, nachdem die Komödie Lenk aufgeführt war, fühlte er sich in der Abendstunde endlich veranlaßt, eine Erklärung abzugeben. Der Tod seiner Frau veranlaßte ihn nicht, eine Erklärung abzugeben. Aber nachdem Lenk zu 50 M. verurteilt war, da konnte er es nicht mit ansehen, daß jemand seinetwegen verurteilt wird. Deshalb hielt er sich verpflichtet, die bekannte Erklärung zu machen. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, ist es schon einmal vorgekommen, daß ein Mensch die Frechheit hat, einem Gerichtshof zuzutrauen, so etwas zu glauben. Der Angeklagte empfindet das Bedürfnis, seine Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen. Dann sollte man annehmen, der Angeklagte würde so schnell als möglich nach Baden-Baden reisen. Er reiste aber zunächst nach Frankfurt a.M. Dort blieb er mehrere Tage, besuchte Verwandte und fragte den Portier des Hotels „Englischer Hof“, ob er ihm schöne Weiber nachweisen könne. Das tut ein Mann, der in höchster Leidenschaft für ein hochachtbares Mädchen schwärmt. Ein solcher Mann tritt, nachdem der Schuß gefallen ist, ohne seine Schwägerin gesprochen zu haben, mit größter Eile die Rückreise nach London’ an und wirft Bart und Perücke in den Kanal. So handelt nicht ein schwärmerischer Liebhaber, so handelt nur ein Mörder. Niemand anders als der Angeklagte hat den Mord begangen. Lediglich der Angeklagte kann in Betracht kommen. Der Staatsanwalt führte diesen Gedanken noch weiter aus und schloß: Sorgen Sie dafür, meine Herren Geschworenen, daß die furchtbare Mordtat nicht ungesühnt bleibt. Ich gebe mich der festen Hoffnung hin, daß Sie die Schuldfrage in vollem Umfange bejahen werden.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Dietz:

Meine Herren Geschworenen! Ich verkenne nicht den Ernst der Sachlage. Auch ich halte es für wünschenswert, ein solch furchtbares Verbrechen zu sühnen. Allein dies Verbrechen wird zu meinem großen Bedauern ungesühnt bleiben, und zwar einfach deshalb, weil der Täter nicht festgestellt ist. Frl. Olga Molitor hat die Überzeugung geäußert, daß der Mann, der hinter ihnen herging, der Mörder war. Dieser Mann war jedoch nach der Überzeugung der Frau v. Reitzenstein nicht der Angeklagte, sondern ein ganz anderer. Man hat aber zufällig den Angeklagten gegriffen, weil dieser sich vermummt hatte, und zwar in einer Weise, daß alle, die ihn sahen, über ihn lachten. So wie der Angeklagte handelt aber kein Mörder. Der Angeklagte hat vorher ganz offen mehrere Tage in Frankfurt im Hotel „Englischer Hof“ gewohnt und mit vielen Bekannten verkehrt. Er hat sich ganz offen einen falschen Bart und eine Perücke machen lassen und ist in dieser Vermummung nach Baden-Baden gefahren. Sie haben gehört, daß der Angeklagte aller Welt aufgefallen ist. Eine gewisse Leidenschaft macht nicht nur Menschen zu Hyänen, sondern auch Rechtsanwälte zu Eseln. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Und weshalb sollte der Angeklagte den furchtbaren Mord begangen haben? Nur weil er dadurch schneller sich in den Besitz des Erbteils seiner Frau von 75000 M. setzen wollte? Meine Herren Geschworenen, der Angeklagte war Rechtsanwalt in Washington. Die Verteidigung in einem größeren Prozeß in Amerika hätte dem Angeklagten 75000 M. eingebracht. Man kann deshalb nicht annehmen, daß der Angeklagte nach dem Kontinent zurückkommen wird, um sich zu vermummen und seine Schwiegermutter zu erschießen, um schneller in den Besitz von 75000 M. zu kommen. Man hat einen Menschen gegriffen. Man stellt ihn vor Gericht, verurteilt ihn und köpft ihn. Damit ist die Sache erledigt. Das ist doch aber kein gangbarer Weg. So wird in einem Kulturstaat nicht verfahren. Man hat versucht, durch Preßartikel die öffentliche Meinung gegen den Angeklagten zu beeinflussen. Die Presse ist eine Großmacht. Es ist höchst erfreulich, daß die Vertreter der Presse ihre Macht nicht mißbrauchen, daß sie nicht käuflich sind, sondern nach ihrer freien Überzeugung ein Urteil abgeben. Ich erwarte warte von Ihnen, meine Herren Geschworenen, daß Sie nicht einen Menschen zum Tode verurteilen, dessen Schuld nicht nachgewiesen ist. Die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen, daß zwei verdächtige Männer gesehen worden sind. Die Verhandlung erinnert an den Roman Sherlock Holmes. Es ist aber nicht angänglich, einen Menschen zum Tode zu verurteilen, ohne daß man ihm die Tat nachgewiesen hat. Die ganze Handlungsweise des Angeklagten spricht dagegen. Es ist gesagt worden, wenn die Geschworenen einen Freispruch fällen, dann haben sie dem Schwurgericht das Todesurteil gesprochen. Diese Bemerkung kann und darf Sie nicht beeinflussen. Wenn Sie die gesamten Umstände in Betracht ziehen, dann werden Sie, davon bin ich überzeugt, zu einem Nichtschuldig kommen.

Nach eingehender Rechtsbelehrung zogen sich die Geschworenen in später Nachtstunde zur Beratung zurück. Während der Plädoyers spielten sich vor dem Gerichtsgebäude die ärgsten Skandalszenen ab. Ein vieltausendköpfiges Publikum machte unter Johlen, Pfeifen und Schreien den Versuch, mit Gewalt in den Gerichtssaal, der ohnedies in geradezu beängstigender Weise überfüllt war, zu gelangen. Die zahlreichen Schutzleute und Gendarmen waren bemüht, mit blankgezogenem Säbel das Publikum zurückzudrängen, sie waren aber diesem Ansturm gegenüber machtlos. Sehr bald kamen zwei Kompagnien Infanterie angerückt. Auch das Militär wurde mit Pfeifen, Schreien, Johlen und Steinwürfen empfangen. Der befehligende Hauptmann, der selbst einen Steinwurf erhalten hatte, ließ die Aufruhrparagraphen vorlesen und befahl darauf, die Straße mit aufgepflanztem Bajonett zu säubern.

Nach etwa einstündiger Beratung bejahten die Geschworenen die Schuldfrage wegen Mordes. Der Gerichtshof verurteilte, dem Wahrspruch der Geschworenen entsprechend, den Angeklagten zum Tode, dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und zur Tragung der Kosten des Verfahrens. Während der Beratung des Gerichtshofs unterhielt sich der Angeklagte lächelnd mit seinem Verteidiger. Der Angeklagte nahm das Urteil mit staunenswertem Gleichmut entgegen. Er verabschiedete sich durch Händedruck von seinem Verteidiger und ließ sich alsdann ruhig abführen.

Als das auf der Straße stehende Publikum das Urteil erfuhr, machte es von neuem den Versuch, das Gerichtsgebäude zu stürmen. Als ich in später Nachtstunde aus dem Gerichtsgebäude trat, wurde ich von allen Seiten mit der geradezu vorwurfsvollen Frage belästigt, wie es möglich sei, einen Menschen auf Grund bloßer Indizien zum Tode zu verurteilen. Die Aufregung des Publikums, das die Straßen von Karlsruhe ruhe füllte, war furchtbar. Die Familie Molitor, insbesondere Fräulein Olga Molitor, die bereits am Sonnabend vor dem Urteilsspruch derartig vom Publikum beschimpft wurde, daß sie sich in eine Droschke flüchten mußte, hatte sich am letzten Verhandlungstage beizeiten in Sicherheit gebracht. Fräulein Olga Molitor wurde, obwohl nicht der leiseste Verdacht dafür vorhanden war, unbegreiflicherweise von einem verständnislosen Publikum als „Muttermörderin“ bezeichnet. Da Freifrau v. Reitzenstein zwei verdächtige Männer in der Nähe der Mordstätte gesehen haben wollte, wurde der Wahrspruch der Geschworenen vielfach, auch von einem Teil der Presse, als ein Fehlspruch bezeichnet. Einige Preßorgane stellten gegen Olga Molitor ehrenrührige Behauptungen auf. Es kam infolgedessen, insbesondere in Karlsruhe, zu einem umfangreichen gerichtlichen Nachspiel, das mit der Verurteilung der angeklagten Redakteure zu ziemlich hohen Strafen endete.

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz, hatte gegen das Urteil gegen Hau Revision eingelegt. Der erste Strafsenat des Reichsgerichts erkannte jedoch Ende Oktober 1907 auf Verwerfung der Revision. Ein alsdann vom Verteidiger gestellter Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde vom Karlsruher Landgericht und auch dem Badischen Oberlandesgericht abgelehnt. Der Großherzog von Baden begnadigte digte schließlich Hau zur lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Hau verbüßt diese Strafe im Zuchthause zu Bruchsal.

48 Bearbeiten

Die Ermordung zweier Frauen in der Königgrätzer Straße in Berlin

Der Mordprozeß Gönczi

Mit welchem Raffinement die Verbrecherzunft zu Werke geht, vermag nur der erfahrene Kriminalist zu wissen, zu dessen Obliegenheiten es gehört, jahraus, jahrein die Straftaten, die in der weiten Welt verübt werden, aus nächster Nähe zu verzeichnen. Zu diesen Kriminalisten zählen auch die Gerichtsberichterstatter. Deren Beruf bringt es mit sich, daß sie die ärgsten Straftaten wie alltägliche Vorkommnisse betrachten, daß sie mit einem Wort auf dem Standpunkt des „nihil admirari“ angelangt sind. Trotzdem kommt es vor, daß auch alte im Dienste ergraute Kriminalisten von einem gewissen Schauder ergriffen werden. So geschah es auch am 23. August 1897, als die deutsche Reichshauptstadt die Kunde durcheilte: im Hause Königgrätzer Straße 35, in unmittelbarer Nähe des Anhalter Bahnhofes, dicht am Askanischen Platz, also gewissermaßen im verkehrsreichsten und vornehmsten Teile Berlins, sei ein Doppelmord geschehen. Das vornehme Haus Königgrätzer Straße 35 gehörte der am 20. November 1823 geborenen Witwe Auguste Schultze geb. Lutze und deren Stieftochter, der am 7. Januar 1841 geborenen Klara Schultze. Der Ehemann der alten Schultze besaß im Kreise Spremberg große Gipsbrüche und noch ein zweites Haus in Berlin. Sein Vermögen soll sich auf weit über eine Million belaufen haben. Er wurde daher der „Millionen-Schultze“ oder auch der „Gips-Schultze“ genannt. Im Jahre 1892 starb Schultze und hinterließ sein großes Vermögen seiner Frau und Tochter. Diese beiden Damen lebten sehr zurückgezogen. Sie wohnten im zweiten Stock des Hauses Königgrätzer Straße 35 und führten ein förmlich einsiedlerisches Leben. Außer dem Manne, der ihnen täglich Kohlen brachte, einer Aufwärterin und einer Zeitungsfrau betrat kein Fremder die Schultzesche Wohnung. Die beiden Damen verließen ihr Heim nur, wenn sie in ihrem in der Prenzlauer Allee belegenen zweiten Hause die Mieten einziehen oder mit ihrem am Alexanderplatz wohnenden Bankier Rücksprache nehmen wollten. Sie machten weder Besuche, noch empfingen sie solche, zumal sie sehr geizig und nicht weniger mißtrauisch waren. Am 14. August 1897, vormittags 10 Uhr, waren die beiden Frauen zum letzten Male von Hausbewohnern lebend gesehen worden. Schon gegen Mittag des genannten Tages klingelte der Kohlenmann vergebens vor der Schultzeschen Wohnung. Aber auch Zeitungsboten, Briefträger usw. fanden trotz allen Klingelns keinen Einlaß. Den Hausbewohnern fiel dies wohl auf. Allein ein in der Mühlenstraße wohnender Schuhmacher, namens Gönczi, der einige Wochen vor dem 14. August 1897 im Hause Königgrätzer Straße 35 einen zu ebener Erde gelegenen Laden nebst Keller und Nebengelaß gemietet hatte, teilte den Hausbewohnern mit, die beiden Damen seien nach Paris gefahren, hätten ihm die Schlüssel ihrer Wohnung übergeben und ihn auch mit der Einziehung der Mieten betraut. Den Hausbewohnern schien das sehr wenig glaubhaft. Gleich darauf traf jedoch aus Hannover ein Telegramm von den vermißten Damen an einen alten Hausbewohner ein, in dem die Angaben Gönczis vollauf bestätigt wurden. Ein Telegramm gleichen Inhalts erhielt auch der Verwalter des Schultzeschen Hauses in der Prenzlauer Allee. Es fiel daher niemandem mehr auf, daß Gönczi mit Frau in der Schultzeschen Wohnung sich zu schaffen machte, und auch nicht, daß Gönczi eine Anzahl Fuhren Erde in den Keller schaffen ließ. Endlich, am 23. August, nahmen Hausbewohner einen eigentümlichen, aus dem Keller kommenden Geruch, der auf Leichenverwesung hindeutete, wahr. Als der Keller durch einen Schlosser geöffnet worden war, fand man in dem Vorderzimmer die dort hineingeworfene Erde aufgehäuft vor. Die Kriminalpolizei ließ die Erde abschaufeln, und man stieß alsbald auf zwei Kisten, in denen die Leichen der beiden Frauen, in schwarzes Wachstuch eingehüllt, vorgefunden wurden. Beiden waren die Schädel eingeschlagen, der alten Frau auch noch der Unterkiefer zertrümmert, beide Leichen waren mit Blut besudelt. Blutspuren deuteten darauf hin, daß der Mord in dem. Gönczischen Laden vollführt worden war; vermutlich hat der Mörder zunächst eine der Frauen in den Laden gelockt, dort ermordet und den Leichnam in den Keller geschafft, und dasselbe alsdann bei der zweiten getan. Die Beute des Raubmörders war nicht annähernd so groß, als er gehofft hatte, da Frau Schultze ihr Barvermögen im Betrage von etwa einer halben Million teils bei einem Bankier, teils bei der Reichsbank hinterlegt hatte. Außer einigen wenigen Wertpapieren im Betrage von einigen tausend Mark, mehreren Schmucksachen und einer kleinen Barsumme ist dem Mörder nichts in die Hände gefallen. Daß Gönczi die Tat vollbracht haben müsse, war sofort jedermann klar, die Bemühungen der Polizei, des Ehepaares Gönczi habhaft zu werden, waren jedoch zunächst vergeblich. Gönczi und Frau waren mit ihrem Hund schon einige Tage vorher aus Berlin abgereist. Es wurde sogleich vom Berliner Polizeipräsidium; im Verein mit den Erben der Ermordeten, eine hohe Belohnung auf Ergreifung des Gönczischen Ehepaares ausgesetzt. An die Polizeibehörden aller zivilisierten Staaten, an sämtliche deutschen Konsulate im Auslande und an zahllose Zeitungen der ganzen Welt wurden wiederholt Steckbriefe mit dem Bildnisse des Ehepaares geschickt, und durch besondere Aufrufe wurde die Öffentlichkeit zur Mithilfe bei der Entdeckung und Verhaftung der Flüchtigen aufgefordert. Es war jedoch keine Spur von dem verbrecherischen Ehepaar zu entdecken. Endlich nach vollen zwei Jahren, Anfang August 1899, kam ein Mann aus Curtiba (Brasilien) in das deutsche Generalkonsulat nach Rio de Janeiro. Als er den dort ausgestellten Steckbrief auf das Gönczische Ehepaar sah, bemerkte er sofort: er habe die beiden Leute oftmals in Curtiba gesehen. Auf Veranlassung des deutschen Generalkonsuls wurden sogleich Polizeibeamte nach Curtiba gesandt. Gönczi muß aber durch irgendeine Unvorsichtigkeit Wind bekommen haben, denn er war spurlos aus Curtiba und Umgegend verschwunden. Im September 1899 gelang es, Gönczi und Frau auf Anordnung des deutschen Generalkonsuls Werner in Rio de Janeiro zu verhaften. Nach längeren diplomatischen Verhandlungen wurden Gönczi und Frau per Schiff nach Hamburg und von dort nach Berlin gebracht. Der Hund „Butzi“, von dem sich die Gönczischen Eheleute auch in Brasilien nicht trennen konnten, wurde von dem Generalkonsul Werner zurückbehalten und für Rechnung des preußischen Justizfiskus verkauft. Gönczi und Frau hatten sich vom 3. bis 7. April 1900 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I wegen Mordes bzw. Beihilfe und Begünstigung zu verantworten. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Huth. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Plaschke; die Verteidigung war dem Rechtsanwalt Dr. Herbert Fränkel und Justizrat Grabower übertragen. Der Andrang des Publikums nach dem großen Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Gerichtsgebäudes war enorm. Der vor dem Richtertisch aufgestellte Zeugentisch war von einer Anzahl Pappschachteln bedeckt. Ferner sah man einen Teil des Gönczischen Ladentisches, die in Sackleinwand eingehüllten Kisten, in denen die Leichen der Frau Schultze und ihrer Stieftochter Klara vorgefunden wurden, ein Stück Läuferstoff und dgl. mehr. Zunächst wurde Frau Gönczi von einem Schutzmann auf die Anklagebank geführt. Sie war 50 Jahre alt, eine stark abgemagerte, blasse Frau mit einem Kropfhals. Der Kopf der Frau war fast unaufhörlich durch nervöse Zuckungen in Bewegung. Frau Gönczi befand sich in großer Erregung, so daß ihr wiederholt Hoffmannstropfen gereicht werden mußten. Gönczi, 47 Jahre alt, war ein schmächtiger Mann mit wohlgepflegtem grauem Vollbart und Haupthaar. Er erschien in schwarzem Anzug mit Gehrock und blickte ohne ein Zeichen der Erregung im Saale umher. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Gönczi: Er sei in Maros-Vasarhely (deutsch: Pflugstadt) stadt) in Siebenbürgen geboren, woselbst sein Vater Grundbesitz im Werte von 20000 M. bewirtschaftet habe. Er habe bis zu seinem 14. Lebensjahre die deutsche und ungarische Schule in Hermannstadt und Klausenburg besucht und sei dann in die Lehre zu einem Schuhmacher gekommen. Im Jahre 1872 sei er Soldat geworden und in das 62. Infanterie-Regiment (Prinz Ludwig von Bayern) in Karlsburg eingetreten. Nach dreijähriger Dienstzeit sei er im Jahre 1875 wegen einer Differenz mit seinem Bezirks-Feldwebel desertiert, aber wieder ergriffen worden und deswegen, sowie weil er einige dem Fiskus gehörige Sachen mitgenommen hatte, zu 4 Jahren schweren Kerkers verurteilt worden, welche Strafe er auf der Festung Theresienstadt verbüßt habe. Im April 1884 sei er losgekommen und bei dem Hofschuhmacher Lürmitz in Budapest als Geselle eingetreten. Dann sei er noch bei dem Hofschuhmacher Ristel in Wien und bei den Hofschuhmachern Bayer und Weidinger in München tätig gewesen. Im Jahre 1891 habe er in Budapest seine Frau geheiratet, die er in München kennengelernt hatte. Im Jahre 1892 trat er in das Müller & Schlitzwegsche Schuhwarengeschäft in Berlin ein, wo er 5 Jahre als Werkführer tätig gewesen sei. Im Mai 1897 habe er sich selbständig gemacht und im Hause Mühlenstraße 45 ein Wiener Schuhwarengeschäft eröffnet. Seine Frau habe 1500 M. in die Ehe gebracht.

Frau Gönczi bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei in Mindorf in Bayern geboren und katholischer Konfession. Bis zu ihrer Verheiratung war sie in München als Verkäuferin tätig. Sie wisse von der ganzen Sache nichts, sie wußte nicht einmal, daß ihr Mann in der Königgrätzer Straße, wo sich der Mord ereignete, eine Filiale besessen habe.

Vors.: Sind Sie beteiligt an dem Morde?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie wissen also auch nichts davon?

Angeklagte: Nichts; mein Mann hat mir nichts davon gesagt. Anfang August, so bemerkte die Angeklagte weiter auf Befragen des Vorsitzenden, habe ihr ihr Mann mitgeteilt, daß er eine Hausverwalterstelle bekommen habe. Sie habe sich nicht weiter darum bekümmert, da sie vollauf in dem Geschäft in der Mühlenstraße zu tun hatte. Am 14. August 1897, dem Mordtage, sei ihr Mann sehr früh fortgegangen und gegen 12 Uhr mittags sehr blaß und erregt zurückgekehrt. Am 18. August habe er plötzlich zu ihr gesagt, sie müßten sofort abreisen, sie solle ihre Sachen einpacken. Er habe ihr verschiedene Schmucksachen und Wertpapiere gezeigt, darunter mexikanische Anleihe, die er angeblich im Schlafzimmer der Frau Schultze gefunden habe. Er habe dazu angegeben: Die Frau Schultze habe ihn als Hausverwalter engagiert und ihn beauftragt, in ihrem Hause Ordnung zu halten, während sie mit ihrer Stieftochter eine Reise nach Hannover machte. Am 18. vormittags habe er die Wohnung der Frau Schultze leer gefunden und die Wertsachen an sich genommen. Ihr sei dies nicht auffällig erschienen, da ihr Mann die Schlüssel zu der Wohnung in der Hand hatte. Er sei auch schon am 14. einmal hingegangen, um dort Bilder anzunageln.

Vors.: Nahm er da etwas mit?

Angekl.: Ja, ein Beil.

Vors.: Hat er das wieder mitgebracht?

Angekl.: Nein. Die Angeklagte erzählte sodann weiter: Am Abend des 18. August 1897 habe ihr Mann zwei Droschken bestellt und sei in eine mit seinem Wolfsspitz eingestiegen, in der andern habe sie mit ihrem Dienstmädchen Martha Raffalski Platz genommen. Sie seien alsdann zuerst planlos herumgefahren und hätten sich schließlich zum Bahnhof Friedrichstraße begeben, wo sie sich bis zur Abfahrt des Zuges nach Frankfurt a.d.O. aufhielten.

Vors.: Ihr Mann hatte Ihnen wohl nicht gesagt, wohin Sie reisen würden?

Angekl.: Doch, er sagte, wir fahren nach Brüssel.

Vors.: Man fährt doch aber nicht über Frankfurt a.d.O. nach Brüssel?

Angekl.: Ich wußte ja nicht, wo Brüssel liegt. Die Angeklagte bemerkte hierauf, daß sie sich bis gegen 6 Uhr früh in Frankfurt a.d. Oder aufgehalten hätten und dann über Kottbus, Halle, Köln und Aachen nach Brüssel gefahren seien. Hier hätten sie sich zunächst nicht einlogiert, sondern seien die erste Nacht in den Straßen Brüssels herumgegangen. Am andern Tage erst habe ihr Mann in einem Hotel in der Nähe des Boulevard Wohnung genommen. Ende September seien sie dann nach Antwerpen und von dort mit einem Dampfschiff nach Rio de Janeiro gefahren. In Brüssel habe ihr Mann eine ihm nicht gehörende Uhr verkauft und in Antwerpen für das Geld eine neue erstanden. Die Wertpapiere habe er in Sao Paolo in Brasilien verkauft.

Vors.: Wo haben Sie denn nun die erste Nachricht von der Ermordung der Frau Schultze und ihrer Tochter erhalten?

Angekl.: In Brüssel. Mein Mann las es mir aus einer Zeitung vor.

Vors.: Hat er im Anschluß daran noch etwas zu Ihnen gesagt?

Angeklagte: Nein. Er hat mir nur nachher in Brasilien gesagt, der Löwy und der Schulz (der Schulz hat ein Restaurant in dem Hause der Frau Schultze) werden es schon wissen, wer es gewesen ist. Er deutete dann an, daß die beiden die Frauen gemeinsam umgebracht und in den Keller geschafft hätten, wobei er Hilfe geleistet habe.

Vors.: Wissen Sie, daß die Raffalski ein Liebesverhältnis hältnis mit Ihrem Mann hatte?

Angekl.: Nein, wenn ich das gewußt hätte, würde ich sie nicht im Hause geduldet haben.

Hierauf wurde der Ehemann Gönczi zur Sache vernommen. Im unverfälschten ungarischen Dialekt bestritt er mit denkbar größter Zungenfertigkeit die gegen ihn erhobene Anklage und beschuldigte den im Hause Königgrätzer Straße 35 wohnenden Gastwirt Hinz sowie den Hausverwalter Habermann der Tat. Er habe die beiden Frauen erst 4 Wochen vor ihrem Tode kennengelernt. Die alte Frau Schultze habe ihm sofort sehr großes Vertrauen entgegengebracht und ihm sogar die Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen. Es sei ihm bald aufgefallen, daß die Stieftochter Klara ein Verhältnis mit einem Schuhreisenden Löwy unterhielt, von dem die alte Frau keine Kenntnis hatte. Die beiden hätten sich in dem kleinen Zimmer hinter dem von ihm gemieteten Laden wiederholt getroffen. Löwy habe ihm geraten, den Laden auf recht lange zu mieten, damit er sich mit der Stieftochter recht oft und ungestört treffen könne. Hinz und Habermann hätten von diesem Verhältnis Kenntnis gehabt.

Vors.: Das Fräulein Klara Schultze war eine 56 1/2jährige alte Person, die von Gesichtszucken und Speichelfluß geplagt war und sehr „schlunzig“ ging. Wie wollen Sie uns glauben machen, daß sie unter diesen Umständen einen Liebhaber gefunden haben sollte? Angekl.: Das Verhältnis hatte ja auch schon vor 17 Jahren begonnen.

Vors.: Und während dieser langen Zeit soll die Mutter gar nichts davon gemerkt haben? Das ist doch kaum glaublich.

Angekl.: Es ist aber so. Der Angeklagte erzählte dann weiter: Der Vorschlag Löwys, mit ihm gemeinsam den Laden in der Königgrätzer Straße zu mieten, habe ihm sehr eingeleuchtet, da er Löwy für einen wohlhabenden Mann gehalten habe. Er habe dementsprechend auch die Firma Gönczi u. Co. an den Laden anbringen lassen.

Vors.: Wo wohnte denn dieser Löwy?

Angekl.: Er hat mir eine Visitenkarte gegeben, darauf stand: „Johann Löwy, Brüssel, Boulevard 2a.“

Vors.: Es ist auffällig, daß nicht darauf steht, welcher Boulevard. Ferner ist es auffällig, daß Sie den Löwy, als Sie nachher nach Brüssel kamen, nicht aufgesucht haben.

Angekl.: Ja, ich habe ihn nicht finden können. Der Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Am 14. August sei er mit Löwy und dessen Schwester, einer angeblichen Rentiersfrau, im Pschorrbräu zusammengetroffen und da habe ihm Löwy folgendes erzählt: Klara Schultze sei am 14. August mit ihrer Mutter von einer Reise aus Hannover zurückgekehrt. Er, Löwy, habe unten in dem Hinterzimmer terzimmer des Ladens sich aufgehalten und die beiden Damen gebeten, noch ein Glas Bier mit ihm zu trinken. Als Frau Schultze hinuntergekommen sei, habe sie gesagt: Herr Löwy, da Sie so anständig sind und uns Bier spendieren, so will ich Ihnen auch Zigarren anbieten. Sie habe die Stieftochter nach oben geschickt, um die Zigarren zu holen. Während dieser Zeit sei er, Löwy, zu dem Gastwirt Hinz hinübergegangen und habe diesem, der eine „große Wut“ auf die alte Schultze hatte, gesagt, er solle doch drei Glas Bier hinübertragen. Die alte Schultze sei übrigens allein im Zimmer, er könne sich dabei für den Ausdruck „Mörder“ revanchieren, mit dem ihn die alte Frau einmal belegt habe. Als dann Hinz ins Zimmer getreten sei, habe die alte Frau gerufen: „Wenn ich gewußt hätte, daß das Bier von diesem ?Mörder? kam, hätte ich mich nicht einladen lassen.“ Über diese Bemerkung sei Hinz so erregt geworden, daß er über die alte Frau hergefallen sei und sie geschlagen habe. Dabei sei das Licht umgefallen und in der Dunkelheit seien Löwy und Klara Schultze in das Zimmer getreten. Letztere habe ihrer Mutter zu Hilfe eilen wollen, sei aber in die Hände des Hinz gefallen und von diesem irrtümlich auch geschlagen worden. Als man Licht gemacht habe, sei Hinz ganz bestürzt gewesen und habe gerufen: „Nun habe ich ja die Klara auch totgeschlagen!“ Die beiden Frauen hätten noch bis in die Nacht hinein gelebt und seien erst infolge ihres großen Blutverlustes verschieden. Löwy habe sodann Wachsleinwand aus dem Laden geholt und diese um die Köpfe der Toten gebunden, worauf man die Leichen gegen Morgen in den Keller und hier in die Kisten geschafft habe. Löwy und Hinz hatten nun ihn, Gönczi, als Täter vorzuschieben beschlossen, da er keine Kinder hatte und Geld brauchte. Demgemäß habe ihm Löwy gesagt: Er, Gönczi, solle nach Brasilien gehen, er würde 10000 M. erhalten und solle ja nichts von der Sache sagen.

Vors.: Weshalb haben Sie denn nun nicht das Nächstliegende getan und sind zur Polizei gegangen, um die Sache anzuzeigen?

Angekl.: Löwy hatte mich ängstlich gemacht. Er sagte, die Geschichte wäre in meinem Laden passiert, die Wachsleinwand und die Kisten gehörten mir, also würde man mir nicht glauben und sie beide würden dann noch das Ihrige tun, um mich hineinzureiten.

Vors.: Sie flohen dann. Haben Sie die 10000 M. erhalten?

Angekl.: Nein. Löwy sagte, er würde mir das Geld erst schicken, wenn ich in Brasilien wäre, er gab mir aber Juwelen und Uhren, sowie Wertpapiere von der Frau Schultze, damit ich genügend Reisegeld hätte.

Vors.: Sie sind dann nach Brüssel gefahren. Weshalb fuhren Sie zunächst nach Frankfurt a.d.O.?

Angekl.: Ich wußte den richtigen Weg nicht.

Vors.: Hat Ihnen denn Löwy, der ja angeblich in Brüssel wohnte, den Reiseweg nicht gesagt?

Angekl.: Nein.

Der erste Zeuge war Polizeileutnant Höpfner, Vorsteher des für das Haus Königgrätzer Straße 35 zuständigen Polizeireviers. Er bekundete: Nach dem 14. August 1897 sei wiederholt auf seinem Bureau davon gesprochen worden, daß in dem Hause Königgrätzer Straße 35 nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Trotzdem die Wirtin Frau Schultze und ihre Stieftochter angeblich verreist seien, bringe doch jeden Morgen der Bäcker das Frühstück, der Kohlenmann die Kohlen und die Botenfrau die Zeitungen. Es sei doch merkwürdig, daß die Frauen die Leute nicht abbestellt hätten. Am 25. August sei dann der Bankier Gumpel, der der Vermögensverwalter der Frauen war, zu ihm, Zeugen, gekommen und habe seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß die Frauen abgereist sein sollten, ohne bei ihm Geld zu erheben. Das Gerücht, daß die Frauen verreist seien, hatte Gönczi verbreitet. Er, Zeuge, habe daraufhin in Begleitung von zwei Kriminalschutzleuten das Haus durchsucht, und dabei sei ihm vor allem das am 16. August ohne Anzeige bei dem zuständigen Revier erfolgte Abladen mehrerer Fuhren Sand in das unter dem Gönczischen Laden befindliche Kellerzimmer verdächtig erschienen, um so mehr, als das Zimmer gedielt und früher bewohnt wurde. Gönczi hatte angegeben, Löwy wollte unter dem Sande einen größeren Posten Ungarwein aufbewahren. Als er (Polizeileutnant) das Kellerzimmer betreten wollte, fand er daselbst ein Kunstschloß vorgelegt, das auch ein herbeigerufener Kunstschlosser nicht zu öffnen vermochte. Er habe deshalb die Türfüllung herausnehmen und durch die entstandene Öffnung die beiden Beamten hineinkriechen lassen. In dem Zimmer wurde der angefahrene Sand in einer Ecke aufgeschaufelt vorgefunden. Ein Spaten stand dabei. Mit diesem schaufelte einer der Schutzleute etwas Sand beiseite, worauf eine Kiste sichtbar wurde. Es sei ihm, Zeugen, aufgefallen, daß der Wein in Kisten liegen sollte, statt direkt in dem Sande, er habe deshalb die Kiste öffnen lassen. Da habe man die Leiche der Klara Schultze und später in der anderen Kiste die der alten Frau Schultze gefunden. Die sofort benachrichtigte Kriminalpolizei habe das weitere veranlaßt.

Dr. med. Köhler bekundete: Er habe die erste ärztliche Untersuchung der beiden Leichen vorgenommen. Beide Leichen waren schon stark in Verwesung übergegangen. Die Gesichter seien entweder mit einem Beile oder einem eisernen Totschläger bearbeitet worden. Das Stirn- und Nasenbein war bei beiden Leichen vollständig zertrümmert.

Der Gerichtschemiker Dr. Paul Jeserich legte hierauf einen Läufer auseinander, an dem er Blutspuren nachweisen wollte. Dieser Läufer lag hinter dem Ladentisch in der Königgrätzer Straße und ließ äußerlich keine Blutspuren erkennen. In dem Augenblick, als der Vors. den Angeklagten fragte: Kennen Sie den Läufer, antwortete dieser in seiner schnellen Sprechweise: Gewiß, darauf fiel ja die Frau hin, als sie – dann stockte er und versetzte: So sagte mir Löwy.

Staatsanw. Plaschke: Ich konstatiere, daß der Angeklagte gesagt hat, die Frau ist auf diesen Läufer gefallen. Ob ihm Löwy dies mitgeteilt hat, lasse ich dahingestellt. Tatsache ist, daß der Angeklagte bisher den Schauplatz der Tat immer in das Hinterzimmer des Ladens verlegt hat.

I bitt’ schön, Herr Staatsanwalt, die Frau ist aus dem Hinterzimmer in den Laden hinein und auf den Läufer gefallen.

Staatsanw.: Das ist ganz unwahrscheinlich.

Bankier Gumpel bekundete als Zeuge: Er habe ca. 150000 M. in Wertpapieren in Aufbewahrung gehabt und den Frauen davon ca. 4000 M. stets zur Verfügung gestellt. Das letztemal habe er Brauhaus-Aktien und mexikanische Anleihe gegeben. Die Stieftochter Klara habe unumschränkte Vollmacht gehabt und habe hauptsächlich die Verhandlungen mit ihm, Zeugen, geführt.

Vors.: Was ist denn nun an der Bezeichnung Gips-und Millionen-Schultze dran?

Zeuge: Der Mann der Frau Schultze, ein Bauunternehmer Schultze, besaß die Gipsbrüche bei Spremberg in der Mark, die einen Wert von 5-600000 M. haben mögen. Bei einem Verkaufe würden 2-300000 M. herausgekommen sein. Da die alte Frau Schultze außer diesen Gipsbrüchen auch noch 180 Morgen Wiesen und ferner die drei Grundstücke in Berlin besaß, so konnte man sie auf 1 1/2 Millionen Mark taxieren. Der Zeuge bekundete ferner: Es sei ihm aufgefallen, daß die Frauen sich bei ihm nicht sehen ließen. Er habe daher im Hause Königgrätzer Straße 35 Nachfrage gehalten und sei dabei auf Gönczi gestoßen. Dieser habe angeblich in der Schultzeschen Wohnung die Gaslampen in Ordnung gebracht und zu ihm gesagt: die beiden Frauen seien nach Hannover und Paris gefahren und kämen demnächst wieder. Er, Gönczi, sei der von ihnen eingesetzte Hausverwalter, und bringe ihre Wohnung in Ordnung. Ihm, Zeugen, sei das alles sehr auffällig erschienen, da einmal die beiden Frauen seit Jahren nicht mehr gereist waren und andererseits, weil sie ihm von der Einsetzung Gönczis als Hausverwalter nichts mitgeteilt hatten. Schließlich sei es ihm auch verdächtig erschienen, daß die als sehr mißtrauisch bekannten beiden Frauen dem Gönczi ihre Wohnungsschlüssel hinterlassen haben sollten. Auf Grund aller dieser Umstände habe er am 23. August 1897 die Anzeige bei dem zuständigen Polizeirevier erstattet, die zur Entdeckung der Mordtat geführt habe.

Da der Angeklagte immer wieder auf Löwy zu sprechen kam, forderte ihn der Vorsitzende auf, die Persönlichkeit des Löwy genau zu schildern.

Angekl. Gönczi: Er war eben ein älterer Mann, so 42-46 Jahre alt. Sein Haar war rötlich-grau, und er war ein geborener Brüsseler.

Vors.: Was für eine Religion hatte der Mann denn?

Er war ein getaufter Israelit.

Vors.: Sprach er denn nur immer Französisch?

Angekl.: Aber nein, er sprach gut Deutsch.

Vors.: Aber Französisch doch auch.

Angekl.: Einmal hat er Französisch gesprochen, sonst sprach er immer seine Muttersprache.

Vors.: Wie das?

Angekl.: Nun, Belgisch. (Große Heiterkeit.)

Wirtschafterin Franz bekundete als Zeugin: Sie sei Wirtschafterin beim Geheimrat Thür, der eine Wohnung neben der der Damen Schultze innehatte. Sie kannte die Ermordeten seit drei Jahren. Die beiden Damen haben ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Am Sonnabend, den 14. August 1897, sei es ihr aufgefallen, daß der Eismann keinen Einlaß in die Wohnung finden konnte und daß die Singspiel, die das Eis angenommen, mit dem gleichen Mißerfolge zu verschiedenen Tageszeiten an der Schultzeschen Wohnung geklingelt hatte. Gönczi habe ihr später die Mitteilung gemacht, daß die Damen verreist seien. Befremdet habe es sie, daß Gönczi Erde und Schutt in den sauber gestrichenen und tapezierten Keller habe werfen lassen. Auf Befragen habe Gönczi erklärt, daß er einen kleinen Weinhandel anfangen und die Erde zum Lagern des Weines benutzen wolle. Gönczi habe ihr erzählt, die Schultzens seien nach Brüssel und Paris gefahren, sie kehrten vielleicht nicht mehr zurück, denn sie wollten sich eine Villa kaufen und hätten ihn beauftragt, das Haus zu verwalten und die Wirtschaft nachzuschicken; er kenne Frau Schultze schon seit 5 Jahren, seine Frau sei eine entfernte Verwandte von ihr. Am Tage darauf sei sie (Zeugin) von einem Spaziergange zurückgekehrt und habe im Vorübergehen in das Fenster des Gönczischen Kellers hineingesehen. Es sei ihr sogleich der Gedanke gekommen: „Die Schultzes liegen gewiß da unten ermordet im Keller“. Da trat von der gegenüberliegenden Straßenseite Gönczi hastig auf sie zu und sagte erregt: „Frau Schultze ist verreist“, worauf sie entgegnete: „Das haben Sie mir ja schon gestern gesagt.“ Hierauf drang Gönczi in sie, sie möchte sich doch einmal die Schultzesche Wohnung ansehen. Nach anfänglicher Weigerung sei sie auf seinen Wunsch eingegangen. gegangen. Die Wohnung sah aus wie eine Trödelbude. Es sei ihr aufgefallen, daß die Betten auch in Unordnung waren, wie sie doch jemand, der verreist, nicht zurücklasse. Im Berliner Zimmer habe sie die Hüte der Schultzeschen Damen liegen sehen. Da ihr bekannt war, daß die Damen andere Hüte nicht besaßen, so erschien ihr die ganze Sache höchst verdächtig und unheimlich. Sie habe sich deshalb über ihre Begegnungen mit Gönczi schriftliche Aufzeichnungen gemacht. Noch denselben Abend habe sie die frühere Portierfrau, Frau Murowski, aufgesucht und dieser ihre Bedenken mitgeteilt. Auf ihre Erzählung, Gönczi behaupte, daß er die Frauen Schultze schon seit 5 Jahren kenne, habe Frau Murowski sofort gesagt: Das ist eine grobe Lüge. Auch Frau Murowski war überzeugt, daß ein Verbrechen vorliege. Von der Existenz eines Löwy im Hause habe sie (Zeugin) keine Ahnung.

Vors.: Was sagen Sie dazu, Gönczi?

Angekl.: Wenn das Fräulein sagt, ich kenne Frau Schultze schon seit 5 Jahren, so hat sie falsch verstanden. Ich habe gesagt, ich bin seit 5 Jahren hier und kenne die Frau nicht.

Maurerpolier Habermann bekundete: Er sei am Mordtage gar nicht in der Königgrätzer Straße gewesen.

Staatsanw.: Kennen Sie den Löwy?

Zeuge: Nein.

Staatsanw.: Der Angeklagte behauptet, daß Sie auch um den Mord ganz genau wissen.

Zeuge (entrüstet): Ich?

Gönczi (sehr eifrig): Jawohl! Dieser Mann sollte die Leichen einmauern und auch 10000 M. erhalten.

Zeuge: Das ist eine ganz gemeine Lüge.

Vors.: Gönczi hat folgendes behauptet: Er habe am 14. August die Gasleitung revidiert und als er sich im ersten Stock befunden, habe er im Keller ein Poltern gehört; er habe dann Habermann gesehen, der ihm zugerufen, er habe sein Handwerkszeug m den Keller getragen. Nach kurzer Zeit habe er gesehen, daß Hinz und Löwy auf zwei Brettern einen Gegenstand nach dem Keller hinuntergeschleppt hätten. Er habe angenommen, daß der Wein angekommen sei, den Hinz im Sande habe lagern wollen, tatsächlich seien es aber die Leichen gewesen.

Der Zeuge Habermann hörte diese Erzählung kopfschüttelnd an und erklärte diese Behauptungen für „so erlogen, daß es keine Worte dafür gibt“.

Gönczi: Der Zeuge kennt den Löwy ganz genau, er kennt ihn 16 oder 17 Jahre.

Zeuge: Ach, Unsinn!

Es wurden alsdann mehrere Bewohner des Hauses Königgrätzer Straße 35 vernommen, die sämtlich bekundeten, daß sie von dem angeblichen Löwy weder etwas gesehen noch gehört haben.

Droschkenkutscherfrau Hahn bekundete: Sie habe mit Gönczis Wand an Wand in der Mühlenstraße gewohnt. In der Nacht zum 13. August 1897, also in der Nacht vor dem Morde, habe sie Frau Gönczi laut weinen gehört. Beide Ehegatten haben so laut und erregt gesprochen, daß sie einen Zank zwischen beiden vermutete. Sie wunderte sich darüber, da ein solcher Zank noch nie vorgekommen war. Gönczi habe seiner Frau immer wieder energisch zugerufen, sie solle still sein.

Dienstmädchen Temme: Sie war im Hause Königgrätzer Straße 35 bedienstet. Am Tage nach dem Morde sagte ihr Gönczi, daß die beiden Schultzes nach Paris gereist seien und ca. 6 Wochen dort bleiben würden. Wenn sie irgend etwas wünsche, solle sie sich an ihn als den Verwalter wenden. An diesem Tage abends habe sie Gönczi nochmals gesehen, als er die Treppenlampen anzündete.

Gönczi: Ich kenne das Fräulein nicht, am Sonntag hat Löwy das Gas angezündet.

Vert. R.-A. Fränkel: Hat die Zeugin nicht in der Zeit vom 14. bis 20. August einmal zwei unbekannte Männer auf dem Hofe des Hauses bemerkt?

Zeugin: Ja. Ich frug sie, was sie wollten, sie versteckten sich aber. Nachher traf ich sie nochmals und da sagten sie, sie wollten die Kellerwohnung im Hause mieten.

Der frühere Portier des Hauses Königgrätzer Straße 35, den die Frau Schultze entließ, weil sie die Hauswartung mit ihrer Tochter allein ausführen wollte, bekundete, daß auch er den angeblichen Löwy nie bemerkt und auch nichts von einer Liebschaft der Klara Schultze wahrgenommen habe.

Filzschuhfabrikant Schmolling: Er kenne Gönczi vom Müller u. Schlitawegschen Geschäft her, wo er sein Mitarbeiter war. Gönczi sei ein ruhiger, liebenswürdiger Mann gewesen; er habe viel mit ihm verkehrt. Am 15. August habe er Gönczi eines Geschäftes wegen aufgesucht. Gönczi sei gegen 6 Uhr nach Hause gekommen und etwas erregt gewesen. Er, Zeuge, habe ihn dann ersucht, mit ihm einen Spaziergang nach Treptow zu machen, Gönczi habe dies aber abgelehnt mit dem Bemerken, er müsse nach der Königgrätzer Straße, um das Gas anzuzünden. Gönczi habe ihm auch einen Bund Schlüssel gezeigt und gesagt: Ich habe da eine sehr gute Verwalterstelle, die Leute haben mir sogar die Schlüssel zu ihrer Wohnung und zu ihrem Geldschrank gegeben.

Gastwirt Hinz bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, daß er einen Mann namens Löwy nicht kenne.

Vors.: Hat ein Löwy in dem Hinterzimmer des Gönczischen Ladens gewohnt?

Zeuge: Ich weiß nichts davon.

Vors.: Hat ein Löwy in Ihrem Lokal verkehrt?

Zeuge: Nein, niemals.

Vors.: Gönczi behauptet, Sie kennen den Löwy.

Zeuge: Das ist alles Schwindel, ich kenne den Mann gar nicht.

Angekl. Gönczi: Er kennt ihn ganz genau, aber jetzt verleugnet er ihn. Der Zeuge bemerkte hierauf: Er habe eine sogenannte „Droschkenkutscher-Kneipe“, in der viel Lärm herrsche, so daß er von den Vorgängen in dem nebenan belegenen Laden des Angeklagten nicht gut etwas habe hören können. Gönczi sei öfters in seinem Lokal gewesen und habe sich zunächst als Mieter des Ladens, später als Hausverwalter vorgestellt. An dem Laden habe er das Schild Gönczi u. Co. anmachen lassen. Von dem Compagnon habe er nie etwas bemerkt. Als er seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben habe, daß Gönczi so ohne weiteres Hausverwalter geworden sei, habe dieser erwidert: Das ist doch nichts Auffälliges, ich kenne ja die Schultzes seit 5 Jahren. Gönczi habe noch einen Schlüsselbund vorgezeigt und gesagt, er besitze sogar die Schlüssel zu der Schultzeschen Wohnung. Am 14. August, dem Mordtage, sei Gönczi um 10 oder 11 Uhr in seinem Laden gewesen und habe durch das Schaufenster auf die Straße geblickt. Gegen 11 Uhr sei die Klara Schultze von einem Ausgange zurückkehrend über die Straße in das Haus gegangen. gangen. Gönczi sei sofort mit dem Bemerken hinausgegangen: er müsse mit dem Fräulein noch etwas wegen des Gases besprechen. Nach zwei Stunden sei dann Gönczi sehr erregt und erhitzt wiedergekommen und habe noch ein Glas Bier getrunken, worauf er in einer Droschke nach Hause gefahren sei.

Vors.: Sie sollen in Feindschaft mit der alten Frau Schultze gelebt haben?

Zeuge: I Jott bewahre. Ich habe bloß einmal Krach mit ihr gehabt, weil ein Faß Bier auf dem Flur ausgelaufen war.

Vors.: Sie sollen sie „alte Hexe“, „olles Weib“ usw. genannt haben?

Zeuge: I Jott bewahre.

Vors.: Am Sonnabend, dem Mordtage, soll Löwy zu Ihnen in den Laden gekommen sein und gesagt haben, Sie sollten drei Glas Bier in das Hinterzimmer des Gönczischen Ladens bringen; die alte und Klara Schultze seien auch da und Sie könnten, da Klara auf einige Minuten nach oben gegangen sei, der Alten ein paar dafür auswischen, daß sie Sie einmal „Mörder“ geschimpft habe.

Zeuge: I Jott bewahre. Det is allens Schwindel; der Mensch lügt sich noch unterm Jalgen durch!

Vors.: Sie sollen dann mit der alten Frau Streit angefangen und sie niedergeschlagen haben. Darauf sei Klara Schultze in das Zimmer getreten und in der Dunkelheit hätten Sie diese für die alte Frau gehalten und nun die Klara auch totgeschlagen.

Zeuge: I Jott bewahre; det is ja jräßlich. Ich weeß doch nischt. Det is allens Schwindel. (Der Zeuge streckte die Hände entrüstet von sich und blickte Gönczi zornig an.)

Vors.: Angeklagter, was haben Sie dazu zu bemerken?

Angekl.: I bitt’ schön, Herr Präsident, das is alles so wahr als ich hier stehe. Das weiß Gott im Himmel.

Vors. (zum Zeugen): Haben Sie ein Liebesverhältnis der Klara Schultze irgend jemals begünstigt?

Zeuge: Niemals, ich weiß von nichts.

Der Angeklagte, welcher während der Vernehmung des Zeugen leichenblaß geworden war, sprudelte noch einmal seine bekannte Erzählung über den angeblichen Verlauf der Mordtat hervor, widersprach sich aber fortwährend, stockte und verlor schließlich ganz den Faden, so daß der Vorsitzende ihm wiederholt nachhelfen mußte. Der Zeuge Hinz blieb demgegenüber entschieden dabei, daß die ganze Erzählung des Angeklagten ein haarsträubendes Lügengewebe sei.

Es folgte darauf die Vernehmung des Schreibsachverständigen, Sekretärs Altrichter: Er habe zunächst die Urschriften der beiden Depeschen, die an Gönczi selbst und an den Hausverwalter Schlecht gerichtet waren, verglichen. Der Augenschein lehre, daß beide Depeschen von einer Hand herrühren. Aber auch in betreff der Rechtschreibung sei eine auffällige Übereinstimmung vorhanden. Dieselben Fehler seien in beiden Depeschen vorhanden. Das Wort „Miete“ sei in beiden Depeschen „Mite“ geschrieben, anstatt „sparen“ schreibe der Absender „Sparren“ und die Worte „Wir reisen“ zeigten sich übereinstimmend als „Wir Reisen“. Auch in dem von Gönczi an die Raffalski gerichteten Briefe trete die Eigenheit des Verfassers in Erscheinung, Hauptwörter klein und Eigenschaftswörter groß zu schreiben. Dazu kommen noch eine Anzahl Dialektfehler, kein Norddeutscher würde sagen: „Richten Sie meine Wohnung!“ Das sei eine spezifisch österreichische Ausdrucksweise. Er komme zu dem Schluß, daß die Urschriften der beiden Depeschen von der Hand des Angeklagten herrühren. Die Depeschen seien beide auf frankierte, nicht adressierte Postkarten geschrieben, woraus er den Schluß ziehe, daß der Verfasser wahrscheinlich ursprünglich beabsichtigt hatte, eine Postkarte zu schicken, daß die Absendung der Originalschrift ihm aber doch zu gefährlich war.

Vors.: Was sagen Sie dazu, Gönczi?

Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, ich hab’ nix geschrieben.

Vors.: Ihre Frau hat aber doch auch Ihre Handschrift anerkannt.

Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, so a Frau kann darüber gar nix wissen. Sehen Sie, mancher Mensch schreibt wie der andere, ich will Ihnen 15- bis 20mal hintereinander einen und denselben Namen schreiben und er soll jedesmal anders ausschaun. Ja, auf Handschriften darf man nix geben!

Tischlermeister Stiller: Er kenne den Angeklagten seit 1892; er habe ihm die Ladeneinrichtung in der Mühlenstraße und in der Königgrätzer Straße besorgt. Gönczi schulde ihm noch ca. 1400 Mark. Gönczi habe ihm u.a. erzählt, er wolle auch in der Prenzlauer Allee und in der Potsdamer Straße einen Schuhwarenladen einrichten. Der Angeklagte habe ferner für das Hinterzimmer des Ladens in der Königgrätzer Straße eine Einrichtung bestellt mit dem Bemerken, dort solle sein Kompagnon Löwy wohnen, der ein großer Schuhwarenhändler sei und in Brüssel, Boulevard 2a wohne. Am Tage nach dem Morde sei plötzlich Gönczi bei ihm im Laden erschienen, habe gerufen: „Der ?Brüsseler? (Löwy) ist tot!“ Gönczi habe für zirka 2000 M. Kohlenaktien der Scaczer Werke und Münchener Brauhausaktien aus der Tasche gezogen, um ihm seine Rechnung zu bezahlen. Er sei dann mit Gönczi zu einem Bankier gegangen, um die Papiere zu verkaufen, sie seien sie aber nicht losgeworden. Am 18. abends sei Gönczi gegen 10 Uhr in großer Aufregung zu ihm gekommen und habe ihn um 500 M. bitten lassen, da er eine dringende Reise machen müsse. Er, Zeuge, habe sich jedoch verleugnen lassen und Gönczi sei unverrichteter Sache wieder fortgegangen.

Handelsfrau Adeline Mohr: Sie sei durch Zufall mit Gönczi bekannt geworden, als sie einmal in einer Stehbierhalle in der Potsdamer Straße ihre Waren anbot. Gönczi habe ihr von seinem Bier angeboten und ein Gespräch begonnen. Er habe gesehen, daß sie zwei Trauringe trug und gesagt, er sei auch Witwer, seine Frau sei im Kindbett gestorben und sie könnten ja öfter miteinander ausgehen. Dies sei auch geschehen, sie haben sich mehrfach getroffen. Die Zeugin erzählte sodann eine langatmige Geschichte, aus der hervorzugehen schien, daß der Angeklagte ihr die Ehe versprochen habe. Er habe eines Tages auch von ihr erfahren, daß sie wegen großer Schlaflosigkeit und Nervosität von Zeit zu Zeit zu Professor Mendel gehe und von diesem Schlafpulver erhalte. Gönczi, der ihr seinen Namen genannt, habe sich sehr lebhaft danach erkundigt, wie die Wirkung eines solchen Schlafpulvers sei, er habe, als sie ihm erzählte, daß sie einmal überfallen worden sei, sich genau nach den Einzelheiten erkundigt und als er hörte, daß sie eine Erbschaft zu erwarten habe, ganz genau sich orientiert, wie hoch sie sei und wann sie angetreten werden könnte. Der Schlußeffekt der Erzählung, die der Angeklagte mit heiterem Gesicht anhörte, ging dahin, daß die Zeugin schließlich den Verkehr mit Gönczi aufgegeben habe, weil sie es doch für richtiger hielt, sich nicht wieder zu verheiraten.

Gönczi erklärte unter schallender Heiterkeit des Publikums: Ich kenne die Frau überhaupt nicht!

Bremser Kiersche: Er wohnte im Hause Mühlenstraße 7 und kannte Gönczi und dessen Frau. Er sah sie beide am 18. August 1897 abends vor dem Laden stehen, als er in den Dienst ging, um von Frankfurt a.O. aus einen Güterzug zu begleiten. Zu seinem größten Erstaunen habe er um 2 Uhr nachts, also vier Stunden später, Gönczi und dessen Frau auf dem Bahnsteig in Frankfurt a.O. stehen sehen. Er sei auf Gönczi zugegangen; dieser sei aber schnell in den Wartesaal gelaufen. Hier habe er ihn später aufgesucht. Gönczi habe aber so getan, als kenne er ihn nicht. Erst als Frau Gönczi zu ihm gesagt habe: Das ist ja unser Nachbar, der Herr Kierschel habe Gönczi langsam gesagt: Ach so, guten Abend, Herr Kiersche!

Vors.: Ist Ihnen das nicht aufgefallen?

Zeuge: Ja, ich erklärte mir sein Verhalten damit, daß er „gerückt“ wäre, weil er seine Miete nicht zahlen konnte. Gönczi habe sich noch bis gegen 6 Uhr morgens in Frankfurt (Oder) aufgehalten und ist über Kottbus abgefahren.

Den Bahnhofsportier Lehmann hat der Angeklagte nach dem schnellsten Zuge nach Brüssel und Paris gefragt. Wir hielten dem Angeklagten sodann vor, welchen Umweg er gemacht habe, indem er erst nach Frankfurt (Oder) gefahren sei; Gönczi habe erwidert, er habe eine kranke Schwester in Frankfurt, die er noch besuchen wollte. Dem Schaffner Thiel und dem Geschäftsreisenden Kowalski hat der Angeklagte erzählt, er wolle zur Weltausstellung nach Brüssel.

Die Ehefrau des Gastwirts Hinz wies ebenfalls die Behauptung, daß ihr Mann der Täter gewesen sei, mit großer Entrüstung zurück. Auch den Löwy kenne sie nicht. Vors.: Angeklagter, was sagen Sie dazu?

Gönczi: I bitt’ schön, Herr Präsident, Sie woaß olles, Sie wird aber doch net „Ja“ sagen. Sie leignet eben olles, dös glaub’ i schon!

Staatsanw.: Frau Zeugin, hat Ihr Mann sich mit der Frau Schultze schlecht gestanden?

Zeugin: Nein, im Gegenteil.

Vors.: Gönczi behauptet ferner, Ihr Mann habe sich Montag abend gewundert, daß Gönczi noch keine Nachricht von den Damen habe. Gönczi habe erwidert: Ach was, die hast du ja längst massakriert. Darauf hätten Sie zu Ihrem Manne gesagt: So halte doch das Maul!

Zeugin: Das ist alles nicht wahr.

Sanitätsrat Dr. Mittenzweig und Dr. Schulz legten sodann die oberen Schädelhälften der beiden ermordeten ten Frauen vor und zeigten die Art der nach dem Kopf geführten Schläge. Als die beiden Sachverständigen auf den Angeklagten zutraten, um auch diesem die durchlöcherten Schädeldecken vorzuhalten, streckte er abwehrend die Hände aus und sagte mit lächelnder Miene: I bitt’ schön, i woaß ja doch von nix, was geht doas mi an! Ein Geschworener bat, den Angeklagten zu untersuchen, ob er genügend kräftig erscheine, die beiden Frauen niederzuschlagen. Sanitätsrat Mittenzweig bejahte diese Frage auf Grund einer kurzen Untersuchung der Arme des Angeklagten.

Der Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Herr, bekundete: Der Angeklagte habe in einer Weise gelogen, wie es ihm noch niemals vorgekommen sei. Alle Versuche, die Existenz und den Aufenthalt des mysteriösen Löwy und dessen Schwester zu ermitteln, seien gescheitert. Der Angeklagte sei nicht weiter gekommen, als daß die Schwester in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wohnen solle und daß bei seinen Versuchen, die Wohnung der Schwester festzustellen, immer merkwürdigerweise Herr Löwy hindernd dazwischengetreten sei. Der Untersuchungsrichter gab noch eine Reihe klassischer Beispiele von der Lügenhaftigkeit des Angeklagten. Letzterer hatte behauptet, daß er die beiden Frauen um 4 Uhr nach dem Bahnhofe begleitet habe. Gegen den Vorhalt, daß damals der Zug nach Hannover erst um 7 Uhr abging, hatte der Angeklagte nur nichtssagende Einwände. Auch bei anderen Punkten konnte ihm die absolute Unwahrheit seiner Behauptungen sofort vorgehalten werden. Er (Zeuge) habe sich die denkbar größte Mühe gegeben, alles aufzuklären, und obgleich er selbst fest davon überzeugt war, daß alle Angaben des Angeklagten über den angeblichen Löwy pure Lügen waren, habe er eifrigst geforscht, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit dabei sei. So habe er sich einen Plan von Brüssel kommen lassen und mit dem Kriminalkommissar v. Kracht sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um festzustellen, wo Gönczi in Brüssel gewohnt habe. Und das Ergebnis sei gewesen, daß bei der Abführung Gönczi zu dem Gerichtsdiener gesagt haben soll: Wenn die denken, sie können mich mit so was fangen, dann irren sie sich. Der Zeuge schloß mit der nochmaligen Versicherung, daß sämtliche von ihm abgefaßten Protokolle nicht mehr und nicht weniger enthalten, als die Vernehmungen Gönczis tatsächlich ergeben haben.

Gönczi, vom Vorsitzenden aufgefordert, sich zu äußern, erklärte in höchst theatralischer Weise, heftig gestikulierend und mit vibrierender Stimme, daß er nur das, was er bisher gesagt habe, wiederholen könnte. „Als ich zum Herrn Untersuchungsrichter hineingeführt wurde, empfing mich dieser mit den Worten: Sie sind der Mörder! Sie müssen ein Geständnis ablegen! gen! Ich sagte: Nein, ich kann kein Geständnis ablegen, ich bin kein Mörder. Darauf hab’ ich alles erzählt, wie’s gewesen ist. Der anwesende Polizei-Kommissar hat gesagt, es seien alles Lügen. Ich habe mich beschwert, aber es hat geheißen: Halten Sie’s Maul, antworten Sie, wenn man Sie fragt! Es ist nicht alles aufgeschrieben worden, was ich gesagt habe. Der Protokollführer hat nicht geschrieben, sondern mich nur angeschaut, so daß ich ihm sagte: Ich bin nicht so dumm, wie du mich anschaust! Wenn ich wirklich der Mörder wär', hätt’ ich das schon längst gesagt. Seit fünf Monaten schon sitze ich in Eisen, wenn ich esse, muß ich mit dem Mund in die Schüssel, ist denn das nicht eine Schade! Ich bitte, daß das erste mit mir aufgenommene Protokoll verlesen wird. Daraus geht hervor, daß nicht alles aufgeschrieben wurde. Jedes Wort, was ich gesagt hab', hätt’ aufgeschrieben werden müssen. Es handelt sich hier nicht um ein Glas Bier, sondern um die Todesstrafe! Der Herr Staatsanwalt hat mir gesagt, daß ein Brief eingelaufen sei aus Brasilien, wo sich einer als Mörder bezeichnet, der Mann muß doch hergeschafft werden bei so einer schweren Sach'! Ich hab’ meinem Doktor Rechtsanwalt meine ganzen Protokolle übergeben und ich bitte, daß die verlesen werden. Da werden Sie sehen, daß alles stimmt, was ich gesagt habe von vornherein und daß ich nicht gelogen habe.“ Das Protokoll ist 60 Seiten lang. Unter heftigen Handbewegungen und mit vor Erregung gesteigerter Stimme beteuerte Gönczi wiederholt, daß er die Mordtat nicht begangen habe.

Staatsanwalt: Vom General-Konsul in Rio de Janeiro ist am 20. Februar cr. ein Schreiben eingegangen. Danach hatte ein Mann namens Louis Schulz an das Konsulat einen Brief gerichtet, in welchem es hieß: „Ich habe einen schweren Mord auf dem Gewissen, den ich mit dem Gönczischen Ehepaar in Berlin verübt habe. Herr Gönczi hat sein Wort mir gegenüber nicht gehalten. Der Berliner Magistrat hatte auf meine Person keinen Steckbrief erlassen, aber meine Reue läßt es nicht zu, daß ich schweige. Sie werden die Reue eines schwer beladenen Herzens nicht aufgeben und mein Gewissen aufhelfen.“

Der Staatsanwalt erklärte, daß bei jeder Mordsache bekanntlich anonyme Briefe wie Pilze aus der Erde schießen. Bei der letzten Mordsache, die er zu bearbeiten hatte, seien 18 Briefe bei ihm eingetroffen, in denen sich 18 Mörder gemeldet hätten. Obgleich er nun auf einen Brief, der mit Louis Schulz unterzeichnet sei, nichts gebe, habe er doch noch weitere Nachforschungen veranlaßt, da gleichzeitig mit der Selbstanzeige des Louis Schulz in Rio de Janeiro ein Brief eingegangen war, auf dem der Schornsteinfegermeister Heinrich in Sonderburg als Absender bezeichnet war. Er habe deshalb den Kriminal-Kommissar v. Kracht mit Ermittelungen beauftragt. Es sei festgestellt worden, daß dieser Schulz im Jahre 1895 nach Brasilien ausgewandert sei und während der in Frage kommenden Zeit sich in Bahia aufgehalten habe. Damit erledigte sich die Selbstbezichtigung.

Staatsanwalt Plaschke bemerkte dazu: Auch in dem vorliegenden Verfahren haben sich 18 Mörder gemeldet. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich bei fast jedem Morde angebliche Täter melden, ohne daß man zu ermitteln vermag, was sie dazu treibt. Im vorliegenden Falle scheint der Schulz sich freie Überfahrt haben verschaffen wollen. Von einer Täterschaft kann nicht die Rede sein.

Angekl. Gönczi: I bitt’ schön, wie kann i der Täter sein, wann sich der Mann da meldet. Der muß doch herübergeholt werden.

Vors.: Na, das erledigt sich ja schon dadurch, daß der Mann zu der Zeit, als die Tat begangen wurde, sich in Brasilien befand.

Eine Reihe weiterer Zeugen bekundete, daß der Angeklagte einige Tage vor dem Morde erzählt habe, er habe in der Lotterie gewonnen, er besitze eine reiche Tante, die in Hannover wohne und im Sterben liege usw., alles Dinge, die erklären sollten, woher er plötzlich viel Geld habe. Andererseits hat er durch diese Erzählungen auch verschiedene Leute veranlaßt, ihm Kredit zu geben.

Schlosser Hast: In der Wirtschaft des Gastwirts Schinke habe er wiederholt einen Mann namens Lewy gesehen. Dieser war 30 Jahre alt, von großer Statur und hatte einen hellen Schnurrbart. Der Mann habe Französisch gesprochen und sei viel im Auslande gereist.

Staatsanwalt Plaschke: Ich habe inzwischen Ermittelungen anstellen lassen und kann mitteilen, daß es sich um den Geschäftsreisenden Levy handelt, der 30 Jahre alt und in Hessen geboren ist. Der Mann spricht mehrere Sprachen, auch Französisch und wohnte bei dem Gastwirt Schinke.

Gastwirt Schinke bestätigte, daß ein Mann, namens Levy, bei ihm gewohnt habe, aber vollständig unverdächtig sei. Auch der Angeklagte Gönczi erklärte, daß dieser Mann schon seines jugendlichen Alters wegen nicht in Betracht kommen könne.

Am letzten Verhandlungstage fragte der Vorsitzende den Angeklagten, ob er an einen der Zeugen noch eine Frage zu richten habe.

Gönczi: Jawohl, Herr Präsident, bitt’ schön, lassen’s mich ausreden. (Erregt.) Heit is der letzte Tag und der letzte Termin, wo ich Ihnen kann meine Unschuld beweisen. Ich weiß, was auf meinem Herzen liegt, und weiß, daß mein Gewissen frei ist und rein! Jeder hat mich zwischen 9 und 10 Uhr gesehn, alles, was die übrigen Zeugen gesprochen haben, ist nur ein Schauspiel, das ist gar nix wert, hier kommt’s nur darauf an: Wer hat die Tat begangen? I hab’s nicht getan! Ich bin in der ganzen Welt als Raubmörder ausgeschrien worden und habe nur zu meinem Gott bitten können: Lieber Gott, verlaß mich nicht. Er hat mich nicht verlassen, er hat mich beschützt, indem er mir Verstand und Geist belassen hat, der liebe Gott steht mir bei. Ich hab’ ihn auch für meine Ehefrau gebeten. (Frau Gönczi fing an zu schluchzen.) Die arme Frau ist auch 2 Jahre unter dem furchtbaren Druck gestanden, sie ist krank und schwach darüber geworden. Bitt’ schön, lassen’s mich ausreden. Es ist möglich, daß der Herr Rechtsanwalt mir meine Ehre wiedergibt, aber es ist schwer! Schaun’s, der Löwy, der existiert. Habermann weiß doch, daß Löwy ein Liebesverhältnis mit Fräulein Klara gehabt hat. (Mit lauter Stimme.) Löwy existiert, wenn man ihn nur suchen will! I hab’ auch zwei Jahre lang nicht existiert, trotzdem die Polizei meine Photographie hatte, man hat mich gesucht und nicht gefunden. I hab’ dem Polizeikommissär gesagt, er soll die Personalbeschreibung vom Löwy aufnehmen, da hat’s aber geheißen: Quatsch! Ich möcht’ noch mal meinen ehrlichen Namen wiederhaben! Jetzt machen mich alle schlecht! Habermann und selbst Stiller. Aber Petrus hat auch den Herrn Jesus Christus verleugnet, und so verleugnen die Zeugen jetzt mich.

Vors.: Angeklagter, es handelt sich jetzt lediglich darum, ob Sie noch Fragen haben.

Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, lassen’s mich ausreden. Sehn Sie, i bin beschuldigt, daß in mein’ Hemd Blutflecke gewesen seien, und sehn Sie, da kam Herr Jeserich und hat nix von Blut im Hemd gesehen. Sehn Sie, nix kann mir bewiesen werden, daß ich die Tat begangen hab'. Es wird die Zeit kommen, wo ich noch sprechen werde. Weiter: Habermann sagt, es ist nix wahr, daß die Frau Schultze mir die Schlüssel gegeben hat, und doch ist’s wahr! Wenn ich die Tat hätte machen wollen, hätte ich sie in die enge Wohnung umbringen können; dann hätte ich alles zusammengekramt und wäre davongegangen und hätte nicht am 16. und 17. August Stiller noch die Rechnung bezahlt. Wie ich es sag', so ist es! Das sag’ ich vor den Herrn Präsidenten und die Herren Geschworenen und das Publikum und die ganze Welt! Sehn’s, ich bin nach Brüssel gekommen. Keiner hat mich kennt, hab’ keine Popiere g’habt, hab’ nicht gekannt Französisch und nicht Belgisch und hab’ doch vier Wochen Aufnahme gefunden. Warum? Weil mich Löwy hat hingebracht! Meiner Frau hab’ ich gesagt, wenn dich der Richter wird fragen, dann sagst du schwarz, wenn’s schwarz ist, und weiß, wenn’s weiß ist. Aber arme Frau hat sagen müssen, was Untersuchungsrichter wollte, wenn sie nicht hungern wollte. Und so hat die Arme auch gesagt, das Telegramm sieht meiner Handschrift ähnlich. Was soll das arme Weib auch sagen? Gewiß sieht’s ähnlich, ich hab’s aber nicht geschrieben.

Vors.: Nun, Gönczi, wenn Sie sich noch verteidigen wollen, so werden Sie später noch das Wort erhalten. Jetzt setzen Sie sich!

Nach Verlesung der Schuldfragen nahm Staatsanwaltschaftsrat Plaschke das Wort: Meine Herren Geschworenen! Ich glaube nicht, daß in diesem Augenblick bei Ihnen noch ein einziger darüber zweifeln kann, welche Anträge ich Ihnen unterbreiten werde und wie die Ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten sind. Und weil ich glaube, daß Sie ganz genau wissen, was ich tun werde und muß, so will ich – abweichend von den sonstigen Gepflogenheiten – meine Schlußanträge gleich voranstellen: Ich beantrage, bezüglich der Frau Gönczi die Schuldfrage zu verneinen und den Angeklagten Gönczi des Raubes und des Mordes in zwei Fällen für schuldig zu erklären. Man kann den Satz aufstellen, daß jedermann, also auch der Angeklagte, ein gewisses Anrecht darauf hat, daß seine Angaben so lange für wahr und glaubwürdig gehalten werden, als ihm das Gegenteil nicht klipp und klar nachgewiesen wird. Da die Erfahrung dafür spricht, daß der Angeklagte, der nichts zu verbergen hat, die Wahrheit sagt, so habe ich es in anderen Strafprozessen so gehalten, daß ich die Angaben der Angeklagten immer genau prüfte, ob deren Angaben wahr oder unwahr oder bewußt unwahr, d.h. erlogen waren. Würde ich nun diesen Weg auch heute gehen und Punkt für Punkt beleuchten und erörtern, in denen der Angeklagte bewußt die Unwahrheit gesagt hat, so würde aus Abend und Morgen der nächste Tag werden. Ich werde deshalb nur die Punkte in den Aussagen des Angeklagten berühren, die für die Schuldfragen von Bedeutung sind. Haben wir auch den Angeklagten als Lügner kennengelernt, so bitte ich Sie doch, rechnen Sie dies ihm nicht zu hoch an. Seine Lügen sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er stellt selbst die unwesentlichsten Punkte in Abrede. Es ist ihm kaum möglich, die Wahrheit zu sagen, obgleich er wissen muß, daß er dadurch jede Sympathie bei seinen Richtern verlieren muß. Aber wie gesagt, ich bitte Sie, rechnen Sie ihm dies nicht zu hoch an, Sie sollen nicht über den Lügner, sondern über den Verbrecher urteilen. Es sind ferner über diese Angelegenheit viele Nachrichten durch die Presse gegangen, welche der Wahrheit nicht entsprachen. Ich will annehmen, daß die Berichterstatter zum Teil falsch unterrichtet waren, aber andernteils sollte wohl die Sensationslust des Publikums dadurch befriedigt werden. Der Phantasie der Reporter können ja keine Schranken gezogen werden. Ich bitte Sie also, alle diese Zeitungsnotizen tungsnotizen aus Ihrem Gedächtnisse zu verbannen und Ihrem Urteilsspruche nur das zugrunde zu legen, was Sie in dieser Verhandlung gehört haben. Der Staatsanwalt erörterte hierauf in eingehender Weise den Tatbestand und fuhr alsdann fort; Ich gebe zu, daß die Städte Berlin und Brüssel eine Menge Personen beherbergen, welche Löwy heißen. Löwy ist eine Art internationaler Name. Ich habe vielfach Zuschriften erhalten, die auf die Spur helfen sollten; ich habe sie aber nicht beachtet, denn es ist ein eigen Ding um solche Zuschriften. Oftmals wollen sie nicht die Wahrheit zutage fördern, sondern sind durch andere Motive hervorgerufen. Manche der Schreiber wollen Zeugen-Gebühren erlangen oder ähnliches, ja es ist mir in meiner Praxis schon vorgekommen, daß es sich um die Erlangung einer Eintrittskarte handelte. (Heiterkeit.) Auch der Herr Verteidiger hat, wie ich glaube, mit derartigen Zuschriften oder anderen Anregungen nicht sehr gute Erfahrungen gemacht. Mir kam es nicht darauf an, jene unbekannten Personen zu ermitteln, in deren Begleitung der Angeklagte ja von verschiedenen Zeugen gesehen worden ist, sondern auf jenen Löwy, der als Täter in Frage kommen soll. Dieser Löwy ist aber von niemand gesehen worden, denn er existiert überhaupt nicht.

Mit den Zeugen, auf die der Angeklagte sich berufen hat und die nachträglich geladen sind, ist wirklich kein Staat zu machen. Und nun das angebliche Liebesverhältnis zwischen Löwy und der Klara Schultze! Es ist gar nicht einzusehen, warum die alte Frau Schultze so erzürnt gegen diesen doch augenscheinlich ganz gut situierten Freiersmann gewesen sein sollte. Der Mann war doch auch so genügsam, daß er im Hinterzimmer kampierte und auf einer Bettstelle schlief, die nur Matratze und Keilkissen hatte. Und treu muß er doch auch gewesen sein, denn nach Gönczis Behauptung hat er ja 17 Jahre um die Gunst der Klara Schultze, die so sehr begehrenswert doch nicht mehr war, gebuhlt. Warum also sollte die alte Frau Schultze die Liebeswerbung des Löwy nicht gewollt haben? Nein, das ist alles offenbarer Schwindel! Kein Mensch hat im Hause von der Existenz des Löwy auch nur eine Ahnung gehabt, und was die Beschuldigungen des Angeklagten gegen Hinz betrifft, so sind diese zu meiner Freude sowohl vom Gerichtshofe, als auch von der Verteidigung als durchaus hinfällig anerkannt worden, denn sonst hätte Hinz nicht widerspruchslos vereidigt werden können! Alle Angaben, die der Angeklagte über den angeblichen Löwy vorgebracht hat, sind ebenso unwahr, wie seine Behauptung, daß Löwy bei der Abreise im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße mit ihm zusammen war und sogar die Reise nach Brüssel mitgemacht habe. Davon weiß kein Mensch etwas, nicht einmal seine eigene Frau.

Ganz widerspruchsvoll sind auch die Angaben, die er in bezug auf Stiller und dessen Kenntnis von der Existenz des Löwy gemacht hat. Allerdings hat er Herrn Stiller schon im Juni von einem Löwy erzählt. Das läßt sich aber ganz einfach daraus erklären, daß er bei Herrn Stiller damals schon sehr in der Kreide stand und nun, wo er noch eine Ladeneinrichtung auf Kredit haben wollte, zu dem Schwindel griff, Herrn Stiller zu sagen, daß er einen solventen Kompagnon aus Brüssel habe. Ist aber Löwy eine fingierte Person, so wird die Situation für Gönczi furchtbar ernst und das Belastungsmaterial für ihn ist so erdrückend, daß man sich wundern muß, wie er noch die Stirn haben kann, sich gegen dieses Belastungsmaterial aufzulehnen.

Die Mordtat muß am Sonnabend, 14. August, etwa in der Zeit zwischen 9 und 11 Uhr vormittags geschehen sein. Genaue Zeitangaben sind natürlich unmöglich. An demselben 14. August hat der Angeklagte dem Dr. Schlesinger schon gesagt: die Frauen seien verreist. Er mußte daher an diesem Tage schon wissen, daß die Frauen auf Nimmerwiederkehr verschwunden waren. Das unstete Droschkenfahren des Angeklagten am 14. August ist ganz durchsichtig; er wollte ein Alibi haben und schleunigst an den Ort der Tat zurückkehren, um alles, was dort passiert ist, beobachten obachten zu können. Das ist die Lösung der Sache. Schon am 13. August hatte der Angeklagte dritten Personen mitgeteilt: die Frauen hätten sich so geärgert, daß sie zu verreisen gedächten. Er hat daher schon am 13. die Absicht gehabt, die Frauen aus der Welt zu schaffen, und diesen Moment mögen die Geschworenen festhalten. Die Beweisaufnahme hat klipp und klar ergeben, daß der Angeklagte schon am 14. vormittags die erfolgte Abreise der Frauen nach Brüssel und Paris mitgeteilt, während nach seiner Darstellung die Abreise erst am 14. abends, und zwar nach Hannover stattgefunden hat. Am 14. hat sich dann der Angeklagte im Besitz der Schlüssel befunden, am 15. war er schon im Besitz von Brauhaus-Aktien und der Sclascaer Kohlen-Obligationen. Da seine Behauptung, daß er sie am 15. von Löwy erhalten habe, durch die Beweisaufnahme als falsch erwiesen ist, so ergibt sich als Fazit: der Angeklagte hat die Wertpapiere schon am 14. geraubt und der Mord ist bereits am 14. August geschehen.

Dann kommen die Kisten in Betracht. Es ist wohl zu beachten, daß der Angeklagte schon am 15. August morgens von dem Beschaffen von Erde gesprochen hat. Als Pflugmacher den Keller geöffnet hat, sah er zwei längliche Kisten stehen, die jedenfalls damals noch leer waren. Am 16. August hat sich nach dem Zeugnis der Frau Gönczi diese mit ihrem Manne nach der Königgrätzer Straße begeben und zwei schwere Kisten von dem Hinterzimmer nach dem Keller getragen. Der Angeklagte sagte nun, wie er das Kunststück habe fertigbringen können, da er in der Zwischenzeit gar nicht in der Königgrätzer Straße war. Das ist eine Unwahrheit! Durch seine eigene Ehefrau und die Zeugin Raffalski ist nachgewiesen, daß er sich am Sonntag, 15. August, auf dem Spaziergange von ihnen getrennt hat und erst 9 Uhr abends zurückgekehrt ist; die Hausbewohner haben ihn am Sonntag gesehen, als er Gas anzündete, und es steht somit fest, daß er am Sonntag in dem Hause war. Er hat die Zeit am Sonntag benutzt, um die leeren Kisten hinauf zu schaffen und die Leichen hineinzupacken. Der Mangel an Leichengeruch, den der Angeklagte ins Feld führt, will gar nichts zu seinen Gunsten beweisen. Nun kommt die Erde. Es ist festgestellt, daß Hinz an der Beschaffung der Erde keinerlei Interesse hatte, vielmehr der Angeklagte diese bestellt und in den Keller hat schaufeln lassen. Am 16. August passierten allerlei interessante Dinge: die Hingabe der geraubten Papiere an Stiller, der gemeinschaftliche Gang nach dem Bankier, auf dessen Frage der Angeklagte behauptete, er habe die Wertpapiere schon lange, und die Äußerung Gönczis an den Bankier, daß er die Papiere nicht verkaufen wolle, sondern sie für einen Bekannten in Brüssel bewahren müsse. Er ahnte wahrscheinlich, daß nach Bekanntwerden der Mordtat der Verbleib der Papiere ermittelt und er bald entdeckt werden konnte, und deshalb hielt er es für ratsamer, die Papiere bei Stiller in Verwahrung zu belassen und sich darauf von diesem ein Darlehn geben zu lassen. Ein solches hat er ja auch am 17. in Höhe von 400 M. erhalten. Dazu kommt am 17. August die charakteristische Szene mit der Zeugin Frank, die aus der Begegnung mit dem Angeklagten und aus der gemeinschaftlichen Besichtigung der Schultzeschen Wohnung sofort das Gefühl erhielt, daß ein Verbrechen begangen sein müsse. Im Laufe des 18. August ist die Sache bei der Polizei anhängig gemacht worden, der Angeklagte hatte Wind davon bekommen, und dies ist der Schlüssel zu seiner Flucht am 18. abends. An diesem Tage ist Gönczi früh 7 Uhr weggegangen und nach Frau Gönczis Bekundung erst nach 7 3/4 Uhr abends wiedergekommen. Nach Ausweis des Kursbuches reicht diese Spanne Zeit vollkommen aus, um nach Hannover zu fahren, dort die Depesche aufzugeben und um 7 Uhr wieder hier zu sein. Ist dies aber möglich, so entschwindet der Gedanke vollkommen, daß eine dritte Person an dem Morde beteiligt sein könnte. Die Aussagen der Raffalski, wonach der Angeklagte am 18. nachmittags vor seinem Laden gesessen habe, sind nicht beweiskräftig, denn während alle übrigen Zeugen in dieser Mordsache nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit gesagt haben, ist dies von der Raffalski nicht zu sagen; mindestens ist die Raffalski unsicher. Nachdem der Staatsanwalt noch den Nachweis geführt, daß die Depesche aus Hannover von Gönczi selbst verfaßt sei, fuhr er fort: Meine Herren Geschworenen, ich habe das feste Vertrauen zu Ihnen, daß Sie sich in Ihrem Urteil nicht dadurch beeinflussen lassen werden, weil der Mord mit Todesstrafe geahndet wird. Der einzige Zweifel könnte darüber auftauchen, ob ein Fall des Raubes vorliegt, oder ob zwei Fälle vorliegen, denn es kann angenommen werden, daß er erst beide Frauen beseitigen mußte, bevor er rauben konnte. Was die Ehefrau Gönczi anlangt, so bin ich der Meinung, daß sie als Mittäterin nicht in Frage kommt. Ich glaube, daß das, was Frau Gönczi hier gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Die Angeklagte hat es aber unterlassen, der Behörde von dem geplanten Verbrechen ihres Ehemannes Anzeige zu machen zu einer Zeit, als die Ausführung noch verhindert werden konnte. Sie ist auch der Hehlerei schuldig, denn sie hat die geraubten Schmucksachen an sich gebracht. Demnach rechtfertigt sich wegen dieser Schuld der Angeklagten deren Untersuchungshaft. Ich möchte dies besonders betonen, damit nicht, wenn Frau Gönczi freigesprochen werden sollte, wieder in den Zeitungen ein Spektakel darüber losgeht, daß man die Angeklagte in Haft behalten halten hat.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Herbert Fränkel: M.H.! Ich gebe von vornherein zu, daß der Angeklagte sich in unzählige Widersprüche verwickelt hat. Er lügt, sobald er den Mund auftut, er ist ein geborener Aufschneider und deshalb muß man alle seine Angaben überhaupt außer acht lassen und sich nur an die nackten Tatsachen halten. Aus diesen wirklichen Tatsachen kann man zwanzig Schlüsse und Möglichkeiten ziehen, denn es handelt sich um einen Indizienbeweis. Die Wahrscheinlichkeit kann nicht die Wahrheit ersetzen, auch der geringste Zweifel muß hinreichen, um die Schuld als nicht erwiesen zu halten. Der Staatsanwalt hat selbst anerkannt, daß wahrscheinlich zwei die Tat vollführt haben, und deshalb hat man auch zuerst die Ehefrau als Mittäterin angesehen. Jetzt scheidet der Staatsanwalt aber die Frau selbst aus. Nun sollte man doch die Spuren des zweiten Täters verfolgen, und dazu gibt der Brief des Louis Schulz an das Konsulat in Rio de Janeiro die Handhabe. Die bisherigen Nachforschungen sind unzureichend, nicht einmal das Original des Briefes liegt vor. Ich beantrage daher: Das Strafverfahren gegen die Ehefrau abzutrennen und die Verhandlung gegen den Ehemann zum Zwecke weiterer Ermittelungen zu vertagen.

Staatsanwalt: Es ist richtig, daß der Angeklagte bei seiner ersten Vernehmung von einem Gastwirt Schulz gesprochen hat, der im Hause Königgrätzer Straße 35 gewohnt habe, er hat sich aber sofort dahin verbessert, daß er den Schankwirt Hinz meine. Wenn der Antrag des Verteidigers durchgeht, so gebe ich ihm zu bedenken, daß Gönczi noch Jahr und Tag in Untersuchungshaft sitzen kann, und zwar nach wie vor in Fesseln, das wird er seinem Verteidiger zu verdanken haben. Ich möchte dem Verteidiger anheimgeben, seinen Antrag zurückzuziehen.

R.-A. Dr. Fränkel: Ich überlasse es dem Angeklagten, ob er den Antrag aufrechterhalten will.

Vors.: Angeklagter Gönczi, wie stellen Sie sich zu dem Antrage?

Angekl.: Meine arme Frau muß unschuldig sterben, es ist nun ganz egal, ob sie im Gefängnis unschuldig stirbt. Wenn es keine Gerechtigkeit mehr gibt, dann wollen wir beide unschuldig sterben.

Vors.: Ja, soll denn der Beweisantrag des Herrn Rechtsanwalts gestellt werden?

Gönczi: Jawohl, es soll Beweis erhoben werden, wenn ich die Tat nicht begangen hab', will ich mich nicht verurteilen lassen.

Vors.: Wenn Sie aber meinen, daß Ihre Frau aus dem Gefängnis herauskommt, dann dürften Sie vielleicht im Irrtum sein.

Angekl.: Bitt’ schön, das macht nix, wir haben uns Treue geschworen bis zum Tod. Wenn die arme Frau was gegen mich ausgesagt hat, dazu ist sie nur gezwungen worden. (Frau Gönczi weinte während dieser Worte des Angeklagten bitterlich.)

Der Vorsitzende machte eine halbe Stunde Pause, um dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich mit seinem Klienten zu verständigen. Nach Ablauf dieser Frist erklärte Rechtsanwalt Dr. Fränkel: Er habe dem Angeklagten geraten, auf den Beweisantrag zu verzichten.

Vors.: Nun, Gönczi?

Angeklagter Gönczi: Ich will nicht verzichten, ich will noch mal verhandelt haben.

Rechtsanwalt Dr. Fränkel: Der Angeklagte legt Gewicht darauf, daß das Original des Schulzeschen Briefes an das Konsulat in Rio de Janeiro herbeigeschafft wird. Der Verteidiger stellte darauf schriftlich den Antrag, das Schreiben des Louis Schulz herbeizuschaffen und an der Hand dieses weitere Ermittelungen nach dem Schreiber anzustellen. Er beantragte weiter, das Verfahren gegen Frau Gönczi abzutrennen und zur Anstellung der Ermittelungen die Sache zu vertagen.

Justizrat Grabower bat im Interesse seiner Klientin um Ablehnung des Antrages, der wohl nur auf denselben Mann zurückzuführen sei, der allen schon so viele Nüsse zu knacken aufgegeben habe. Gönczi würde durch die Erfüllung seines Antrages gar nichts zugunsten seiner Frau erreichen.

Der Gerichtshof beschloß, den Antrag auf Trennung des Verfahrens abzulehnen, weil die Schuldfrage zweckmäßig nur gegen beide Angeklagte gemeinsam entschieden werden könne, ferner auch den Antrag auf Anstellung von Ermittelungen abzulehnen, da, selbst wenn aufgeklärt würde, daß der Schreiber des Schulzeschen Briefes der Täter sei, dadurch nicht bewiesen werde, daß der Angeklagte nicht an der Tat beteiligt sei.

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Fränkel, wies alsdann darauf hin, daß die Art, wie der Angeklagte an der Tat beteiligt sein könne, stets im Dunkeln bleiben würde. Eine ganze Reihe von Umständen spräche dafür, daß zwei Personen dabei beteiligt seien. Dies sei ja auch vom Staatsanwalt zugegeben worden. Wenn das Zeugnis der Raffalski allein auch nicht als ausschlaggebend angesehen werden könne, so fielen die bestimmten Auslassungen des Dr. Schlesingerschen Ehepaares und der Zeugen Hellmich und Vorwärts um so schwerer ins Gewicht. Danach sei Gönczi am 18. August in Berlin gewesen. Auffallend sei es außerdem, daß man keine Blutspuren an der Kleidung Gönczis oder Verletzungen an seinem Körper wahrgenommen habe. Besonders die jüngere Schultze sei eine kräftige Frau gewesen und es lasse sich nicht annehmen, daß diese sich ohne Gegenwehr würde haben hinschlachten lassen. Auch der Umstand, daß der Angeklagte das Beil aus seiner Wohnung nach der Königgrätzer Straße trug, sei kein Beweis dafür, daß er die Mordtaten begangen habe, viel näher liege die Annahme, daß er das Instrument seinem Genossen geliefert und sich demnach nur der Beihilfe schuldig gemacht habe. Wollten die Geschworenen die Schuldfrage wegen Mordes bejahen, so müßten sie auch der festen Überzeugung sein, daß Gönczi der Täter sei; liege dagegen der geringste Zweifel vor, so müsse die Schuldfrage verneint und Gönczi nur wegen Beihilfe schuldig gesprochen werden. Dies beantrage er.

Nach einer kurzen Erwiderung des Staatsanwalts bemerkte der Verteidiger: Es müsse zum mindesten doch geprüft werden, ob der Angeklagte nur habe stehlen wollen und um ein Hindernis zu beseitigen, die Frauen ermordet habe.

Der Staatsanwalt gab dem Verteidiger anheim, eine solche Schuldfrage zu beantragen. Der Verteidiger erklärte jedoch, daß er darauf verzichte, da er die Schuld des Angeklagten nicht für erwiesen erachte.

Vert. Justizrat Grabower schloß sich bezüglich der Frau Gönczi dem Antrage des Staatsanwalts an.

Der Angeklagte Gönczi beteuerte nochmals in längerer Rede seine Unschuld. Er hätte die Morde viel bequemer in der Schultzeschen Wohnung begehen können und alsdann nicht nötig gehabt, sich eine Ladeneinrichtung machen zu lassen.

Die Geschworenen bejahten bezüglich Gönczi die Schuldfragen wegen Mordes und Raubes in zwei Fällen, verneinten dagegen die Schuldfrage bezüglich der Frau Gönczi.

Der Gerichtshof verurteilte dementsprechend Gönczi zweimal zum Tode und zu dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Frau Gönczi wurde freigesprochen.

Nachdem das Todesurteil Rechtskraft erlangt hatte, wurde Gönczi hingerichtet.

84 Bearbeiten

Eine Bluttat in Essen vor dem Marinekriegsgericht

Im Jahre 1903 wurde durch ein trauriges Vorkommnis, das sich auf offener Straße in der großen, lebhaften Industriestadt Essen ereignete, der Frieden des Osterfestes im ganzen deutschen Vaterlande in arger Weise gestört. Essen ist, obwohl es seit vielen Jahren die Einwohnerzahl um 100000 weit überschritten hat, jedenfalls aus Rücksicht auf seine zahlreiche Arbeiterschaft, kein Garnisonort. Allein an den Feiertagen, wenn das Militär Urlaub erhält und die Essener Kinder aus allen möglichen Garnisonorten zu ihren Angehörigen nach Hause kommen, dann wimmelt es auch in Essen von Soldaten der verschiedensten Truppengattungen. So war es auch an den Ostertagen 1903. Schon am „Grünen Donnerstag“ trafen zahlreiche Marssöhne in Essen ein. Auch der 22jährige August Hartmann, ein wohlerzogener, sehr gutmütiger junger Mann, der bei dem 7. Fuß-Artillerie-Regiment in Köln sein Jahr abdiente, kam am „Grünen Donnerstag“ zu seinen Eltern nach Essen. Der Vater Hartmanns war der Besitzer des größten und wohl besuchtesten Hotels „Zum Berliner Hof“ in Essen. Dies Hotel bildete gewissermaßen den Mittelpunkt der besseren Gesellschaftskreise Essens. Auch die Eisen-und Kohlenbörse wurde im Hotel „Berliner Hof“ abgehalten. Die Freude der Eltern des Einjährig-Freiwilligen Hartmann sollte nur von kurzer Dauer sein. Am Ostersonnabend, den 11. April, war der junge Hartmann mit zwei ehemaligen Schulkameraden, dem Unteroffizier der Reserve Andreas Schröder und dem Studenten des Bergfachs Ewald Lütscher nach Rüttenscheid gefahren. Es war fast Mitternacht, als die drei jungen Leute mit der elektrischen Straßenbahn in Essen wieder eintrafen. Sie stiegen am Burgplatz aus und gingen über den Marktplatz in die Brandstraße, um sich in das Restaurationslokal von Müller zu begeben. Unteroffizier Schröder war unterwegs bei einem Mädchen stehen geblieben. Die jungen Leute hatten sich mit Bekannten verabredet, sich bei Müller zu treffen. Das Müllersche Lokal liegt etwa drei Minuten vom Hotel „Berliner Hof“ entfernt. In dem Augenblick, als die jungen Leute in den Hausflur des Müllerschen Restaurationslokals getreten waren, trat plötzlich der Fähnrich z.S. Hüssener von hinten an Hartmann heran und forderte ihn auf, ihm zur Wache zu folgen. Hartmann, der etwas angetrunken war, zögerte einen Augenblick. Lütscher versetzte: August gehe mit, es ist dein Vorgesetzter! Daraufhin folgte Hartmann. Lütscher nahm Hartmann unter den rechten Arm, während ihn Hüssener am linken Oberarm festhielt. Als die drei in dieser Weise 20-30 Schritt in die Brandstraße nach dem Polizei-Wachtlokal gegangen waren, riß sich Hartmann plötzlich los, wandte sich um und lief davon. In diesem Augenblick zog Hüssener seinen Dolch, lief hinter Hartmann her und rief zweimal: „Halt.“ Dabei schlug Hüssener zweimal von hinten auf den Fliehenden. Das zweite Mal traf Hüssener den Hartmann auf die rechte Wange, so daß diese heftig blutete. Da aber Hartmann trotzdem noch weiter lief, so folgte ihm Hüssener im Sturmschritt und stach den Hartmann in den Rücken. Nunmehr blieb Hartmann laut aufschreiend stehen und sank seinem Freund Lütscher in die Arme. Lütscher schrie „Hilfe“. Es eilten sofort zahlreiche Menschen herbei, allein nach kaum zwei Minuten, noch ehe dem Gestochenen irgendwelche Hilfe zuteil werden konnte, war dieser tot. Hüssener bekannte sich sofort als Täter und bemerkte: Er sei im Interesse seiner Offiziersehre genötigt gewesen, so zu handeln. Inzwischen war der Unteroffizier Schröder hinzugekommen. Dieser forderte Hüssener auf, ihn zum Polizei-Wachtlokal zu begleiten. Das schreckliche Vorkommnis, das sofort den Eltern des Hartmann gemeldet wurde, verbreitete sich trotz der späten Nachtstunde wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Aufregung war geradezu fürchterlich. Hüssener wurde von der Essener Polizei in das Arrestlokal des Essener Bezirkskommandos gebracht. Letzteres benachrichtigte sofort den Gerichtsherrn herrn der ersten Marine-Inspektion, Konter-Admiral v. Bresky. Dieser beauftragte den Marine-Kriegsgerichtsrat de Bary (Kiel) mit der Führung der Untersuchung und befahl diesem, sich sogleich nach Essen zu begeben. Nachdem Marine-Kriegsgerichtsrat de Bary einige Tage in Essen verweilt hatte, veranlaßte er die Überführung Hüsseners nach Kiel. Am 26. Mai 1903 hatte sich Fähnrich Hüssener vor dem Kriegsgericht der ersten Marine-Inspektion wegen vorsätzlicher Mißhandlung eines Untergebenen, wodurch der Tod verursacht worden ist, und wegen rechtswidrigen Waffengebrauchs, auf Grund der §§ 122, 123 und 92 des Militär-Strafgesetzbuches zu verantworten. Die Verhandlung, die in einem kleinen, etwas primitiven Saale des Garnison-Arrestgebäudes in Kiel stattfand, erregte weit über die Grenzen Deutschlands das größte Aufsehen. Der Andrang des Publikums war geradezu beängstigend. Den Gerichtshof bildeten Korvettenkapitän Starke (Vorsitzender), Marine-Kriegsgerichtsrat Tamaschke (Verhandlungsführer), Hauptmann Graf v. Soden vom 1. Seebataillon, Oberleutnant Leonhardi von der 1. Werftdivision und Gerichtsassessor Wachsmuth (Beisitzende). Vertreter der Anklage war Marine-Kriegsgerichtsrat de Bary, Verteidiger Rechtsanwalt Stobbe (Kiel). Der Angeklagte Fähnrich zur See Alfred Karl Wilhelm Robert Hüssener war am 18. Februar 1883 zu Gelsenkirchen geboren und evangelischer Konfession. Sein Vater war Generaldirektor des Gelsenkirchener Hütten- und Bergbauvereins. Der Angeklagte wurde von zwei Infanteristen mit gezogenem Seitengewehr auf die Anklagebank geführt. Hüssener war ein mittelgroßer, schlanker, ziemlich stark gebauter, sehr hübscher junger Mann. Er war dunkel-blond, bartlos und schön frisiert. Er erschien in See-Fähnrichsuniform ohne Waffe. Sein Gesichtsausdruck war ungemein ernst. Hüssener gab auf Befragen des Verhandlungsführers an: Ich wurde zunächst von einem Privatlehrer unterrichtet und kam alsdann auf das Realgymnasium in Gelsenkirchen. Nach einem halben Jahre wurde ich längere Zeit krank und mußte deshalb die Schule verlassen. Nachdem ich genesen war, wurde ich wieder vorbereitet. Inzwischen waren meine Eltern von Gelsenkirchen nach Essen übergesiedelt. Ich besuchte dort das Realgymnasium und verließ es als Obersekundaner. Alsdann trat ich in das Seekadettenkorps ein. Am 10. April 1901 bin ich auf S.M. Schulschiff „Blücher“ eingetreten. Am 11. Mai 1901 wurde ich vereidigt. Ich bin einmal wegen Unordnung in meinen Sachen mit einem Tage Quartierarrest und weil ich einem Kameraden gestattet hatte, unbefugterweise in meiner Wohnung zu nächtigen, mit acht Tagen Mittelarrest bestraft worden. Am 21. März d.J. habe ich die Offiziers-Hauptprüfung bestanden.

Verhandlungsführer: Ihr Führungsattest lautet: Führung gut, stark affektiert, ist wenig wählerisch in seinem Privatverkehr, sehr aufgebracht. Wenn er diese Fehler ablegt, dann dürfte er sich zum Seeoffizier eignen. Ein weiteres Zeugnis lautet: Wenig begabt, Führung gut, ein sehr aufgeregtes Wesen. Eignet sich wenig zum Vorgesetzten.

Verhandlungsführer: Durch Ihre Schuld hat ein Mädchen einmal ein Auge verloren?

Angekl.: Als ich 12 Jahre alt war, wollte ich ein Mädchen, das hinter einer Mauer stand, erschrecken. Ich schlug mit einem Stock über die Mauer und traf das Mädchen so unglücklich, daß es ein Auge verlor.

Verhandlungsführer: Nun erzählen Sie den Vorgang vom Ostersonnabend.

Angeklagter: Ich ging am Spätabend des Ostersonnabends vom Hagen 2 eiligen Schritts nach der Brandstraße. Ich wollte mich in das Lokal Schlicker begeben, woselbst mich mehrere Freunde erwarteten. Da sah ich einen Soldaten in stark angetrunkenem Zustande, so daß ihm der Speichel vor dem Munde stand, dicht vor der Müllerschen Restauration. Ich wollte verhüten, daß der Soldat noch mehr Alkohol zu sich nahm und womöglich groben Unfug verübte. Ich trat deshalb an den Soldaten heran und forderte ihn auf, mir zu folgen. Der Soldat zögerte. Darauf versetzte ich: Ich fordere Sie dienstlich auf, mir zu folgen. gen. Student Lütscher, der in Begleitung des betrunkenen Soldaten war, sagte zu diesem: August gehe mit, es ist dein Vorgesetzter. Der Soldat erklärte sich daraufhin bereit, meinem Befehl Folge zu geben. Ich nahm den Soldaten am Arm. Nachdem wir etwa 20-30 Schritte gegangen waren, riß sich der Soldat los, wandte sich mit gehobener Hand um, so daß ich die Empfindung hatte, der Soldat wollte mich schlagen. Ich zog deshalb sofort meinen Dolch, und da der Soldat flüchtete, rief ich ihm „Halt“ nach. Der Soldat stand aber nicht. Ich schlug deshalb mehrere Male nach ihm und traf ihn beim zweiten Male in die rechte Wange. Da aber der Soldat trotz weiteren Haltrufens nicht stehenblieb, so lief ich ihm im Sturmschritt nach und stach ihn zweimal in den Rücken. In demselben Augenblick blieb der Soldat unter lautem Aufschrei stehen und sank dem Studenten Lütscher in die Arme. Lütscher schrie Hilfe. Es kamen mehrere Leute herbei, auch der Unteroffizier Schröder. Ich sagte letzterem: ich bin der Täter und forderte ihn auf, mich zur Polizeiwache zu bringen. Ich wurde auf der Polizeiwache zu Protokoll vernommen und alsdann in das Arrestgebäude des Essener Bezirkskommandos gebracht. Es ist richtig, daß ich den Polizeibeamten und auch dem Unteroffizier Schröder Zigaretten angeboten habe. Ich versuchte den Unteroffizier Schröder, der über das Vorkommnis sehr aufgebracht war, zu trösten. sten. Ich sagte zu ihm: Es wird nicht so schlimm sein. Bald darauf kam aber die Nachricht, der Soldat sei schon tot.

Verhandlungsführer: Kannten Sie den erstochenen Soldaten?

Angeklagter: Ich hörte später, daß es der Fußartillerist August Hartmann aus Essen sei, ich kannte ihn aber nicht.

Verhandlungsführer: Er kannte Sie aber und war auch von Ihren Brüdern gekannt.

Angeklagter: Das ist möglich. Meine Brüder haben das Gymnasium besucht, da mögen sie ihn wohl gekannt haben, ich kannte ihn nicht.

Verhandlungsf.: Sie sagten, Sie haben anfänglich den Soldaten nicht zur Wache bringen, sondern nur verhindern wollen, daß er weiter Alkohol trinke?

Angekl.: Das ist richtig.

Verhandlungsf.: Sie sagten früher, Sie haben kurz, ehe Hartmann sich zur Flucht wandte, ihn losgelassen?

Angekl.: Jawohl.

Verhandlungsführer: Wieviel Schritt vor der Flucht war das?

Angeklagter: Mindestens zehn Schritt vor der Flucht, genau kann ich es nicht sagen.

Verhandlungsf.: Weshalb hatten Sie den Soldaten losgelassen?

Angekl.: Weil ich meinen Dolch abhaken wollte, um ihn erforderlichenfalls herausziehen zu können.

Verhandlungsf: Sie sagten, es habe Ihnen dabei die Mitteilung eines Offiziers in der Instruktionsstunde vorgeschwebt?

Angekl.: Jawohl. Der Offizier erzählte: Ein Offizier habe einen Soldaten festnehmen wollen, er hatte aber sein Seitengewehr nicht abgehakt. Er wurde von dem Soldaten geschlagen, konnte aber seine Waffe nicht in Anwendung bringen. Der Soldat sei infolgedessen entlaufen. Da der Täter nicht festgestellt werden konnte, mußte der Offizier seinen Abschied nehmen.

Verhandlungsf.: Befürchteten Sie denn, von dem betrunkenen Soldaten geschlagen zu werden?

Angekl.: Ich hatte wenigstens die Empfindung.

Verhandlungsf.: Eine Gefahr, daß der Soldat nicht ermittelt werden konnte, lag aber doch in Ihrem Falle nicht vor, zumal Sie Lütscher kannten?

Angekl.: Jedenfalls hielt ich es für meine Pflicht, den Mann zum Stehen zu bringen.

Verhandlungsf.: Sie waren aber nicht berechtigt, von Ihrer Waffe Gebrauch zu machen?

Angekl.: Doch, wenn ein Untergebener bei der Arretierung entflieht, bin ich sogar laut Instruktion verpflichtet, von meiner Waffe Gebrauch zu machen.

Verhandlungsf.: Das ist falsch. Sie sollen sich außerdem den Dolch kurz vor diesem Vorkommnis haben schleifen lassen?

Angekl.: Das ist richtig.

Verhandlungsf.: Sind Sie nicht instruiert worden, daß Sie Betrunkenen gegenüber besonders vorsichtig sein und, wenn möglich, Betrunkenen aus dem Wege gehen sollen?

Angekl.: Das ist mir bekannt; ich habe es aber für nötig erachtet, den Mann, da er so angetrunken war, daß ihm der Speichel vor dem Munde stand, zu verhindern, in das Restaurationslokal zu treten und ihn vor weiterem Alkoholgenuß zu bewahren.

Verhandlungsf.: Sie sollen zu dem Soldaten gesagt haben: „Ich befinde mich im Dienst“?

Angekl.: Das muß ein Mißverständnis sein. Ich sagte nur, da der Mann zögerte, meinem Befehle Folge zu geben, ich befehle Ihnen dienstlich, mir zu folgen. Auf Auffordern des Verhandlungsführers mußte der Angeklagte aus der Anklagebank treten und vormachen, in welcher Weise er dem Hartmann mit dem Dolch in der Hand gefolgt war.

Verhandlungsf.: Haben Sie sich denn nicht klargemacht, daß Sie den Mann durch den Dolchstich töten können?

Angekl.: Daran dachte ich nicht. Ich hatte jedenfalls nur die Absicht, den Mann zu verwunden, damit er sieht, daß ich Ernst mache. Ich glaubte aber nicht, daß der Mann dadurch den Tod erleiden würde. Ich hatte auch nach dem Vorkommnis die Hoffnung, daß der Mann nicht sterben werde.

Verhandlungsf.: Wenn Sie gewußt hätten, der Mann werde durch Ihre Stiche den Tod erleiden, hätten Sie alsdann auch den Mann gestochen?

Angekl.: Das kann ich nicht sagen. Ich hatte jedenfalls nur die Absicht, dem Mann eine derartige Verwundung beizubringen, daß er nicht weitergehen konnte.

Verhandlungsf.: Sie sollen auf der Polizeiwache gesagt haben: Sie waren es Ihrer Offiziersehre schuldig, so zu handeln?

Angekl.: Das ist richtig.

Verhandlungsf.: Sie sind doch aber noch nicht Offizier?

Ich war der Meinung, auch die Fähnriche haben bereits ihre Ehre ebenso wie ein Offizier zu wahren.

Verhandlungsf.: Sie sollen zu den Polizeibeamten gesagt haben: Wenn ich meine Waffe ziehe, dann muß ich auch davon Gebrauch machen.

Angekl.: Das ist uns in der Instruktionsstunde gesagt worden.

Verhandlungsf.: Sie sollen auch gesagt haben: Wenn ich meine Waffe ziehe, dann muß Blut fließen?

Angekl.: Das habe ich auch gesagt.

Verhandlungsf.: Sie haben auch den Mann mit der Waffe geschlagen, so daß er heftig blutete.

Angekl.: Ich hielt es jedenfalls für meine Pflicht, meinem Befehle Gehorsam zu verschaffen und den Mann am Entfliehen zu verhindern.

Verhandlungsf.: Sie sollen zu den Polizeibeamten gesagt haben: Sie sind doch auch Soldaten gewesen und kennen die Pflichten eines Vorgesetzten widerspenstigen Untergebenen gegenüber?

Angekl.: Das habe ich allerdings auch gesagt.

Verhandlungsf.: Als Sie sich im Arrest des Essener Bezirkskommandos befanden, sollen Sie sich mit dem Unteroffizier Schröder über die verschiedenen Militärachselklappen unterhalten haben?

Angekl.: Das ist richtig; ich suchte den Schröder, da dieser über das Vorkommnis untröstlich war, zu trösten und ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Verhandlungsf.: Sie sollen in Essen mehrere Soldaten und auch einen Unteroffizier wegen Nicht – oder unvorschriftsmäßigen Grüßens gestellt haben?

Angekl.: Das habe ich allerdings getan; den Unteroffizier konnte ich als solchen nicht erkennen, da er im Dunkeln mit heraufgeschlagenem Kragen ging.

Verhandlungsf.: Sie sollen sich mit Kameraden verabredet haben, gegen Soldaten auf Urlaub wegen unvorschriftsmäßigen Grüßens besonders scharf vorzugehen?

Angekl.: „Besonders scharf“ vorzugehen, wurde nicht verabredet.

Verhandlungsf.: Sie geben aber zu, daß verabredet worden ist, wegen Nicht – oder nicht vorschriftsmäßigen Grüßens auf Urlaub scharf vorzugehen?

Angekl.: Eine Verabredung, die Leute zu stellen, ist nicht getroffen worden.

Verhandlungsf.: Aus dem Arrest in Essen haben Sie einen Brief an die Mutter Hartmanns geschrieben?

Angekl.: Jawohl. Mein Bruder kam zu mir in die Arrestzelle und sagte: Junge, was hast du getan? Als ich sagte, daß ich den Ausgang bedauere, riet mir mein Bruder, an die Mutter des Hartmann zu schreiben. Ich muß im übrigen bemerken, daß ich nur den Unteroffizier Schröder kannte, Lütscher war mir ebenso wie Hartmann unbekannt.

Verhandlungsf.: Was ist Ihr Bruder?

Angekl.: Gerichtsreferendar:

Verhandlungsf.: Wie verhielt es sich mit dem Vorgang bei der Silberhochzeit Ihrer Eltern?

Angekl.: Vor zwei Jahren feierten meine Eltern im Hotel „Essener Hof“ in Essen ihre Silberhochzeit. Da meine Mutter den Wunsch geäußert hatte, ein Dienstmädchen aus einem Restaurant engagieren zu wollen, nahm ich mit einigen Dienstmädchen in der Küche des erwähnten Hotels Rücksprache. Der Direktor, der sehr bald erschien, wies mich aber aus der Küche hinaus. Ich hatte viel schweren Wein getrunken und war infolgedessen etwas aufgeregt. Dadurch hatte ich mit dem Hoteldirektor einen heftigen Auftritt.

Verhandlungsf.: Sie sollen bei dieser Gelegenheit mit einem Revolver gedroht haben?

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Beisitzender Gerichtsassessor Wachsmuth: Kannten Sie den Kriegsartikel 13?

Angekl.: Nein.

Beisitzender: Ist Ihnen nicht, ehe Sie in Urlaub gingen, eingeschärft worden, auf Urlaub ganz besonders vorsichtig zu sein?

Angekl.: Jawohl.

Verhandlungsf.: Waren Sie am Ostersonnabend, als Sie abends den Erstochenen trafen, nüchtern?

Angekl.: Jawohl, ich war nur bei meiner Tante und hatte dort sehr wenig getrunken.

Der Verteidiger beantragte, den Brief, den der Angeklagte aus dem Arrest an die Familie Hartmann und auch die Briefe, die er aus dem Untersuchungsgefängnis an seine Mutter geschrieben, sowie verschiedene Zeitungsartikel zu verlesen. Aus diesen Artikeln werde hervorgehen, daß der Zeuge Lütscher der Presse Material geliefert, in sozialdemokratischen Versammlungen das Wort genommen und dort die Notwendigkeit der Beseitigung des „Kadavergehorsams“ beim Militär betont habe. Es wurde zunächst der Redakteur der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, Gilles (Essen) als Zeuge vernommen. Gilles bekundete: Er habe gehört, es existiere ein Notizbuch, in dem der Angeklagte eine Reihe von Fällen eingetragen habe, in denen er von Untergebenen nicht oder nicht vorschriftsmäßig gegrüßt wurde; aus eigener Wissenschaft könne er aber nichts sagen.

Oberleutnant z.S. Weisse: Der Angeklagte sei ein ganz unberechenbarer Charakter; er sei sehr heftig und unverträglich gewesen. Wiederholt habe er (Zeuge) den Fähnrichen in der Instruktionsstunde eingeschärft, nur in dringendsten Fällen von der Waffe Gebrauch zu machen. Allerdings. habe er einmal in der Instruktionsstunde erzählt: In Danzig sei ein Offizier in Zivilkleidung von Zivil und Soldaten angerempelt, mit Worten schwer beleidigt und schließlich auch von hinten geschlagen worden. Da es nicht gelungen sei, den Täter zu ermitteln, mußte der Offizier den Dienst quittieren. Er (Zeuge) habe dabei hinzugefügt: Wenn der Offizier bewaffnet gewesen wäre, dann wäre er verpflichtet gewesen, von der Waffe Gebrauch zu machen.

Verteidiger: Haben Sie nicht auch in der Instruktionsstunde gesagt: Wenn man einmal genötigt ist, die Waffe zu ziehen, dann soll man energisch davon Gebrauch machen?

Zeuge: Das habe ich nicht gesagt.

Oberleutnant z.S. Driobeck: Hüssener sei einmal, als er im Bett lag, von einem Kameraden mit Wasser bespritzt worden. Er sei darauf voller Wut aus dem Bett gesprungen und habe den Kameraden geohrfeigt.. Alsdann habe er aus dem Fenster springen wollen.

Beisitzer Gerichtsassessor Wachsmuth: War nicht der Befehl gegeben, die Dolche nicht schärfen zu lassen?

Zeuge: Ein solcher Befehl ist nach dem Vorkommnis in Essen gegeben worden.

Es erschien darauf als Zeuge Fähnrich z.S. Conrad. Auf Beschluß des Gerichtshofes wurde der Angeklagte während der Vernehmung dieses Zeugen aus dem Saale geführt. Der Zeuge bekundete alsdann: Der Angeklagte war im allgemeinen ein guter Kamerad, aber sehr prahlerisch.

Auf Antrag des Vertreters der Anklage wurde auch der folgende Zeuge, Fähnrich z.S. Brandes in Abwesenheit des Angeklagten vernommen. Dieser bekundete ebenfalls: Der Angeklagte sei ein guter Kamerad und sehr begabt gewesen.

Verhandlungsf.: Ihre Vorgesetzten sind anderer Meinung. Aus dem hierauf zur Verlesung gelangten Sektionsprotokoll und den gerichtlichen Bekundungen des Stabsarztes Dr. Skorzewski und des Medizinalrats Dr. Rossini (Essen) war zu entnehmen: Der Tod des Hartmann ist durch einen Stich in die Lunge infolge Verblutens eingetreten. Der Stoß mit dem Dolche muß mit großer Heftigkeit geführt worden sein. Der Sektionsbefund ergab, daß Hartmann keine großen Quantitäten Alkohol getrunken hatte.

Es gelangten darauf die Briefe des Angeklagten zur Verlesung. In einem Briefe bat der Angeklagte die Eltern des Hartmann um Verzeihung. „Ich bedauere den traurigen Ausgang, aber meine harte, harte Soldatenpflicht hat mich genötigt, so zu handeln.“

In Briefen an seine Mutter bat der Angeklagte auch diese um Verzeihung. „Gott der Allgütige wird mich nicht verlassen,“ so etwa heißt es in diesen Briefen, „denn ich habe nur so gehandelt, wie ich handeln mußte. Ich werde freimütig vor meine Richter treten und ihnen sagen, daß ich nicht anders handeln konnte. Wenn ich dennoch bestraft werden sollte, so werde ich mich in mein Schicksal fügen. Ich habe aber das frohe Bewußtsein, meine Ehre unverletzt erhalten zu haben. Ehre ist doch das höchste Gut des Menschen. Mir schwebt dabei die Rede des Geistlichen vor, die dieser am Sarge unseres in Gott ruhenden Vaters gehalten hat, indem er sagte: der Vater hat sein Bestes für seinen guten Namen und seine Ehre darangesetzt. Wenn ich meinem guten Vater in allen Dingen gefolgt wäre, dann stände es heute zweifellos besser um mich, aber wenn ich wieder in Freiheit bin, dann werde ich mich bemühen, in die Fußtapfen meines guten Vaters zu treten. Gott, der die Liebe selbst ist, wird Dich, mein gutes Mütterchen, nicht verlassen. Du brauchst Dich, geliebtes Mütterchen, nicht zu grämen, ich werde sicherlich freigesprochen. Auf das Gerede ungebildeter Leute, die nicht wissen, was Ehre ist, braucht man doch nichts zu geben. Gott wird schon alles zum Besten lenken. Ein Gefängnisschließer sagte mir: Fähnrich, Sie haben nichts zu befürchten, Sie haben so gehandelt, wie Sie als Ehrenmann handeln mußten. Ich vertraue auf den Erlöser Jesus Christus, heute, gestern und in Ewigkeit. Soeben wird meine Zelle aufgeschlossen und mir das Mittagessen gebracht. Es ist doch traurig, daß man einen Offiziersaspiranten einsperrt, der doch nur seine Pflicht getan hat. Weshalb legt man an meine Zelle drei Schlösser? Ich werde doch nicht entfliehen. Ich werde mit vollem Freimut vor meine Richter treten und meine Freisprechung fordern. Sollte ich dennoch gar zu Zuchthaus verurteilt werden, dann habe ich allerdings den Namen meiner Familie geschändet, aber Gott der Allmächtige wird uns vor diesem Schrecklichen bewahren. Das Essen, das ich im Gefängnis bekomme, ist ganz gut. Meine Mitgefangenen sehen mit Neid auf mein Essen, ich möchte ihnen gern etwas davon geben, es ist aber verboten. Ich werde, wenn ich wieder aus dem Gefängnis komme, Nichtraucher und Abstinent werden. Inmitten eines Briefes heißt es: Soeben höre ich das Klingeln der Straßenbahn. Letztere fährt an meinem Fenster vorüber. Ich glaube, ein Mädchen sitzt in der Straßenbahn, das ich sehr lieb habe, aber leider nicht heiraten kann. Ich habe dies auch dem Mädchen gesagt.“

Während der Verlesung einiger Stellen aus den Briefen an seine Mutter weinte der Angeklagte und schluchzte einige Male heftig.

Hierauf wurde der Student des Bergfachs Wald Lütscher als Zeuge aufgerufen. Dieser schilderte den Vorfall in ähnlicher Weise wie der Angeklagte. Sie seien, als sie am Abend des Ostersonnabends von Rüttenscheid nach Essen kamen, zunächst in das Aschinger-Lokal gegangen. Dort haben sie mit einem Kellner Streit bekommen und seien deshalb aus dem Lokal gewiesen worden. Sie beschlossen darauf, in das Müllersche Lokal zu gehen. Unteroffizier Schröder blieb bei einem Mädchen stehen, er sei deshalb mit Hartmann, der sehr angetrunken war, allein zu Müller gegangen. Kaum seien sie in den Hausflur getreten gewesen, da sei der ihm bekannte Fähnrich Hüssener ihnen gefolgt und habe Hartmann aufgefordert, ihm zur Wache zu folgen. Er habe, da Hartmann zunächst zögerte, diesem zugeredet, dem Befehle seines Vorgesetzten Folge zu leisten. Hartmann habe sich plötzlich losgerissen, mit erhobenen Händen umgewendet und sei geflohen. Hartmann machte nicht den leisesten Versuch, gegen Hüssener tätlich zu werden.

Verhandlungsf.: Torkelte Hartmann?

Zeuge: Nein, Hartmann war wohl stark angetrunken, aber er konnte ganz ruhig gehen und war vollständig Herr seiner Sinne.

Verhandlungsf.: Stand ihm Speichel vor dem Mund?

Zeuge: Keineswegs. Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge: Er habe sich den Vorgang am anderen Morgen genau aufgeschrieben; er tat dies schon im Interesse der mit ihm befreundeten Familie Hartmann. Er habe sich gerade bei Hartmanns befunden, da sei Rechtsanwalt Dr. Niemeyer hinzugekommen. Auf Wunsch der Familie Hartmann habe ihn Dr. Niemeyer zu Protokoll vernommen. Er habe seine Erlebnisse auch einigen Zeitungen mitgeteilt.

Verhandlungsf.: Sind Sie auch in einer sozialdemokratischen Versammlung als Redner aufgetreten?

Zeuge: Gott bewahre, das ist eine gemeine Lüge, es ist vollständig aus der Luft gegriffen. Ich wollte auch an die „Rheinisch-Westfälische Arbeiter-Zeitung“ eine Berichtigung schicken, ich halte es aber unter meiner Würde, mit diesen Leuten zu polemisieren.

Verhandlungsf.: Waren Sie betrunken?

Zeuge: Nein, ich hatte wohl 20 Glas Bier getrunken, ich war aber vollständig nüchtern. (Heiterkeit.)

Verhandlungsf.: Hatten Sie nicht auch Schnaps getrunken?

Zeuge: Nein.

Vertreter der Anklage: Der Zeuge hat mir zugegeben, 30 Glas Bier getrunken zu haben, dann dürfte er doch nicht mehr nüchtern gewesen sein?

Zeuge: Das kommt auf einen Versuch an. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Verhandlungsf.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie durch eine solche Bemerkung die Würde des Gerichtshofes verletzen. Wenn Sie das noch einmal tun, dann werden wir Sie in Strafe nehmen.

Der Zeuge bekundete noch: Der Angeklagte habe mit einem Büfettmädchen, das bei Aschinger in Stellung war und seines unsittlichen Lebenswandels wegen entlassen wurde, ein Liebesverhältnis unterhalten.

Angekl.: Das ist nicht wahr. Auf Befragen des Verteidigers, ob es wahr sei, daß Lütscher gesagt habe: er werde an dem Angeklagten Rache nehmen und ferner, ob er den Angeklagten Mörder genannt habe, verweigerte der Zeuge die Antwort. Er trat zum Schluß noch einmal vor und bemerkte: Er habe die Artikel in den Zeitungen veröffentlicht, da er sich in Essen nicht mehr auf der Straße sehen lassen konnte. Es wurde allgemein mit Fingern auf ihn gezeigt und laut gerufen: Da läuft der Feigling, der seinen Freund ruhig auf offener Straße hinmorden ließ. Auf weiteres Befragen des Verhandlungsführers bemerkte der Zeuge noch: Er habe die Überzeugung, daß Hüssener den Hartmann genau gekannt habe.

Es wurden alsdann Kaufmann Weinberg, Kaufmann Max Katz und Unteroffizier Schröder, sämtlich aus Essen, als Zeugen vernommen. Diese schilderten den Vorgang in fast genau derselben Weise wie Lütscher und bemerkten, daß Hartmann nicht sinnlos betrunken war und ihm auch kein Schaum vor dem Munde gestanden habe.

Verhandlungsf.: Zeuge Weinberg, Sie haben früher gesagt, Sie hätten geglaubt, der Fähnrich habe von dem Gestochenen einen Stoß erhalten, wie kamen Sie zu dieser Annahme?

Zeuge: Ich konnte mir nicht denken, daß der Fähnrich ohne jede Veranlassung einen Soldaten erstechen werde.

Eine in Essen kommissarisch vernommene Frau Hanßmann, die den Vorgang vom Fenster aus gesehen, hatte ihn in ähnlicher Waise wie die bisherigen Zeugen geschildert.

Dasselbe hatte der kommissarisch vernommene Kellner Sander bekundet. Hüssener habe zu ihm gesagt: „Sie sind doch auch Soldat gewesen und müssen wissen, wenn ein Offizier blank zieht, dann muß Blut fließen, ohne Rücksicht auf den Erfolg.“

Kriminal-Polizeiwachtmeister Kunert, Essen, bekundete: Er hatte die Wache, als ihm der Angeklagte vorgeführt wurde. Der Angeklagte habe gesagt: Ich habe so gehandelt, wie ich vom Gesichtspunkte meines Standes und meiner Ehre handeln mußte. Ich konnte nicht anders. Ferner sagte der Angeklagte: Herr Kriminal-Wachtmeister, sagen Sie einmal, wenn ein Offizier tätlich angegriffen wird, ist er dann nicht berechtigt, seine Waffe zu ziehen? Gewiß, erwiderte ich, selbst ein Unteroffizier ist berechtigt, seine Waffe zu ziehen, wenn er tätlich angegriffen wird. In diesem Falle werden Sie aber doch etwas abbekommen, denn Sie haben den Mann gestochen. Der Angeklagte versetzte darauf: Ich werde in das Bezirkskommando gehen und dort sofort den Vorfall melden. Ich stimmte dem zu und forderte den Unteroffizier Schröder und den Polizeisergeanten Meschke auf, den Fähnrich zu begleiten. Kurze Zeit darauf erhielt ich die Nachricht, daß der Gestochene tot sei. Ich lief darauf sofort mit zwei Schutzleuten nach dem Bezirkskommando und befahl, den Fähnrich festzuhalten. Alsdann meldete ich den Vorfall dem Polizeiinspektor.

Sergeant Borschulte: Im November v.J. sei er in Essen am Bahnhof entlang gegangen. Da sei der Angeklagte an ihn herangetreten und habe zu ihm gesagt: Wollen Sie denn nicht grüßen? Er versetzte: Ich bin Sergeant beim Bezirkskommando, da habe ich es nicht nötig. Der Angeklagte sagte: Pardon und ging fort.

Unteroffizier Lick: Er sei von einem Fähnrich z.S. wegen Nichtgrüßens gestellt worden, er wisse aber nicht, ob dies der Angeklagte war.

Musketier Rohwedder: Er sei einmal in Essen vom Bezirkskommando über den Burgplatz gegangen. Da sei der Angeklagte von hinten an ihn herangetreten und habe gesagt: Na, wird’s bald, Zigarre aus der Schnauze! Wie heißen Sie? Dabei habe der Angeklagte ein Buch herausgezogen und sich seinen Namen und auch den seines Kameraden aufgeschrieben.

Der Angeklagte gab die Möglichkeit zu, den Zeugen in der geschilderten Weise gestellt zu haben, er bestreite aber entschieden, den Zeugen auf der Straße aufgeschrieben zu haben. Es sei nicht seine Art, einen Soldaten auf offener Straße aufzuschreiben.

Musketier Fritsche bestätigte die Bekundung des Vorzeugen.

Die Musketiere Vollmer, Giese und Stenzle bekundeten ebenfalls, von dem Angeklagten wegen Nichtgrüßens in Essen gestellt worden zu sein.

Metzgermeistersfrau Aldejohann (Essen): Ich kenne den Angeklagten ganz genau. Eines Tages stand ich in der Kettwigerstraße vor einem Schaufenster. Da trat der Angeklagte an einen Soldaten heran und sagte mit lauter Stimme: Weshalb grüßen Sie nicht! Stehen Sie stramm, sonst trete ich Ihnen vor den Leib, daß Ihnen die Gedärme aus dem Hintern kommen!

Angekl.: Ich bestreite das ganz entschieden, ich habe noch niemals in dieser Weise einen Untergebenen angeredet.

Verhandlungsf.: Frau Aldejohann, Sie hören, was der Angeklagte sagt, halten Sie Ihre Aussage aufrecht, oder können Sie sich vielleicht irren?

Zeugin: Nein, ich irre mich nicht, ich wurde durch diesen Vorfall furchtbar erregt, so daß mir der Vorfall noch ganz genau in Erinnerung ist.

Verhandlungsf.: Können Sie sich vielleicht in der Person irren?

Zeugin: Auch das nicht, ich kenne Hüssener so genau, daß von einer Personenverwechselung keine Rede sein kann.

Verhandlungsf.: Sie haben doch auch keinerlei Interesse zur Sache und werden sich durch ein falsches Zeugnis wohl nicht unglücklich machen?

Zeugin: Gewiß nicht.

Polizeisergeant Meschke und Kriminal-Polizeiwachtmeister Kunert bekundeten noch auf Befragen: Hüssener habe ihnen gesagt, er habe den Hartmann zunächst von vorne gestochen.

Der Angeklagte bemerkte auf Befragen: Er bezweifle, dies zu den Zeugen gesagt zu haben, er gebe aber zu, daß der Angeklagte im Müllerschen Hausflur sich nicht geweigert habe, mitzugehen.

Verhandlungsf.: Bisher haben Sie das aber nicht gesagt?

Angekl.: Das hatte ich vergessen.

Verteidiger: Ich stelle an den Zeugen Lütscher die Frage, ob es wahr ist, daß er geäußert hat: Ich werde dafür sorgen, daß die Sache durchkommt und wenn es 100000 Taler kosten soll?

Lütscher: Es ist möglich, daß ich das gesagt habe.

Vertreter der Anklage, Marinekriegsgerichtsrat de Bary, führte nach beendeter Beweisaufnahme aus: Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß Hartmann keineswegs so betrunken war, daß es erforderlich gewesen ist, ihn zu verhaften. Das war um so weniger notwendig, da Hartmann in Gesellschaft eines Freundes war. Der Angeklagte war absolut nicht berechtigt, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Er konnte einmal den Hartmann durch Festhalten am Entfliehen hindern, andererseits hätte er durch Lütscher sofort den Namen erfahren können. In großen Garnisonorten muß allerdings die Disziplin voll aufrecht erhalten werden, auf Urlaub kann aber etwas nachgesehen werden. Ich bin überzeugt, hier in Kiel wird es dem Angeklagten nicht einfallen, einen Matrosen wegen Trunkenheit zu verhaften, obwohl er hier eine viel größere Berechtigung hätte, als in Essen, wo auf Urlaub Soldaten aller Truppengattungen waren und Hartmann einem ganz anderen Truppenteil angehörte, als er. Der Angeklagte ist lange genug Soldat, um nicht seine Instruktion zu kennen. Die Beweisaufnahme hat aber andererseits auch nicht ergeben, daß der Angeklagte den Tod des Hartmann gewollt hat. Der Angeklagte hat lediglich aus Prahlerei und persönlicher Eitelkeit gehandelt. Es liegt mithin eine vorsätzliche Mißhandlung eines Untergebenen mit tödlichem Ausgange vor. Der Angeklagte hat sich mithin im Sinne des § 123 Absatz 3 und wegen unbefugten Waffengebrauchs im Sinne des § 149 des Militärstrafgesetzbuches schuldig gemacht. Von einer Notwehr kann nicht im entferntesten die Rede sein. Ebensowenig können mildernde Umstände Platz greifen. Andererseits wird bei der Strafzumessung in Erwägung zu ziehen sein, daß der Angeklagte ein noch sehr junger Mensch ist, der, wie seine Briefe besagen, geistig noch nicht vollständig entwickelt ist! Es wird ferner in Betracht zu ziehen sein, daß die falschen Ehrbegriffe des Angeklagten sehr viel an der Tat schuld waren. In Anbetracht alles dessen beantrage ich 6 Jahre Zuchthaus und Ausstoßung aus der Marine.

Verteidiger, Rechtsanwalt Stobbe, Kiel: Wir alle stehen unter dem Eindruck des traurigen Ausgangs der vorliegenden Tat. Ich gebe zu, der Vorfall hat mit Recht große Erregung in der öffentlichen Meinung hervorgerufen. Aber die Presse hat den Vorfall, verführt durch gewissenlose Reporter, furchtbar aufgebauscht. bauscht. Selbst in politischem Sinne ist das Vorkommnis ausgebeutet worden. Die Angelegenheit hat in Form einer Interpellation den Reichstag beschäftigt. Ich stehe nicht an, zu sagen: Der Herr Staatssekretär des Reichsmarineamts v. Tirpitz hätte besser getan, wenn er die Beantwortung der Interpellation abgelehnt hätte, bis Sie, meine Herren, Ihren Richterspruch gefällt haben. Der Herr Staatssekretär sagte aber: er verurteile den Fall, unter dem Vorbehalt, daß die öffentliche Kriegsgerichtsverhandlung die Wahrheit aller vorgebrachten Behauptungen erbringen wird. Hätte der Herr Staatssekretär mit der Beantwortung bis nach dieser Verhandlung gewartet, dann wäre seine Beantwortung der Interpellation zweifellos anders ausgefallen. M.H., ich weiß, wir stehen alle unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung. Ich ersuche Sie aber, alles außer acht zu lassen, was Sie in den Zeitungen gelesen oder sonst gehört haben, sondern lediglich das Ihrem Urteil zugrunde zu legen, was in dieser Verhandlung vorgekommen ist. Das Vorkommnis selbst ist nicht näher aufgeklärt, man ist in der Hauptsache auf die Angaben des Angeklagten angewiesen. Der Angeklagte hat aber so offen und frei hier Rede gestanden, daß man nicht annehmen kann, er sei von der Wahrheit abgewichen. Die Zeugenaussagen waren naturgemäß im allgemeinen sehr unbestimmt. Sie standen zumeist unter dem Einfluß der eidlichen Vernehmung des Herrn R.-A. Dr. Niemeyer in Essen. Es ist das ein Verfahren, das mir bisher unbekannt gewesen ist. Jedenfalls ist nicht erwiesen, daß Hartmann sich ruhig benommen hat. Der Vorgang im Aschingerschen Lokale spricht vollständig gegen diese Behauptung. Es ist auch nicht widerlegt, daß der Angeklagte die Auffassung hatte: es sei seine Pflicht, den betrunkenen Soldaten zur Wache zu bringen, um ihn vor weiterem Alkoholgenuß zu bewahren. Der Angeklagte hatte zweifellos das Gefühl, daß Hartmann, als er sich losgerissen und mit erhobenem Arme zur Flucht gewandt, ihm etwas tun wollte. Dies muß man annehmen, wenn man nicht der Meinung ist, der Angeklagte sei plötzlich verrückt geworden. Soviel steht fest, Hartmann ist mit erhobenem Arme auf den Angeklagten losgekommen. Der Herr Vertreter der Anklage sagte: Der Angeklagte war so nahe an dem Fliehenden, daß er ihn mit dem kurzen Dolch treffen konnte, er hätte daher den Fliehenden fassen können. Ich bin der Meinung, hätte dies der Angeklagte getan, dann wäre das Unglück noch bedeutend größer geworden. Es wäre alsdann zwischen dem Angeklagten und Hartmann zum Ringen gekommen, der Pöbel hätte sich womöglich eingemischt und es hätte ein Schauspiel gegeben, das in einer Industriestadt zu den schlimmsten Ausschreitungen führen konnte. Jedenfalls hatte der Angeklagte die feste Überzeugung, es sei seine Pflicht, den Hartmann zu verhaften und als Vorgesetzter zur Wache zu bringen, zumal dem Angeklagten noch dabei das Vorkommnis in Danzig vorgeschwebt hat. Der Angeklagte war mit Leib und Seele Soldat. Es ist ihm von seinen Vorgesetzten eingeschärft worden, daß die Disziplin unter allen Umständen aufrecht erhalten und daß ein Soldat rasch und entschlossen handeln müsse. Von diesem Bewußtsein ist der Angeklagte zweifellos geleitet worden. Den traurigen Ausgang bedauert der Angeklagte selbst am meisten. Dafür spricht der Brief an die Familie Hartmann und die an die Mutter des Angeklagten gerichteten Briefe. Wenn dem Angeklagten, wie man aus dem Inhalt der Briefe annehmen muß, das Bewußtsein gefehlt hat, eine vorsätzliche Körperverletzung zu begehen, dann hat er sich im Sinne des Gesetzes nicht strafbar gemacht. Der Angeklagte ist auch ein gutmütiger Mensch; er hat die Briefe nur auf mein dringendes Zureden herausgegeben. Ich gebe zu, der Angeklagte hat sich des unbefugten Waffengebrauchs schuldig gemacht. Ich stelle deshalb anheim, den Angeklagten dieses Vergehens wegen in angemessener Weise zu bestrafen; ich bitte aber, ihm dabei die Untersuchungshaft in Anrechnung zu bringen. Wegen der vorsätzlichen Körperverletzung beantrage ich die Freisprechung.

Vertreter der Anklage: Der Angeklagte konnte nicht annehmen, der Fliehende werde ihn angreifen; das ganze Verhalten Hartmanns sprach dagegen. Der Angeklagte mußte das Bewußtsein haben, er sei nicht berechtigt, den Fliehenden durch einen starken Dolchstich, der sofort den wattierten Waffenrock durchbohrte, zum Stehen zu bringen.

Nach etwa zweistündiger Beratung des Gerichtshofs verkündete der Verhandlungsführer, Marinekriegsgerichtsrat Tamaschke, folgendes Urteil: Das Kriegsgericht hat folgenden Tatbestand für vorliegend erachtet: Am 11. April nachts gegen 12 Uhr kamen Hartmann, Lütscher und Schröder vom Dritten Hagen in Essen nach der Brandstraße, um sich in das Müllersche Restaurationslokal zu begeben. Sie hatten alle drei tagsüber viel getrunken. Hartmann war derartig bezecht, daß er schwankte. Da die drei jungen Leute auch auf der Straße sehr laut waren, wurde der Angeklagte auf sie aufmerksam. Er trat an Hartmann heran und forderte ihn auf, ihm zur Wache zu folgen. Hartmann nahm dies scherzhaft auf, oder wie der Angeklagte sich ausdrückte, plump vertraulich“. Der Angeklagte bemerkte deshalb Ich bin im Dienst und erteile Ihnen den dienstlichen Befehl, mir zur Wache zu folgen. Lütscher redete außerdem Hartmann zu, seinem Vorgesetzten Folge zu leisten. Darauf ergriff der Angeklagte den Hartmann am linken, Lütscher am rechten Arm. In dieser Weise begaben sich die drei Personen zur Polizeiwache. Kaum waren sie 20-30 Schritt gegangen, da riß sich Hartmann los und wandte sich zur Flucht. Ob der Angeklagte den Hartmann schon vorher losgelassen hatte, konnte mit Sicherheit nicht festgestellt werden. Der Gerichtshof billigt auch nicht, daß Privatvernehmungen stattgefunden haben. Er hat aber trotzdem die Überzeugung gewonnen, daß die Zeugen Weinberg und Katz die volle Wahrheit gesagt haben. Obwohl Lütscher das Bestreben hatte, den Tod seines Freundes Hartmann zu sühnen, so hat der Gerichtshof die Überzeugung gewonnen, daß auch Lütscher in allen Hauptpunkten die Wahrheit gesagt hat. Es ist von keinem Zeugen bemerkt worden, daß Hartmann dem Angeklagten einen Stoß versetzt hat oder eine Wendung machte, wonach der Angeklagte hätte annehmen können. Hartmann wollte ihn angreifen. Fest steht, daß der Angeklagte dem Hartmann zwei- bis dreimal „Halt“ zugerufen hat. Da Hartmann aber nicht stehenblieb, schlug ihn der Angeklagte von hinten mit seinem blankgezogenen Dolch, so daß die Wange heftig blutete. Da Hartmann trotzdem immer noch nicht stehenblieb, stach ihn der Angeklagte derartig in den Rücken, daß sehr bald der Tod eintrat. Daraufhin hat sich der Angeklagte sofort der Behörde gestellt. Der Angeklagte hat die Dienstbestimmungen verletzt, da er Hartmann angefaßt hat. Es hätte vollständig genügt, dem Hartmann gut zuzureden, reden, um ihn von der Straße fortzubekommen. Noch weniger war ein Grund vorhanden, den Angeklagten mit dem Dolch zu stechen. Selbst angenommen, Hartmann habe den Angeklagten angegriffen, oder der Angeklagte habe einen solchen Angriff befürchtet, so hatte er durch den Schlag den Angriff schon abgewehrt. Es soll dem Angeklagten geglaubt werden, daß er der Meinung war, Hartmann wollte ihn schlagen und er habe die Verpflichtung, den vermeintlichen Angriff abzuwehren. Er hatte aber jedenfalls kein Recht, auf den Fliehenden zu stechen. Von einer Notwehr kann keine Rede sein. Das Gesetz gestattet wohl dem Soldaten, in äußerster Not und dringender Gefahr Angriffe von Untergebenen abzuwehren und letztere sogar zu töten; Voraussetzung dabei ist aber äußerste Not und dringende Gefahr. Diese Voraussetzung liegt jedoch nicht vor. Der Angeklagte selbst behauptet nicht, daß Hartmann, nachdem er die Flucht ergriffen, sich noch einmal umgedreht habe. Von einer äußersten Not und dringenden Gefahr kann mithin keine Rede sein. Der Gerichtshof hat nicht angenommen, daß der Angeklagte die Absicht hatte, den Hartmann zu töten, wohl aber, daß er sich der vorsätzlichen Mißhandlung mit tödlichem Ausgange im Sinne der §§ 122 und 123 des Militär-Strafgesetzbuchs und des rechtswidrigen Waffengebrauchs im Sinne des § 149 des Militär-Strafgesetzbuchs sowie des Ungehorsams gegen dienstliche Bestimmungen im Sinne des § 92 des Militär-Strafgesetzbuches schuldig gemacht hat. Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof die große Jugend des Angeklagten und auch den Umstand erwogen, daß der Angeklagte sich in gutem Glauben befunden hat. In Berücksichtigung alles dessen hat der Gerichtshof auf eine Gesamtstrafe von vier Jahren und einer Woche Gefängnis und auf Degradation erkannt. Eine Woche wurde dem Angeklagten auf die Untersuchungshaft in Anrechnung gebracht.

Der Gerichtsherr und der Angeklagte legten Berufung ein. Ersterer, weil das Kriegsgericht einen minder schweren Fall für vorliegend erachtet hat. Der Angeklagte focht das Urteil in vollem Umfange an. Aus diesem Anlaß gelangte die Angelegenheit am 6. Juli 1903 vor dem Oberkriegsgericht der Ostseestation nochmals zur Verhandlung. Den Vorsitz in dieser Verhandlung führte Korvettenkapitän v. Bredow. Verhandlungsführer war Ober-Kriegsgerichtsrat Fielitz. Die Anklage vertrat Marine-Kriegsgerichtsrat Rosenberger. Die Verteidigung führte wiederum Rechtsanwalt Stobbe-Kiel. Der Vertreter der Anklage beantragte, wie in erster Instanz, sechs Jahre Zuchthaus und Ausstoßung aus der Marine. Das Oberkriegsgericht gelangte ebenfalls zu dem Ergebnis, daß ein minder schwerer Fall vorliege. „Da der Angeklagte berechtigt war, die Waffe zu ziehen, und den Ausgang gang nicht beabsichtigt hatte,“ so hob das Oberkriegsgericht das erste Urteil auf, erkannte den Angeklagten für schuldig der vorschriftswidrigen Behandlung eines Untergebenen sowie der vorsätzlichen Mißhandlung eines Untergebenen mit tödlichem Ausgange und verurteilte ihn zu zwei Jahren und sieben Tagen Festungshaft. Zwei Monate und sieben Tage wurden auf die Untersuchungshaft angerechnet.

Dies Urteil focht der Gerichtsherr durch Revision an. Das Reichs-Militärgericht hob eines Formfehlers wegen das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Oberkriegsgericht zurück. Letzteres mußte daher nochmals Ende September 1903 dieser Sache wegen zusammentreten. Das Oberkriegsgericht erkannte aber auf dieselbe Strafe wie am 6. Juli. Hüssener hat die noch zu verbüßende Festungshaft von einem Jahre und zehn Monaten auf der idyllisch belegenen Festung Ehrenbreitstein verbüßt. Bekanntlich hatte das Oberkriegsgericht nicht auf Degradation erkannt. Hüssener erhielt aber, noch während er sich auf der Festung befand, seinen militärischen Abschied.

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Der Mord im Essener Stadtwalde

Trotz aller Fortschritte der Kultur und Zivilisation gehören Mordtaten leider noch immer zu den Alltäglichkeiten. Gelingt es, einen Verdächtigen zu fassen, dann hat die Justitia oftmals große Mühe, dem Angeklagten die Tat nachzuweisen. Daß aber eine Schwurgerichtsverhandlung geführt werden muß, um dem Angeklagten den Nachweis zu führen, daß er, trotz seiner gegenteiligen Behauptung, nicht der Mörder ist, dürfte in den gerichtlichen Annalen einzig dastehen. Im Sommer 1906 weilte in der Metropole der Eisen- und Kohlenindustrie, in Essen (Ruhr), die 39jährige unverheiratete englische Sprachlehrerin Madelaine Lake zum Besuch bei einer befreundeten Familie. Die Dame war eine Verwandte des englischen Königshauses. Sie wohnte in Bredeney, einem Vorort Essens, in der sehr eleganten, idyllisch belegenen Villa Grünerveller. Am 1. Oktober 1906 machte Miß Lake in Gesellschaft einer Frau Brockhausen in der Stadt Essen mehrere Einkäufe. Gegen 6 Uhr abends begaben sich beide Damen auf den Heimweg. In der Nähe des Stadtwaldes verabschiedeten sie sich. Die Miß ging durch den Stadtwald, kam aber nicht mehr zum Vorschein. Einige Tage später wurde sie in einem Gebüsch des Stadtwaldes ermordet aufgefunden. Die Leiche wies zahlreiche Verletzungen und auch einige Kratzwunden auf. Der Tod war nach ärztlichem Befund durch Zertrümmerung des Schädels eingetreten. Da Geld und Wertgegenstände bei der Leiche vorhanden waren, so konnte von einem Raubmord keine Rede sein. Laut ärztlicher Feststellung war auch kein Lustmord begangen worden. Die Miß weilte erst seit einigen Wochen in Essen. Sie war eine sehr gutmütige, ruhige Person, es war daher nicht anzunehmen, daß ein Mord aus Rache vorlag. Es wurden mehrere verdächtige Leute verhaftet, aber alle sehr bald wieder freigelassen, da sich keinerlei Anhalt für deren Täterschaft ergab. In der Nacht vom 9. zum 10. Februar 1907 trat in der Brandstraße in Essen ein gut gekleideter junger Mann an einen Schutzmann heran mit der Aufforderung, ihn zu verhaften. Er habe am Abend des 1. Oktober 1906 die Engländerin Miß Lake im Essener Stadtwalde ermordet. Der Beamte glaubte zunächst, es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Da der junge Mann aber einen sehr ruhigen Eindruck machte und seine Selbstbezichtigung wiederholte, führte ihn der Schutzmann zur nächsten Polizeiwache. Dort gab der junge Mann folgendes zu Protokoll: Er heiße Alfred Land. Seit 1 1/2 Jahren sei er auf dem Essener Kohlensyndikat als Bureaubeamter beschäftigt gewesen. Am Abend des 1. Oktober 1906 sei er in der Nähe des Stadtwaldes spazieren gegangen. Da sei er zwei gleichaltrigen jungen Leuten begegnet. Er habe sich diesen angeschlossen. Plötzlich haben sie die Miß Lake getroffen. Sie beschlossen, die Dame zu notzüchtigen. Da sich die Dame aber heftig sträubte, so haben sie sie gewaltsam ins Gebüsch geschleppt, und um sie am Schreien zu verhindern, ihr den Hals zugedrückt. Plötzlich haben sie gesehen, daß die Dame tot war. Sie seien darauf davongelaufen und hätten sich gegenseitig das Versprechen gegeben, sich nicht zu verraten. Ende Dezember 1906 haben sie beschlossen, um einer etwaigen Verhaftung zu entgehen, nach Belgien auszuwandern. Er (Land) habe in Brüssel eine Stellung als Kellner angenommen. Seine beiden Begleiter, von denen er nur wisse, daß sie mit Vornamen Karl und Heinrich heißen, habe er sehr bald gänzlich aus dem Auge verloren. Er habe von ihrem Verbleiben keine Ahnung. Sein Gewissen habe ihm keine Ruhe gelassen, er sei deshalb zurückgekommen, um die furchbare Tat, die er begangen, zu sühnen. Es wurde selbstverständlich der Geisteszustand des jungen Mannes in Zweifel gezogen. Obwohl der Essener Gerichtsarzt Dr. Klein den jungen Mann nach längerer Beobachtung für vollständig geistig gesund erklärte, wurde er trotzdem noch sechs Wochen zur Beobachtung seines Geisteszustandes der Irrenanstalt Grafenberg überwiesen. Die Anstaltsärzte erklärten den jungen Mann ebenfalls für vollständig geistig gesund. Da der junge Mann nach wie vor seine Selbstbezichtigung in allen Einzelheiten mit größter Entschiedenheit aufrecht hielt und auch seine Angaben mit dem Leichenbefund im allgemeinen übereinstimmten, so wurde die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er wurde am 23. September 1907 vor das Schwurgericht des Landgerichts Essen gestellt. Er war der Sohn eines nicht unbemittelten Kohlenhändlers aus Breslau, der jedoch schon vor mehreren Jahren verstorben war. Seine Familie hatte den Essener Rechtsanwalt Holtermann mit der Verteidigung betraut. Als ich diesen einige Tage vor der Verhandlung besuchte, sagte er mir: „Mein größter Gegner ist der Angeklagte. Er hat mir aus dem Untersuchungsgefängnis geschrieben: Ich solle doch alles aufbieten, damit die Verhandlung gegen ihn so schnell als möglich stattfindet, und alles unterlassen, was geeignet wäre, seine Schuld in Zweifel zu ziehen. Er sei der Täter und wolle seine Schuld büßen. Er habe den sehnlichsten Wunsch, so schnell als möglich hingerichtet zu werden.“

Der Angeklagte, ein hübscher, mittelgroßer, kräftig gebauter junger Mann, mit einem Anflug von Schnurrbart, machte keineswegs den Eindruck eines Geistesgestörten. Vorsitzender Landgerichtsdirektor Dr. Fromm: Angeklagter Land! Ich muß Sie ermahnen, die volle Wahrheit zu sagen. Wenn Sie den Mord nicht begangen haben und trotzdem sich als Täter bekennen, so begehen Sie auch eine große Sünde, denn Sie führen die Justiz irre und tragen dazu bei, daß der wirkliche Täter der Gerechtigkeit entzogen wird. Wenn Sie aber der Täter waren, so sagen Sie offen die Wahrheit.

Der Angeklagte schwieg. Sodann bemerkte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 27. September 1886 in Breslau geboren und evangelischer Konfession. Er habe in Breslau die Elementarschule besucht und sei alsdann nach Dortmund in die kaufmännische Lehre gekommen. Dort wurde er wegen Diebstahls mit einem Verweise bestraft. Es wurde später in Breslau wegen Betruges und Urkundenfälschung zu vier Monaten und einige Zeit später vom Landgericht Köln wegen Unterschlagung zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt.

Vors.: Nun, Angeklagter, haben Sie die Miß Madeleine Lake getötet?

Angekl. (mit ruhiger, fester Stimme): Jawohl, ich habe es getan. Der Angeklagte gab hierauf auf Befragen des Vorsitzenden an: Am 1. Oktober 1906 sei er bis 6 Uhr abends im Bureau gewesen, er sei alsdann nach Bredeney spazieren gegangen und sei zwei gleichaltrigen, gutgekleideten jungen Leuten begegnet. Er habe sich den jungen Leuten angeschlossen. Sehr bald sahen sie eine Dame kommen. Diese wollten ten sie vergewaltigen. Da die Dame sich aber sträubte, so habe er und der eine junge Mann, der mit Vornamen Karl hieß, die Dame gewaltsam in den Stadtwald geschleppt. Um sie am Schreien zu hindern, habe er der Dame den Hals zugedrückt.

Vors.: Hat die Dame geschrien?

Angekl.: Sie hat einige englische Laute von sich gegeben.

Vors.: Wie alt war die Dame etwa?

Angekl.: Etwa 25 Jahre.

Vors.: Die jungen Leute, die sich Ihnen angeschlossen hatten, kannten Sie nicht?

Angekl.: Nein, ich weiß nur, daß der eine mit Vornamen Karl, der andere Heinrich hieß.

Vors.: Wie sahen die jungen Leute aus?

Angekl.: Karl war in meiner Größe und brünett, Heinrich etwas kleiner und blond.

Vors.: Hat sich denn auch Heinrich mit der Miß Madelaine zu schaffen gemacht?

Angekl.: Nein, Heinrich blieb am Rande des Stadtwaldes stehen.

Vors.: Haben Sie die Miß vergewaltigt?

Angekl.: Nein, ich war genötigt, der Dame mit beiden Händen den Hals zuzuhalten.

Vors.: Deshalb kamen Sie nicht zur Vergewaltigung?

Angekl.: Nein.

Der Angeklagte beschrieb nun die Stelle, an der er die Miß in den Stadtwald gezogen habe, er habe sie rechts in den Wald hineingezogen.

Vors.: Die Leiche ist aber links im Stadtwalde gefunden worden. Sie haben auch, als Sie sich bei der Polizei meldeten, gesagt, Sie haben die Miß links in den Stadtwald gezogen.

Angekl.: Dann habe ich mich geirrt. Mir ist erinnerlich, daß ich die Miß rechts in den Wald gezogen habe.

Vors.: Sie sind an dem Mordtage sehr aufgeregt gewesen?

Angekl.: Besonders nicht.

Vors.: Wann sahen Sie, daß die Miß tot war?

Angekl.: Nachdem wir die Miß niedergelegt hatten.

Vors.: Legten Sie die Dame aufs Gesicht oder auf den Rücken?

Angekl.: Auf den Rücken.

Vors.: Die Leiche wies Kratzwunden auf und außerdem war der Schädel zertrümmert. Dadurch ist der Tod eingetreten.

Angekl.: Ich habe die Miß weder gekratzt, noch habe ich ihr den Schädel eingeschlagen.

Vors.: Soll das Karl getan haben?

Angekl.: Das ist möglich.

Vors.: Kamen Sie nach der Tat mit den beiden jungen Leuten oftmals zusammen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie kommt es aber, daß Sie absolut nicht wissen, wer die jungen Leute waren und wie sie hießen?

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Nun wollen Sie gerade am Silvester Essen verlassen haben? Wohin begaben Sie sich?

Angekl.: Nach Belgien.

Vors.: Wovon lebten Sie?

Angekl.: Ich hatte zunächst noch etwas Geld, später nahm ich in Brüssel eine Kellnerstellung an.

Vors.: Und weshalb kamen Sie nach Essen zurück?

Angekl.: Weil mir das Gewissen schlug.

Vors.: Deshalb kamen Sie nach Essen zurück, um sich bei der Polizei zu melden?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Nun ist aber festgestellt, daß Sie im Januar in Koblenz gewesen sind?

Angekl.: Ich bin niemals in Koblenz gewesen.

Vors.: Sie haben in Koblenz in einem Hotel gewohnt und dort auf Ihren Namen einen Rock versetzt?

Angekl.: Das ist falsch.

Vors.: Sie sind später in Dortmund gewesen und haben von dort je eine Karte an zwei in Essen wohnende Mädchen geschickt?

Angekl.: Das ist auch nicht richtig.

Vors.: Die Handschrift auf diesen Karten ähnelt aber doch der Ihrigen?

Angekl.: Das gebe ich zu; ich habe die Karten aber nicht geschrieben.

Vors.: Sie haben außerdem angegeben, daß Sie mit Karl und Heinrich in Brüssel in dem Hotel „Stadt Verviers“ in einem Zimmer, in dem drei Betten standen, gewohnt haben?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Laut polizeilicher Feststellung haben zur angegebenen Zeit drei junge Leute nicht in diesem Hotel gewohnt, es gibt auch dort kein Zimmer, in dem drei Betten standen.

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Sie sollen vor und auch nach dem Morde reichlich alkoholische Getränke getrunken haben?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Hatten Sie am Tage der Tat getrunken?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie haben mehrere Liebschaften gehabt?

Angekl.: Ich verkehrte aber mit den Mädchen nur gesellschaftlich.

Vors.: Sie sollen die Mädchen angedichtet haben?

Angekl.: Jawohl. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Sie sollen zu einem Mann auf Befragen gesagt haben: Ich bin es nicht gewesen, ich kenne aber den Mörder und schweige, weil ich Geld bekommen habe.

Angekl.: Das sagte ich, um den vielen Fragen zu entgehen.

Hierauf wurde Frau Lettau, eine sehr alte Frau, die am 2. Oktober 1906, nachmittags, die Leiche im Walde entdeckt hatte, als Zeugin vernommen. Sie schilderte den Leichenbefund in eingehender Weise. Ein junger Mann von etwa sechzehn Jahren, der sich hinzugesellte, sagte: Das ist der junge Herr Land gewesen, der kommt täglich hier vorüber. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Gerichtsarzt Dr. Klein (Essen) bekundete als Zeuge und Sachverständiger: Die Leiche der Ermordeten wies verschiedene Blutspuren auf. Sie war eine mittelgroße Person von etwa 40 Jahren. Die Ränder beider Augen waren stark blutunterlaufen. Die Ermordete hatte noch bei der Sektion Handschuhe an. An den Fingern beider Hände fanden sich Nägeleindrücke, die darauf schließen lassen, daß zwischen der Ermordeten und dem Täter ein Kampf stattgefunden habe. Die rechte Schädelseite war stark blutunterlaufen, dies ist augenscheinlich von einem heftigen Schlag mit einem harten Gegenstand verursacht worden.

Für den folgenden Teil des Gutachtens wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse jedoch der Zutritt gestattet. Der Sachverständige ge bemerkte ferner: Der Versuch eines Sittlichkeitsverbrechens sei gemacht worden. Die Ermordete habe sich augenscheinlich sehr gewehrt. Es seien auch Würgungsversuche gemacht worden. Der Tod sei aber nicht durch Erstickung, sondern durch die Schädelverletzung, die eine innere Gehirnblutung zur Folge gehabt habe, eingetreten. Der Angeklagte habe gesagt: Er wisse von einer Schädelverletzung nichts, er habe der Ermordeten nur den Hals zugehalten. Es sei aber möglich, daß sein Komplice Karl den Schlag auf den Schädel geführt habe. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bemerkte der Gerichtsarzt: Die Schädelverletzung sei der Ermordeten lebend beigebracht worden, sie habe augenscheinlich den Tod herbeigeführt.

Gerichtsarzt Dr. Conrad: Die Ermordete war eine kleine, sehr schmächtige und zart gebaute Person. Er sei der Ansicht, daß die Blutspuren in der Wäsche von den erlittenen Verletzungen herrührten. Der Sachverständige schloß sich im übrigen dem Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Klein vollständig an.

Es wurden hierauf mehrere Zeugen vernommen, die am 1. Oktober 1906 zur fraglichen Zeit die Rellinghauser Chaussee, in der Nähe des Schwarzen Weges, passiert hatten. Die meisten Zeugen waren einer Dame begegnet, hinter der ein Mann in Arbeiterkleidung ging. Einige Zeugen haben einen Schrei gehört, der sich zweimal wiederholt habe.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde beschlossen: am folgenden Tage im Essener Stadtwalde eine Ortsbesichtigung vorzunehmen.

Ein prächtiger Herbstmorgen lachte am 24. September 1907 über der lebhaften Industriestadt Essen. Eine zahlreiche Menschenmenge flutete schon frühzeitig nach dem ziemlich entfernt vom Weichbild der Stadt belegenen Stadtwalde. Der Erste Staatsanwalt Dr. Eger und die Mitglieder des Gerichtshofes kamen im Automobil hinausgefahren. Die Geschworenen hatten sich einen Kremser gemietet. Die zahlreich zum Lokaltermin geladenen Zeugen, die Vertreter der Presse und das Publikum hatten sich der elektrischen Straßenbahn bedient. Wir waren genötigt, an der „Flora“ (Rüttenscheider Straße) auszusteigen und alsdann den Schwarzen Weg entlang nach dem Stadtwald zu Fuß zu gehen. Dort war eine starke Polizeimacht unter dem Kommando der Polizeiwachtmeister Mirus und Fischer zu Fuß und zu Pferde postiert. Ohne Eintrittskarte, die vom Ersten Staatsanwalt den Vertretern der Presse gegeben waren, wurde niemand durch die Polizeikette durchgelassen. Der Angeklagte wurde von Polizeibeamten ungefesselt in einem geschlossenen Wagen (Landauer) nach dem Stadtwalde gebracht. Der Angeklagte machte den Eindruck eines durchaus noblen jungen Mannes. Er trug einen schwarzen, feinen Gehrock, eleganten, schwarzen, steifen Hut und tadellosen Stehkragen. Er legte eine geradezu bewundernswerte Ruhe an den Tag. Trotz polizeilicher Absperrung, die im übrigen sehr liberal gehandhabt wurde, hatte sich ein ungemein zahlreiches Publikum eingefunden, um dem seltenen Schauspiel einer Gerichtsverhandlung im Walde und auf einer sehr staubigen Kohlenchaussee beizuwohnen.

Die Zeugenvernehmung begann gegen 9 1/2 Uhr am Heideschlößchen und zog sich durch den Wald hindurch bis fast zur Rüttenscheider Straße hin. Die Zeugen erzählten ihre Erlebnisse vom Nachmittag des 1. Oktober. Einer Anzahl Zeugen war die ermordete Miß begegnet, hinter ihr sei ein junger Mann gegangen. Bezüglich des letzteren gingen die Aussagen ziemlich auseinander. Einige waren der Meinung, der junge Mann habe dem Angeklagten in Figur, Haltung, Kleidung und auch Gesicht ähnlich gesehen, andere hielten es für ausgeschlossen, daß der junge Mann der Angeklagte war. Einige Zeugen waren einem jungen Manne begegnet, der von der Mordstätte hergekommen und fluchtartig schnell die Chaussee entlang gelaufen sei. Dieser junge Mann habe, wie die Zeugen bekundeten, an Haltung und Figur dem Angeklagten ähnlich gesehen. Noch mehrere andere Leute, denen die Zeugen begegnet waren, wurden als verdächtig bezeichnet. Ein Mann soll, als er bei drei Telegraphen-Assistenten vorüberging, zu seinem Begleiter gesagt haben: „Dreh’ dich nicht um, die kennen mich.“

Die Mordstätte, d.h. der Baum, unter dem die Ermordete gefunden wurde, war durch einen in den Baumstamm eingeschnittenen Totenkopf und ein Kreuz kenntlich gemacht. Der Angeklagte, der zwischen zwei Polizeisergeanten einherschritt, wurde zunächst, vom Heideschlößchen kommend, rechts in den Wald, und zwar an die Stelle geführt, an der er das Verbrechen begangen haben wollte.

Vors.: Angeklagter, ich muß Ihnen bemerken, daß die Leiche links im Walde, also hier gerade gegenüber gefunden wurde. Irren Sie sich vielleicht?

Angekl.: Ich glaube mich nicht zu irren, ich habe die Miß rechts in den Wald an diese Stelle gezogen.

Vors.: Das ist doch aber nicht möglich, die Leiche ist links gefunden worden. Sie irren sich vielleicht doch?

Angekl.: Mir ist erinnerlich, daß ich die Miß nach rechts an diese Stelle gezogen habe, ein Irrtum ist aber nicht ausgeschlossen.

Darauf begab man sich links in den Stadtwald an die Stelle, an der die Ermordete gefunden wurde. Man war genötigt, einen doppelten Drahtzaun zu überschreiten, ehe man in den Wald kam; der Drahtzaun war nach dem Morde gezogen worden. Die Mordstätte sah vollständig kahl aus, sie war, wie mitgeteilt wurde, im vorigen Jahre mit dichtem Farnkraut bewachsen, wachsen, das gewissermaßen ein Gebüsch bildete. Ein reitender Polizeisergeant stieß dreimal einen Schrei aus, um festzustellen, wie weit das Schreien der Ermordeten, einer schmächtigen, zart gebauten Dame, der der Täter den Hals zugedrückt haben will, gehört worden sei. Das Schreien des Polizeisergeanten wurde erklärlicherweise sehr weit vernommen. Bei dieser Gelegenheit will ich mitteilen, daß der Angeklagte ein sehr kräftig gebauter Mensch war, der wohl imstande gewesen wäre, eine zartgebaute Frauensperson zu erwürgen.

An der Mordstätte wurde nochmals die alte Frau Lettau, die die Leiche am 2. Oktober 1906, nachmittags gegen 3 1/2 Uhr entdeckt hatte, vernommen. Die alte Frau war im Walde mit Holzsuchen beschäftigt. Sie fand zunächst einen Damenhut und einige Schritte weiter zwei Hutnadeln. Dicht dabei im Gebüsch, inmitten dichtem Farnkraut, entdeckte sie die Leiche. In der Nähe stand ein junger Mann, der dem Angeklagten in Ansehen, Figur, Haltung und Kleidung sehr ähnlich gesehen habe. Ob es der Angeklagte war, könne sie nicht sagen. Sie habe den jungen Mann in ihrem Schreck herbeigerufen und ihm gesagt: er solle die Polizei holen. Der junge Mann habe geantwortet: Dazu habe ich keine Zeit, ich muß jetzt nach Hause eilen, ich wohne sehr weit. Aber wenn die Polizei kommt, dann bin ich auch wieder hier. Der junge Mann hatte ihr ein kleines Kästchen übergeben. Ob letzteres der Ermordeten gehörte, könne sie nicht sagen. Sie habe nicht gesehen, daß der junge Mann, der vor ihr ging, sich gebückt habe. Der junge Mann habe sich nicht wieder sehen lassen. Etwa eine Stunde später sei sie einem jungen Menschen begegnet, der auf Zeche Langenbrahm arbeitete. Der junge Mann mochte etwa 16 Jahre alt gewesen sein. Als sie diesem ihre Erlebnisse erzählte, sagte er: Der junge Mann wird der junge Herr Land gewesen sein, der geht täglich durch den Wald.

Vors.: Ist das die volle Wahrheit, Frau Lettau, können Sie das auf Ihren Eid nehmen?

Zeugin: Das ist die volle Wahrheit.

Vors.: Angeklagter, sind Sie am Nachmittage des 2. Oktober hier an der Mordstätte gewesen?

Angekl.: Nein, ich bin seit dem Tage des Mordes niemals mehr im Stadtwalde gewesen, ich graulte mich, hinzugehen.

Vors.: Es ist eigentümlich, Frau Lettau, daß der von Ihnen bezeichnete etwa 16jährige junge Mann, der auf Zeche Langenbrahm gearbeitet haben soll, nicht aufzufinden ist.

Frau Lettau: Ich kann nichts anders, als die Wahrheit sagen.

Der Vorsitzende schritt mit den Zeugen noch einige Male die Chaussee entlang, um teils die Vernehmungen gen zu wiederholen, teils um die Entfernungen abzumessen. Die Sonne sandte ihre glühenden Strahlen auf die unter freiem Himmel stattfindende Gerichtsverhandlung.

Sämtliche Prozeßbeteiligten, aber auch die Berichterstatter und die vielen Polizeibeamten waren merklich erschöpft, als gegen 1 1/2 Uhr mittags der Vorsitzende den Lokaltermin für beendet erklärte.

Nachmittags wurde die Verhandlung im Schwurgerichtssaale fortgesetzt. Bureaubeamter Mette bekundete als Zeuge: Am 2. Oktober 1906, nachmittags gegen 3 1/2 Uhr, sei er durch den Stadtwald gegangen. Da sei er plötzlich von einer alten Frau angerufen worden. Die Frau habe ihm die von ihr entdeckte Leiche gezeigt. Neben der Leiche lag ein Kästchen; er hob es auf und übergab es der alten Frau.

Vors.: Frau Lettau, war das der junge Mann?

Zeugin: Jawohl, das war er, ich habe ihn sofort, als er den Saal betrat, wiedererkannt.

Schmied Heinrich Hackstein: Am 1. Oktober nachmittags, kurz nach 7 Uhr, sei er in Gesellschaft seines Bruders den Schwarzen Weg entlang gegangen; da habe er drei laute Schreie gehört, die aus dem Stadtwalde kamen. Es machte den Eindruck, als ob jemand gewürgt werde. Die Schreie seien ihm derartig in die Glieder gefahren, daß er furchtbar erschrocken sei. Er habe, als er nach Hause kam, seine Wahrnehmungen sofort seiner Mutter erzählt.

Frau Luise Schulz: Sie sei am fraglichen Nachmittag zwischen 6 und 7 Uhr den Schwarzen Weg entlang gegangen. Da sei sie einem sehr großen Herrn mit flottem Schnurrbart nebst einer kleinen Dame begegnet. Der Herr hatte seine Hand um die Taille der Dame gelegt. Das Paar unterhielt sich sehr lebhaft und begab sich querfeldein in das Gebüsch.

Vert.: Sträubte sich die Dame, in das Gebüsch zu gehen?

Zeugin: Keineswegs.

Frau Luise Großmann bestätigte die Bekundung der Vorzeugin. Sie habe das Paar für ein Liebespaar gehalten.

Frau Willasch hatte dieselbe Wahrnehmung gemacht. Die Dame trug in der rechten Hand ein Täschchen; sie war schwarz gekleidet und sehr schlank.

Vors.: Wollte die Dame in den Busch hineingehen?

Zeugin: Sie wollte so recht nicht.

Frau Gustenhofer: Am Nachmittag des 1. Oktober 1906, etwa Viertel vor 7 Uhr, sei sie am Schwarzen Weg zwei gut gekleideten Herren und hinter diesen einer dunkel gekleideten Dame begegnet. Auf dem Weg nach der Flora zu habe sie einen besser gekleideten Herrn gesehen.

Frau Klara Gustenhofer hatte dieselben Wahrnehmungen wie ihre Schwägerin gemacht.

Streckenwärter Schulte hatte ebenfalls das angebliche Liebespaar in das Gebüsch gehen sehen. Er habe außerdem Niemer und v. Hagen gesehen. Nachdem er seine Wahrnehmungen der Polizei angezeigt hatte, habe ihm v. Hagen gedroht, ihm die Knochen entzwei zu schlagen, wenn er auch hinter Schloß und Riegel kommen sollte.

Fouragehändler Neumann: Er habe in der Nähe der Mordstätte zwei Männer gesehen, die Niemer und v. Hagen gewesen sein können. Er habe sie aber in der Dunkelheit nicht genau sehen können. Kurz vor 7 Uhr habe er aus der Gegend der Mordstätte einen Pfiff gehört, der sofort erwiedert worden sei.

Polizeisergeant Heiter: Ein Feuerwehrmann habe ihm erzählt: Am 1. Oktober nachmittags sei an der Rüttenscheider Chaussee ein junger Mann in sehr aufgeregter Weise angelaufen gekommen; er sei auf die elektrische Straßenbahn gestiegen und nach Essen gefahren. Eine Anzahl Frauen bestätigte diese Erzählung.

Polizei-Inspektor Meyer und Kriminalkommissar Krugmeier bekundeten, daß bezüglich des aufgeregten jungen Mannes, der auf die elektrische Straßenbahn gestiegen sein soll, die eingehendsten Nachforschungen, aber vollständig ergebnislos, gemacht worden seien.

Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf der 37jährige Schlosser August Niemer, der wegen Verdachts des Mordes an der Miß Lake verhaftet war und gegen den noch die Untersuchung schwebte, als Zeuge in den Saal gerufen. Die Vereidigung des Zeugen wurde ausgesetzt. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 1. Oktober nachmittags nach 6 Uhr mit v. Hagen im Stadtwald gewesen. Sie haben eine Zeitlang dort gegessen und Schnaps getrunken.

Mehrere Leute bekundeten auf Befragen, daß sie zwei Leute mit einer Schnapsflasche am Rande des Waldes haben sitzen sehen.

Vors. (zu Niemer): Haben Sie einen Schrei gehört?

Zeuge: Nein.

Vors.: Aber eine ganze Anzahl Personen hat aus bedeutend größerer Entfernung mehrere Schreie gehört?

Zeuge: Ich habe nichts gehört.

Vors.: Haben Sie an jenem Abend den Angeklagten in der Nähe des Stadtwaldes gesehen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kennen Sie den Angeklagten?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie haben ihn nie gesehen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie sollen es sich zur Aufgabe gemacht haben, Liebespärchen im Walde aufzustöbern?

Zeuge: Aufgestöbert nicht, aber beobachtet.

Vors.: Sie sollen sogar einem Liebespärchen mit dem Revolver gedroht haben?

Zeuge: Mir nicht bewußt.

Erster Staatsanwalt und Verteidiger erklärten, daß sie keine Fragen an den Zeugen zu stellen haben.

Vors.: Ich habe aber noch eine Frage: Ich mache Sie darauf aufmerksam, Zeuge Niemer, daß Sie auf die folgende Frage die Antwort verweigern können, wenn Sie Ursache haben, zu befürchten, daß Sie sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Ich frage Sie also, stehen Sie in irgendeiner Beziehung zu dem Morde der Miß Lake?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kennen Sie den Mörder?

Zeuge: Nein.

Vors.: Haben Sie oder van Hagen den Mord begangen?

Zeuge: Nein.

Der folgende Zeuge, Schreiner van Hagen, wurde ebenfalls unter Aussetzung der Vereidigung vernommen. Er gab zu, am 1. Oktober abends den Schwarzen Weg entlang gegangen zu sein, er erinnere sich aber nicht, am Rande des Waldes mit Niemer gesessen zu haben.

Arbeiter Marzina: Er habe am 1. Oktober nachmittags dem Niemer umziehen helfen. Alsdann sei er mit Niemer und van Hagen nach dem Alfredusbad und von dort den Schwarzen Weg entlang gegangen.

Vors.: Wissen Sie, wer die Miß Lake ermordet hat?

Zeuge: Nein.

Steiger Markgref von Zeche Langenbrahm: Er habe bei den auf Zeche Langenbrahm beschäftigten jungen Leuten die eingehendsten Nachforschungen angestellt, aber den von der Zeugin Lettau bezeichneten jungen Mann nicht feststellen können.

Am dritten Verhandlungstage sah der Angeklagte furchtbar blaß und elend aus. Er saß niedergeschlagen und in sich zusammengesunken da. Er hatte in den letzten fünf Nächten nicht geschlafen. Seinem Verteidiger hatte er erklärt: Eine Freisprechung könne ihm gar nichts nützen, denn er sei ohnedies aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen; er könne sich nirgends mehr sehen lassen. Man solle ihn entweder zeitlebens ins Gefängnis sperren oder hinrichten. Nach einigen von den Prozeßbeteiligten gestellten Fragen beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit auszuschließen, da durch die folgende Verhandlung eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu besorgen sei. Der Zuhörerraum wurde geräumt, den Vertretern der Presse jedoch der Zutritt gestattet.

Der Vorsitzende stellte darauf an den Angeklagten mehrere Fragen, die sich auf die Absichten bezogen, die der Angeklagte vorhatte, als er der Ermordeten begegnete. Die nähere Mitteilung hierüber muß aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben. Der Angeklagte bemerkte schließlich, daß er furchtbar aufgeregt sei.

Vors.: Seit wann sind Sie so sehr aufgeregt?

Angekl.: Seit gestern abend.

Vors.: Dann setzen Sie sich und sind Sie bemüht, sich zu beruhigen.

Der Angeklagte setzte sich und beantwortete anscheinend mit Ruhe die an ihn gestellten Fragen. Er wiederholte: er glaube bestimmt, er habe die Miß rechts in den Stadtwald gezogen, es sei aber auch möglich, daß er sie links hineingezogen habe.

Plötzlich brach der. Angeklagte zusammen und fiel in Weinkrämpfe.

Der Vorsitzende unterbrach die Verhandlung und ersuchte die anwesenden Gerichtsärzte, dem Angeklagten Hilfe zu leisten. Auf Anordnung der Ärzte wurde der Angeklagte von einem Polizeisergeanten und einem Gerichtsdiener an die frische Luft geführt. Nach etwa 15 Minuten hatte sich der Angeklagte, der noch immer sehr elend aussah, so weit erholt, daß die Verhandlung fortgesetzt werden konnte. Die Öffentlichkeit wurde wiederhergestellt.

Alsdann wurde Frau Kort als Zeugin vernommen: Sie unterhalte in der Rellinghauser Straße einen öffentlichen Mittags- und Abendtisch. Seit 1. Oktober 1906 habe der Angeklagte bei ihr gegessen. Er habe für Mittagessen 70, für Abendbrot 50 Pf. bezahlt. Am 1. Oktober sei der Angeklagte etwa 20 Minuten vor 8 Uhr zum Abendbrot gekommen. Es sei ihr an dem Angeklagten nichts aufgefallen.

Der Sohn und zwei Töchter dieser Zeugin bestätigten diese Bekundung. Die Tochter Hedwig hatte gebucht, daß Land am 1. Oktober 1906 bei ihrer Mutter Abendbrot gegessen habe. Auf Antrag des ersten Staatsanwalts legte Hedwig Kort das von ihr geführte Buch vor, aus dem hervorging, daß der Angeklagte am 1. Oktober 1906 bei ihnen Mittag- und Abendbrot gegessen habe.

Frau Bettena, die Schwester der Hedwig Kort, bestätigte die Bekundungen ihrer Mutter und ihrer Schwester.

Vors.: Bei Ihrer Mutter verkehrten doch wohl viele Herren?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Wie kommt es, daß Sie sich gerade so bestimmt zu erinnern wissen, daß der Angeklagte am 1. Oktober bei Ihrer Mutter Abendbrot gegessen hat?

Zeugin: Weil ich zu Hedwig sagte: Heule kommt ein neuer junger Mann, der kann vielleicht für dich etwas sein. (Große allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Das ist ja allerdings ein Anhaltspunkt. Sie glaubten, der junge Mann wäre für Ihre Schwester eine passende Partie.

Zeugin (verschämt lächelnd): Ja.

Die Bureaubeamten Bertelmann und Walther bekundeten: Sie haben mit dem Angeklagten zusammen im Bureau des Kohlensyndikats gearbeitet. Bis 1. Oktober 1906 sei die Bureauzeit beim Kohlensyndikat bis 5 1/2 Uhr, vom 1. Oktober 1906 ab bis 6 Uhr abends gewesen. Sie glauben nicht, daß der Angeklagte einmal vor Bureauschluß fortgegangen sei.

Oberkellner John: Er sei Oberkellner im Hotel Bürgerhaus in Dortmund. Am 1. Januar 1907 logierte sich ein junger Mann im Hotel unter dem Namen v. Eicken ein. Er sagte: er sei Student der Medizin in Bonn. Er blieb bis 5. Januar und verduftete dann, ohne bezahlt zu haben. Am 2. Januar liebäugelte er vom Fenster aus mit einem jungen Mädchen, das in einem dem Hotel gegenüberliegenden Warenhause als Verkäuferin beschäftigt war. Er versuchte alsdann in das Warenhaus einzudringen, um dem jungen Mädchen den Hof zu machen; er wurde aber, als man seine Absicht erkannte, an die frische Luft gesetzt. (Große, allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Was wollte denn der Angeklagte in Dortmund machen? In Dortmund studiert man doch nicht Medizin?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Sehen Sie sich den Angeklagten einmal genau an, war das der Student v. Eicken?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?

Zeuge: Vollständig sicher.

Vors.: Nun, Angeklagter, geben Sie zu, vom 1. bis 5. Januar in Dortmund gewesen zu sein?

Angekl.: Das ist alles unwahr, ich war im Januar 1907 nicht in Dortmund. Die Sache mit der Verkäuferin ist vollständig unwahr.

Vors.: Das wäre schließlich gleichgültig, geben Sie zu, vom 1. bis 5. Januar in Dortmund gewesen zu sein?

Angekl.: Nein.

Oberkellner John bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Der Angeklagte habe auch eine Ansichtskarte an seine Braut in Essen geschrieben, die Karte habe er ihm gezeigt.

Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten die Karte vor, letzterer bestritt, die Karte geschrieben zu haben.

Vors.: Herr John, wissen Sie, wo der Angeklagte von Dortmund aus hinfuhr?

Zeuge: Er ist angeblich nach Koblenz gefahren, denn es kam an den Hotelier, Herrn Sondermann, von einem Agenten aus Koblenz eine Anfrage, ob das von Herrn Sondermann dem Kellner Land aus Breslau ausgestellte Zeugnis richtig sei. Herr Sondermann hatte aber niemals ein solches Zeugnis ausgestellt.

Vors.: Woraus entnahmen Sie, daß der angebliche Kellner Land mit dem Studenten der Medizin v. Eicken cken identisch war?

Zeuge: Weil ich den Studenten v. Eicken für einen Schwindler gehalten habe.

Frau Walsdroff: Sie sei im Januar 1907 Stubenmädchen im Hotel Bürgerhaus in Dortmund gewesen. Sie könne mit voller Bestimmtheit bekunden, daß der Angeklagte Anfang Januar 1907 im Hotel Bürgerhaus in Dortmund gewohnt habe.

Die älteste Schwester des Angeklagten, eine verehelichte Frau Hoffmann, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Angeklagte habe oftmals Alkohol getrunken. Der Angeklagte sei ein sehr schwächliches Kind gewesen, er habe an der englischen Krankheit gelitten und erst mit vier Jahren laufen gelernt. Nachdem er konfirmiert war, habe sie ihn zu sich genommen und ihn in ein kaufmännisches Geschäft in die Lehre gegeben. Daneben habe er die Handelsschule besucht. Er sei darauf nach Breslau gegangen, sei dort in Stellung gewesen und wegen Diebstahls, Betruges und Urkundenfälschung bestraft worden. Später erhielt er im Bureau der Zeche „Gneisenau“ und alsdann im Bureau des Kohlensyndikats in Essen Anstellung. Er war oftmals sehr schwermütig, weinte heftig und sagte: er möchte sich erschießen, denn er sei infolge seiner Strafen aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Als er aus Breslau kam, erzählte er, er habe mit einem Oberingenieur zusammengesessen. Dieser war zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt und habe ihm deshalb 1500 M. vermacht, damit sie der Staat nicht bekommen sollte. Er wolle davon die Unterschlagung von 300 M. decken und mit dem anderen Gelde ein Zigarrengeschäft aufmachen. Diese ganze Erzählung war erfunden. Ob der Angeklagte viele Liebschaften gehabt habe, sei ihr nicht bekannt gewesen. Er habe allerdings oftmals Mädchen angedichtet und sei mit ihnen ausgegangen.

Vors.: Hat Ihr Bruder nach dem 1. Oktober 1906 ein auffallendes Wesen an den Tag gelegt?

Zeugin: Nein.

Vors.: Hat er viel über den Mord der Miß Lake gesprochen?

Zeugin: Jawohl, es wurde bei uns sehr viel über den Mord gesprochen. Mein Bruder hat vielfach über den Mord aus der Zeitung vorgelesen. Er sagte einmal: Der Verbrecher wird wohl niemals entdeckt werden. Es muß ein Mensch aus den höheren Gesellschaftskreisen, vielleicht ein Offizier gewesen sein.

Vors.: Halten Sie Ihren Bruder für fähig, einen Mord zu begehen?

Zeugin: Durchaus nicht.

Der Verteidiger verlas darauf einen vom Angeklagten aus dem Untersuchungsgefängnis gerichteten Brief, in dem es hieß: „Wenn man sechs Wochen unter die Tollhäusler gesteckt wird, dann muß man schließlich verrückt werden. Ich möchte mir am liebsten das Leben nehmen. Ich tröste mich aber mit unserem Herrn und Heiland, der einen so furchtbaren Tod und dazu noch unschuldig erleiden mußte.“

Vors.: Halten Sie Ihren Bruder für geistig gesund?

Zeugin: Ich habe niemals wahrgenommen, daß mein Bruder geistesgestört ist.

Während der ganzen Vernehmung der Zeugin senkte der Angeklagte seinen Kopf zur Erde und weinte heftig.

Alsdann wurden mehrere Bureaubeamte vernommen, die mit dem Angeklagten im Kohlensyndikat auch nach dem Morde zusammen gearbeitet haben. Diese haben sämtlich an dem Angeklagten nichts Auffallendes wahrgenommen. Sie haben auch den Angeklagten in keiner Weise im Verdacht gehabt, daß er die Miß Lake ermordet habe.

Ein Mann, namens Ziegler, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei Mitglied des Guttemplerordens gewesen. Ein Mann, namens Stein, sei Vorsitzender, der Angeklagte, der auch Mitglied war, sei Schriftführer gewesen. Er (Zeuge) sei aus dem Guttemplerorden ausgetreten und habe sich einer anderen antialkoholischen Gesellschaft angeschlossen, weil er sich vor Stein fürchtete. Stein habe gedroht, ihm seine Existenz zu untergraben und ihn wegen eines Notzuchtverbrechens anzuzeigen. Stein habe sogar eine Strafanzeige wegen Notzucht gegen ihn im Verein vorgebracht, obwohl er niemals ein solches Verbrechen begangen habe. Er habe vor Stein geradezu Angst, er sei der bestimmten Ansicht, daß dieser jemandem ein Verbrechen suggerieren könne. Sooft er mit Stein zusammen war, habe er geradezu unter dessen geistigem Bann gestanden. Er könne den Gedanken nicht loswerden, daß Stein auch dem Land das Verbrechen, das Land begangen haben will, suggeriert habe. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Wie mag Stein die Suggestionen ausführen?

Zeuge: Mit den Augen.

Vors.: Angeklagter Land, weshalb sind Sie aus dem Guttemplerorden ausgetreten?

Angekl.: Wegen Stein.

Vors.: Haben Sie sich auch vor ihm gefürchtet?

Angekl.: Jawohl, er hat mir auch gedroht, mir meine Existenz zu ruinieren.

Vors.: Sind Sie nach Ihrem Austritt aus dem Guttemplerorden (Mai 1906) noch einmal mit Stein zusammengekommen?

Angekl.: Nein.

Auf Befragen eines Geschworenen erklärte Frau Hoffmann, Schwester des Angeklagten, daß ihr Bruder stets religiös gewesen und oftmals in die Kirche gegangen sei.

Frau Hellmann: Am 1. Oktober 1906, gegen 6 Uhr nachmittags, haben zwei Leute in Arbeitskleidung im Stadtwald den Versuch unternommen, sie zu vergewaltigen. Sie könne keinen der ihr vorgestellten Zeugen als Täter bezeichnen.

Polizeisergeant Sandrock: Die aus Anlaß der Angaben der Frau Hellmann angestellten polizeilichen Ermittelungen seien ergebnislos gewesen.

Telephonistin Ida Baudis: Sie habe einige Monate mit dem Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhalten. Am 28. September 1906 habe sie vom Angeklagten einen Brief erhalten, in dem er ihr mitteilte, er möchte das Verhältnis abbrechen, da er die Schwindsucht habe. Sie habe an dem Angeklagten nichts Auffälliges wahrgenommen. Land habe sie oftmals angedichtet. Er sei auch schwermütig gewesen.

Die Verkäuferin Else Bettner bekundete: Sie habe vom Februar bis Juli 1906 und alsdann wieder vom Oktober 1906 bis Januar 1907 mit dem Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhalten. Der Angeklagte habe ihr erzählt: er habe mit einer Telephonistin ein Liebesverhältnis gehabt. Um sie loszuwerden, habe er ihr geschrieben: er müsse das Verhältnis abbrechen, weil er die Schwindsucht habe. (Große allgemeine Heiterkeit.) Der Angeklagte habe sich mit ihr verloben wollen. Sie sei damit einverstanden gewesen, ihre Mutter habe aber nicht die Einwilligung gegeben. Es sei ihr an dem Angeklagten nichts aufgefallen; er habe sie mehrfach angedichtet. Im Januar 1907 habe sie von dem Angeklagten mit der Unterschrift v. Eicken aus Dortmund eine Karte erhalten; sie habe aber sofort an der Handschrift erkannt, daß die Karte von dem Angeklagten sei.

Vors.: Hat sich der Angeklagte Ihnen gegenüber vielleicht als v. Eicken ausgegeben?

Zeugin: Nein, Herrn v. Eicken kenne ich aber.

Vors.: Wer ist dieser v. Eicken?

Zeugin: Der ist bei der Marine.

Vors.: Hat der Angeklagte mit Ihnen über den Mord im Stadtwald gesprochen?

Zeugin: Jawohl, er sagte einmal: Jetzt darf ich nicht fortgehen aus Essen, sonst komme ich auch noch in Verdacht.

Ein ehemaliger Untersuchungshäftling, namens Kaldewey, bekundete: Er habe drei Wochen mit dem Angeklagten in einer Zelle gesessen. Der Angeklagte habe ihm viel über den Mord erzählt, schließlich habe er gesagt: ich habe es nicht getan. Ich habe den Gummimännern, d.h. der Justiz, nur eine Nase drehen wollen; ich werde sehr bald wieder entlassen werden.

Ehemaliger Gefangener Noster bestätigte die Bekundung des Vorzeugen. Der Angeklagte sagte: Mehr wie den Kopf kann es nicht kosten. Endlich sagte er: Glauben Sie doch nicht, daß ich ein Mörder bin, ich habe weder jemals Miß Lake noch meine angeblichen Komplicen gesehen, ich habe den Gummimänner, d.h. der Justiz, nur eine Nase drehen wollen; ich verdiene, weil ich mich als Täter angegeben habe, ein schönes Stück Geld. Auf meine Frage, weshalb er ins Ausland geflohen sei, antwortete er: Um die Sache glaubhafter zu machen. Ich behalte mir den Trumpf bis zum Schluß der Verhandlung vor. Meine Sache ist viel interessanter als die des Hauptmanns von Köpenick. (Allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Hat der Angeklagte auch renommiert, daß er bei den Paderborner Husaren gedient habe?

Zeuge: Jawohl, er wollte sogar seinen Lebenslauf schreiben. Ich zweifelte an der Richtigkeit seiner Erzählung und sagte: Wenn Sie bei den Paderborner Husaren gedient haben, dann müssen Sie wenigstens den Namen Ihres Rittmeisters kennen. Der Angeklagte antwortete: Ich habe den Namen vergessen.

Vors.: Der Angeklagte sagte: er habe dies Ihnen nur gesagt, weil Sie und Kaldewey ihn mit Fragen bestürmten.

Zeuge: Das stimmt nicht. Der Angeklagte hat mir sogar vorreden wollen: Er habe unter Kaiser Karl dem Großen ein Manöver mitgemacht.

Angekl.: Ich wurde von Kaldewey und Noster den ganzen Tag über geneckt und gefragt. Um endlich Ruhe zu haben, habe ich schließlich gesagt: ich bin es überhaupt nicht gewesen.

Der achtzehnjährige Arbeiter August Robert (Essen) bekundete: Ich kenne die Komplicen des Angeklagten, beide haben neben uns gearbeitet, meine Mutter kennt sie auch. Der Karl heißt Karl Kowalski, Heinrichs Familienname kenne ich nicht. Karl Kowalski war der Aussprache nach Pole und ca. 52 Jahre alt. Heinrich war jünger und großer als Karl. Der Zeuge erzählte weiter auf Befragen: Karl und Heinrich seien am Tage vor dem Morde fortgegangen.

Erster Staatsanwalt: Wenn Karl und Heinrich vor dem Morde fortgegangen sind, dann sind sie doch an dem Morde nicht beteiligt?

Zeuge: Ich kann nicht anders sagen.

Vors.: Weshalb melden Sie sich erst heute?

Zeuge: Ich habe außerhalb gearbeitet.

Vors.: Weshalb sind denn Karl und Heinrich fortgegangen?.

Zeuge: Weil im Dezember ein Steckbrief kam.

Vors.: Wann war der Mord im Stadtwald?

Zeuge: Im Januar.

Vert.: Haben Karl und Heinrich einmal den Namen Land genannt?

Zeuge: Nein.

Untersuchungsrichter Landrichter Puvellé: Der Angeklagte sei mit voller Bestimmtheit trotz aller Vorhaltungen dabei geblieben, daß er die Miß Lake rechts in den Stadtwald hineingezogen habe. Der Angeklagte geklagte habe alle seine Angaben mit vollster Ruhe ohne jede Spur von Reue gemacht. Er habe dem Angeklagten wiederholt gesagt: Die Leiche der Miß Lake sei links im Walde gefunden worden, er sei aber dabei geblieben, daß er die Miß rechts in den Wald gezogen habe. Es sei ihm aufgefallen, daß er behauptet habe, er habe auf dem Arm der Miß Lake gekniet.

Polizeisergeant Hoffmann: In der Nacht vom 9. zum 10. Februar 1907, als ich in der Brandstraße auf Posten stand, trat ein gutgekleideter junger Mann an mich heran und sagte: Verhaften Sie mich, ich bin der Mörder der Miß Lake. Ich glaubte zunächst, es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Ich sagte, wenn Sie etwa Obdach haben wollen, dann können Sie es auch, ohne daß Sie sich des Mordes bezichtigen. Der junge Mann antwortete jedoch sehr ruhig: Ich will kein Obdach, ich habe Gewissensbisse, ich melde mich, um mein Gewissen zu erleichtern. Ich führte daher den jungen Mann zur Wache zum Herrn Polizeikommissar Schlüter. Dieser nahm den jungen Mann sofort zu Protokoll. Der junge Mann gab zunächst sehr ruhige Antworten; er fing aber schließlich an zu weinen. Ich fragte ihn schon vorher, ob er die Tat allein begangen habe, er antwortete: Nein, ich hatte zwei Komplicen, von denen ich jedoch nur weiß, daß sie Karl und Heinrich heißen.

Vors.: War der junge Mann betrunken?

Zeuge: Nein, er war vollständig nüchtern.

Polizeikommissar Schlüter, der den Angeklagten des Nachts auf der Polizei zu Protokoll vernommen hatte, bestätigte im allgemeinen die Bekundungen des Vorzeugen. Er habe zunächst den jungen Mann für geistesgestört gehalten. Schließlich sei er aber zu der Überzeugung gelangt, daß der Angeklagte geistig gesund sei und daß er wirklich, um sein Gewissen zu beruhigen, sich gemeldet habe. Der Angeklagte erzählte u.a.: Die Dame habe, als er sie zur Erde gelegt habe, mit Händen und Füßen um sich geschlagen. Er habe deshalb auf dem rechten Arm gekniet. Der Angeklagte habe zugegeben, die Vornahme unsittlicher Handlungen versucht zu haben.

Polizeiinspektor Meyer: Er habe den Angeklagten am Morgen des 10. Februar vernommen. Er habe den Angeklagten nicht gerade für geistesgestört, aber für einen Menschen gehalten, der durch unstetes und ausschweifendes Leben etwas heruntergekommen war. Der Angeklagte habe in eingehender Weise den Vorfall geschildert.

Vors.: Hatten Sie den Eindruck, daß die Angaben des Angeklagten auf Wahrheit beruhten?

Zeuge: Ich hatte den Eindruck gewonnen, daß der Angeklagte ein zerknirschter und reumütiger Mensch ist, der die volle Wahrheit sagt und sich der Behörde gestellt hat, um sein Gewissen zu entlasten. Ich hielt auch schon deshalb seine Angaben für wahr, weil, als ich ihn fragte: Haben Sie denn keine Kratzwunden davongetragen, er sagte: Das konnte die Dame nicht, denn sie hatte Handschuhe an.

Vors.: Ich bemerke, es ist festgestellt, daß die Ermordete Handschuhe anhatte.

Vors.: Haben Sie den Angeklagten gefragt, ob er einen Notzuchtsversuch gemacht habe?

Zeuge: Ich habe ihn ausdrücklich danach gefragt, er hat dies aber entschieden in Abrede gestellt.

Vors. (zum Angeklagten): Haben Sie einen Notzuchtsversuch gemacht?

Angekl.: Nein!

Vors.: Hat Karl dies etwa getan?

Angekl.: Das weiß ich nicht.

Es meldete sich alsdann nochmals der Zeuge Noster: Er wolle noch bemerken: der Angeklagte habe ihm gesagt, er habe sich in die Rolle des Täters so hineingedacht, daß er schließlich selbst glaube, der Täter zu sein.

Frau Kord, nochmals vorgerufen, bemerkte auf Befragen des Verteidigers: Sie traue dem Angeklagten eine schlechte Tat nicht zu.

Frau Ukena, Tochter der Frau Kord, bemerkte auf Befragen, ob sie an dem Angeklagten etwas Abnormes wahrgenommen habe: Er habe sehr gern Zeitungen gelesen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Auf Antrag des Verteidigers wurde ein an letzteren aus Wanheimerort bei Duisburg gerichteter anonymer Brief verlesen, in dem der Schreiber mitteilte, daß er und ein Freund am 1. Oktober 1906 Miß Lake im Essener Stadtwald vergewaltigt und ermordet haben. Der Brief schloß: „Forschen Sie nicht nach mir, ich würde mir sonst das Leben nehmen. Ein reumütiger Sünder.“

Gerichtsarzt Dr. Klein (Essen) erstattete folgendes Gutachten: Er habe bei dem Angeklagten einen ganz abnormen körperlichen Befund wahrgenommen. Die linke Körperhälfte des Angeklagten weise eine wesentlich erhöhte Empfindlichkeit, die rechte Körperhälfte dagegen eine verminderte Empfindlichkeit auf, und zwar derartig, daß sie selbst gegen Nadelstiche unempfindlich sei. Der Angeklagte war von Kindheit an krank. Seine Schädelbildung sei ganz abnorm, so daß das Wachstum des Gehirns beeinträchtigt sei. Er habe erst mit 4 Jahren laufen gelernt und an der englischen Krankheit gelitten. Der Vater sei ein Trinker und schwermütig gewesen. Die Ehe der Eltern war infolgedessen getrübt.

Der Angeklagte sank hierbei auf die Anklagebank zurück und begann laut und heftig zu weinen.

Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung, ließ den Zuhörerraum räumen und die Fenster öffnen. Der Angeklagte legte sich auf die Anklagebank und weinte heftig. Nachdem er sich beruhigt hatte, wurde dem Publikum der Zutritt wieder gestattet. Der Zuhörerraum war sofort wieder Kopf an Kopf gefüllt. Aber auch der Innenraum war derartig überfüllt, daß die Vertreter der Presse arg belästigt wurden.

Gerichtsarzt Dr. Klein fuhr alsdann fort: Der Puls des Angeklagten ist 100, bisweilen 140, 150 und darüber. Dabei ist der Puls klein. Seine Pupillen und Nervenzustand sind abnorm. Der Großvater des Angeklagten war schwermütig. Die Mutter war insbesondere, während sie mit dem Angeklagten ging, schwermütig. Der Angeklagte ist daher zweifellos erblich belastet. Der Angeklagte hat trotzdem in der Schule und Fortbildungsschule Fortschritte gemacht, er hat, seinem Bildungsgrade entsprechend, seine Berufsarbeiten zur großen Zufriedenheit erledigt. Der Angeklagte leidet an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit; melancholische Erscheinungen sind aber beim Angeklagten im Gefängnis nicht hervorgetreten. Der Angeklagte leidet an Renommiersucht, er hat seinen Mitgefangenen vorgeredet, er habe bei den Paderborner Husaren gedient und unter Kaiser Karl dem Großen ein Manöver mitgemacht. Der Angeklagte ist leicht erregt, launenhaft; er hat vor zwei Jahren einen Selbstmordversuch unternommen. Alles in allem: Der Angeklagte ist ein erblich belasteter, degenerierter, hysterischer Mensch, der hart an der Grenze der Geistesgestörtheit störtheit steht; er befindet sich aber nicht in einem Zustande, der jetzt oder zur Zeit der Tat seine freie Willenstätigkeit ausschließt.

Der Sachverständige bemerkte noch auf Befragen des Vorsitzenden: Der Zustand des Angeklagten erklärt seine Unstetigkeit, er leidet aber nicht an Dämmerzuständen. Wenn der Angeklagte wirklich der Täter war, so ist es erklärlich, daß es ihm vorkam, als wenn seine Kollegen die Köpfe zusammensteckten und ihn mißtrauisch ansahen. Ihm (Sachverständigen) habe es geschienen, als ob der Angeklagte sich im Gefängnis bemühte, glauben zu machen, daß er nicht geistesgesund sei. Er habe es deshalb für seine Pflicht erachtet, den Antrag zu stellen, den Angeklagten auf sechs Wochen einer Irrenanstalt zur Beobachtung zu überweisen.

Der Angeklagte sprang bei diesen Worten auf und schrie in großer Erregung: Ich bin nicht geistesgestört und gehe auf keinen Fall mehr ins Irrenhaus! Der Angeklagte schlug dabei mit der Hand heftig auf die Anklagebank.

Vors.: Angeklagter, Sie haben den Gerichtsarzt mißverstanden. Er hat nur gesagt, daß er den Antrag gestellt habe, Sie zur Beobachtung einer Irrenanstalt zu überweisen. Von einer nochmaligen Überweisung kann gar keine Rede sein.

Der Direktor der Irrenanstalt „Grafenberg“, Sanitätsrat tätsrat Dr. Perretti, schloß sich im wesentlichen dem Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Klein an. Er bemerkte auf Befragen: Es sei nicht unmöglich, daß der Angeklagte in bewußtlosem Zustande behauptet hat, er sei nicht in Dortmund und noch niemals in Koblenz gewesen. Es sei auch nicht unmöglich, daß der Angeklagte in demselben Zustande sich fälschlich der Täterschaft bezichtigt. Man könne dabei nur mit Möglichkeiten, nicht mit Wahrscheinlichkeiten rechnen.

Gerichtsarzt Dr. Klein bestätigte dieses Gutachten. Es sei allerdings kaum anzunehmen, daß der Angeklagte vom Anfang Februar bis heute seine Beschuldigung, wenn sie nicht wahr wäre, aufrecht erhalten werde. Er habe mehrfach, wenn er eine Unwahrheit gesagt, dies nach einigen Tagen zugegeben. Es sei aber auch möglich, daß der Angeklagte der Ansicht sei, er müsse diese seine Beschuldigung, wenn auch falsch, aufrecht halten.

Nach Verlesung der Schuldfragen, die auf Mord und versuchte Notzucht lauteten, nahm das Wort Erster Staatsanwalt Dr. Eger: In der Zeit der Tortur und Folter hat man dem Geständnis die größte Bedeutung beigelegt. Man steht heute auf dem Standpunkt, daß das bloße Geständnis zur Überführung eines Angeklagten kein ausreichendes Beweismittel ist. Der Richter hat lediglich die Wahrheit zu prüfen. Sache des Richters ist es, die Wahrheit zu finden. Ich muß bekennen, ich habe durch die Verhandlung nicht die Überzeugung erlangt, daß der Angeklagte schuldig, aber auch nicht, daß er unschuldig ist. Ich stelle Ihnen, m.H. Geschworenen, anheim, das Geständnis des Angeklagten für wahr zu halten. Der Erste Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise den Tatbestand und bemerkte: Unmöglich ist es nicht, daß der Angeklagte der Täter ist. Es muß aber auffallen, daß der Angeklagte von den zahlreichen Personen nicht in der Nähe des Stadtwaldes gesehen worden ist. Es ist auch nicht außer acht zu lassen, daß der Angeklagte nach der Tat keinerlei auffallendes Wesen an den Tag gelegt hat. Es ist ferner nicht anzunehmen, daß der Angeklagte, der mehrfach vorbestraft ist, die kleinen Vergehen in Dortmund und Koblenz leugnen wird, um sich eines so schweren Verbrechens zu bezichtigen. Durch die Aussagen der Familie Kord ist im übrigen das Alibi des Angeklagten nachgewiesen. Wenn, wie festgestellt ist, die Tat nach 7 Uhr begangen ist, so konnte der Angeklagte unmöglich 20 Minuten vor 8 Uhr bei Kord gewesen sein. Ich wiederhole also, meine Herren Geschworenen! Ich verkenne nicht das Geständnis des Angeklagten als ein schwerwiegendes Beweismittel. Ich bin aber trotzdem weder von der Unschuld noch von der Schuld des Angeklagten überzeugt und stelle Ihnen anheim, die Schuldfragen zu bejahen oder zu verneinen.

Verteidiger Rechtsanwalt Holtermann-Essen: Drei volle Tage beschäftigt uns dies psychologische Rätsel. Als ich gegen den Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit protestierte, sagte ich, ich werde den Beweis führen, daß Land nicht der Mörder der Miß Lake ist. Sie werden das vielleicht als Kühnheit gehalten haben, die Verhandlung hat mir aber vollständig Recht gegeben. Sie werden mir beistimmen, das Geständnis des Angeklagten beruht auf einer Wahnidee. Alle Umstände sprechen gegen die Täterschaft des Angeklagten. Ich habe bei dem gestern abgehaltenen Lokaltermin mehrfach von Geschworenen gehört: der Angeklagte stellt ganz nebensächliche Dinge in Abrede. Die Herren haben nur vergessen, daß Alfred Land, ich sage mit Absicht nicht der Angeklagte, als Täter nicht in Frage kommt. Ich kann mir nach der sachlichen Rede des Herrn Ersten Staatsanwalts ersparen, darauf einzugehen, daß die Schuld des Angeklagten nicht erwiesen ist. Ich ersuche Sie, als praktische Männer aus dem Volke, genau zu prüfen, ob das Geständnis des Angeklagten hinreicht, ihn zu verurteilen. Man kann sich eigentlich nur darüber wundern, daß überhaupt die Anklage erhoben und das Verfahren eröffnet worden ist. Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, geben Sie Alfred Land seiner Familie und der menschlichen Gesellschaft wieder, indem sie durch Ihren Freispruch Alfred Land von dem Makel der gegenwärtigen Anklage befreien.

Erster Staatsanwalt Dr. Eger: Ich muß bemerken, wenn in der Voruntersuchung alles so klar gewesen wäre wie heute, dann wäre die Anklage nicht erhoben worden.

Vors.: Nun, Angeklagter, Sie haben nach dem Gesetz das letzte Wort.

Angekl.: Ich bin zu sehr aufgeregt.

Vors.: Wollen Sie eine Pause oder wollen Sie erklären, daß Sie nichts mehr zu sagen haben?

Angekl.: Ich habe nichts mehr zu sagen.

Nach etwa einstündiger Beratung verneinten die Geschworenen sämtliche Schuldfragen. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Fromm, verkündete hierauf: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof, dem Wahrspruch der Geschworenen entsprechend, den Angeklagten freigesprochen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt. Der Haftbefehl ist aufgehoben, der Angeklagte ist sofort in Freiheit zu setzen. (Bravo, bravo, ertönte es im Zuhörerraum.) Vor dem Gerichtsgebäude hatte eine nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge Posto gefaßt, die die Freisprechung mit lautem Jubel begrüßte. Die Angehörigen des Land hatten die größte Mühe, den jungen Mann nach Hause zu bringen, er machte mehrfach den Versuch, ins Untersuchungsgefängnis zurückzulaufen.

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Die Ermordung des Oberstleutnants Roos

„Doch das Schrecklichste der Schrecken ist der Mensch in seinem Wahn“, an dieses Dichterwort wird man unwillkürlich erinnert, wenn man aus folgendem Kapitel erfährt, in welch grauenhafter Weise ein verdienter höherer Offizier aus bloßer Habsucht von den Portierleuten seines eigenen Hauses ermordet worden ist. Der 46jährige Oberstleutnant Roos hatte aus Anlaß großer Nervosität seinen Abschied genommen. Er besaß in dem stillen Städtchen M.-Gladbach ein idyllisch belegenes Häuschen, das er, von aller Welt zurückgezogen, allein bewohnte. Eine ältere Frau machte ihm die Aufwartung. Da diese aber häufig kränkelte und wohl auch zu schwach war, um das Haus, die Wirtschaft und den Garten in Ordnung zu halten, suchte sich die alte Frau eine leichtere Beschäftigung. Der Oberstleutnant beschloß nun, um nicht allein zu sein, den verheirateten Sohn der alten Frau, namens Adolf Blömers, nebst dessen Gattin ins Haus zu nehmen. Er räumte den Eheleuten im Parterregeschoß eine sehr hübsche Wohnung ein. Bei den Eheleuten Blömers wohnte auch der Bruder des Portiers, der unverheiratete Möbelpolierer Leonard Blömers, ein arbeitsscheuer Mensch. Der Oberstleutnant hatte diesem Menschen mehrfach Arbeit verschafft. Als er aber hörte, daß Leonard Blömers arbeitsscheu war, empfand er gegen den Mann ein gewisses Mißtrauen; er verbot ihm daher das Haus. Leonard Blömers verkehrte und wohnte aber trotzdem bei seinem Bruder. Der arbeitslose Leonard Blömers war vielfach in arger Geldverlegenheit. Er machte daher eines Tages seinem Bruder und seiner Schwägerin den Vorschlag, den Oberstleutnant zu ermorden und sich in den Besitz seines Vermögens zu setzen. Der Bruder und die Schwägerin hatten zunächst Bedenken. Die beiden Brüder Blömers durchsuchten in Abwesenheit des Oberstleutnants dessen Wohnung und fanden auch in einem Pult dreihundert Mark. Damit waren die Unholde aber nicht zufrieden. Es wurde „Kriegsrat“ gehalten und beschlossen: den Oberstleutnant durch Gift aus dem Wege zu räumen. Frau Blömers sollte dem Oberstleutnant Gift in den Tee tun. Frau Blömers weigerte sich, sie sagte aber: „Verschafft zunächst das Gift.“ Die beiden Brüder fuhren nach Düsseldorf, es wurde ihnen jedoch in allen Apotheken bedeutet: ohne polizeilichen Giftschein könnten sie Gift nicht erhalten. Als sie nach M.-Gladbach zurückkamen, beschlossen sie, den Oberstleutnant noch an demselben Abend totzuschlagen. Es fehlte ihnen aber der Mut dazu. Am anderen Morgen lockten sie den Oberstleutnant durch Lärm in den Keller und ermordeten ihn dort in der gräßlichsten Weise. Sie gaben an, daß der Oberstleutnant verreist sei. Nach einiger Zeit kam jedoch das Verbrechen an den Tag. Die beiden Blömers und auch Frau Blömers wurden verhaftet. Sie hatten sich am 22. März 1906, die beiden Blömers wegen Mordes, Frau Blömers wegen Anstiftung zum Morde vor dem Schwurgericht zu Düsseldorf zu verantworten. Die Tat machte begreiflicherweise das größte Aufsehen; der Zuhörerraum des Schwurgerichtssaales wurde geradezu gestürmt. Die drei Angeklagten waren noch junge Leute, deren Äußeres nicht unschön war. Als die beiden Brüder auf die Anklagebank geführt wurden, umarmten sie sich und hielten sich, laut weinend und sich gegenseitig küssend, lange Zeit umschlungen. Es war geradezu widerwärtig, zwei solch ruchlose Mörder in dieser Haltung zu sehen. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Esch, die Anklage vertrat Staatsanwalt Frings, die Verteidigung führten die Düsseldorfer Rechtsanwälte Dr. Starker, Dr. Schiedges jun. und Dr. Schleicher. Leonard Blömers gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, daß der Oberstleutnant sehr gut zu ihm war und ganz vortrefflich für ihn gesorgt hatte. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Leonard Blömers: Als wir unverrichteter Sache aus Düsseldorf kamen, beschlossen wir, noch an demselben Abend den Oberstleutnant totzuschlagen.

Vors.: In welcher Weise wollten Sie den Mord ausführen?

Angekl.: Wir wollten hinaufgehen und sobald der Oberstleutnant auf unser Schellen öffnete, ihn vor den Kopf schlagen. Wir gingen auch hinauf, es fehlte uns aber der Mut. Frau Blömers, die mit diesem Plan einverstanden war, machte uns wegen unserer Zaghaftigkeit Vorwürfe. Das war am Samstag. Am folgenden Sonntag beratschlagten wir bei einer Flasche Wein, wie wir den Oberstleutnant am besten und unauffälligsten aus dem Wege räumen könnten. Wir beschlossen, den Oberstleutnant am Montag morgen durch Lärm in den Keller zu locken und alsdann zu erschlagen.

Vors.: Beratschlagten Sie nicht gleichzeitig, wie Sie den Leichnam beiseite schaffen könnten?

Angekl.: Jawohl, ich machte den Vorschlag, den Leichnam in den Rhein zu werfen. Mein Bruder und Frau Blömers machten dagegen den Vorschlag, den Leichnam im Koffer fortzuschaffen und zu vergraben. Montag vormittag gegen 8 Uhr schlugen wir im Keller mit Hammer und Beil auf Waschfässer. Der Oberstleutnant kam die Treppe hinunter und rief in den Keller hinein: Was ist das für ein Spektakel, ich bitte mir Ruhe aus. Der Oberstleutnant ging wieder in seine Wohnung hinauf. Wir schlugen jedoch weiter mit größter Heftigkeit auf die Waschfässer. Der Oberstleutnant kam wutentbrannt nochmals die Treppe hinunter und rief wieder in den Keller hinein. Wir schlugen aber um so heftiger. Da kam der Oberstleutnant in den Keller. Sofort schlugen wir den Oberstleutnant mit Hammer und Beil heftig auf den Kopf, bis er niedergefallen war. In diesem Augenblick schellte es an der Haustür. Wir schlichen uns leise aus dem Keller und begaben uns in die Wohnung meines Bruders, öffneten aber die Haustür nicht. Nach einiger Zeit begaben wir uns wieder in den Keller. Da stand am Ausgang der Oberstleutnant blutüberströmt und jammerte. Frau Blömers sagte: Das habt ihr schlecht gemacht, ihr habt die Sache einmal angefangen, nun müßt ihr ihn vollständig totschlagen. Ich holte einen Stein und warf nach dem Oberstleutnant, traf aber nicht. Nun warf mein Bruder mit einem Stein; letzterer traf den Oberstleutnant an den Kopf, so daß er niederfiel und laut jammerte. Inzwischen hatte mein Bruder das Dolchmesser des Oberstleutnants aus dessen Wohnung geholt. Mein Bruder stach nun mit dem Dolchmesser auf den Oberstleutnant mit den Worten ein: „Du A.., du hast uns lange genug geärgert, nun sollst du auch fühlen“. Da der Oberstleutnant aber noch immer jammerte, so trat mein Bruder dem Oberstleutnant mit dem Fuß auf den Hals. Höre endlich einmal auf stöhnen! sagte mein Bruder. Der Oberstleutnant stöhnte aber immer noch.

Das Absägen des Kopfes. Dann holte mein Bruder eine Säge und sägte dem Oberstleutnant den Kopf ab. (Große Bewegung im Zuhörerraum)

Vors.: Als Ihr Bruder dem Oberstleutnant den Kopf absägte röchelte er da noch?

Angekl.: Jawohl, er röchelte noch. (Erneute Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Haben Sie sich an dem Absägen des Kopfes beteiligt?

Angekl.: Nein, das machte mein Bruder ganz allein.

Das Absägen des Fingers.

Vors.: Wie war es mit dem Absägen des Fingers?

Angekl.: Das geschah erst am Abend. Wir beabsichtigten, als wir den Leichnam nach Eintritt der Dunkelheit wegschaffen wollten, dem Oberstleutnant zunächst den golden Siegelring vom Finger zu ziehen. Da der Ring aber zu fest saß, sagte Frau Blömers: Sägt den Finger ab; je mehr man die Leiche verstümmelt desto unkenntlicher wird sie. Mein Bruder sägte darauf der Leiche den Ringfinger ab.

Das Verscharren des Leichnams. Alsdann packten wir Kopf und Rumpf in den dort stehenden Koffer und fuhren nach Viersen, um Kopf und Rumpf zu vergraben.

Vors.: Sie und Ihr Bruder zogen den Karren?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Ging Frau Blömers mit nach Viersen?

Angekl.: Jawohl, Frau Blömers sagte: ich muß wissen, wo der Leichnam verscharrt wird, ich komme mit. Wir vergruben zunächst den Rumpf, etwa 100 Schritte weiter den Kopf und den Finger.

Vors.: Wann wurde der Keller vom Blut gereinigt?

Angekl.: Am folgenden Tage.

Vors.: Wer beteiligte sich an dem Reinigen des Kellers?

Angeklagter: In der Hauptsache suchte Frau Blömers den Keller vom Blut zu reinigen.

Vors.: Nach einiger Zeit hat Ihr Bruder mit einer Handlaterne die Stellen beleuchtet, wo die Leichenteile vergraben waren?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Weshalb geschah das?

Angekl.: Er wollte sehen, ob auch die Leichenteile gut vergraben wären.

Vors.: Wurde nicht von Leuten gefragt, wo der Oberstleutnant sei?

Angekl.: Jawohl. Hauptsächlich fragte der Briefträger nach dem Oberstleutnant. Es wurde ihm geantwortet: Der Oberstleutnant ist nach England gereist.

Der Angeklagte erzählte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie nach geschehener Ermordung in der Wohnung des Oberstleutnants nach Geld gesucht haben. Sie haben 280 M. gefunden und diese zu gleichen Teilen geteilt.

Adolf Blömers bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei in der holländischen Armee Korporal gewesen und nur wegen geringfügiger militärischer Vergehen bestraft.

Vors.: Da Sie Korporal gewesen sind, so ist Ihnen doch jedenfalls bekannt, wie einem Offizier zu begegnen ist.

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Der Oberstleutnant ist sehr gut zu Ihnen gewesen?

Angekl.: Jawohl, er war aber sehr aufgeregt und hat mich einige Male mit dem Dolchmesser bedroht.

Vors.: Das war aber lange vor dem Morde?

Angekl.: Allerdings.

Vors.: Jedenfalls war der Oberstleutnant aufs eifrigste bemüht, Ihnen Arbeit zu verschaffen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Das hat Sie aber nicht abgehalten, den Oberstleutnant zu ermorden?

Angekl.: Wir wollten Geld haben.

Der Angeklagte erzählte alsdann im weiteren auf Befragen in fast derselben Weise wie sein Bruder, wie sie den Plan faßten, den Oberstleutnant zu töten. Nachdem sie den Oberstleutnant heftig mit Hammer und Beil auf den Kopf geschlagen, so daß er niederfiel, liefen sie aus dem Keller. Sehr bald hatte sich der Oberstleutnant wieder erholt, klopfte an die Kellertür und rief: Macht auf! Wir öffneten und versuchten zunächst den Oberstleutnant mit Steinen totzuwerfen. Da dies aber nicht gelang, holte ich das Dolchmesser des Oberstleutnants und stach damit.

Vors.: Sie müssen sehr heftig mit dem Dolchmesser gestochen haben?

Angekl.: Ich habe mit dem Dolchmesser noch gestochen, als der Oberstleutnant bereits tot war.

Vors.: Weshalb taten Sie das?

Angekl.: Um meine Wut zu kühlen.

Vors.: Welche Ursache hatten Sie, noch auf den Leichnam wütend zu sein?

Angekl.: Der Oberstleutnant hat mich vielfach geärgert.

Vors.: Ist es richtig, daß Sie schließlich; dem Oberstleutnant mit dem Fuß auf den Hals traten, damit er aufhöre zu stöhnen?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Als Sie nun dem Oberstleutnant den Kopf absägten, lebte er da noch?

Angekl.: Ich glaube, er war schon tot.

Vors.: Röchelte denn der Oberstleutnant noch?

Angekl.: Ich glaube, er röchelte nicht mehr.

Vors.: Das Absägen des Kopfes besorgten Sie allein?

Angekl.: Nein, zuerst sägte mein Bruder, dann sägte ich weiter.

Der. Angeklagte erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden; Es ist unrichtig, daß seine Frau gesagt habe: „Habt ihr’s einmal angefangen, dann führt es auch aus“. Seine Frau habe die Leiche in Sackleinwand eingehüllt. Darauf habe er mit seinem Bruder die Leiche in den Koffer gepackt, den Koffer auf den Ziehkarren geschafft und damit nach Viersen gefahren. Den Kopf hatte er mit seinem Bruder schon vorher fortgetragen.

Vors.: Wie sind Sie dazu gekommen, einen solch furchtbaren Mord zu begehen?

Angekl.: Ich weiß selbst nicht, Herr Richter.

Vors.: Ist es richtig, daß Sie dem Oberstleutnant, nachdem er tot war, das Portemonnaie aus der Tasche genommen haben?

Angekl.: Das hat mein Bruder getan.

Vors.: Wieviel Geld war in dem Portemonnaie?

Angekl.: 35 M.

Vors.: Wurde das Geld geteilt?

Angekl.: Jawohl, das Geld wurde zu gleichen Teilen geteilt.

Vors.: Sie haben an Frau Oberstleutnant nach Paris einen Brief geschrieben?

Angekl.: Jawohl, ich schrieb der Frau Oberstleutnant, daß ihr Mann verreist sei, damit sie nicht Verdacht schöpfte.

Frau Blömers bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: zenden: Sie sei in Elberfeld geboren, ihre Eltern seien aber, als sie drei Jahre alt war, nach Holland gezogen Dort sei sie in die Schule gegangen. Nachdem sie die Schule verlassen, sei sie nach M.-Gladbach gekommen. Dort habe sie ihren Mann kennengelernt und ihn im Jahre 1900 geheiratet. Sie hatte zwei Kinder, die beide tot seien. Das letzte Kind starb während ihrer Untersuchungshaft. Sie befinde sich aber wiederum in gesegneten Umständen.

Vors.: Wie kam es nun, daß der Oberstleutnant ermordet wurde?

Angekl.: In der Hauptsache, weil mein Mann keine Arbeit hatte.

Vors.: Er hätte doch aber Arbeit finden können?

Angekl.: Er fand trotz aller Mühe keine Arbeit.

Vors.: Wenn jemand arbeiten will, so findet er immer Arbeit.

Angekl.: Nein, Herr Richter, das stimmt nicht.

Vors.: Wie wurde der Plan entworfen, den Oberstleutnant zu ermorden?

Angekl.: Ich räumte eines Tages die Wohnung des Oberstleutnants auf. Mein Mann und mein Schwager waren im Zimmer. Da sagte mein Mann: Wenn ich nur ein paar tausend Mark bekommen könnte, dann wäre mir geholfen. Da versetzte mein Schwager: Wir müssen den Oberstleutnant totmachen, da haben wir sofort Geld. Leonard Blömers machte zunächst den Vorschlag, den Oberstleutnant zu vergiften; ich sollte dem Oberstleutnant Gift in den Tee tun. Ich sagte: Ihr könnt ja Gift besorgen, ich tue aber das Gift nicht in den Tee. Es ist unwahr, daß ich den beiden Männern Geld gegeben habe, um nach Düsseldorf zu fahren.

Vors.: Sie haben aber den weiteren Mordplan mitberaten?

Angekl.: Das ist nicht richtig.

Vors.: Haben Sie nicht an dem am Sonntag vor dem Morde stattgefundenen Weintrinken teilgenommen?

Angekl.: Ich habe wohl Wein mitgetrunken, aber an der Beratung, wie der Oberstleutnant ermordet werden sollte, mich nicht beteiligt.

Vors.: Sie sollen, als der Oberstleutnant, nachdem er mit Beil und Hammer geschlagen war, an die Kellertür klopfte und gerufen hatte: „Macht auf!“ zu den Männern gesagt haben: Das habt ihr schlecht gemacht. Nun habt ihr’s einmal angefangen, dann schlagt ihn auch vollständig tot.

Angekl.: Jawohl, das habe ich gesagt. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Ihr Mann hat das vorhin in Abrede gestellt!

Angekl.: Nein, das ist richtig.

Die Angeklagte erzählte dann weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe wohl den Männern das Packleinen gegeben, damit sie den Leichnam einhüllen len konnten, am Hinausschaffen der Leiche sich jedoch nicht beteiligt.

Vors.: Sie haben aber die Männer, als sie den Koffer mit dem Leichnam nach Viersen fuhren, begleitet?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie sollen schon vor dem Morde den Bäckerjungen, die dem Oberstleutnant die Frühstücksbrötchen brachten, gesagt haben: Sie sollten keine Brötchen mehr bringen, der Oberstleutnant sei verreist.

Angekl.: Das tat ich erst, als der Oberstleutnant schon tot war.

Medizinischer Sachverständiger Kreisarzt Dr. Krause gab eine eingehende Schilderung über den Leichenbefund: Die Leiche sei furchtbar zugerichtet gewesen. Das Nasenbein, das ganze Gesicht, der Schädel waren vollständig zertrümmert. Der Oberstleutnant war ein schlanker, mittelgroßer Herr von nicht starkem Körperbau. Ob er während des Absägens des Kopfes noch gelebt habe, konnte bei der Sektion nicht festgestellt werden.

Kriminalkommissar Heinzerling (M.-Gladbach) bekundete: Er habe sehr bald nach dem Morde Verdacht geschöpft und deshalb seinen Beamten aufgetragen, auf die Blömers ein wachsames Auge zu haben. Die Beamten berichteten ihm nach einiger Zeit, daß die Blömers verschiedene, dem Oberstleutnant nant gehörende Wertgegenstände versetzt haben. Er habe daher die Blömers zur Rede gestellt und dem Leonard Blömers gesagt: „Morgen sprechen wir über das Verschwinden des Oberstleutnants.“ Leonard Blömers war zunächst furchtbar entrüstet. Er legte aber schließlich unter heftigem Weinen ein umfassendes Geständnis ab. Danach traf er Frau Blömers auf der Straße. Diese leugnete zunächst. Als er ihr aber die Versicherung gab, daß Leonard Blömers alles gestanden und ihm auch gesagt habe, wo die Leichenteile vergraben seien, legte auch sie ein umfassendes Geständnis ab. Dasselbe tat sehr bald auch Adolf Blömers. Beide Blömers standen in dem Ruf, daß sie nicht gern arbeiten. Frau Blömers war vor ihrer Verheiratung Dienstmädchen in M.-Gladbach. Es wurde ihr von allen Herrschaften, bei denen sie gedient hatte, ein gutes Zeugnis ausgestellt.

Eine Anzahl Zeugen, bei denen Frau Blömers gedient hatte, bekundeten: Frau Blömers sei ehrlich und fleißig gewesen. Ein holländischer Kriminalkommissar bekundete, daß die Eltern der Frau Blömers sich eines guten Leumunds erfreuen.

Untersuchungsrichter Landrichter Hesse: Frau Blömers habe ihm erzählt, daß sie einmal einen Selbstmordversuch gemacht habe. Auf seine Frage, weshalb sie das getan, habe Frau Blömers gesagt: Sie sei über das, was die beiden Männer getan, so aufgeregt gewesen, sen, daß sie streben wollte.

Fabrikbesitzer Lambertz (M.-Gladbach): Er sei ein Verwandter des ermordeten Oberstleutnants. Er habe, da der Oberstleutnant so lange ausblieb, in Gemeinschaft mit dem Obersten Roos, dem ältesten Bruder des Ermordeten, den Kleiderschrank untersucht. Da mehrere Anzüge fehlten, schöpften sie sofort Verdacht. Der Ermordete war wohl sehr nervös und aufgeregt, aber ein sehr gutmütiger Mensch.

Ein Schutzmann während des Mordes an der Tür des Mordhauses. Ein fernerer Zeuge war Schutzmann Roscher: Am Morgen des 23. Oktober 1905 habe er an dem Hause des Oberstleutnants geschellt. Erst nach wiederholtem heftigen Schellen habe Frau Blömers geöffnet. Er hatte für den Oberstleutnant einen Wohnungszettel abzugeben. Er habe sich sogleich wieder entfernt und nichts Auffälliges wahrgenommen.

Vors.: Es war das gerade in dem Augenblick, als die Angeklagten den Oberstleutnant im Keller totschlugen?

Zeuge: Das habe ich später gehört.

Bäckergeselle Hoffmann: Er habe dem Oberstleutnant längere Zeit die Frühstücksbrötchen gebracht. Am Freitag, den 20. Oktober, sagte Frau Blömers: Von Montag ab brauchen Sie für den Oberstleutnant keine Brötchen mehr zu bringen, er verreist.

Vors.: Wissen Sie das genau?

Zeuge: Ganz genau.

Vors.: Nun, Frau Blömers, was sagen Sie dazu?

Angeklagte Blömers: Der Zeuge irrt sich, ich habe erst am Dienstag, den 24. Oktober, die Brötchen für den Oberstleutnant abbestellt.

Zeuge Hoffmann: Ich weiß genau, daß es Freitag war.

Bäckergeselle Oppels: Er habe sich mit Hoffmann in die Arbeit des Brötchenaustragens geteilt. Hoffmann habe ihm am 22. Oktober gesagt: Zum Oberstleutnant brauchst du vom Montag ab keine Brötchen mehr zu tragen, der verreist.

Eine Mitgefangene der Angeklagten Blömers bekundete: Frau Blömers habe ihr im Untersuchungsgefängnis erzählt, sie sei wegen Mordes eingesperrt. Auf ihre Frage, wen sie totgemacht habe, sagte sie: Ich habe niemanden totgemacht, aber mein Mann hat den Oberstleutnant erschlagen. Mir kann nicht viel passieren, aber mein armer Mann tut mir leid. Frau Blömers erzählte außerdem: Wir wären um ein Haar überrascht worden. Gerade als der Oberstleutnant im Keller ermordet wurde, schellte ein Schutzmann. Er hatte nur einen Zettel abzugeben, darauf entfernte er sich sofort wieder. Sie (Zeugin) habe darauf versetzt: Wenn aber jemand gekommen wäre, um die Wasserleitung nachzusehen? Frau Blömers antwortete: Dann hätte ich den Mann einfach nicht hineingelassen. Ich habe nichts begangen, sondern nur aufgepaßt, daß wir nicht überrascht wurden. Frau Blömers sei im Untersuchungsgefängnis sehr heiter gewesen; sie habe oftmals gelacht und nicht eine Spur von Reue gezeigt. Erst als sie die Anklageschrift erhielt, sei sie niedergeschlagen gewesen.

Nach beendeter Beweisaufnahme und Verlesung der Schuldfragen nahm das Wort Staatsanwalt Frings: Meine Herren Geschworenen! Das Verbrechen, das uns heute beschäftigt, ist das schwerste, das das Straf-Gesetzbuch kennt. Das allein ist aber nicht das Entscheidende. Die Angeklagten haben einen Mord begangen, wie er in so grausiger so scheußlicher, so bestialischer Art glücklicherweise nur äußerst selten die Gerichte beschäftigt. Die grausame Ausführung der Tat ist es, die die Bevölkerung in so furchtbare Aufregung gebracht hat. Aber auch der Beweggrund der Tat war ein im höchsten Grade verwerflicher. Die Angeklagten behaupten, sie haben aus Not gehandelt. Nein, aus Not haben die Angeklagten nicht gehandelt. Den Angeklagten ist es bedeutend besser gegangen, als vielen Tausenden, die den Kampf ums Dasein führen. Wenn es den Angeklagten schlecht ging, so war ihre Faulheit daran schuld. Ich wiederhole, nicht die Not, sondern die niedere Habsucht ist der Beweggrund zu dem grausigen Morde gewesen. Der bloße Anblick eines Haufens von Goldstücken hat in den Angeklagten den Plan reifen lassen, ihren Wohltäter zu ermorden. Wir haben gehört, der Oberstleutnant war wohl etwas heftig, im übrigen hat er sich aber als Wohltäter der Angeklagten erwiesen. Den Oberstleutnant trifft keine Schuld, daß er in so furchtbarer Weise hingemordet wurde. Höchstens könnte man sagen: der Oberstleutnant ist zu vertrauensvoll gewesen. Der Staatsanwalt erläuterte hierauf in eingehender Weise die Einzelheiten der Tat und kam zu dem Schluß, daß alle drei Angeklagten des Mordes schuldig seien. Die Ehefrau Blömers habe eine gewisse Schlauheit an den Tag gelegt. Sie sei schon vor dem Morde bemüht gewesen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sie sei aber die eigentlich treibende Kraft gewesen. Wenn auch die Ehefrau Blömers sich nicht direkt an dem Morde beteiligt habe, so sei sie dennoch im Sinne des Gesetzes Mittäterin. Der Staatsanwalt begründete dies unter Berufung auf Reichsgerichts-Entscheidungen und den Kommentar von Olshausen in eingehender Weise. Die Person, die die Aufpasserin spielte, die die Brötchen schon einige Tage vor dem Morde abbestellte, habe doch zweifellos die Tat gewollt. Wenn die Geschworenen dem zustimmen, dann müssen sie die Schuldfrage wegen Mordes auch bezüglich der Ehefrau Blömers bejahen. Sollten aber die Geschworenen die Hauptfrage verneinen, nen, so werden sie zweifellos die Frage nach Beihilfe bejahen. Er ersuche die Geschworenen, sich nicht vom Mitleid leiten zu lassen, sondern nach Recht und Gewissen zu urteilen. Er beantrage, die Hauptschuldfragen gegen alle drei Angeklagten zu bejahen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Starker: Meine Herren Geschworenen! Nach dem offenen Geständnis meines Klienten Adolf Blömers habe ich keine weitere Verteidigungsrede zu halten. Es kann nur darauf ankommen, ob Totschlag oder Mord vorliegt. Ich ersuche Sie, urteilen Sie nach Pflicht und Gewissen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schiedges: Meine Herren Geschworenen! Als die Kunde von dem gräßlichen Verbrechen durch die Zeitungen ging, da wurde im Publikum die Frage aufgeworfen: Wird solchen Mördern auch noch ein Verteidiger gestellt? Jawohl, ebenso wie das Gesetz Sie und den Gerichtshof an ihre Stelle gesetzt, dem Herrn Staatsanwalt die Vertretung der Anklage anvertraut hat, so hat das Gesetz bestimmt, daß auch dem schrecklichsten Verbrecher ein Verteidiger bestellt wird. Damit wollte der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen, daß, wenn auch das Verbrechen noch so gräßlich, es Pflicht aller Prozeßbeteiligten, in erster Reihe der Geschworenen ist, die Tat aufs sorgfältigste zu prüfen. Das ist im vorliegenden Falle um so notwendiger, da es sich um drei Menschenleben handelt. Kein Zweifel, ein verdienter Offizier zier ist in gräßlichster Weise aus den niedersten Beweggründen ermordet worden. Trotzdem ist aufs sorgfältigste zu prüfen, ist die Ehefrau Blömers Mittäterin? Der Verteidiger suchte unter Berufung auf Liszt und Reichsgerichts-Entscheidungen nachzuweisen, daß die Ehefrau Blömers als Mittäterin nicht in Betracht kommen könne. Die Geschworenen dürfen nicht sagen: die Mörder sind abscheuliche Subjekte, deshalb fort von der Welt. Eine solche Entscheidung sei nicht Sache der Geschworenen. Diese haben nicht nach dem Gefühl zu urteilen, sondern gewissenhaft zu prüfen, inwieweit ist die Ehefrau Blömers an dem Morde beteiligt gewesen. So grausig auch die Tat ist, so etwa schloß der Verteidiger, so schlecht auch meine Klientin gehandelt, so hat sie doch immer noch den Anspruch, nach Recht und Gesetz abgeurteilt zu werden.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schleicher ersuchte die Geschworenen, zu erwägen, ob sein Klient Leonard Blömers mit Überlegung gehandelt habe.

Die Geschworenen bejahten bezüglich aller drei Angeklagten die Schuldfragen wegen Mordes und Diebstahls. Der Gerichtshof verurteilte, diesem Wahrspruch entsprechend, alle drei Angeklagten zum Tode, zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und wegen Diebstahls zu je einem Jahre Gefängnis. Die beiden Blömers wurden nach einiger Zeit hingerichtet, Frau Blömers, die sich in gesegneten Umständen befand, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt.

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Das Dynamit-Attentat gegen den Polizeioberst Krause

In der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1895 traf auf dem Berliner Paketpostamt in der Oranienburger Straße eine 25 Pfund schwere Kiste aus Fürstenwalde ein, die an „Herrn Oberst Krause, Berlin NO, Alexanderplatz 2“ adressiert war. Auf der Paketadresse war als Absender „C. Becker, Fürstenwalde“ angegeben. Die Kiste war am Sonnabend, den 29. Juni 1895, abends zwischen 7 und 8 Uhr, auf dem Postamt zu Fürstenwalde als unfrankiertes Postpaket aufgegeben worden; sie war in braunes Packpapier eingehüllt. Das nachts 11 Uhr von Fürstenwalde abgegangene Paket war 12 1/2 Uhr nachts auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin angekommen und gegen 2 Uhr nachts auf dem Paketpostamt in der Oranienburger Straße eingegangen. Der Posthilfsbote Borck bemerkte dort, daß aus dem Paket eine Flüssigkeit tropfte. Als er es näher besichtigte, nahm er einen starken Benzingeruch wahr. Borck machte seine Vorgesetzten sofort auf den augenscheinlich sehr gefährlichen Inhalt der Kiste aufmerksam. Die Postbeamten benachrichtigten noch in der Nacht die Kriminalpolizei. Sehr bald erschienen mehrere Kriminalbeamte auf dem Paketpostamt. Ein Kriminalschutzmann begab sich noch in der Nacht in die am Alexanderplatz 5 belegene Privatwohnung des Polizeioberst Krause und fragte ihn, ob er eine Kiste oder sonst ein Paket aus Fürstenwalde erwarte. Der Polizeioberst verneinte. Daraufhin wurde die Kiste auf den Hof des Paketpostamts gebracht und unter Anwendung der größten Vorsichtsmaßregeln geöffnet. Die Kiste barg eine Höllenmaschine. Eine in der Mitte befindliche kleine Holzkiste war mit Pulverbehältern versehen. Rechts und links davon lagen sechs mit heller Flüssigkeit gefüllte, mit dunkeln Schnüren und weißen Gipstuten versehene Flaschen. Eine weitere Flasche war zerbrochen und der Inhalt zum größten Teil ausgelaufen. Eine kleinere Kiste, die ein Uhrwerk in sich schloß, war auf dem Boden der großen Kiste festgeschraubt. Das Innere des Flaschenhalses und der Tülle der um die kleinere Kiste herumgepackten Rotweinflaschen war mit Pulver gefüllt und mit einer Zündschnur in Verbindung gebracht. Die Zündschnüre führten nach dem Innern der kleinen Kiste und endeten in einem Pulvermagazin. Letzteres bestand in einem extra dazu gebauten Papierkasten und war an der schmalen Innenfläche der kleinen Kiste festgeklebt. Unmittelbar vor diesem Pulvermagazin befand sich die Mündung eines kleinen Taschenrevolvers; letzterer war an einem kleinen Holzpflock festgenagelt und künstlich mit einem Uhrwerk in Verbindung gebracht. Die Uhr war eine gewöhnliche Wecker-Uhr. ker-Uhr. Durch sinnreiche Hilfsmittel sollte es ermöglicht werden, daß zu einer bestimmten Stunde durch das Abschnurren des Weckers eine Schnur an dem Revolverabzug auf eine Rolle aufgewickelt und der Revolver durch den Abzug erst gespannt und gleichzeitig abgeschossen werden würde. Der Revolver war mit Patronen geladen. Das Geschoß der abgeschossenen Patronen sollte vermutlich die Hülle des Pulvermagazins durchschlagen und eine Öffnung für die folgende Feuergarbe bilden. Durch das Pulvermagazin mußten die Zündschnüre zu den Flaschen entzündet, die Flaschenhälse durch das darin befindliche Pulver zersprengt und der Inhalt der Flaschen zur Explosion gebracht werden. Um die Wirkung noch zu sichern, waren sowohl die Flaschen als auch die Innenwände der größeren Kiste mit sogenannten Schlagröhren versehen, deren Zündschnüre auch nach dem Pulvermagazin führten. Da die Weckeruhren nur auf zwölf Stunden einstellbar sind, die Explosion aber wahrscheinlich erst nach 24 Stunden erfolgen sollte, ist durch eine mechanische Vorrichtung auch diese Möglichkeit erreicht worden. Endlich führte an dem Revolverabzuge noch eine Schnur über eine der Wirbelrollen hinweg nach dem Deckel der Kiste. Diese Schnur soll den Zweck gehabt haben, den Abzug des Revolvers bei einem etwaigen früheren Öffnen der Kiste loszureißen und die Kiste zur Explosion zu bringen. Die Uhr war eine sogenannte Junghans-Weckeruhr aus der Fabrik der Gebr. Junghans in Schramberg. Die Vorbereitungen an der Uhr waren so getroffen, daß die Explosion der Kiste am Sonntag, den 30. Juni 1895, vormittags 10 1/2 Uhr, erfolgen mußte, aber auch schon früher, wenn vorher der Kistendeckel abgenommen wurde. Nach dem Gutachten des Gerichtschemikers Dr. Paul Jeserich (Berlin) enthielt die Kiste in ihren verschiedenen Teilen 203 g Pulver. Hierzu kommen noch aus drei Papierröhren 25 g Pulver. Ferner enthielt jede der sieben Flaschen einen Zünder mit 4 bis 5 g Pulver. Unter der Weckeruhr befand sich noch eine Mauserpatrone mit 4 1/2 g Pulver. Die sieben Flaschen enthielten insgesamt beinahe 5000 g Ligroin, das häufig als Benzin verkauft wird und viel leichter flüssig als dieses ist. Die Anordnung war so getroffen, daß der ganze Raum, in dem die Explosion stattfand, mit brennender Flüssigkeit erfüllt worden wäre. Der Revolver war ein sogenannter 5-Millimeter-Lefaucheux geringerer Güte; das Packpapier, mit dem die Kiste umhüllt war, war mit einem Petschaft gesiegelt, auf dem die Buchstaben C.B., von einer Schleife umgeben, standen.

Es wurde sehr bald festgestellt, daß die Kiste von einem jungen, bartlosen Mann, der etwas derartig Mädchenhaftes an sich hatte, daß er für eine verkleidete Frauensperson gehalten werden konnte, am Abend des 29. Juni 1895 zwischen 7 bis 8 Uhr auf dem Postamt in Fürstenwalde aufgegeben worden ist. Dieser Mensch, der auch einen trippelnden Gang hatte, ist mehreren Leuten in Fürstenwalde und auch den Postbeamten, die ihm die Kiste abnahmen, aufgefallen. Auch einigen Leuten, die mit dem Zuge, der abends 8 Uhr 52 Min. auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin eintraf, ist ein solch junger Mann infolge seines mädchenhaften Aussehens aufgefallen. Die Kriminalpolizei und politische Polizei entfalteten sofort eine fieberhafte Tätigkeit, um des Täters habhaft zu werden. Es wurde auch sogleich eine Belohnung von 1000 M. auf die Ergreifung des Täters ausgesetzt. Der Verdacht fiel sehr bald auf den damals 21jährigen Mechaniker Paul Koschemann, der in der Gewehrfabrik von Ludwig Löwe u. Co. in Martinikenfelde arbeitete. Auf diesen paßte die Beschreibung des Menschen, der in Fürstenwalde und auch im Eisenbahnzuge bei der Rückreise nach Berlin seines mädchenhaften Aussehens wegen aufgefallen war. Es kam hinzu, daß Koschemann der Polizei als Anarchist bekannt war, der in anarchistischen Klubs vielfach Reden gehalten und zur Anwendung von Gewalt aufgefordert haben soll. Ein entfernter Verwandter des Koschemann, Bibliotheksdiener Brede, hatte außerdem, als er von dem Attentatsversuch hörte, der Polizei mitgeteilt, daß Koschemann, mit dem er am 4. Juni 1895 bei Verwandten in dem Berliner Vororte Königs-Wusterhausen zusammen war, sich dort eine Weckuhr gekauft und sich offen als Anarchist bekannt habe. Koschemann habe geäußert: „es müsse Gewalt angewendet werden. Der erste, der fallen wird, ist Krause.“ Daraufhin wurde Koschemann verhaftet, nach einiger Zeit aber wieder entlassen, da sich nicht genügende Anhaltspunkte für seine Täterschaft ergaben. Sehr bald darauf wurde Koschemann wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten, begangen durch Verbreitung anarchistischer Schriften, zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Infolgedessen wurden nochmals eingehende Nachforschungen angestellt, die schließlich dazu führten, daß gegen Koschemann und den Metallarbeiter Max Westphal die Anklage erhoben wurde: a) gemeinschaftlich die Ausführung des Verbrechens, vorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit und das Leben des Polizeioberst Krause herbeizuführen, verabredet, b) einen Mordversuch gegen den Polizeioberst Krause unternommen zu haben. Außerdem wurde die geschiedene Ehefrau Elise Westphal und der Schuhmacher Wilhelm Weber angeklagt: von dem Vorhaben der Ermordung des Polizeioberst Krause zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen zu haben, hiervon der Behörde oder dem Polizeioberst Krause Anzeige zu machen. Endlich war noch die Händlerin Josephine Gürtler wegen Begünstigung des Koschemann und außerdem wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. Alle Angeklagten, auch die Frauen, bekannten sich zum Anarchismus, bestritten aber mit voller Entschiedenheit ihre Schuld. Die Verhandlung begann am 6. April 1897 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I und dauerte bis einschließlich den 15. April. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Rieck. Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Kanzow, der in seiner jetzigen Eigenschaft als Landgerichtsdirektor den bekannten Prozeß wegen wissentlichen Meineids und versuchter Verleitung zum Meineid gegen den Fürsten Philipp Eulenburg und Hertefeld leitete. Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Dr. Werthauer und Dr. Schöps und Referendar Dr. Koch für Koschemann und Rechtsanwalt Dr. Bieber für die vier anderen Angeklagten. Der mittelgroße Angeklagte Koschemann machte mit seinem völlig bartlosen Gesicht und in seiner ganzen Haltung den Eindruck eines Sekundaners, dem die blonde Dichterlocke in die Stirn hineinstrebt. Westphal und Weber sahen bedeutend energischer aus. Der Angeklagte Koschemann gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Sein Vater sei Grenzaufseher. Er habe zunächst in Kriedhausen (Kreis Cleve) die Gemeindeschule besucht, dann nach Übersiedelung lung seines Vaters nach Zeitz die dortige Mittelschule. Hierauf sei er zu einem Mechaniker in Zeitz in die Lehre gekommen, sei dann Elektrotechniker geworden und habe als solcher in Zeitz, Nürnberg und Budapest gearbeitet. Alsdann sei er auf die Wanderschaft nach dem Salzkammergut und die Schweiz gegangen und habe sich einige Zeit in Zürich aufgehalten. Bis dahin habe er sich mit politischen Angelegenheiten nicht beschäftigt. Als er nach Berlin gekommen, sei er bei der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft tätig gewesen. Im April 1895 habe er seine Arbeit eines Augenleidens wegen aufgegeben; als er wiederhergestellt worden, sei er bei Ludwig Löwe in Martinikenfelde in Arbeit getreten und habe dort gearbeitet, bis er verhaftet wurde. Hier habe er sich mit technisch-wissenschaftlichen Werken beschäftigt, aber auch mit Geschichtswerken, wie Schlosser, Voigt und mit philosophischen Werken wie Kant, Schopenhauer, Büchner. Er sei in Berlin mit Anarchisten in Verbindung getreten, über die Persönlichkeiten verweigere er aber die Aussage. Er habe auch anarchistische Gedanken in Versammlungen ausgetauscht; wo solche stattgefunden, wolle er nicht sagen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab er zu, daß eine solche Versammlung einmal bei Späth stattgefunden habe. Mit Westphal sei er als Arbeitsgenosse freundschaftlich in Verbindung gekommen, nicht aber als Parteigenosse. Soviel er wisse, stehe Westphal ebenso wie er auf wirtschaftlichem Boden. Auf Befragen des Vorsitzenden gab der Angeklagte in längerer, durch viele Zwischenfragen des Vorsitzenden unterbrochenen Ausführung ein Bild von seiner philanthropischen Weltanschauung und dem Ideal des Zukunftsstaates. Die Anarchisten wollen nicht die Gewalt, das wollen nur die Terroristen. Nach seiner Ansicht gliedern sich die Anarchisten in drei Gruppen: in den Individualismus der Stirner und Nietzsche, den Kollektivismus Mackays und den Kommunismus, den er für den vernünftigsten halte und der nach seiner Ansicht zum Teil schon jetzt durchführbar sei. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Es sei ihm bekannt, daß der Kommunismus einmal in Paris blutige Szenen verursacht habe. Dies entspreche aber seinen Ansichten ebensowenig wie die Greuelszenen in Barcelona. Er habe den „Sozialist“ und die Mostsche „Freiheit“ gelesen. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Koschemann: Nach meiner Ansicht kann die Absendung der Kiste nur ein persönlicher Racheakt oder ein Akt des Spitzeltums sein.

Vors.: Sie haben gehört, daß nach den angestellten Recherchen ein persönlicher Racheakt ausgeschlossen erscheint. Was verstehen Sie unter „Spitzeltum“?

Koschemann: Daß etwas provoziert wird, um Haussuchungen zu veranlassen, Ausnahmegesetze zu begründen und die Zügel straffer in die Hand zu bekommen.

Vors.: Was hat das Spitzeltum mit dieser Kiste zu tun?

Koschemann: Die Kiste kann nur ein Laie gemacht haben.

Vors.: Sind denn alle Laien „Spitzel“? Sind denn alle Personen, die im Zuhörerraum sitzen und doch wohl Laien sind, „Spitzel“?

Angekl. K.: Unter Spitzel ist verschiedenes zu verstehen, zum Teil sind es Agents provocateurs, die in Versammlungen erscheinen und verschwinden, nachdem sie Leute aufgeputscht haben. Ich erinnere an den Lütticher Anarchistenprozeß, wo ein Mann, namens Ungern-Sternberg, sich als gekauftes Individuum entpuppte, der unschuldige Leute hineinlegen sollte.

Vors.: Von wem sollen solche Leute gekauft sein?

Koschemann: Von der Polizeibehörde selbst. In Zürich haben Agenten einem unschuldigen Menschen Sprengstoff ins Haus geschafft, sie waren aber beobachtet worden, und der Sprengstoff wurde schnell beseitigt. Unmittelbar darauf erschien die Polizei auf der Bildfläche, um dort eine Haussuchung abzuhalten. Bei der Kiste handelt es sich sicher nicht um eine politische Sache; bei irgendwelcher ernstlichen Absicht wäre es doch sehr leicht gewesen, ein Auslaufen der Flüssigkeit zu verhindern.

Kriminalkommissar Bösel: Gegenüber der Behauptung, daß die Polizei sich Leute kaufe zu solchen Attentaten, erkläre ich hier unter ausdrücklicher Berufung auf meinen Eid: Ich habe die Absendung der Kiste nicht veranlaßt und auch nichts ermittelt, was darauf schließen ließe, daß das Attentat bezahlte Arbeit wäre.

Staatsanwalt Kanzow: Wenn es Polizeiarbeit wäre, würde doch die Polizei sofort mit der Behauptung gekommen sein: „Seht, hier ist ein anarchistisches Attentat!“

Koschemann: Das ist ja auch sofort geschehen.

Vors.: Sie haben bei einer Vernehmung in der Voruntersuchung auch einmal gesagt, das germanische Blut sei ruhiger, als das romanische, letzteres sei zu solchem persönlichen Racheakte leichter geneigt.

Koschemann: Das ist allerdings meine Ansicht.

Kriminalkommissar Bösel gab hierauf einen Überblick über den Gang der anarchistischen Bewegung in Berlin. Diese erhielt in den Jahren 1893/94 einen besonderen Aufschwung durch die Schandtaten eines Ravachol, Vaillant u.a. Letztere übten ihren unverkennbaren Einfluß auch auf die Berliner Anarchisten aus, die zu dem Gedanken kamen, sie müßten doch nun auch einmal zeigen, daß sie da sind. Namentlich zeigten die jüngeren Anarchisten die Verquickung ihrer Neigung zum politischen Radikalismus und zum gemeinen Verbrechen. Sie begeisterten sich an dem Gedanken der Gewalttat. Daß dies nicht bloß Geschwätz war, zeigte ein Vorfall, dessen Bedeutung s.Z. dem Publikum nicht recht klar geworden war. Ein gewisser Vormälcher ging mit einem Mann namens Moldenauer nach den Müggelbergen und machte Sprengversuche, worauf sie verunglückten. Eine Strafverfolgung konnte damals nicht eintreten, weil es an einer gesetzlichen Handhabe fehlte, da die Leute behaupteten, daß sie im wesentlichen nur Pulver verwendet hätten. Der eine der Verunglückten ist gestorben. Vormälcher ist Mitglied des anarchistischen Diskutierklubs bei Späth gewesen. Die Anarchisten hatten zwei Sammelpunkte: der eine war das Laubenterrain in der Petersburger Straße, und namentlich die Laube der Florentine Weber, der andere das Späthsche Schanklokal in der Georgenkirch-Straße. Zu erinnern sei auch an den Zusammenstoß, den die Anarchisten Schewe und Dräger mit den Schutzleuten Busse und Finke hatten und wobei auf die Schutzleute geschossen wurde. Finke hat infolge der dabei erlittenen Verletzung pensioniert werden müssen. Dieser Vorfall gab Anlaß zu Haussuchungen bei bekannten Anhängern der Propaganda der Tat, die die Angaben durchaus bestätigten, wonach die Leute sich auf Gewalttaten vorbereiteten. Die hohen Strafen, die über Schewe und Dräger ausgesprochen wurden (Schewe erhielt 12 Jahre Zuchthaus, Dräger 5 Jahre Gefängnis), hatten einen sehr heilsamen Einfluß. Diese Kategorie der Anarchisten war vorläufig lahmgelegt. Dann kam die andere Kategorie. Im Juni 1894 wurde der anarchistische Diskutierabend bei Späth eingerichtet. Gleich am ersten Abend wurde über einen Artikel der Mostschen „Freiheit“ und die dort empfohlenen Stoß- und Explosivinstrumente diskutiert. Zu den eifrigsten Besuchern dieses Diskutierabends gehörten Westphal, Wilhelm Weber und Koschemann. Letzterer hat wiederholt dort so radikale Redensarten geführt, daß er für einen Agent provocateur gehalten wurde und auch einmal durchgeprügelt worden sein soll.

Innerhalb dieses Klubs bildeten Koschemann, Westphal, Weber und Frau Westphal eine kleine, eng aneinander geschlossene Gruppe. Gelegentlich einer Haussuchung ist bei Koschemann ein Dolch vorgefunden worden; bei einer Festnahme des Weber wurde ein anscheinend von ihm selbst geschriebenes Sprengstoff-Rezept vorgefunden, das noch nicht einmal in dem Mostschen Buch über die revolutionäre Kriegführung enthalten war. Dies war nicht lange vor dem Attentat auf den Polizeioberst Krause. Als letzteres sich ereignet hatte, habe er (Bösel) mit seinen Beamten sofort die Überzeugung erhalten, daß, wenn überhaupt ein anarchistisches Attentat vorliege, dieses nur von der Gruppe Koschemann ausgegangen sein könne. Sie waren aber nicht der Ansicht, daß ein solches anarchistisches Attentat vorliege. Man hielt es für möglich, daß sich unter den entlassenen Schutzleuten ein persönlicher Feind des Obersten Krause befinden könnte. Ferner wurde damals das Nachtwachtwesen umgewandelt, und die Entlassung mancher Nachtwächter konnte bei einzelnen Personen auch böses Blut erregt haben. Auch der verstorbene Polizeirat von Mauderode vertrat die Ansicht, daß ein persönlicher und nicht ein politischer Racheakt dem Attentat zugrunde liege. Deshalb wurden die Ermittelungen nicht der politischen, sondern der Kriminalpolizei übertragen. Die politische Polizei beschäftigte sich aber auch mit der Sache und man ließ bei mehreren bekannten Anarchisten, unter anderem bei Koschemann und Westphal, Haussuchung vornehmen. Das Ergebnis bewies zwar, daß die Genannten Anarchisten waren, aber dafür, daß sie mit dem Attentat in Verbindung standen, gaben sich nicht genügende Anhaltspunkte. Im stillen wurden die Beobachtungen jedoch fortgesetzt, zumal da die Annahme, daß doch ein politisches Attentat vorliege, wieder an Boden gewonnen hatte. Es wurde bemerkt, daß Koschemann und Westphal ein verändertes, scheues Benehmen zur Schau trugen. Bald darauf wurde Koschemann wegen Verbreitung anarchistischer Schriften zur Haft gebracht. Aus dem Gefängnis kam die Nachricht, daß auch dort Koschemann ein angsterfülltes Wesen zeige, als sei sein Gewissen von einer schweren Tat bedrückt. Der Verdacht gegen ihn habe neue Nahrung gewonnen. Daß die Polizei mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde, darauf war man vorbereitet. War es doch anzunehmen, daß der Täter, als er mit der Kiste das Haus verließ, um sich nach dem Bahnhofe zu begeben, auch die geringste Spur hinter sich verwischt hatte. Es wurde allen Personen, die die verdächtige Person gesehen haben wollten, die Photographie Koschemanns gezeigt. Einige waren in betreff der Wiedererkennung bestimmter. Am 19. Juli 1896 wurde noch einmal eine Haussuchung in der Koschemannschen Wohnung vorgenommen. Es galt diesmal, den hellgrauen Anzug zu finden, den der junge Mann mit der Kiste getragen haben sollte. Frau Koschemann leugnete anfangs beharrlich, daß ihr Neffe einen hellgrauen Anzug getragen habe, später gestand sie aber dem Untersuchungsrichter, daß sie die Unwahrheit gesagt habe. Der graue Anzug sei auch gefunden worden, es sei derselbe, den Koschemann jetzt trage. Auffallend sei der Umstand, daß mehrere Abendblätter bereits die Nachricht von der Beschlagnahme des grauen Anzuges brachten, bevor sie erfolgt war. Dies spreche doch gewiß am deutlichsten gegen die, ebenfalls in einigen Blättern kundgegebene Unterstellung, daß die Polizei selbst erst den grauen Anzug in die Koschemannsche Wohnung geschmuggelt habe, um eine Handhabe gegen Koschemann zu bekommen. Übrigens müsse er noch nachholen, daß im Hause Alexanderstraße 2 niemals ein Oberst Krause gewohnt habe. Man hatte der Polizei auch den Vorwurf gemacht, daß sie in den Versammlungen der Anarchisten Spione hielte, welche zu aufrührerischen Reden anreizen müßten. Er (Zeuge) müsse sich entschieden dagegen verwahren, daß er solche Mittel anwende. Es sei dies selbst vor einiger Zeit in einer Anarchistenversammlung anerkannt worden. Er bedauere es sehr, daß er die Benutzung von Agenten nicht vermeiden könne, das liege aber einmal in den Verhältnissen.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Ist es richtig, daß sich unter den Leuten, die Ihnen die Nachrichten zutragen, auch bestrafte Personen befinden?

Zeuge: Es kann möglich sein, aber ich kann es nicht ändern. Wenn ich imstande sein soll, die Ausführung von verbrecherischen Plänen zu verhindern, muß ich sie auch kennen.

Vert.: Nun behauptet Koschemann, daß die Anarchisten gar nicht so schlimm seien wie die Terroristen, die letzteren seien die eigentlichen Vertreter der Propaganda der Tat.

Zeuge: Ausgesprochen und gedruckt ist es ja, daß unter den Anarchisten nur wenige sind, welche vor keiner Tat zurückbeben, aber es wird ja immer Leute geben, die sich hervortun und besonderen Mut haben. Koschemann und Westphal geben zu, daß sie Abonnenten der in Newyork erscheinenden „Freiheit“ sind, Weber will die Zeitung ohne sein Zutun regelmäßig zugeschickt erhalten haben.

Vert. Rechtsanwalt Bieber: Gehörten die männlichen Angeklagten zu denjenigen Personen, welche die Versammlungen von Anarchisten schärferer Richtung in der Petersburger Straße besuchten?

Zeuge: Ich weiß es nicht.

Vert.: Wie sind Sie zu der Annahme gekommen, daß auch Weber mit dem Gedanken umging, nach Amerika auszuwandern?

Zeuge: Es ist mir zu Ohren gekommen.

Vert.: Weber bestreitet entschieden, daß er auswandern wollte.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Ist dem Kriminalkommissar die Broschüre von Tucker: „Die Lehre des Anarchismus“ bekannt und weiß er, daß Tucker in Newyork als einer der hervorragendsten Lehrer des Anarchismus bekannt und angesehen ist?

Zeuge: Ja.

Vert.: Dann werden Sie wohl bestätigen, daß dieser Lehrer des Anarchismus mit der Propaganda der Tat nichts zu tun hat?

Zeuge: Das ist richtig, die Anarchisten und die Angeklagten lesen aber doch auch andere Bücher.

Staatsanwalt: Die Angeklagten haben doch auch die Mostsche „Freiheit“ gehalten, und in diesem Blatte hat einmal gestanden, daß Mr. Tucker ein philosophischer Quatschkopf sei.

Koschemann bemerkte auf weiteres Befragen: Er habe wohl, als er von dem Attentat durch die Zeitungen erfuhr, von der Existenz eines Polizeioberst Krause in Berlin Kenntnis erhalten. Wie er gehört habe, sei Polizeioberst Krause der Kommandeur der uniformierten Berliner Schutzmannschaft und habe mit politischen Angelegenheiten nicht das geringste zu tun. Die Kiste wäre im übrigen nicht an Krause abgeliefert worden, da sie an den „Oberst Krause, Alexanderplatz 2“ adressiert war, Polizeioberst Krause wohne aber Alexanderplatz 5.

Postsekretär Finster, der der Verhandlung als Sachverständiger beiwohnte, bemerkte: Der Postbote wäre in diesem Falle nicht berechtigt gewesen, die Kiste kurzerhand nach Alexanderplatz 5 zu bringen, er hätte sie zunächst nach dem Postamt zurückbringen müssen.

Schutzmann Kurzhals bekundete: An einer Bedürfnisanstalt am Friedrichshain habe er folgende mit Bleistift hergestellte Inschrift gefunden: „Nieder mit ihm!

Wir sind unser acht

Krause nimm Dich in acht

Wenn nicht zu Hause

So geschieht’s nach einer Pause! Acht entlassene W.“

Obertelegraphen-Assistent Steger (Wilmersdorf), der von der Verteidigung als Sachverständiger geladen war, bemerkte: Nach seiner Ansicht hätte jeder Mechaniker die Vorrichtungen an der Kiste anders hergestellt. Die Sache sei so wenig kunstgerecht und so stümperhaft, daß man einen Mechaniker nicht für den Verfertiger halten könne. Daß es möglich gewesen sei, in der beabsichtigten Weise die Explosion herbeizuführen, gebe er zu.

Koschemann bemerkte: Ein Mechaniker hätte sicherlich Sägespäne in die Kiste eingefüllt. Nach seiner Ansicht sei die Kiste nur hergestellt worden, um jemanden hineinzulegen.

Unter allgemeiner Spannung wurde Polizeioberst Krause vernommen: Er habe eine Reihe Zuschriften erhalten, die sich auf das Attentat bezogen. Die eine trage die Unterschrift „Magistratssekretär Wiering, Friedrichstraße“ und enthalte nur die Mitteilung, daß er den Absender der Kiste kenne. Dieser „Wiering“ existiere nicht. Ein zweiter Brief war in Fürstenwalde aufgegeben und lautete folgendermaßen: „Wenn Sie etwas von dem Urheber des Attentats wissen wollen, so erlaube ich mir Ihnen eine Adresse aufzugeben, nämlich die des Gutsbesitzers C. Biermann zu Karlshof hof bei Fürstenwalde. Wenn die Adresse stimmt, werde ich bei Ihnen vorkommen, um mir die 1000 M. Belohnung zu holen.“

Der Zeuge verneinte die Frage, ob er je mit der Überwachung von Anarchisten und Sozialdemokraten zu tun gehabt habe. Nur einmal habe er tätlich eingreifen müssen, das sei im Jahre 1894 bei dem Krawall der Arbeitslosen gewesen. Eine Vermutung in betreff des Täters habe er nicht. „Wenn die Kiste angenommen und geöffnet worden wäre, so wäre wahrscheinlich mein Sohn das Opfer des Anschlags geworden,“ erklärte Polizeioberst Krause mit bewegter Stimme.

Ein Verteidiger Koschemanns richtete an den Zeugen die Frage, ob er die Gesinnung der Schutzleute gegen sich kenne, und ob er bei seinen Untergebenen als streng gelte. Der Zeuge erwiderte, daß dies möglich sei, aber jedenfalls würden sie ihm auch das Zeugnis geben, daß er gerecht sei. Auf die Frage der Verteidigung, ob er wiederholt Drohbriefe bekommen, antwortete der Zeuge, daß er nach dem Attentat wohl eine Reihe von Zuschriften des allerunflätigsten Inhalts erhalten habe, darunter sogar eine Karte, welche behauptete, er habe sich die Kiste selbst bestellt. Er versichere auf seinen Eid, daß er von der Kiste erst an jenem Morgen Kenntnis erhalten habe, als er durch die Nachtglocke geweckt und von einem Kriminalbeamten amten gefragt wurde, ob er eine Kiste aus Fürstenwalde erwarte.

Auf die Frage der Verteidigung, ob er Schutzleute entlassen habe, antwortete der Zeuge, daß die Disziplinarsachen natürlich alle durch seine Hand gehen.

Eine ganze Reihe anderer Fragen der Verteidigung bezogen sich auf die Familienverhältnisse des Polizeioberst Krause, auf seine Kinder erster Ehe und auf die von diesen geschlossenen ehelichen Verbindungen bzw. eingegangenen Verlobungen. Der Zeuge erklärte, daß er keinerlei Verdacht nach dieser Richtung hin habe.

Eine große Anzahl Zeugen bekundete: Koschemann habe wohl mit dem Menschen, der auf dem Postamt in Fürstenwalde das Paket aufgegeben habe, große Ähnlichkeit, mit Bestimmtheit vermochte jedoch kein Zeuge zu behaupten, daß es Koschemann war. Die Zeugen vermochten auch den Angeklagten nicht wiederzuerkennen, obwohl er ein Jackett anziehen mußte, das die Untersuchungsbehörde extra für Koschemann anfertigen ließ, und zwar genau in Farbe und Fasson nach dem, das nach den übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen der junge Mann getragen, der am 29. Juni 1895 die Kiste in Fürstenwalde zur Post gegeben hatte. Der Angeklagte mußte auch vielfach aus der Anklagebank treten und mit der im Gerichtssaal stehenden Kiste in der Hand auf und ab gehen. Zwei Fürstenwalder Sextanern, dem Obersextaner Karl Hofmann, Sohn des früher in Fürstenwalde, später in Westend bei Berlin wohnenden Restaurateurs Hofmann und dem Obersextaner Willy Karl, Sohn des Schlächtermeisters Karl in Fürstenwalde, die der Auflieferer der Kiste nach dem Postamt gefragt hatte, mußte Koschemann die Frage stellen: Wo ist das Postamt? Die Schüler vermochten aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen, daß der Auflieferer der Kiste mit Koschemann identisch war. Auch bezüglich des Kaufs einer Weckuhr in Königs-Wusterhausen wußten die Zeugen nichts Positives zu bekunden.

Ein Vetter Koschemanns, Schmied Heinrich Koschemann, bekundete: Er wisse sich der Vorgänge am zweiten Pfingstfeiertage 1895 nicht mehr zu entsinnen, er glaube aber, daß sein Vater einen halben Napfkuchen mitbekommen habe, der in einem roten Taschentuch getragen wurde.

Uhrmacher Hübscher: Er habe in Königs-Wusterhausen dicht am Bahnhof einen Laden. Er führe solche Junghans-Uhren, wie eine zur Höllenmaschine verwendet worden sei. Nach seinem Buche habe er am 4. Juni 1895 eine solche Uhr verkauft. Ursprünglich stand in dem Buch der 3. Juni angegeben. Er wisse nicht, wie das zusammenhänge. Der 3. Juni war der zweite Pfingstfeiertag, an diesem Tage hatte er seinen Laden schon um 9 1/2 Uhr vormittags geschlossen. Der Persönlichkeit des Käufers könne er sich nicht erinnern.

Arbeiter Grell bekundete als Zeuge: Er sei am 3. Juni mit dem Angeklagten Koschemann zu dessen Oheim nach Königs-Wusterhausen gefahren. Der Berliner Zug traf 9 Uhr 39 Min. vormittags in Königs-Wusterhausen ein. Die Ausflugsgesellschaft sei auch immer beisammen gewesen. Er erinnere sich nicht, daß der Angeklagte Koschemann längere Zeit verschwunden gewesen sei. Er habe auch bei der Heimfahrt kein Paket in der Hand Koschemanns gesehen.

Bibliotheksdiener Johannes Brede: Er sei am zweiten Pfingstfeiertag 1895 mit Koschemann zusammen in Königs-Wusterhausen gewesen. Bei dieser Gelegenheit habe Koschemann über die Zustände in Deutschland gesprochen und gesagt, daß es besser werden müsse, „Der erste, der fällt, ist der Oberst Krause.“ „Welcher Krause?“

„Nun, der Polizei-Oberst.“

„Warum denn gerade dieser, der hat ja doch mit der politischen Polizei nichts zu tun?“

„Ja, das ist ganz egal“ habe der Angeklagte geantwortet.

Am Abende des zweiten Pfingstfeiertages habe er gesehen, daß der Angeklagte einen in einem roten Taschentuch befindlichen Gegenstand auf einem Stuhle neben sich liegen hatte, als die ganze Gesellschaft noch vor der Abfahrt von Königs-Wusterhausen in einem Gartenlokale eingekehrt war. Er habe gefragt, was in dem Paket sei und die Antwort erhalten: „Es ist eine Weckeruhr, die ich gekauft habe, ich wohne in Rixdorf und arbeite in der Ackerstraße.“

Vors.: Herr Brede, ich halte Ihnen vor, daß der Angeklagte Koschemann entschieden bestreitet, was Sie über ihn bekunden. Sie sagen auch, daß er Sie gefragt hat, was ein Polizeispitzel sei, wann der Dienst der Polizeibeamten beginnt und ähnliche Redensarten. Er bestreitet dies mit aller Entschiedenheit und ebenso, daß Ihre übrigen Bekundungen der Wahrheit entsprechen. Sie sind zu einem Ihnen bekannten Schutzmann gegangen, dem Sie Ihre Wissenschaft von dieser Sache mitgeteilt haben, darauf sind Sie als Zeuge vernommen worden. Ich frage Sie nun, haben Sie sich bei dem betreffenden Schutzmann gemeldet, nachdem die Belohnung von 1000 Mark auf die Entdeckung des Täters durch die Anschlagsäulen bekannt gegeben war?

Zeuge: Ja, es ist nachher gewesen, aber ich habe es nicht deswegen getan, sondern weil ich es für meine Pflicht hielt. Ich habe die Äußerungen Koschemanns früher für Renommisterei gehalten, erst später, als das Attentat durch die Zeitungen bekannt wurde, fielen sie mir wieder ein.

Vors.: Sind Sie nicht einmal zur Verantwortung gezogen worden, weil Sie Bücher aus der Königlichen Bibliothek entwendet haben?

Zeuge: Nein, niemals.

Vors.: Haben Sie nicht einmal unbefugterweise Bücher verliehen?

Zeuge: Ja, das muß ich einräumen.

Vors.: Wollen Sie also alle Ihre Behauptungen in betreff Koschemanns unter Ihrem Eide aufrecht erhalten?

Zeuge: Ja, das will ich.

Vors.: Sie haben früher auch erzählt, daß Koschemann Sie kurz vor Pfingsten 1895 gebeten hat, ihm eine alte Weckeruhr zu überlassen?

Zeuge: Ja, das ist auch wahr, ich konnte ihm aber keine geben.

Auch auf eingehendes Befragen des Verteidigers Rechtsanwalt Dr. Werthauer hielt der Zeuge alle seine Bekundungen aufrecht. Koschemann habe einmal geäußert: Was schadet es, wenn vier Personen draufgehen. Bei einer späteren Gelegenheit habe sich Koschemann nach den Bureaustunden des Oberst Krause erkundigt.

Barbier Breuer und Barbiergehilfe Otzdorf bekundeten: Westphal und Koschemann seien am 29. Juni 1895 in ihren in der Andreasstraße belegenen Barbierladen gekommen. Westphal habe sich rasieren und frisieren, Koschemann das Haar schneiden und frisieren lassen. Sie sprachen von „Judenflinten“ und einem Fest bei Sternecker in Weißensee. (Unter „Judenflinten“ versteht man in den Berliner Volkskreisen Ludwig Löwe in Erinnerung an den bekannten Judenflinten-Prozeß Ahlwardt. Der Verf.) Otzdorf gab der Ansicht Ausdruck, daß es zwischen 4-6 Uhr nachmittags gewesen sei, Breuer war der Meinung, es sei später gewesen, er habe bereits Licht anstecken müssen.

Frau Breuer: Sie wisse sich des Tages ganz genau zu erinnern. Es sei am Sonnabend, den 29. Juni 1895, zwischen 7 bis 8 Uhr abends gewesen. Sie könne sich nicht irren, da sie nur Sonnabends abends im Geschäft ihres Mannes sei. Westphal, einen alten Kunden ihres Mannes, kannte sie ganz genau. Koschemann war ihr unbekannt, sie kenne ihn aber mit voller Bestimmtheit wieder. Sie habe ihn auch, als er ihr im Juli 1895 vorgestellt wurde, sofort mit voller Bestimmtheit wiedererkannt.

Es erschien hierauf eine ganze Reihe von Frauen und Männern als Zeugen. Alle diese wurden vom Vorsitzenden nach ihrer politischen Parteizugehörigkeit und auch gefragt, welche Zeitungen sie lesen. Fast sämtliche Zeugen bekundeten, daß sie Koschemann am 29. Juni 1895 auf dem Fest der Ludwig Löweschen Fabrik bei Sternecker in Weißensee gesehen haben. Einige wollten Koschemann schon gegen 6 Uhr nachmittags, andere um 8 Uhr, einige bedeutend später gesehen, zum Teil auch gesprochen haben.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde der Redakteur des damaligen Berliner Anarchistenorgans „Der Sozialist“, Schriftsteller Gustav Landauer, der sich selbst als Zeuge gemeldet hatte, vernommen. Landauer bekundete: Der Expedient des „Sozialist“ Wilhelm Spohr erhielt eines Tages von einem Uhrmacher Richard Henkmann, Friedrichsgracht 62, einen vom 23. Januar d.J. datierten Brief, in welchem er sich auf eine von Spohr angeblich geschriebene Postkarte bezog und darin einen von ihm erfundenen mechanischen Zünder empfahl, der von ihm in einfachster Weise konstruiert sei und immer eine genau vorausbestimmte Zeit laufe, also nach 3, 5, 10, 20 Minuten, wie er gerade berechnet sei, mit absoluter Sicherheit zünde. Spohr habe eine solche Postkarte überhaupt nicht geschrieben; letztere werde jeden davon überzeugen, daß die Postkarte von Henkmann selbst geschrieben sein müsse. Der Eindruck, den die Sache auf Spohr gemacht, sei gewesen, daß hier eine Spitzelarbeit verrichtet würde. Am 26. Januar sei dann ein Mann auf der Expedition des „Sozialist“ erschienen, der sich als der Briefschreiber Henkmann vorstellte. Er behauptete, auf ein von ihm in der „Berliner Zeitung“ aufgegebenes Inserat, worin ein Geldmann einen Teilhaber eines Patent-Unternehmens suchte, eine Postkarte, unterzeichnet von Spohr, erhalten zu haben, worin dieser um nähere Auskunft über das Unternehmen gebeten haben sollte. Henkmann machte entschieden den Eindruck eines Provokateurs und man beschloß, die weiteren Aktionen des Henkmann abzuwarten. Letzterer suchte sich in der großen Barcelona-Protestversammlung bei Keller dem Spohr zu nähern und lud ihn zum Kneipen ein. Henkmann habe keineswegs den Eindruck gemacht, daß er Anarchist sei, er habe aber sowohl Spohr als ihm selbst gegenüber sehr aufreizende Redewendungen gebraucht. So habe er u.a. gesagt: Die deutschen Anarchisten seien doch sehr schlappe Kerle, daß sie sich so etwas gefallen ließen. Als man ihm entgegenhielt, daß die deutschen Anarchisten doch in Barcelona nichts tun könnten, habe Henkmann erwidert: auch in Deutschland haben die Anarchisten genug zu tun. Er habe ferner gesagt: Wenn ich einmal aus der Welt gehe, dann muß Krause mit. Er, Zeuge, habe damals geglaubt, Henkmann habe mit dem Namen Krause nur eine Umschreibung des Namens des Kaisers geben wollen, erst der Prozeß Koschemann habe ihn auf den Gedanken gebracht, daß mit dieser Wendung doch etwas anderes gemeint gewesen sei. Er habe es deshalb für seine Pflicht gehalten, Henkmann, der einen sehr gedrückten, heruntergekommenen Eindruck gemacht, noch einmal aufzusuchen. Als er sich am 8. April in die Henkmannsche Wohnung begab, fand er letztere gerichtlich versiegelt. Er habe mit Schaudern vernommen, daß sich am 24. März Henkmann mit seiner Frau selbst getötet, nämlich verbrannt habe.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte der Zeuge, daß er Anarchist sei und zweimal wegen Aufforderung zum Ungehorsam gegen obrigkeitliche Erlasse mit 2 und 9 Monaten Gefängnis bestraft worden sei. Damals sei er Redakteur des „Sozialist“ gewesen.

Vors.: Haben Sie auch früher den „Sozialist“ gelesen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Kennen Sie die im Jahre 1892 erschienenen Artikel betreffend den Eid eines Anarchisten, wenn er gegen einen Gesinnungsgenossen aufzutreten hat?

Zeuge: Ja, die habe ich gelesen.

Vors.: Billigen Sie die darin vertretene Ansicht?

Zeuge: Nein, ich stimme ihr nicht zu.

Staatsanwalt Kanzow: Herr Landauer, Sie sind, wie ich weiß, anarchistischer Schriftsteller, warum traten Sie in den Spalten des „Sozialist“ nicht als Verfechter der entgegengesetzten Ansicht auf?

Zeuge: Ich hielt es nicht für richtig, durch Veröffentlichung einer Kritik zur Gegenäußerung herauszufordern und dadurch vielleicht einen Verstoß gegen die Gesetze herbeizuführen.

Staatsanwalt Kanzow: Lesen Sie den Lokalanzeiger? ger?

Zeuge: Selten.

Staatsanwalt: In diesem Blatte hat eine Notiz über den Tod Henkmanns gestanden, sollten Sie diese nicht gelesen haben?

Zeuge: Die Nachricht ist erst am 8. April zu meiner Kenntnis gelangt..

Staatsanwalt: Stehen Sie zu dem in der gestrigen Nummer des „Sozialist“ erschienenen Artikel: „Wie Dynamit-Attentats-Prozesse entstehen“ und der im wesentlichen das enthält, was Sie uns heute erzählt haben, in irgendwelcher Beziehung?

Zeuge: Nein.

Staatsanwalt: War es Ihnen nicht auffallend, daß ein Mann wie Henkmann, den Sie als einen Polizeispitzel hinstellen, seine Machinationen erst im Januar d.J. begann, während Koschemann bereits im Juli vorigen Jahres verhaftet wurde?

Zeuge: Nein, das ist mir nicht aufgefallen.

Vert.: Wie sah Henkmann aus?

Zeuge: Ein Mann, gedrungen und von Mittelgröße, mit einem vollen roten Gesicht und einen braunen Vollbart. Er machte, wie gesagt, einen unheimlichen Eindruck.

Staatsanwalt: Verkehrten Sie auch im Späthschen Diskutierklub?

Zeuge: Nein, die dort verkehrenden Anarchisten vertreten einen anderen Standpunkt. Wir verkehrten auch schon deshalb nicht bei Späth, weil das Lokal uns als Spitzelfalle bekannt war.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Können Sie uns Tatsachen angeben, wonach Polizeiorgane selbst derartige Sachen angestiftet haben?

Zeuge: Ja, ich erinnere nur an den Fall Wohlgemuth.

Kriminalkommissarius Bösel: Es wird hier wieder der Versuch gemacht, die Polizei der Provokation zu beschuldigen. Ich habe schon einmal kategorisch erklärt, daß ich keine Provokationen dulde. Ich bin von Anfang an der Ansicht gewesen, daß die Gesinnungsgenossen Koschemanns den Versuch machen werden, die Angeklagten der Justiz zu entziehen und daß die Anarchisten in der Wahl ihrer Mittel nicht wählerisch sind, ist bekannt. Im „Sozialist“ hat auch schon vor längerer Zeit ein Artikel gestanden, in welchem die Überzeugung ausgesprochen wurde, daß die Nachforschungen nach dem Absender der Kiste ohne Erfolg bleiben werden. Ich habe schon damals mir gesagt, daß wohl im letzten Augenblick Herr Landauer als Retter in der Not auftreten werde. Mir ist es sehr interessant, daß diese Vermutung jetzt bestätigt wird. Ich habe genau so wie Landrichter Hallervorden die Empfindung gehabt, daß in dieser Angelegenheit allerlei dunkle Mächte arbeiten. Das bewiesen auch verschiedene schiedene Artikel in den Zeitungen. Ein Artikel – ich glaube, er stand in der Tägl. Rundschau – ging sogar so weit, zu behaupten, daß der Eifer untergeordneter Polizeiorgane, mit aller Gewalt in dieser Angelegenheit die Tätigkeit von Anarchisten zu entdecken, schon in maßgebenden Kreisen Anstoß erregt und zu Beratungen im Polizeipräsidium Veranlassung gegeben habe. Ich war sofort bemüht, mir Gewißheit darüber zu verschaffen, ob jene Notiz auf Wahrheit beruhe und habe erfahren, daß dies keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil: Meine Vorgesetzten haben meinen unermüdlichen Eifer, in diese dunkle Angelegenheit Licht zu bringen, anerkannt. Die Akten werden zeigen, daß nicht von Anfang an ein bestimmter Verdacht obwaltete, sondern daß mühsam Baustein an Baustein gereiht werden mußte, um endlich das erdrückende Belastungs-Material zusammenzubringen. Daß man nun hier wieder versucht, diese ganze Arbeit als Spitzelarbeit hinzustellen, dafür habe ich keinen parlamentarischen Ausdruck.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Bieber: Der Zeuge hat hier von einem „erdrückenden“ Belastungsmaterial gesprochen. Hat er nach dem Gange des Prozesses auch heute noch die Ansicht, daß „erdrückendes Belastungsmaterial“ gegen sämtliche Angeklagte vorliegt?

Zeuge: Ich bin in meiner Erregung, die wohl begreiflich ist, wohl etwas zuweit gegangen und habe mich in der Wahl des Ausdrucks vergriffen. Ein solches Urteil darf ich natürlich hier nicht abgeben.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Bieber: Ich bitte also die Herren Geschworenen, auf dieses Urteil keinerlei Gewicht zu legen.

Staatsanwalt Kanzow: Ich nehme keinen Anstand, als Vertreter der Anklage zu erklären: Ich halte nach dem bisherigen Gang der Dinge noch nicht für dargetan, daß „erdrückendes Belastungsmaterial gegen sämtliche Angeklagte“ vorliegt. Wir sind ja aber noch nicht zu Ende und müssen das weitere abwarten, – Auf Befragen der Verteidigung erklärte Landauer weiter, daß er und seine Freunde den Späthschen Diskutierklub stets mit Vorsicht behandelt haben, da er ihnen nicht unverdächtig erschien, weil dort doch manchmal auffallend unvorsichtige Reden gehalten wurden.

Staatsanwalt Kanzow: Ist Ihnen der Anarchist Dempwolff bekannt?

Landauer: Jawohl.

Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß dieser Dempwolff, der Ihnen befreundet und schon oft bestraft ist, erst vor kurzem Äußerungen getan hat, daß man die Taten von 1848 wiederholen müßte?

Zeuge: Ich bin in jener Versammlung nicht zugegen gewesen und kann kaum annehmen, daß Dempwolff solche Äußerungen gemacht hat.

Zeuge Landauer erklärte weiter: Er habe sich zur Zeit der Absendung der Kiste in Bregenz am Bodensee dauernd aufgehalten und sei erst jetzt wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau nach Berlin gekommen. Obgleich nun die Polizei nach einer einzigen bestimmten Person, der Frauensperson mit dem Tituskopf, recherchierte, habe sie sich nicht gescheut, auch seine Frau, bei welcher keine Spur von Ähnlichkeit obwaltete, als Absenderin der Kiste zu verdächtigen.

Polizeirat Wolff: Die Recherchen haben sich nicht auf eine einzige, sondern auf 70 bis 80 Frauenspersonen erstreckt.

Kriminalkommissar Bösel erklärte nochmals, daß er Henkmann absolut nicht kenne, auch ihn niemals als Agenten benutzt habe. Henkmann sei niemals als Polizeiagent verwendet worden.

Hierauf wurde der Vater des Angeklagten Koschemann, der Steueraufseher Koschemann aus Weißenfels, als Zeuge vernommen. Er war 53 Jahre alt; seine Brust war mit Kriegsdenkmünzen und anderen Auszeichnungen bedeckt. Er bekundete: Am zweiten Pfingstfeiertag 1895 sei er auch in Königs-Wusterhausen gewesen. Es sei ihm nicht erinnerlich, daß sein Sohn einmal längere Zeit verschwunden war, so daß er Gelegenheit gehabt hätte, im geheimen eine Uhr zu kaufen. Am Tage nach diesem Ausflug habe ihm Brede allerlei Schlechtes über seinen Sohn Paul erzählt. zählt. Er habe ihm gesagt, sein Sohn sei von der Polizei auf die Anarchistenliste gesetzt und photographiert worden.

Brede bestritt die positive Form dieser Erzählung. Er habe allerdings in längerer Unterredung mit dem Vater Koschemanns die Überzeugung geäußert: sein Sohn sei Anarchist und dürfte auf die Anarchistenliste gesetzt und photographiert werden.

Koschemann Vater bemerkte auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Werthauer: Er habe seinem Sohn ernste Vorhaltungen gemacht. Letzterer habe geantwortet: Die Sache sei nicht so schlimm, er werde sich aber von aller politischen Tätigkeit vollständig zurückziehen.

Der Expedient des „Sozialist“, Spohr, bekundete: Henkmann habe sich in sehr auffälliger Weise an ihn herangedrängt. Er habe ihn ebenfalls für einen Agent provocateur gehalten.

Staatsanwalt: Ist es richtig, daß Sie einmal gesagt haben: Ob die Anarchisten dies oder jenes tun, ist eine Frage der Taktik und nicht eine Frage des Gewissens?

Zeuge: Das habe ich niemals gesagt.

Spohr und Landauer wurden darauf vereidigt.

Vors.: Koschemann, am 30. Juni 1895 ist bei Ihnen ein auf eine Kiste genageltes Uhrwerk gefunden worden, was hatte es damit für eine Bewandtnis?

Koschemann: Das Uhrwerk habe ich in den Allgemeinen Elektrizitätswerken für 50 Pf. gekauft.

Vors.: So wie es da ist?

Angekl.: Jawohl, das waren ausrangierte Uhrwerke, welche für Bogenlichtlampen gedient hatten und dann für 50 Pf. das Stück verkauft wurden.

Vors.: Was wollten Sie denn mit dem Uhrwerk?

Angekl.: Ich hatte die Absicht, einen Apparat zu konstruieren, mittels dessen man sehen konnte, ob, wenn man des Nachts an der Glocke eines Arztes zieht, sich der Arzt sprechen lassen will.

Vors.: Angeklagter Westphal, bei Ihnen wurden auch Uhrräder und dergleichen Dinge gefunden?

Westphal: Ich wollte den von Koschemann beschriebenen Apparat mit diesem zusammen ausnützen.

Kriminalschutzmann Busse: Er habe bei Koschemann außer einer Nummer der „Freiheit“ und mehreren anarchistischen Werken ein Fläschchen Benzin und Kupferdraht gefunden. Koschemann habe auf Befragen gesagt: er habe das Benzin zum Fleckenreinigen verwenden wollen.

Kriminalschutzmann Schwerdthelm hatte bei dem Angeklagten Weber außer der Mostschen „Freiheit“ auch zwei Hefte Rundschrift-Vorlagen und einen halben Bogen mit Rundschrift-Proben vorgefunden. (Die Begleitadresse der Sprengkiste war in Rundschrift geschrieben.) schrieben.) Weber behauptete, daß die Rundschrifthefte seinem Bruder gehören; er habe danach Übungen angestellt.

Bei Westphal war ein Brief aus Johannesburg mit Mitteilungen über die dort erfolgte Dynamit-Explosion gefunden worden, der nach seiner Behauptung von einem Schlächter Winkler herrühre.

Am letzten Verhandlungstage bekundete Schlosser Jaworski: Er arbeite seit fünf Jahren bei Ludwig Löwe. Er erinnere sich mit voller Bestimmtheit, daß er auf dem Feste in Weißensee den Koschemann an seinem Tisch habe vorbeigehen sehen. Es mochte nach 8 Uhr abends gewesen sein, jedenfalls war es vor dem Fackelzug.

Vors.: Wie kommt es, daß Sie sich heute nach beinahe zwei Jahren und obwohl Sie damals doch nicht wissen konnten, daß die Sache einmal Bedeutung erlangen werde, so genau erinnern, unter den Tausenden von Menschen Koschemann gesehen zu haben?

Zeuge: Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, Koschemann an jenem Abend gegen 8 Uhr auf dem Feste gesehen zu haben.

Vors.: Welcher politischen Parteirichtung gehören Sie an?

Zeuge: Der Zentrumspartei.

Nach beendeter Beweisaufnahme nahm das Wort Staatsanwalt Kanzow: Meine Herren Geschworenen! Wir stehen am Schlusse langwieriger und erschöpfender Verhandlungen. Was geschehen konnte, um eine Aufklärung des Tatbestandes und der Täterschaft beizubringen, ist geschehen. Es liegt weder an dem Gerichtshofe, noch an den Verteidigern, noch an mir, wenn irgend etwas in dieser Beziehung unterlassen sein sollte. Ich als Staatsanwalt habe nach Gesetz und Gewissen die Pflicht, objektiv alles vorzutragen, nicht nur was belastend, sondern auch was entlastend für die Angeklagten ist. Ich habe schon neulich keinen Anstand genommen, zu erklären, daß gegen sämtliche Angeklagte bei der derzeitigen Sachlage ein erdrückendes Material nicht beigebracht worden ist, und ich werde das Beweismaterial sachlich und ruhig prüfen. Leicht wird mir diese Ruhe nicht, schon wenn ich die beiden Hauptpersonen, die hier in Frage kommen, berücksichtige. Da ist auf der einen Seite derjenige, der das Opfer des Anschlages werden sollte, der Polizeioberst Krause. Sie haben selbst diese sympathische, ehrbare Persönlichkeit gesehen. Dieser Mann hat sich von der Pike auf emporgearbeitet; das kann ihm aber doch nur zum Ruhme und zur höchsten Ehre gereichen, wie dies ja auch bei dem verstorbenen Staatssekretär Stephan der Fall war. In Deutschland ist es eben noch immer möglich, durch eisernen Fleiß zu den höchsten Stellen zu gelangen. Das ist erfreulich, denn es ist immer gut, wenn alle Stände durcheinander der gehen und immer neues Blut in die Verwaltungen kommt. Auf der anderen Seite steht Koschemann. Er stammt aus guter Familie. Sie haben den alten, ehrwürdigen, mit Kriegsdenkmünzen geschmückten Vater Koschemann gesehen und werden fragen, wie ist es möglich, daß der Sohn eines solchen Mannes unter der Anklage des Mordversuches stehen kann – des Mordversuchs gegen einen Mann, der ihm niemals etwas zuleide getan hat? Die Erklärung liegt nicht zu fern. Der große Franzose Taine, der uns die französische Revolution erst so recht hat verstehen gelehrt, hat einmal von dem „Jakobinertum der Zwanzigjährigen“ gesprochen. So ein junger Mensch, der gar keine eigene Lebenserfahrung und gar keinen historischen Sinn hat, der kommt hinaus in die Welt und gerät in Kreise, in denen jede Autorität untergraben, in welchen die Erziehung zur Ehrfurcht, die nach Goethe das wichtigste ist, mit Füßen getreten wird. Koschemann ist schon mit jungen Jahren weit in der Welt herumgekommen, der Giftstoff ist ihm überall in der Welt zugetragen worden, besonders durch die Mostsche „Freiheit“. Das besagt genug! Reif sein ist alles, sagt Shakespeare, und nun denke man, wie es in dem Kopfe eines solchen unreifen, phantastischen Menschen aussehen muß, wie da der Größenwahn und die Verleumdungssucht Platz greift und zum Massen-, Klassen- und Rassenhaß führt, wie ein solcher cher junger Mensch innerlich vergiftet werden muß. Der objektive Tatbestand ist ziemlich einfach, weit schwieriger ist die Frage: Wer ist der Täter. Bände über Bände sind über diese Frage zusammengeschrieben worden. Alle entlassenen Schutzleute sind geprüft worden, ohne Erfolg. Und wenn man bedenkt, daß selbst entlassene Beamte dem Polizeioberst Krause das Zeugnis ausgestellt haben, daß er zwar streng, aber gerecht ist, so ist es unwahrscheinlich, daß ein entlassener Polizeibeamter in Frage kommt, ebensowenig die Familie des Oberst Krause. Gegen das Vorliegen eines persönlichen Racheakts spricht auch die Tatsache, daß die Weckeruhr auf 1/2 11 Uhr gestellt war, um diese Zeit aber am Sonntag Oberst Krause regelmäßig zur Kirche zu gehen pflegt. Es liegt eine anarchistische Schreckenstat vor! Während die Sozialdemokratie proklamiert hat, daß sie nur gesetzmäßigen Widerstand leistet, kämpft die Anarchie mit allen Mitteln, die ihr in die Hände fallen. Es gibt ja verschiedene Gruppen von Anarchisten, aber zweifellos ist es, daß es auch eine ganz bestimmte Richtung darunter gibt, die Anhänger der Propaganda der Tat sind. So verrückt es ist, so glauben diese Leute, daß es ihren Zwecken dienlich ist, wenn sie die bürgerliche Gesellschaft hin und wieder in Angst und Schrecken setzen und damit von ihrem Dasein Kunde geben. Wenn sie im Auslande einen Ravachol hatten, so hatten ten wir hier einen Rheinsdorf, der die Fürsten am Niederwalddenkmal in die Luft sprengen wollte. Wir haben vom Kriminalkommissar Bösel gehört, daß wir unter den Berliner Anarchisten Leute haben, die vor keiner Tat zurückschrecken. Natürlich muß es Aufgabe der Polizei sein, den friedlichen Bürger zu schützen und Verbrechen zu verhüten. Westphal und Koschemann standen bei der Polizei im Verdacht, daß sie Anarchisten der enragiertesten Art seien und durch das Ergebnis der Haussuchungen sowie durch andere Umstände ist dieser Verdacht vollauf bestätigt worden. Man fand bei beiden gravierende Schriften, bei Koschemann die „Freiheit“ von Most, direkt aus Neuyork bezogen, bei Westphal einen ganzen Jahrgang der „Autonomie“. Koschemann hat ferner die bluttriefende und zu Verbrechen auffordernde Schrift „Gretchen und Helene“ vertrieben und ist deshalb bestraft worden. Also zuzutrauen ist diesen beiden Angeklagten sicher die Tat. Nun hieß es zuerst in der Presse, es sei eine Frau in Männerkleidern gewesen. Ich glaube nicht daran. Ich meine, es ist eine Mannsperson gewesen, welche einen frauenartigen Eindruck machte. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, tut dies nicht Koschemann? Koschemann hat auffallend breite Hüften, einen trippelnden Gang. Das mädchenhafte Gesicht, welches er heute noch zeigt, war vor zwei Jahren gewiß noch mädchenhafter. Dazu kommt, daß die Kiste 25 Pfund schwer war, ein solches Gewicht konnte ein schwaches weibliches Geschöpf nicht tragen. Wenn wir nun die Zeugenaussagen derjenigen Personen vergleichen, welche die verdächtige Person in Fürstenwalde und derjenigen, die sie auf dem Schlesischen Bahnhofe gesehen haben, so muß man zu dem Schlusse kommen, daß beide Personen identisch waren. Kennzeichnend ist die Handbewegung Koschemanns, wenn er sich die Haare zurückstrich. Und übereinstimmend sagten die Zeuginnen, welche für dergleichen Sachen doch eine scharfe Beobachtungsgabe haben, „das ist er!“, als er ihnen durch den Untersuchungsrichter vorgeführt wurde. Man berücksichtige ferner, daß Koschemann die Sache lange vorher in allen Einzelheiten durchdacht und dann mit großem Raffinement durchgeführt hat. Natürlich ist es nicht so leicht, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und sein Tun bei diesem Verbrechen zu entlarven. Dazu gehört ein sorgfältiges und mühsames Zusammenfügen aller verdächtigen Momente und der Nachweis, daß der vorbereitete Alibibeweis mißlungen ist. Der Angeklagte hat ja zwei Zeuginnen auftreten lassen, die anscheinend zu seinen Gunsten ausgesagt haben. Ich erinnere aber daran, in welchen persönlichen Beziehungen diese Zeuginnen zu Westphal gestanden haben, und ich erinnere an die Meineidstaktik der Anarchisten. Die Beobachtungen des Barbiers biers Breuer und seiner Ehefrau sind gewiß mit bestem Wissen wiedergegeben worden, es ist aber nicht ausgeschlossen, daß sie sich irren. Es ist bezeichnend, daß Koschemann und Westphal bei dem Barbier Breuer mit Nachdruck von dem „Judenflinten“ –Fest gesprochen haben; sie wollten wahrscheinlich hiermit dem Barbier ein Stichwort beibringen, damit er sich später noch besinnen könnte, daß sie an jenem Tage nach Weißensee gehen wollten. Daß Koschemann nicht um 7 Uhr bei Breuer gewesen sein kann, geht schon daraus hervor, daß Koschemanns eigene Entlastungszeugen behauptet haben, er sei schon gegen 6 Uhr in Weißensee gewesen. Dann kann er nicht um 7 Uhr bei Breuer gewesen sein. Der Staatsanwalt ging alsdann die einzelnen Zeugenaussagen durch, die sich auf die Zeitabschnitte des 29. Juni 1895, auf die Anwesenheit Koschemanns in Weißensee usw. beziehen und zeigte, daß sowohl in den Angaben Koschemanns, als auch in den Bekundungen der Zeugen, die ihn gesehen haben, erhebliche Widersprüche festzunageln seien. Koschemann hat offenbar seinen Alibibeweis von vornherein sehr schlau sich zusammengestellt. Niemand bestreitet, daß Koschemann am Abende des 29. Juni 1895 in Weißensee war – es fragt sich bloß, zu welcher Zeit? Der Zug ging um 8 Uhr 56 Minuten vom Schlesischen Bahnhof nach Weißensee, von da sind es nur 10 Minuten bis zu Sternecker. Dies ist festzuhalten. Die Aussagen der Zeugen, die den Koschemann draußen gesehen haben wollen, sind doch zu unbestimmt, um darauf etwas zu geben. Der Alibibeweis ist mißlungen! Und dann die Hauptsache: Wo ist Koschemann am 29. Juni vormittags gewesen? Er behauptet steif und fest, bei Gürtlers. Frau Gürtler verneint dies aufs entschiedenste. Hat Frau Gürtler, die in intimem Freundschaftsverhältnisse zu Koschemann stand, die liebevoll für ihn eingezahlt hat, irgendein Interesse daran, Koschemann hineinzulegen? Nimmermehr! Dann bedenken Sie die Art der Zusammenstellung der Kiste. Koschemann ist ein geschickter Mechaniker. Der Sachverständige hat zwar gesagt, ein Mechaniker würde es anders gemacht haben, ich bin aber anderer Ansicht und dann, kann nicht ein Mechaniker ganz absichtlich irgend etwas an der Kiste ungeschickt und kunstwidrig gemacht haben, gerade um den Verdacht von einem Mechaniker abzulenken? Nun kommt die Schrift der Adresse. Ich erkläre, daß ich von der Kunst der Graphologie nur insoweit etwas halte, als sich jeder einzelne von den Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten von Schriftzügen überzeugen kann. Aber das steht doch fest, daß in der Schreibart Koschemanns manche große Ähnlichkeiten mit der Schrift auf der Adresse zu finden sind. Endlich kommt die Frage der Weckeruhr. Ich meine doch, daß Koschemann der Käufer des Weckers kers in Königs-Wusterhausen gewesen ist. Er wird vom Uhrmacher nach seinem Namen gefragt; seinen richtigen darf er nicht nennen, so gibt er den Namen Kurte an, der denselben Anfangsbuchstaben hat wie der Name Koschemann. Ein kleines Zeichen, aber es gibt zu denken. Koschemann stellt dann die Behauptung auf, er habe gehört, daß ein Schankwirt Krüger einen Wecker gekauft habe und wahrscheinlich mit ihm verwechselt werde. Krüger wird vernommen, es zeigt sich, daß er nie einen Wecker gekauft hat. Wer derartige Kniffe zu seiner Entlastung anwendet, der kann sich nicht unschuldig fühlen, ein Unschuldiger beschränkt sich darauf zu sagen: „Ich war es nicht!“ Erwiesen ist ferner, daß Koschemann wiederholt auf die Polizei und besonders auf den Polizeioberst Krause geschimpft und sich nach dessen Bureaustunden erkundigt hat. Es hängt viel davon ab, ob man dem Zeugen Brede Glauben schenkt. Ich halte ihn für glaubwürdig. Er erhält das beste Zeugnis von seiner Behörde und er sagt sofort dem Schutzmann „auf eine Belohnung verzichte ich“. Er hat den Vater des Angeklagten Koschemann gewarnt, er sagt, „heilen Sie Ihren Sohn, er ist auf Abwegen, er ist Anarchist!“ So handelt kein Mann, der im Solde der Polizei steht, wie man ihn von gewisser Seite hinstellen möchte.

Nun sehe man sich ferner den Apparat an, den Koschemann als ein Läutewerk für Ärzte bezeichnet. Ich behaupte, daß dies eine Ausrede ist, das angebliche Läutewerk ist eine Maschinerie, die in ihrem ganzen System dem Attentats-Apparat ähnlich ist. Wenn bei jemandem ein Dietrich gefunden wird, muß er sich gefallen lassen, daß er für einen Dieb gehalten wird, bis er den Nachweis vom Gegenteil erbringt. Die Furcht hatte den Angeklagten aber doch gepackt; in der Nacht zum 30. Juni kam er nicht nach Hause und ebensowenig am folgenden Tage. Dies läßt auf ein böses Gewissen schließen. Und wie viele Widersprüche sind ihm nachzuweisen! Bei seiner Vernehmung erklärte er gerade heraus „ich kenne Westphal nicht!“ Bald darauf sagt er bei einem anderen Punkt: „Ich ging mit meinem Freunde..“ da stockt er, beinahe hätte er den Namen „Westphal“ ausgestoßen. Er sagte auch einmal: „Die Kiste ist ja gar nicht an den Polizeiobersten Krause, sondern an den Obersten Krause adressiert.“ Ich behaupte, daß dieser Mangel in der Adresse absichtlich herbeigeführt wurde, um den Anschein zu erwecken, als gehe das Attentat von einer Privatperson aus. Alles Berechnung. Vor dem Untersuchungsrichter hat Koschemann erklärt, daß er keine Anträge zu stellen habe, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen Brede zu erschüttern. In seinem Kassiber erklärt Koschemann: „Brede muß bei seiner Behörde verdächtigt werden.“ Und richtig, bald trifft bei den Vorgesetzten Bredes ein anonymer Brief ein, worin dieser beschuldigt wird, Bücher aus der Königlichen Bibliothek unterschlagen zu haben. So handelt kein Unschuldiger. Ich komme also zu dem Schluß: Koschemann ist der Absender der Kiste, er hat das Attentat auf den Polizeioberst Krause selbst ausführen wollen, er ist schuldig zu sprechen! Mindestens aber ist er schuldig zu befinden, Beihilfe zu dem Verbrechen geleistet zu haben.

Was nun die übrigen Angeklagten betrifft, so liegt gegen Westphal nicht so sehr schwer belastendes Material vor, ich bin aber dennoch überzeugt, daß er seine Hand mit im Spiele hatte. Er ist auch Anhänger der Propaganda der Tat, er ist mit Koschemann eng befreundet, beide haben sich häufig besucht und gegen ihn spricht folgendes schwerwiegende Moment: er hat behauptet, er habe sich am 29. Juni nicht von Koschemann getrennt. Das ist als wahrheitswidrig nachgewiesen worden, er ist nicht mit Koschemann in Weißensee gewesen. Ferner ist belastend für ihn, daß er gesagt hat, der Plan, ein „Läutewerk für Ärzte zu konstruieren“, sei von ihm ausgegangen. Nicht aufrecht erhalten kann ich die frühere Behauptung der Anklage, daß Westphal mit Koschemann die Sprengkiste gemeinschaftlich angefertigt hat. Das ist nicht erwiesen; dagegen ist nachgewiesen, daß Westphal Koschemann bei dem Verbrechen geholfen und ihm die Hilfe vorher zugesagt hat. Für Frau Westphal und den Angeklagten Weber hat sich die Verhandlung günstiger gestaltet. Zwar sind sie auch Besucher des Späthschen Diskutierklubs, aber es ist nicht erwiesen, daß sie um das Verbrechen gewußt haben. Gegen sie beantrage ich die Freisprechung. Frau Gürtler erscheint mir dagegen ganz zweifellos überführt, dem Koschemann Hilfe geleistet zu haben. Dagegen ist sie der Majestätsbeleidigung nicht für schuldig zu erachten. Fällen Sie, meine Herren Geschworenen, Ihren Spruch nach bestem Wissen und Gewissen, dann wird dem Rechte Genüge geleistet sein.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Das Beweismaterial ist so schwach, daß die Verteidigung, die den Stoff unter sich verteilt hat, sich ziemlich kurz fassen kann, um die Herren Geschworenen von der Notwendigkeit eines freisprechenden Wahrspruchs zu überzeugen. Vieles von dem, was anfänglich belastend erschien, hat sich in der Verhandlung als ganz unverdächtig und wenig belastend herausgestellt. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme darf man ohne weiteres behaupten: es ist erwiesen, daß Koschemann nicht der Täter ist. Kein Mensch hat gesehen, daß K. irgend etwas mit der verhängnisvollen Kiste zu tun gehabt hat, die Anklagebehörde operiert mit keiner positiven Tatsache, sondern lediglich mit Indizien. Es ist mit dieser Verhandlung wie in einer Première, wo man vier Akte hindurch allerlei Dinge an sich vorüberziehen hen sieht und man beim Fallen des Vorhanges ganz erstaunt sitzenbleibt in der Meinung, daß der Haupteffekt nun erst kommen soll. Auch bei dieser Verhandlung kann man nach dem, was sieben Tage hindurch vorgeführt wurde, sich schließlich erstaunt fragen, was denn nun eigentlich bewiesen worden ist. Nichts, gar nichts! Die Herren Geschworenen können vielleicht sagen: es ist hier etwas Dunkles geschehen, wer es aber getan, ist uns auch heute noch verborgen. Es ist keine Spur von Beweis dafür erbracht, daß es sich hier um ein anarchistisches Attentat handelt, der versuchte negative Beweis, daß kein Akt persönlicher Rache vorliegt, kann doch nach keiner Richtung hin ausreichen. Koschemann behauptet, daß hier ein Akt polizeilichen Spitzeltums vorliege. Ich halte das für Wahnsinn, denn ich glaube Herrn Kriminalkommissar Bösel aufs Wort, daß die Polizei sich dies Attentat nicht selbst bestellt hat. Ich gehe sogar so weit, daß ich mit dem Staatsanwalt annehme: es ist ein anarchistisches Attentat, aber keineswegs von Koschemann ausgehend, sondern von auswärtigen Anarchisten ausgeheckt. Ich erinnere daran, daß vor längerer Zeit einmal hier ein russischer Nihilist Iwanoff verhaftet worden war, der vielleicht mit der Sache in Zusammenhang stehen könnte, denn er ist in Kopenhagen, in Paris und Berlin gesehen worden. 1894 sind in Paris Bomben geworfen worden, und es ist bezeichnend, daß in der Kiste eine Zeitungsnummer der „Cote libre“ vom 22. August 1894 und der „Frankfurter Oderzeitung“ vom 23. August 1894 gefunden worden ist. Damals ist Koschemann noch nicht hier gewesen. Es läßt sich nicht von der Hand weisen, daß diese Kiste im anarchistischen Lager im Auslande gefertigt, schon 1894 in der Hauptsache hergerichtet und vielleicht erst 1895 noch im letzten Teile vollendet und nach Berlin geschickt worden ist. Man möge doch auch daran denken, daß ein Zeuge die verdächtige, als Mann verkleidete Frauensperson in Begleitung zweier Männer gesehen hat. Ist es so sehr ausgeschlossen, daß die Kiste aus Dänemark herübergebracht worden ist? Der Verteidiger erörterte alsdann ausführlich die Frage, ob man sich bei den Angeklagten, die bisher völlig unbescholten waren, einer solchen Tat versehen könne. Was den Belastungszeugen Brede betrifft, so solle man doch bedenken, daß Äußerungen Schäume sind und daß man doch absolut nichts daraus folgern könnte, wenn Koschemann wirklich den Brede nach den Sprechstunden des Polizeioberst Krause gefragt haben sollte. Äußerungen sind Schäume und Indizien keine Beweise! Der objektive Befund der Kiste deutet durchaus nicht darauf hin, daß Koschemann sie verfertigt hat, der angebliche Uhrkauf in Königs-Wusterhausen schwebt vollständig in der Luft. Wie sollte denn der Mann darauf kommen, nach Königs-Wusterhausen hausen zu fahren, dort eine Uhr zu kaufen und sie mit nach Berlin zu schleppen. Als ob es in Berlin gar keine Drei-Mark-Bazare und keine Weckeruhren gäbe! Koschemann ist an seinem ganzen Körper genau geprüft worden. Man hat seine Füße geschildert, die Hände geschildert und die ganze Figur in allen möglichen Farben geschildert – aber nirgendwo hat es mit den Maßen der verdächtigen Person gepaßt. Da hätte man denn doch zu dem Schluß kommen müssen, daß Koschemann die Person nicht ist. Weit gefehlt! Man sagte, er könne die Füße in enge Stiefel gezwängt haben, und man fertigte ihm extra ein Jackett an, zog es ihm an und fragte die Zeugen, ob die verdächtige Person etwa so ausgesehen haben könne. Das erinnert an eine Geschichte der „Fliegenden Blätter“, in welcher ein Mann an eine junge Dame mit der Frage herantrat: „Fräulein, darf ich Ihnen meinen Regenschirm anbieten?“ Als die Dame erwiderte: „Aber mein Herr, es regnet ja gar nicht,“ erfolgte die Antwort: „Ich habe ja auch gar keinen Regenschirm.“ Zum Schluß suchte der Verteidiger den Nachweis zu führen, daß Koschemann gar nicht der Täter sein könne. Er sei wohl von verschrobenen anarchistischen Gedanken erfüllt, man könne aber nicht ohne weiteres annehmen, daß der Sohn eines solch braven, ehrwürdigen Vaters ganz aus heiler Haut zum Verbrecher werde. Koschemann müsse nach den Bekundungen der Zeugen spätestens gegen 9 Uhr abends in Weißensee gewesen sein. Mit Rücksicht auf den Eisenbahnfahrplan sei es unmöglich, daß er die Kiste in Fürstenwalde aufgegeben habe, er müßte denn wie Phileas Fogg in der „Reise um die Welt in 80 Tagen“ ohne jeden Aufenthalt von der Eisenbahn zum Dampfschiff und umgekehrt geeilt sein. Er (Vert.) ersuche die Geschworenen, mindestens ein Non liquet auszusprechen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schöps: Berufsrichter haben ein Urteil mündlich und schriftlich zu begründen, bei den Geschworenen heißt es „Ja ja“ oder „Nein nein“. Was darüber ist, ist vom Übel. Dies entbindet aber nicht die Geschworenen von der Verpflichtung, genau und gewissenhaft zu prüfen, bevor sie ihren Wahrspruch abgeben. Zur Sache muß ich bemerken, das Attentat war weder auf den Polizeioberst Krause abgesehen, noch ist es von Berliner Anarchisten ausgegangen. Der ganze Apparat war im übrigen so hergestellt, daß er den angeblich beabsichtigten Zweck erfüllen konnte. Polizeioberst Krause ist gar keine politische Persönlichkeit; es wäre etwas anderes gewesen, wenn Kriminalkommissar Bösel das Opfer hätte werden sollen. Der Verteidiger wies im weiteren auf die vielen Widersprüche der Zeugen hin, als diese die Merkmale der verdächtigen Person in Fürstenwalde und auf dem Schlesischen Bahnhof beschreiben schreiben sollten. So viele Aussagen, so viele Widersprüche. Es stehe schlecht um eine Anklage, in der seitens der Staatsanwaltschaft so schwache Verdachtsmomente ins Gefecht geführt werden. Fast sämtliche Zeugen hatten den Eindruck, daß sie eine Frau in Männerkleidung gesehen haben. Wenn man Koschemann in Frauenkleidung steckte, dann würde er trotz seines mädchenhaften Gesichts aussehen wie ein verkleideter Mann. Die verdächtige Person habe aber ausgesehen wie eine in Männerkleidung steckende Frau, das sei doch ein ganz gewaltiger Unterschied. Er (Vert.) könne die Ansicht des Staatsanwalts nicht teilen, daß der Alibibeweis mißlungen sei. Wenn Koschemann in den Zeitangaben schwankend gewesen sei, so sei zu bemerken, daß auch der Staatsanwalt sich nicht genau an die Zeitangaben gehalten habe. Das ganze Äußere des Angeklagten Koschemann deute nicht darauf hin, daß Leidenschaft und Energie in seiner Brust schlummern. Dieser junge blasse Mensch mit der Schillerlocke über der Stirn habe unmöglich die Tat begangen, die man ihm zur Last lege. Was sollen Redensarten wie: „Wir brauchen keine Obrigkeit“ und „Religion gibt es nicht, es ist alles Natur“ aus dem Munde des jugendlichen unreifen Angeklagten für ein Gewicht haben? Es gebe doch auch Leute in den höheren Gesellschaftsklassen, die sich vom Glauben abgewandt haben. Sollte man deshalb diesen anarchistische Verbrechen zutrauen? Die Anklagebehörde kämpfe mit kleinlichen Argumenten. Koschemann solle nach Angabe eines Gefängnisbeamten im Untersuchungsgefängnis ein scheues und mißtrauisches Wesen gezeigt haben. Wenn man sich auf Schritt und Tritt von Polizeibeamten verfolgt sehe, dann sei das sehr erklärlich. Der Verteidiger führte ferner aus, daß das Material zu einem Schuldigspruch nicht ausreiche, er sei daher der Überzeugung, die Geschworenen werden ihren Wahrspruch auf Nichtschuldig abgeben.

Vert. R.-A. Dr. Bieber: Es sei schwer, in einem Sensationsprozeß als Verteidiger aufzutreten, wenn man in der Hauptsache mit Vermutungen und Indizien zu tun habe. Die Stimmung sei gegen die Angeklagten, weil sie Anarchisten seien. Darum habe sich aber der Verteidiger nicht zu kümmern, sondern seine Pflicht sei es, dazu beizutragen, daß den Angeklagten ihr Recht werde, d.h. das Recht, daß sie ins Zuchthaus kommen, wenn sie dahin gehören. Daß dies aber im vorliegenden Falle nicht zutreffe, sei seine innerste Überzeugung. Der Verteidiger suchte alsdann in eingehender Weise nachzuweisen, daß den vier letzten Angeklagten nicht das mindeste bewiesen sei, er erwarte daher mit Bestimmtheit ihre Freisprechung.

Nachdem die Angeklagten sämtlich nochmals ihre volle Unschuld beteuert, gab der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor gerichtsdirektor Rieck den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und bemerkte dabei: Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen nur noch einige Belehrungen allgemeiner Natur zu geben. Es ist vieles Vortreffliche hier im Saale gesagt worden, aber auch manches, womit ich nicht einverstanden bin. Wenn ich es unterließe, Ihnen das zu sagen, so würde ich glauben, meine Pflicht nicht getan zu haben, ich bin aber gewöhnt, meine Pflicht stets ganz zu tun. Es war ein vortrefflicher Satz, daß Sie nur nach Ihrer eigenen Überzeugung urteilen sollen. Jawohl, richten Sie sich nach keines anderen Überzeugung, wer es auch sein mag, der sie hier ausgesprochen hat. Denn Sie können ja einem anderen Menschen nicht ins Herz sehen. Können Sie denn wissen, ob wirklich das, was er sagt, seine innerste Überzeugung ist? Ich spreche hier nicht mit Bezug auf irgend jemanden im Saale, sondern nur im allgemeinen. Der eine Herr hat aus dem Umstande, daß Sie sich an einer bestimmten Stelle Notizen gemacht haben, gefolgert, Sie befänden sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Zu dieser Behauptung wäre doch die Feststellung notwendig gewesen, was für Notizen Sie sich gemacht haben. Wer wollte sonst so vermessen sein, Sie eines verhängnisvollen Irrtums zu zeihen. Nein, ich habe mich gefreut, daß Sie sich so fleißig Notizen gemacht haben, und möchte sagen: Wehe dem Geschworenen, schworenen, der sich während dieser langen Verhandlung keine Notizen gemacht hat und sich allein auf sein Gedächtnis verlassen will. Der eine Herr hat auch den Indizienbeweis ganz verworfen. Ja ohne den Indizienbeweis hätten wir Richter sehr wenig zu tun. So schwächlich steht es aber mit unserer Strafrechtspflege nicht, wie jene Ausführungen des Verteidigers den Anschein erwecken konnten. Derselbe Herr hat diesen Prozeß mit einem Skatspiel ohne Atouts verglichen. Ob dieser Vergleich sehr geschmackvoll war, überlasse ich Ihrem Urteil, aber der Herr Verteidiger hat zugeben müssen, daß auch ein Spiel ohne Atouts unter Umständen gewonnen werden kann. Ich meine, damit hat er sich selbst und seine Ansicht von der Wertlosigkeit des Indizienbeweises widerlegt. Der eine Herr Verteidiger hat das Stimmungs-Erzeugen verworfen, der andere hat uns aber hier die Geschichte von einem unschuldig zum Tode verurteilten Postillion erzählt, der nur noch durch einen glücklichen Zufall von dem Schaffot gerettet wurde. War das etwas anderes als Stimmungs-Erzeugung? Der eine Herr ruft: Halt vor dem Eide – –bei den Zeuginnen Knappe und Jeschke, er öffnet aber die Barriere und läßt freie Bahn vor dem Eide des alten Koschemann und des Zeugen Brede. Meine Herren! Das römische Recht und das englische Recht gehen Sie gar nichts an, wir haben es hier allein mit dem deutschen Strafrecht zu tun. Gehen Sie an die Beratung frei, ohne Menschenfurcht, aber auch ohne Menschenhaß. Auch das war ein goldenes Wort des einen Herrn Verteidigers: „Haben die Angeklagten die Tat begangen, so soll ihnen auch ihr Recht werden.“ Jawohl, auch wenn das Recht das Zuchthaus ist. Handeln Sie nach Recht und Gerechtigkeit.

Nach etwa zweistündiger Beratung bejahten die Geschworenen bezüglich Koschemann die Schuldfragen wegen Beihilfe zum versuchten Morde und der Beihilfe zum Verbrechen gegen das Sprengstoffgesetz, bezüglich Westphal wegen Begünstigung des Koschemann nach geschehener Tat, um ihn der Bestrafung zu entziehen. Die Schuldfragen bezüglich der anderen Angeklagten wurden verneint.

Staatsanwalt Kanzow beantragte gegen Koschemann mit Rücksicht darauf, daß er einerseits noch jung und ein verrannter Fanatiker sei, andererseits aber ein schweres Verbrechen vorliege und es erforderlich sei, vor ähnlichen Verbrechen abzuschrecken, unter Einrechnung der neunmonatlichen Gefängnisstrafe, zehn Jahre und einen Monat Zuchthaus, zehn Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Westphal ein Jahr Gefängnis.

Vert. R.-A. Dr. Bieber beantragte: Da sich die Geschworenen offenbar zu Ungunsten des Angeklagten Westphal geirrt haben, auf Grund des § 317 der Strafprozeßordnung prozeßordnung den Spruch aufzuheben und die Sache an ein anderes Schwurgericht zu verweisen. Nach Löwe könne dies bereits geschehen, sobald der Gerichtshof einstimmig der Ansicht sei, daß ein Non liquet vorliege.

Die Angeklagten Koschemann und Westphal versicherten nochmals, daß sie vollständig unschuldig seien und sie die Strafe nicht annehmen.

Während der Beratung des Gerichtshofes trat der Obmann der Geschworenen an den Berichterstattertisch und ersuchte die Berichterstatter, mit ihrem Urteil noch zurückzuhalten. Er werde alsdann begründen, wie die Geschworenen zu ihrem Wahrspruch gekommen seien. Die Berichterstatter bemerkten dem Herrn, daß eine Begründung des Geschworenenwahrspruchs gesetzlich unzulässig sei. Der Obmann verlangte auch nicht das Wort.

Der Gerichtshof verurteilte Koschemann zu zehn Jahren einem Monat Zuchthaus, unter Anrechnung von drei Monaten auf die Untersuchungshaft und zu zehn Jahren Ehrverlust, Westphal zu einem Jahre Gefängnis, unter Anrechnung von vier Monaten auf die Untersuchungshaft und sprach Frau Westphal, Weber und Frau Gürtler frei. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Rieck bemerkte in der Urteilsbegründung: Koschemann sei ganz besonders schwer zu bestrafen, da die menschliche Gesellschaft vor so schweren Verbrechen brechen geschützt werden müsse.

Die von den Angeklagten eingelegte Revision wurde vom zweiten Strafsenat des Reichsgerichts verworfen. Koschemann hat im Sommer 1907, an Geist und Körper gebrochen, das Zuchthaus verlassen; er soll noch heute seine volle Unschuld beteuern.

198 Bearbeiten

Räuberhauptmann Kneißl vor dem Schwurgericht

Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hörte man von großen Räuberbanden, die in den verschiedensten Gegenden des Deutschen Reiches und der Nachbarländer auftauchten. Der Fortschritt der Zeit hat auch das Räuberleben der Romantik entkleidet. Es ist den Räubern kaum noch möglich, im Waldesdickicht ihr Heim aufzuschlagen. Infolge der vielen Verkehrsmittel haben die Landbewohner nicht mehr nötig, durch den Wald zu gehen, um in ihr Heim zu gelangen. An der Wende des zwanzigsten Jahrhunderts tauchte in Oberbayern der bekannte Räuber Matthias Kneißl auf, der ganz in moderner Form, auf einem eleganten Zweirad, mit Dolchen, Gewehren, Revolvern und Patronen ausgerüstet, die Lande durchstreifte. Kneißl war lange Zeit der Schrecken der Bewohner eines Teiles von Oberbayern. Obwohl er keine Bande zu kommandieren hatte, sondern zumeist auf eigene Faust seine Raubzüge unternahm, so verstand er es dennoch, die Dorfbewohner derartig in Angst und Schrecken zu setzen, daß diese ihm vielfach Obdach und Verpflegung gewährten und ihn vor den ihn verfolgenden Gendarmen verbargen, weil sie seine Rache fürchteten. Dies mag wohl auch die Ursache che gewesen sein, daß, obwohl 1000 M. Belohnung auf die Ergreifung des „zweiten Bayerschen Hiesel“, wie er sich selbst mit Vorliebe nannte, ausgesetzt war und obwohl Gendarmen- und Schutzmannspatrouillen, zum Teil ebenfalls per Rad, den kühnen Räuber Tag und Nacht verfolgten, es letzterem dennoch möglich war, sich lange seinen Verfolgern zu entziehen. Kneißl der am 25. Oktober 1875 zu Unterweikertshofen geboren war, entstammte einer alten Verbrecherfamilie. Sein Vater, ein Müllermeister, war der Besitzer der „Schachermühle“ in Unterweikertshofen, die schon vor Jahrzehnten allem Räubergesindel als Unterschlupf gedient hatte. Der Vater starb auf dem Transport nach dem Gefängnis, die Mutter war wegen Hehlerei und Diebstahls mit langjährigem Gefängnis bestraft. Der Oheim des Kneißl, namens Pascolini, war bereits vor 40 Jahren der gefürchtetste Räuberhauptmann in Oberbayern. Er ist auf dem Schafott gestorben. Kneißl war der Familientradition treu geblieben. Schon in der Schule hatten die Lehrer große Not mit dem trotzigen, zu Gewalttätigkeiten neigenden Knaben. Im Jahre 1891, als er kaum 16 Jahre alt war, wurde er wegen Jagdfrevels bestraft. 1892 verübte er mit seinem jüngeren Bruder einen höchst verwegenen Einbruchsdiebstahl. Als Gendarmen in die „Schachermühle“ drangen, um die beiden „Kneißlbuben“ oder „Pascolinis“, wie sie im Dorfe genannt wurden, zu verhaften, wurden sie von den beiden jugendlichen Einbrechern mit Gewehrschüssen empfangen und zum Teil ganz erheblich verletzt. Erst nach heftiger Gegenwehr gelang es den Gendarmen, die jugendlichen Verbrecher zur Haft zu bringen. Sie wurden beide zu langjährigem Gefängnis verurteilt. Als Matthias Kneißl im Februar 1899 aus dem Gefängnis entlassen war, arbeitete er als Schreinergeselle. Obwohl er wegen seines jugendlichen Alters nicht zur Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt werden konnte, wurde er von der Polizei beobachtet. Dadurch wurde seine Vergangenheit sehr bald bekannt. Er ging infolgedessen immer nach kurzer Zeit seiner Arbeit verlustig. Bei einem Meister arbeitete er sieben volle Monate. Der Meister war mit dem Fleiß und der Geschicklichkeit Kneißls sehr zufrieden. Eines Tages kam ein Gendarm, sich nach Kneißl zu erkundigen. Der Meister hätte trotzdem den tüchtigen und fleißigen Gesellen sehr gern behalten, er war aber genötigt, ihn zu entlassen, da die anderen Gesellen sich weigerten, noch länger mit dem Verbrecher zusammen zu arbeiten. Kneißl fehlte schließlich der Mut, sich weiter um Arbeit zu bemühen. Er verband sich mit einem übelberüchtigten Menschen, namens Hausleitner. Beide bewaffneten sich mit Revolvern, Gewehren und Dolchen und verübten gemeinsam die verwegensten Einbrüche. In einer dunklen Nacht brachen sie in einen einsam belegenen Bauernhof ein. Als die Bewohner erwachten, wurden sie von den frechen Räubern durch Bedrohung mit sofortigem Erschießen verhindert, sich zur Wehr zu setzen oder auch nur um Hilfe zu schreien. Am folgenden Tage saß Kneißl ganz wohlgemut im Wirtshause des Nachbardorfes. Eine Anzahl Dorfbewohner erkannte ihn und wollte zu seiner Verhaftung schreiten. Kneißl wußte jedoch durch Bedrohung mit seinem Gewehr die Leute von sich abzuhalten und unbehelligt die Dorfstraße zu erreichen. Einige beherzte Bauernburschen verfolgten ihn. Am Ausgange des Dorfes waren ihm seine Verfolger dicht auf den Fersen. Als Kneißl die Gefahr erkannte, drehte er sich um, feuerte mehrere Schüsse ab und traf den Gürtlerssohn Seitz so unglücklich, daß dieser schwerverletzt niederfiel. Infolgedessen ließen die anderen jungen Leute von der weiteren Verfolgung des gefürchteten Räubers ab. Hausleitner fiel sehr bald der Polizei in die Hände und wurde im Februar 1901 vom Schwurgericht zu Straubing zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Kneißl setzte darauf allein, bekleidet mit grauer Lederjoppe und Gamaschen, grauem Hut mit Spielhahnfeder, mit geladenem Revolver, einem „Drilling“ und Patronen ausgerüstet, auf einem Zweirad seine Raubzüge fort. Eine förmliche Kneißllegende umwob den kühnen Räuber. Überall tauchte die gefürchtete Räubergestalt auf. Sobald der Abend zu dämmern begann, wurden in ganz Oberbayern die Bauernhöfe fest verrammelt und verriegelt und große bissige Hunde, die des Tages über an der Kette gelegen, von ihren Fesseln befreit. Niemand wagte sich allein auf die Landstraße oder gar in den Wald. Starke Gendarmerieposten durchzogen, bis an die Zähne bewaffnet, das „Kneißlgebiet“, überall die Spuren Kneißls verfolgend, es wollte aber nicht gelingen, des Räubers habhaft zu werden. Einmal begegnete der Unhold einer beherzten Landfrau. „Bist wohl der Kneißl?“ fragte sie. „Was fragst mi denn, wenn mi kennst?“ erhielt sie zur Antwort.

Am Spätabende des 30. November 1900 kam Kneißl nach Irchenbrunn. Er klopfte an die Fensterläden des „Fleckelbauern“ Michael Rieger. Dieser, ein sehr übelbeleumdeter Mann, war schon vor vielen Jahren Freund des Vaters des Kneißl und war oftmals auch Gast in der „Schachermühle“ gewesen. Die „Fleckelbäuerin“ öffnete das Fenster und bedeutete dem Kneißl, daß ihr Mann im Wirtshause sei. Kneißl wagte es nicht, in das Wirtshaus hineinzugehen. Er wartete vor dem Wirtshaus. Als Rieger nach einer Weile herauskam, bat er diesen, ihm Obdach sowie Speise und Trank zu geben. Rieger willigte sofort ein, ließ aber auch sogleich die Gendarmerie von der Anwesenheit Kneißls benachrichtigen. Rieger holte aus dem Wirtshaus Brot und Fleisch und zwei Maß Bier. Damit begab er sich mit Kneißl in seine Behausung. Wie bemerkt, hatte er durch einen jungen Mann die Gendarmerie benachrichtigen lassen. Sehr bald klopften auch der Stationskommandant Brandmeier und der Gendarm Scheidler an dem Riegerschen Gehöft. Die Gendarmen hatten sechs beherzte Bauernburschen ersucht, sie zu begleiten. Als auf mehrfaches Klopfen nicht geöffnet wurde, rief Brandmeier: Öffnen Sie, sonst wird mit Gewalt geöffnet. Rieger antwortete: „I mach nit auf.“ Endlich öffnete aber Rieger. Zunächst traten die jungen Leute ein. Diesen folgten die Gendarmen. Kneißl war es inzwischen gelungen, sich zu verstecken. Als die Beamten den Versteck ausfindig gemacht hatten, schoß Kneißl auf sie. Brandmeier wurde sogleich, tödlich getroffen, zu Boden gestreckt und Scheidler so schwer verletzt, daß er sofort ins Krankenhaus transportiert werden mußte. Dort ist er nach kurzer Zeit an den erlittenen Verletzungen gestorben. Kneißl konnte nun unbehelligt seine Raubzüge fortsetzen. Endlich im März 1901 wurde der Gendarmerie der Aufenthalt Kneißls in Geisenhofen verraten. Eine große Anzahl Gendarmen sowie Kriminalbeamte und Schutzleute umzingelten das Haus. Sie wagten aber nicht, das Haus zu betreten, da sie wußten, daß Kneißl sie mit Gewehrfeuer empfangen würde. Sie beschossen daher das Haus. Als sie hörten, daß Kneißl schwer verwundet war, drangen sie ein und nahmen den gefährlichen Räuber fest. Kneißl, der einen Schuß in den Unterleib erhalten hatte, mußte zunächst ins Krankenhaus gebracht werden, in dem er monatelang mit dem Tode rang. Infolge der kräftigen Natur des Räubers gelang jedoch den Ärzten seine Wiederherstellung. Kneißl hatte sich vom 14. bis 19. November 1901 vor dem Schwurgericht zu Augsburg wegen zweier Mordtaten, versuchten Totschlags sowie wegen schweren Raubes und räuberischer Erpressung zu verantworten. Neben ihm mußte Fleckelbauer Rieger wegen Beihilfe zum Morde auf der Anklagebank Platz nehmen. Die Anklagebehörde hatte angenommen: Rieger habe die Gendarmerie von der Anwesenheit Kneißls in seiner Wohnung benachrichtigen lassen, um Kneißl Gelegenheit zu geben, die Gendarmen zu erschießen. Den Vorsitz des Schwurgerichts führte Oberlandesgerichtsrat Rebholz. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Farnbecher. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz (München) für Kneißl und Rechtsanwalt Prechtl (Augsburg) für Rieger. Die Verhandlung wurde erklärlicherweise in ganz Bayern mit größter Spannung verfolgt. Zahlreiche Gendarmen und Schutzleute waren aufgeboten, um ein Entweichen des kühnen Räubers zu verhindern. Obwohl am ersten Verhandlungstage ein feiner Regen herniederrieselte und es bei Beginn der Sitzung gegen 8 Uhr morgens noch fast dunkel war, drang doch eine ungeheure Menschenmenge in den Zuhörerraum des Schwurgerichtssaales. Kneißl, dem an Händen und Füßen eiserne Ketten angelegt waren, machte keineswegs den Eindruck eines zweiten bayerischen Hiesel. Er war nicht unschön zu nennen. Er war mittelgroß, schlank, erdfahl im Gesicht und hatte einen dunkelblonden, kleinen Schnurrbart. Seine Wangen waren hohl und eingefallen. Er saß, in sich zusammengeknickt, wie ein armer Sünder auf der Anklagebank. Rechts und links hatte je ein Gendarm neben ihm Platz genommen. Man sah es ihm an, daß er lange Zeit schwer krank gewesen war. Rieger war bedeutend älter und größer als Kneißl. Er machte mit seinem bartlosen Gesicht den Eindruck eines Zuchthäuslers. Auf dem Korridor, vor dem Eingang zum Schwurgerichtssaal, stand die Mutter des Kneißl, eine kleine, sehr abgehärmt aussehende, sauber gekleidete Frau. Sie weinte bitterlich um ihren verlorenen Sohn. Zwei Gendarmen waren bemüht, die Frau zu trösten.

Kneißl war im allgemeinen der ihm zur Last gelegten Straftaten geständig, er bestritt aber mit großer Entschiedenheit, daß er die Gendarmen habe erschießen wollen. Hätte er dies beabsichtigt, so bemerkte er auf Befragen des Vorsitzenden, dann würde er nicht nach den Beinen, sondern in den Kopf oder in die Brust geschossen haben. Er wollte die Gendarmen nur kampfunfähig machen, um dadurch sich der Verhaftung zu entziehen.

Vors.: Es wird von mehreren Zeugen behauptet: Sie haben die Leiche des Stationskommandanten Brandmeier mit dem Fuße gestoßen und in verächtlichem Tone gesagt: „Du bist gut hin?“

Kneißl: Das ist nicht wahr.

Vors.: Sie hatten einen Oheim, den Bruder Ihrer Mutter, namens Pascolini. Dieser hat etwa zehn Jahre lang, von Anfang der 1860er Jahre bis 1871, das Handwerk eines sehr gefürchteten Räuberhauptmanns in Oberbayern betrieben. Sie waren ja damals noch nicht auf der Welt, eine solche Familientradition wird doch aber in der Familie besprochen?

Kneißl: Ich habe davon gehört, es ist aber in unserer Familie davon nicht gesprochen worden.

Vors.: Das ist doch aber anzunehmen. Es ist ja nicht recht, von einem Familienmitgliede auf die ganze Familie zu schließen; ein Pascolini hat sich in der Untersuchung gegen Sie als Zeuge sehr korrekt benommen. Der Räuberhauptmann Pascolini hat auf dem Schafott geendet?

Kneißl: Soweit mir bekannt, starb er im Zuchthaus.

Vors.: Haben Sie nicht geäußert, Sie wollten es Ihrem Oheim nachmachen?

Kneißl: Nein, das hat mein Bruder gesagt.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Kneißl: Als er 1899 aus dem Gefängnis entlassen war, sei er aus München ausgewiesen worden. Er habe alsdann kurze Zeit in Nußbrunn als Schreinergeselle gearbeitet, sei aber sehr bald wieder entlassen worden, da der Meister seine Vorstrafen erfuhr. Er habe sich darauf vielfach, jedoch stets vergeblich nach Arbeit, auch um eine Anstellung als Förster beworben. Im Oktober 1899 sei er durch einen Mann, namens Lorenz, mit Holzleitner bekannt geworden. Lorenz war ein alter Bekannter von ihm. Holzleitner sagte: Lorenz schicke ihn zu ihm, er habe etwas mit ihm zu besprechen. Holzleitner habe nun den Vorschlag gemacht, mit ihm eine „Spritztour“ nach Niederbayern zu unternehmen. In Freysingen sei ein Pfarrhof. Der Pfarrer sei ein alter Herr und habe 40-50000 M. Geld, dies könnte man holen.

Vors.: Sind Sie auf den Vorschlag eingegangen?

Kneißl: Ich sagte mir, Arbeit bekomme ich doch nicht; wenn ich soviel Geld habe, dann rücke ich aus nach Amerika.

Vors.: Hat nicht auch Holzleitner gesagt: Wenn sich jemand in den Weg stellt, dann wenden wir Gewalt an?

Kneißl: Nein, das hat er nicht gesagt.

Vors.: Nun sind Sie mit Holzleitner nach Freysingen gefahren?

Kneißl: Ja, aber mit dem Pfarrhof war es nichts, wir gingen nicht hinein.

Vors.: Hatte Holzleitner keine Courage, in den Pfarrhof zu gehen?

Kneißl: „Courag'“ hätt’ er schon gehabt, aber ich wollt’ nicht.

Vors.: Weshalb wollten Sie nicht?

Kneißl.: Ich sah Leute im Pfarrhof.

Der Angeklagte erzählte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Sie seien alsdann nach Oberbirnbach gegangen und wollten dort in einen einsam gelegenen Bauernhof eindringen. Er sei zunächst in den Bauernhof hineingegangen, um die Örtlichkeit auszukundschaften. Er habe sich als Hopfenhändler aus Nürnberg ausgegeben. Als er von der Örtlichkeit Kenntnis genommen hatte, sei er mit Holzleitner in den Bauernhof hineingegangen. Es war um die Mittagszeit, die Bäuerin sei allein im Hause gewesen. Holzleitner erbrach mehrere Kisten, und als die Bäuerin sich dagegen sträubte, habe Holzleitner ihr mit Erschießen gedroht. Holzleitner habe fünf Einhundertmarkscheine und für mehrere tausend Mark Wertpapiere genommen. Er (Kneißl) habe sich weder an der Bedrohung noch an dem Raub beteiligt, sondern nur, mit einem geladenen Revolver in der Hand, Wache gestanden. Er habe 270 M. bar und 500 M. in Pfandbriefen erhalten.

Vors.: Es war auch verabredet worden, in dem Bauernhof die Kisten aufzubrechen, Geld zu rauben und sobald sich die Leute zur Wehr setzen, Gewalt anzuwenden?

Kneißl: Jawohl.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Kneißl: Zwei Tage nach dem Raube sei er mit Holzleitner nach Oberschweinbach gekommen. Dort haben sie sich als Metzger ausgegeben und sich bemüht, die geraubten Wertpapiere einzuwechseln. Sie seien zunächst ins Wirtshaus zum Sedlmeyer gegangen. Der von ihnen verübte Raub sei jedoch durch die Zeitungen bereits bekannt gewesen. Ein Mann habe die Leute im Wirtshaus auf sie aufmerksam gemacht. Die Leute wollten sie verhaften, sie haben aber mit Erschießen gedroht. Dadurch gelang es ihnen, aus dem Wirtshause und aus dem Dorfe zu entkommen. Den Pfandbrief von 500 M. habe er nicht wechseln können und schließlich verloren. Nach der Flucht in Oberschweinbach habe er sich eine Zeitlang bei seiner Mutter in München aufgehalten und alsdann mit seinem Rade das Land durchstreift. Am Abend des 27. November 1900 kam er nach dem Kirchdorf Paar. Als er bei einem Bauernhof vorüberkam, sei ein Hund auf ihn zugesprungen. Er habe deshalb mit seinem „Drilling“ den Hund erschossen. Der Drilling sei ein Jagdgewehr, das er von seinem Vater geerbt habe. Ehe der Hund auf ihn zugesprungen sei, hatte er Hühner gestohlen stohlen und diesen den Kopf umgedreht. Infolge des Schusses sei eine Anzahl Leute aus dem Wirtshaus und aus den Häusern gestürzt. Ein Mann habe ihn festnehmen wollen, es sei möglich, daß das der Bürgermeister war. Er habe dem Mann zugerufen: „Ich habe soeben einen kaltgemacht, wenn Sie mir nahekommen, dann mache ich mit Ihnen dasselbe.“

Vors.: Mit dem „soeben kalt gemacht“ meinten Sie den Hund, den Sie erschossen hatten?

Kneißl: Jawohl. Eine große Anzahl Menschen verfolgte mich. Ich rief den Leuten zu: Was wollt Ihr von mir? Haltet Eure Hunde an Euch, dann werde ich nicht schießen. Ich wurde aber trotzdem bis an den Ausgang der Dorfstraße verfolgt. Der Gürtlerssohn Seitz war dicht hinter mir. Um diesen von mir abzuwehren, drehte ich mich um und schoß mit meinem „Drilling“ auf ihn. Ich hatte aber nicht die Absicht, den jungen Mann zu erschießen. Es ist bekannt, daß ich ein sehr guter Schütze bin. Wenn ich Seitz erschießen wollte, dann wäre er nicht in das Knie, sondern in die Brust oder in den Kopf geschossen worden. Kneißl erzählte weiter, daß er am Spätabend des 30. November 1900 nach Irchenbrunn gekommen und er dort von dem „Flecklbauer“ Rieger aufgenommen worden sei. Er bestritt mit großer Entschiedenheit, daß er die Gendarmen habe erschießen wollen, er habe lediglich geschossen, um die Beamten von sich abzuwehren.

Vors.: Als Sie im Jahre 1893 nach Nürnberg transportiert wurden, sollen Sie zu dem Stationskommandanten Schnitzler gesagt haben: „Ich bin der zweite bayerische Hiesel. Wenn ich wieder herauskomme, dann will ich den bayerischen Hiesel in jeder Beziehung übertreffen. Über mich muß ein großes, dickes Buch geschrieben werden, viel dicker als über den bayerischen Hiesel. Wenn ich erst wieder herauskomme, dann erschieße ich mehrere, zuerst meine Schwester?“

Kneißl: Davon ist kein Wort wahr.

Vors.: Sie sollen ferner gesagt haben: Ich bin gut, ich kann aber auch schlimm werden. Ich lasse mich nicht wieder fangen. Ich werde es so weit bringen, daß man mir den Kopf abschlägt, einsperren lasse ich mich aber nicht?

Kneißl: Das ist alles nicht wahr.

Vors.: Sie sollen ferner gesagt haben: Wer mir nahe kommt, den erschieße ich, insbesondere erschieße ich die Grünröcke?

Kneißl: Auch das ist eine Lüge.

Vors.: Einem Mädchen sollen Sie einen silbernen Knopf geschenkt und gesagt haben: „Das gebe ich dir zum Andenken, ich bin der zweite bayerische Hiesel.“

Kneißl: Dem Mädchen habe ich nur einen Taler zum Andenken geschenkt, ich habe aber nicht gesagt, ich bin der zweite bayerische Hiesel.

Vors.: Weshalb schenkten Sie dem Mädchen den Taler zum Andenken?

Kneißl: Ich dachte, ich komme doch so bald nicht mehr heraus, vielleicht überhaupt nicht mehr, deshalb will ich dem Mädchen einen Taler zum Andenken schenken.

Vert. Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Ich ersuche, den Angeklagten zu fragen, ob es wahr ist, daß sein Vater ihm eingeschärft hat, nicht auf Gendarmen zu schießen. Es seien dies auch Menschen, zumeist Familienväter. Wenn man einen solchen Mann erschießt, dann belastet man sein Gewissen, eine Familie ihres Ernährers beraubt zu haben.

Vors.: Ist das richtig?

Kneißl: Jawohl, Herr Präsident, das hat mein Vater zu mir gesagt.

Vors.: Sie haben diese Lehre beherzigt, indem Sie auf zwei Gendarmen in Irchenbrunn geschossen haben, so daß der eine sofort tot war, der andere nach kurzer Zeit verstarb?

Kneißl: Ich konnte ja gar nicht sehen, daß es Gendarmen waren.

Auf Antrag des Verteidigers wurde ein Brief verlesen, den Kneißl 1895 aus dem Gefängnis an seine Mutter geschrieben hat. In diesem erinnerte Kneißl an die erwähnte Lehre seines Vaters.

Staatsanwalt: Hat der Herr Verteidiger außer diesem Brief noch einen anderen Beweis?

Vert.: Nein, dieser Brief ist aber zu einer Zeit geschrieben, als der Angeklagte nicht wissen konnte, daß er ihm zu einem gerichtlichen Beweis dienen könnte.

Die erste Zeugin war die Bauernhofsbesitzerin Ottilie Scheurer: Am 25. Oktober 1900 um die Mittagszeit, als sie gerade mit ihrem Mann und ihren Kindern bei Tisch saß, habe es bei ihnen angeklopft. Es seien zwei junge Männer ins Zimmer getreten, die sich als Hopfenhändler aus Nürnberg bezeichneten und vorgaben, Hopfen kaufen zu wollen. Die Hopfen waren in einem gegenüberliegenden Gehöft aufgespeichert. Sie ersuchte daher die zwei Männer, etwas zu verweilen. Inzwischen waren die Männer ins Schlafzimmer gegangen. Als sie (Zeugin) den Männern nachging, sah sie, daß diese die Betten und Strohsäcke durchwühlt hatten und bemüht waren, Kästen zu erbrechen. Noch ehe sie um Hilfe schreien konnte, packte sie Holzleitner, warf sie aufs Bett, hielt ihr den Mund zu, fuchtelte ihr mit einem Revolver über das Gesicht und sagte: Wenn Ihr einen Laut von Euch gebt, schieße ich. Nachdem sie versichert hatte, daß sie nicht schreien werde, habe sie Holzleitner losgelassen und nach Geld gesucht. Er fand aber nur 20 M. in Silber; dies nahm Kneißl an sich. Kneißl sagte: „Wir müssen 'raufgehen und oben suchen.“

Vors.: Hat Sie Kneißl auch bedroht?

Zeugin: Nein.

Vors.: Was tat Kneißl?

Zeugin: Der stand an der Tür. Die Zeugin erzählte weiter: Die beiden Männer erbrachen alle Kisten, nahmen Schmucksachen, einen Pfandbrief von 2000, einen Pfandbrief von 500 M. und fünf Einhundertmarkscheine.

Vors.: Wer nahm das an sich?

Zeugin: Der Kneißl. Holzleitner sagte: Anzeigen dürft Ihr es nicht, sonst geht alles in Rauch auf. Alsdann gingen die Männer in den Keller und begannen dort zu suchen. Dort fanden sie aber nur die Sachen von dem Hütbuben. Kneißl sagte: Die nimm nicht, laß dem Hütbuben seine Sach. Die Männer haben sie (Zeugin) schließlich in den Keller eingesperrt, jedenfalls um unbehelligt entkommen zu können. Erst nach längerer Zeit sei sie durch ihre Angehörigen aus dem Keller befreit worden.

Vors.: Hat Sie Kneißl auch bedroht?

Zeugin: Nein.

Vors.: Kneißl hat sich aber an dem Erbrechen der Kästen beteiligt?

Zeugin: Jawohl.

Kneißl bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe die Frau nicht bedroht, sondern zu Holzleitner ner gesagt: Einer alten Frau darf man nichts tun. Ich würde niemals auf eine so alte Frau schießen. Ich habe auch die Frau nicht in den Keller gesperrt.

Vors.: Wer hat Sie in den Keller gesperrt, Frau Scheurer?

Zeugin: Holzleitner.

Frl. Marie Scheurer, Tochter der Vorzeugin: Die Räuber haben ihr all ihren Schmuck, den sie sich zum Teil erarbeitet hatte, weggenommen.

Alsdann wurde Holzleitner, der wegen des Raubes bei Scheurer in Oberbirnbach und noch eines anderen Raubes wegen vom Schwurgericht zu Straubing zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, als Zeuge in den Saal geführt. Dieser, am 12. Mai 1877 geboren, war außerdem mehrfach wegen Eigentumsverbrechen bestraft. Er wurde selbstverständlich uneidlich vernommen und bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Den Angeklagten Matthias Kneißl kannte er nicht, er hatte aber dessen Bruder Alois im Gefängnis kennengelernt. Er kannte auch den Lorenz, mit dem er zusammen einen schweren Einbruchsdiebstahl verübt hatte.

Vors.: Das war der Einbruch, dessentwegen Sie vom Schwurgericht Straubing bestraft wurden?

Zeuge: Nein, das war wieder ein anderer Einbruch.

Der Zeuge erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Alois Kneißl und Lorenz haben ihn auf Matthias thias Kneißl aufmerksam gemacht. Er habe daher letzteren aufgefordert, mit ihm etwas zu unternehmen. Zunächst habe er vorgeschlagen, einem Pfarrhof, wo der Pfarrer schon ein alter Mann sei, einen Besuch abzustatten. Kneißl habe sich anfänglich entschieden geweigert, er wollte durchaus nicht „anbeißen“. Erst als er zu Kneißl sagte: „Du scheinst nicht die mindest Courag’ zu haben, da hat Lorenz ganz anderen ?Schneid?, mit diesem habe ich ganz andere Einbrüche verübt“, habe Kneißl sich bereit erklärt.

Vors.: Aus dem Einbruch in den Pfarrhof wurde aber nichts?

Zeuge: Nein.

Vors.: Weshalb nahmen Sie davon Abstand?

Zeuge: Die Pfarrersköchin trat gerade aus der Tür, als wir hineingehen wollten, dadurch verlor Kneißl die „Courag'“. Der Zeuge schilderte alsdann den Einbruch in dem Bauerngehöft von Scheurer in Oberbirnbach in fast genau derselben Weise wie Frau Scheurer.

Der 62jährige Privatier Josef Mooseder aus Langenfettbach bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Abends, als er gerade die Fensterläden schließen wollte, sei ein Mann, der eine schwarze Kappe vor dem Gesicht hatte, so daß man nur die Augen sehen konnte, in sein Haus gedrungen. Der Mann habe ihn sofort an der Gurgel gefaßt, ihm einen Revolver und ein großes Schlachtmesser vors Gesicht gehalten und gesagt: „Gib mir dein Geld oder ich schieß’ dich nieder!“ Sehr bald sei seine (des Zeugen) Frau herbeigeeilt. Der Räuber habe auch dieser mit Erschießen oder Erstechen gedroht, wenn sie schreien sollte. Seine Frau sei auf die Knie gesunken und habe gebetet. Da habe der schwarze Mann gesagt: „Laßt das Beten sein, das nützt Euch nichts, gebt Euer Geld heraus oder ich schieße Euch beide nieder.“ Er (Mooseder) habe darauf eine Schublade aufgezogen, in der seine Börse mit 56 M. Silbergeld lag. Diese Börse habe er dem Mann gegeben. „Hast du nicht mehr Geld?“ fragte der schwarze Mann. „Das ist mein ganzes Geld,“ versetzte er. Der schwarze Mann entfernte sich darauf. Er habe erst am folgenden Tage Anzeige erstattet.

Vors.: Neben Ihnen wohnt doch Ihr Schwiegersohn, haben Sie diesem nicht noch an demselben Abend Mitteilung gemacht?

Zeuge: Nein, ich war so erschrocken, daß ich mich an demselben Abend nicht mehr hinaustraute.

Vors.: Hat nicht auch der schwarze Mann gesagt: Ich hätte schon längst durchs Fenster geschossen, wenn nicht Ihre Frau mit dem Kind auf dem Arm gestanden hätte?

Zeuge: Das hat er gesagt.

Vors.: Ihre Frau war vorher mit einem Enkelkind auf dem Arm am Fenster gestanden?

Zeuge: Jawohl.

Vors. (auf Kneißl zeigend): War das der Mann?

Zeuge: Jawohl, das war er.

Staatsanwalt: Besaßen Sie noch mehr Geld?

Zeuge: Gewiß, das hat allerdings der Mann nicht gewußt.

Kneißl: Ich hätte die alten Lete nicht erschossen, ich habe nur gedroht, da ich Geld brauchte. Ich wollte nicht mehr wie 56 M. haben. Ich hätte noch viel mehr nehmen können, denn es lagen in der Schublade noch mehrere Scheine.

Frau Mooseder: Das ist nicht wahr, in der Schublade hat der Mann allerdings gesucht, es lag aber kein Geld weiter drin. Der Mann konnte nicht wissen, daß noch Geld im Hause war.

Staatsanwalt: Kneißl, Sie sollen zu Lorenz gesagt haben: Da habe ich einen alten Bauer ausgenommen, der Lump hat aber nur 56 M. gehabt.

Kneißl: Das ist eine Lüge; auch ist es nicht wahr, daß ich gesagt habe: Ich hätte schon längst durchs Fenster geschossen, wenn die Frau nicht mit einem Kind auf dem Arm am Fenster gestanden wäre.

Frau Mooseder: Das ist doch wahr.

Kneißl: Das Kind hat geschrien, ich habe deshalb die Leute aufgefordert, das Kind am Schreien zu hindern.

Vors.: Das Kind hatte sich jedenfalls vor dem schwarzen Mann gefürchtet?

Frau Mooseder: Nein, das Kind war ganz ruhig.

Vors.: Kennen Sie den Mann wieder?

Zeugin: Nein. Die Zeugin bemerkte noch, daß sie vor Schreck lange Zeit krank war.

Vors.: Kneißl, hatten Sie bei diesem Raub Helfershelfer?

Kneißl: Draußen hatten zwei Männer Wache gestanden.

Vors.: Wer waren diese Männer?

Kneißl: Das sind zwei Familienväter, deshalb will ich sie nicht verraten.

Der dreizehnjährige Xaver Schmauß, der alsdann als Zeuge erschien, machte trotz seiner Jugend einen sehr glaubwürdigen Eindruck. Während die große Mehrheit der erwachsenen Zeugen sich in bayerischem Platt ausdrückte, sprach dieser Knabe hochdeutsch. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Im Winter vorigen Jahres, etwa im März, es lag noch Schnee, ging ich nach Oberkirchbach. Da kam von einem Seitenwege ein junger Bursche auf mich zu und begann ein Gespräch mit mir. Er fragte mich, was wohl der Kneißl bekommen würde, wenn sie ihn erwischten. Ich sagte: Das weiß ich nicht. Kennst du den Kneißl? fragte er. Nein, erwiderte ich. Ich bin der Kneißl, aber mich erwischen sie nicht, sagte der Mann. Er fragte mich weiter, ob in Kirchbach Nachtwache sei? Ich antwortete: Ich weiß es nicht. Na, wenn auch Nachtwache ist, sagte Kneißl, mich erwischen sie trotzdem nicht.

Vors. (auf Kneißl zeigend): Ist das dieser Mann?

Zeuge: Jawohl. Der Zeuge bekundete weiter: Dem Kneißl sei plötzlich sein Schnurrbart heruntergefallen.

Vors.: Der Schnurrbart war also angesteckt?

Zeuge: Jawohl. Der Zeuge bekundete noch: Kneißl habe ihm Fleisch und Brot angeboten, er habe aber nichts angenommen. Er wollte schnell vorwärtsgehen, Kneißl hatte ihm aber befohlen, langsam zu gehen. Kneißl bestritt, jener Mann gewesen zu sein, er sei zur Zeit in einer ganz anderen Gegend gewesen. Der Zeuge bemerkte jedoch mit großer Bestimmtheit, daß es dieser Angeklagte Kneißl war.

Eine Anzahl Zeugen gaben hierauf der Überzeugung Ausdruck: Flecklbauer Rieger habe die Gendarmen nur rufen lassen, um sie vor die Gewehrmündung Kneißls zu bringen. Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz geben mehrere als Zeugen vernommene Gendarmen zu, daß Kneißl nach seiner Gefangennahme in Geisenhofen furchtbar geschlagen worden sei.

R.-A. Dr. v. Pannwitz zu dem Sicherheitskommissar Boshart (München): Ist es richtig, daß Schutzleute genötigt waren, den Kneißl mit ihrem Körper vor den Mißhandlungen der Gendarmen zu schützen, so daß letztere selbst Schläge erhielten?

Zeuge: Davon weiß ich nichts. Als Kneißl heruntergebracht wurde, sagte ich mit lauter Stimme: „Nun verlange ich aber vollständige Ruhe. Wir haben es jetzt nicht mehr mit dem Räuber oder Mörder Kneißl, sondern mit einem schwerkranken Menschen zu tun.“

Frau Mathilde Lorenz, die Kusine des Kneißl, bekundete als Zeugin: Kneißl habe ihr einmal ein „Zipferl“ gezeigt, das er angelegt habe, um Mooseder zu berauben. Frau Mooseder sei niedergekniet und habe gebetet. Da habe er gesagt: Das Beten hat keinen Wert, Ihr könnt mir doch kein Geld herbeten. Wenn Ihr nicht Geld hergebt, dann erschieße ich Euch. Mooseder habe ihm darauf 56 M. gegeben. Kneißl sagte: Der alte Spitzbube hat schon mehr Geld gehabt, er hatte bloß alles ausgeliehen. Er hat mir auch die Schuldscheine gezeigt.

Frau Franziska Scheidler, Witwe des von Kneißl in Irchenbrunn niedergeschossenen Gendarmen Scheidler, bekundete weinend auf Befragen des Staatsanwalts, daß sie fünf kleine Kinder habe; das jüngste sei 1 1/4 Jahr alt.

Die Krankenhausschwester Adelgunde, Maria Pittero, bekundete: Kneißl sei, als er in das Krankenhaus gebracht wurde, sehr schwach gewesen, so daß er einige Male bewußtlos geworden sei.

Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß eine junge Schwester versetzt werden mußte, weil ihr von Kneißl ein unzüchtiger Antrag gemacht wurde?

Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Ich habe von dieser Sache noch niemals etwas gehört, ich muß deshalb den Herrn Staatsanwalt bitten, nähere Angaben hierüber zu machen.

Staatsanwalt: Herr Kriminalwachtmeister Fürst in München hat mir dies mitgeteilt, ich bin bereit, den Kriminalwachtmeister zu laden.

Vert.: Ich kann mich leider damit nicht begnügen, sondern bin zu meinem Bedauern genötigt, die Ladung der Schwester zu beantragen, der der unzüchtige Antrag gemacht sein soll. Der Herr Kriminalwachtmeister ist doch jedenfalls nicht dabei gewesen, sondern hat es nur gehört.

Staatsanwalt: Der Kriminalwachtmeister hat es von Kneißl selbst gehört. Kneißl erzählte ihm: Eines Tages, als gerade der Pfarrer zu ihm ins Zimmer trat, hatte er seinen Arm um eine junge „schwarze“ Schwester geschlungen. Der Pfarrer sagte: „Das sind ja schöne Geschichten.“ Der Pfarrer habe von diesem Vorkommnis sofort Anzeige erstattet, deshalb sei die junge Schwester sofort in ein anderes Krankenhaus versetzt worden.

Vert.: Ich will mich damit begnügen und auf weitere Zeugen hierüber verzichten. Ich will auch auf die vielen schwärmerischen Liebesbriefe nicht zurückkommen, die Kneißl von einer ganzen Anzahl selbst hochstehender Damen erhalten hat.

Mathilde Danner, Kusine des Kneißl, bekundete: Kneißl habe ihr erzählt: Als die Gendarmen in Irchenbrunn klopften, habe der Flecklbauer öffnen wollen. Er habe darauf zum Flecklbauer gesagt: Wenn du aufmachst, dann schieße ich dich sofort mausetot. Der Flecklbauer sei darauf furchtbar unruhig auf und abgegangen. Er (Kneißl) habe sich durch die Hintertür flüchten wollen. Inzwischen habe der Flecklbauer geöffnet. Er habe sich deshalb in die Küche geflüchtet und von dieser auf die Gendarmen geschossen. Hätte er geahnt, welches Unheil er dadurch anrichten werde, dann hätte er sich lieber im Hause des Flecklbauern fangen lassen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Ist es richtig, daß Kneißl mit Ihnen nach Amerika gehen wollte und daß er sagte: Sobald es ihm gelungen sein werde, falsche Papiere zu erlangen, dann werde es ihm möglich sein, in Gemeinschaft mit Ihnen nach Amerika zu entkommen?

Zeugin: Jawohl.

Vert.: Sie waren auch bereit, mit Kneißl nach Amerika zu gehen?

Zeugin (nach längerem Zögern): Das weiß ich nicht.

Sattlergeselle Dannhofer: Am Abend des 6. Dezember 1900 bin ich nach Maisach gegangen. Kurz vor Maisach kam ein Mann auf mich zu und fragte mich, ob ich Geld habe. Ich verneinte. Daraufhin erhielt ich von dem Mann einen heftigen Stoß ins Genick, so daß ich zu Boden stürzte. Der Mann kniete auf mir und durchsuchte mir die Taschen. Ich zog mein Messer und stach den Mann in die rechte Wade. Daraufhin stieß der Mann einen schrillen Pfiff aus. In demselben Augenblick kam ein zweiter Mann herbeigeeilt. Dieser hatte einen „Drilling“ in der Hand. Der erste Mann rief: Der Kerl hat mich schon gestochen. Der zweite Mann schlug mich darauf mit dem Gewehrkolben mehrfach auf den Kopf. Die Männer nahmen mir alsdann meine Börse mit 25 M. Inhalt aus der Tasche und gingen noch eine Strecke Weges mit mir. Sie sagten beide wiederholt: Wenn du nur einen Laut von dir gibst, dann kommst du nicht nach Maisach.

Vors.: War es dunkel?

Zeuge: Ganz dunkel war es nicht.

Vors.: War einer von den beiden Männern Kneißl?

Zeuge: Das kann ich nicht sagen.

Der Vorsitzende befahl, daß Kneißl aus der Anklagebank trat und den Überzieher anzog. Der Zeuge bemerkte darauf: Der zweite Mann sah dem Angeklagten sehr ähnlich. Die Größe, der Schnurrbart und auch der Überzieher stimmen, ich kann aber nicht mit Bestimmtheit sagen, daß es Kneißl war.

Stationskommandant Abt, dem noch an demselben Abend von dem Überfall Anzeige gemacht wurde, bekundete: Er habe festgestellt, daß Kneißl sich zur Zeit in Bruck bei den Parasolbauern aufgehalten habe. Er konnte in etwa zehn Minuten die Chaussee nach Maisach erreichen. Kneißl bestritt, an diesem Überfall beteiligt gewesen zu sein.

Gerichtsarzt Dr. Utz: Er habe mit Dr. Lechner die Leichen der erschossenen Gendarmen seziert. Brandmeier sei an Verblutung gestorben; Scheidler mußte das Bein amputiert werden. Entweder dadurch, vielleicht auch durch den Schuß, sei Blutvergiftung erfolgt. Dadurch sei Lungenentzündung und Mundsperre eingetreten, dies habe den Tod des Scheidler verursacht.

Bote Eisenhardt: Im Dezember 1900 kam ein Mann zu mir und fragte mich, was Kneißl wohl bekommen werde, wenn sie ihn erwischen. Ich antwortete: Das ist schwer zu sagen. Kneißl hat zwei Gendarmen erschossen und auf der Chaussee nach Maisach einen jungen Menschen ausgeraubt. Der Mann sah sich darauf scheu um und sagte: „Ich bin der Kneißl, ich habe Hunger, geben Sie mir ein Stück Brot.“ Ich entsprach dieser Bitte. Darauf sagte Kneißl: An dem Tode der Gendarmen hat der Flecklbauer schuld, der spielt den Schlechten.

Schreiner Christoph: Kneißl habe, als er 1899 aus dem Gefängnis kam, sieben Monate bei ihm gearbeitet; er habe ihn aber schließlich entlassen müssen, weil bekannt wurde, daß er mehrere Jahre im Gefängnis gesessen habe.

Vors.: Haben Sie das vorher gewußt?

Zeuge: Ich habe es gewußt, aber keinen Anstoß daran genommen. Ich habe den Kneißl aber schließlich auf Drängen meiner anderen Gesellen entlassen müssen.

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Wie war Kneißl in der Arbeit?

Zeuge: Er war sehr fleißig und geschickt.

Vert.: Ist es richtig, daß Stationskommandant Saalfrank oftmals zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat: Kneißl hat mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, einen solchen Menschen darf man nicht behalten, er muß raus aus Nußdorf?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert.: Der Stationskommandant soll das auch mehrfach beim Zappelwirt gesagt haben?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Zappelwirt Bennroith: Stationskommandant Saalfrank sagte: Kneißl habe mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, einen solchen Menschen darf man nicht reizen.

Vert.: Hat Saalfrank nicht auch gesagt: Einen solchen Menschen darf man nicht in Nußdorf dulden?

Zeuge: Das habe ich nicht gehört.

Ein anderer Zeuge bestätigte jedoch die Frage des Verteidigers. Weitere Zeugen bekundeten: Kneißl habe sich große Mühe gegeben, Arbeit zu erhalten, er sei aber überall abgewiesen worden. Kneißl sei schließlich sehr traurig aus Nußdorf fortgegangen.

Schutzmann Schalt (München): Er sei bei der Gefangennahme des Kneißl in Geisenhofen gewesen. Die Beamten seien sämtlich erregt gewesen. Er selbst habe in der Erregung den Schatten seiner eigenen Waffe für die des Kneißl gehalten und deshalb geschossen. Er habe sich aber bald überzeugt, daß Kneißl keine Waffe hatte. Die Gendarmen waren so erregt, daß sie blindlings auf Kneißl einschlugen, so daß er (Zeuge) und noch einige andere Münchener Schutzleute ihn mit ihrem Körper schützen mußten. Er habe eine Anzahl heftiger Stöße von den Gendarmen erhalten.

Die Kriminalschutzleute. Kramer und Kleilein bestätigten diese Bekundung. Kleilein bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: „Die Schutzleut’ haben für Kneißl tüchtig Schläg’ kriegt.“ (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Wenn Kneißl der mutige Mann wäre, als welcher er geschildert wird, hätte er alsdann nicht mindestens sechs Beamte erschießen können?

Zeuge: Das hätte er allerdings können.

Kellnerin Maria Dietrich: Sie habe mit Kneißl sieben Jahre lang in Unterweikertshofen die Schule besucht. Kneißl sei keineswegs schlecht, sondern im Gegenteil sehr folgsam gewesen. Er sei aber sowohl vom Pfarrer als auch vom Lehrer, augenscheinlich aus Haß gegen die Familie, sehr schlecht behandelt worden. Die „Kneißl-Buben“ wurden vom Pfarrer und Lehrer stets „Pascolinis“ genannt.

Am fünften Verhandlungstage nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Dr. Farnbacher: Meine Herren Geschworenen! Seit langer Zeit hat ein Strafprozeß in Bayern kein so großes Interesse erweckt als dieser Prozeß Kneißl, und zwar einmal wegen der von Kneißl verübten Verbrechen und der Persönlichkeit des Angeklagten, andererseits aber auch, da es dem Kneißl gelungen war, sich, obwohl sich seine verbrecherische Tätigkeit auf ein verhältnismäßig kleines Gebiet beschränkte, monatelang der Ergreifung zu entziehen, und endlich wegen der Art der Gefangennahme des Kneißl. Ich habe nur wegen der schwersten Verbrechen Anklage erhoben. Ich hätte noch mindestens wegen 20 weiterer Verbrechen Anklage erheben können, ich sagte mir aber, bei so furchtbaren Verbrechen kommt es auf einen Diebstahl, eine Bedrohung, einen Jagdfrevel mehr nicht an. Ich wollte deshalb allen Ballast vermeiden. Aber auch die Persönlichkeit des Angeklagten ist nicht geeignet, Interesse zu erwecken. Man kann durchaus nicht sagen, Kneißl ist wohl ein kühner Räuber und Mörder, dessen Taten zu verdammen sind, aber letztere zeigen immerhin Mut und kühne Entschlossenheit. Nein, meine Herren. Kneißl war ein feiger, hinterlistiger Räuber und Meuchelmörder. Es wurden über die Taten des Angeklagten die absonderlichsten Ansichten geäußert. Es wurde einmal gesagt: Der Angeklagte habe nur aus Notwehr gehandelt, andererseits: Kneißl müsse ohne weiteres aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen werden. Uns darf die öffentliche Meinung in keiner Weise kümmern. Ihre Pflicht ist es, nur das zu prüfen, was Gegenstand der Hauptverhandlung war. Darin stimme ich der vielfach geäußerten Ansicht bei: Kneißl muß aus der menschlichen Gesellschaft ausgemerzt werden, 15 Jahre Zuchthaus wären für ihn keine entsprechende Strafe. Ich habe, nachdem ich die Akten aufs sorgfältigste studiert hatte, aus voller Überzeugung die Anklage wegen Mordes erhoben. Und ich kann sagen, die Hauptverhandlung hat mich in dieser meiner Überzeugung nur noch bestärkt. Der Staatsanwalt beleuchtete hierauf das Vorleben des Angeklagten sowie die von diesem begangenen Straftaten und fuhr alsdann fort: Ich komme nun zu der Hauptanklage wegen der zwei Mordtaten in Irchenbrunn. So traurig dies Vorkommnis auch ist, so freue ich mich doch, daß ich Veranlassung hatte, die Anklage wegen Mordes zu erheben. Daß Kneißl mit vollem Vorsatz und Überlegung die beiden Gendarmen niedergeschossen hat, kann keinem Zweifel unterliegen. Abgesehen davon, daß Kneißl vielfach geäußert hat: Wenn es mir wieder so geht, wie in der Schachermühle, dann schieße ich besser. Es kommt ferner hinzu, daß der Angeklagte mehrfach geäußert hat: Sobald ich einen Gendarmen treffe, schieße ich ihn ohne weiteres nieder. Daß der Angeklagte nicht blindlings, sondern mit vollem Vorbedacht auf die Gendarmen geschossen hat, geht aus dem Umstande hervor, daß er nicht die Bauernburschen, die ihm ebenso nahe standen wie die beiden Gendarmen, sondern letztere, die er durch die Uniform leicht erkennen konnte, traf. Und als der erste Gendarm niedergeschossen war, da lud er sofort sein Gewehr von neuem und versetzte auch dem zweiten Gendarmen einen tödlichen Schuß ins Bein. Damit hatte aber dieser Mordgeselle nicht genug. Er legte noch einmal auf den Gendarmen Scheidler an. Nur durch die Äußerung der Flecklbäuerin: „Schieß’ nicht weiter, der hat bereits genug“ hat er von seinem Vorhaben Abstand genommen. Und was tat er, als die beiden Gendarmen am Boden lagen und sich in ihrem Blute wälzten? Er versetzte dem Stationskommandanten ten Brandmeier einen Fußtritt mit den Worten: „Du bist gut hin.“ Der Hahn des Gewehres des Brandmeier stand auf Ruh. Dieser hatte also gar nicht auf ihn angelegt. Ich halte es aber auch nicht für zweifelhaft, daß der Angeklagte Rieger dem Kneißl bei diesen Mordtaten Hilfe geleistet hat. Hätte Rieger den Kneißl den Gendarmen ausliefern wollen, dann würde er die Haustür nicht so fest verschlossen und auch nicht so lange mit der Öffnung gezögert haben, bis es dem Kneißl gelungen war, einen sicheren Versteck zu finden, von dem aus es ihm am besten möglich war, die Gendarmen zu erschießen. Kheißl konnte ohne Rieger diesen Versteck nicht finden. Es kommt hinzu, daß Rieger auf die Gendarmen und speziell auf Brandmeier einen großen Haß hatte und ferner, daß, wenn Kneißl gewußt hätte, Rieger habe ihn den Gendarmen verraten wollen, er auch ohne weiteres den Rieger erschossen hätte. Entweder hätte Kneißl den Rieger, wenn er ihn verraten hätte, erschossen, oder das Haus Riegers wäre durch die Hand Kneißls in Flammen aufgegangen. Endlich ist das Geständnis des Kneißl nach seiner Verhaftung in Erwägung zu ziehen, das er nicht einmal, sondern mehrfach abgegeben hat. Kneißl fühlte sein nahes Ende. Deshalb sagte er die Wahrheit. Als er wieder genas, sagte er sich: dies Geständnis muß ich widerrufen. Wenn ich zugebe, der ganze Vorgang in Irchenbrunn war abgekartet, kartet, dann kostet es den Kopf. Kneißl widerruft sein Geständnis, nicht um einen anderen, sondern um sich zu entlasten. Der Herr Verteidiger des Kneißl sagte: Die Gendarmen haben unvorsichtig gehandelt, daß sie so ungestüm ins Haus drängten. Ich habe die Überzeugung, dieser Vorwurf wird die Grabesruhe der Gendarmen nicht stören. Wenn die Gendarmen nicht so ungestüm ins Haus gedrungen wären, dann würde das Ergebnis zweifellos dasselbe gewesen sein. Es ist die Frage aufgeworfen worden, weshalb Rieger nicht der Anstiftung zum Morde angeklagt ist. Bekanntlich wird der Anstifter gleich dem Täter bestraft. Ich habe aber die Anklage gegen Rieger nur wegen Beihilfe erhoben, weil ich der Überzeugung bin, ein Kneißl bedarf keiner Anstiftung, wenn es sich darum handelt, Gendarmen niederzuschießen. Einem Kneißl brauchte man bloß Gelegenheit zu geben, die Gendarmen zu erschießen, es bedurfte nicht erst, ihn zu einem solchen Entschlusse zu bestimmen, er hatte einen solchen Entschluß längst gefaßt. Im übrigen haben die Ärzte, selbst eine Autorität wie Herr Dr. Gutten, bekundet: Kneißl sei, als er das Geständnis machte: „Der Flecklbauer sei an allem schuld“ bei vollem Bewußtsein gewesen. Der Herr Verteidiger des Kneißl stellte an Herrn Dr. Gutten die Frage: ob Kneißl eine 15jährige Zuchthausstrafe aushalten würde. Dieser Umstand darf ebensowenig für Ihren Wahrspruch maßgebend sein, als wenn ich sage: Ich würde es für ein Unglück halten, wenn ein Mensch wie Kneißl nach 15 Jahren wieder herauskäme. Denn daß der Angeklagte alsdann Arbeit bekäme, ist nicht anzunehmen. Es würde dem Kneißl nichts weiter übrig bleiben, als sein räuberisches Handwerk von neuem aufzunehmen. Der Staatsanwalt schilderte im weiteren die verschiedenen Überfälle. Ich habe keinen Zweifel, so fuhr der Staatsanwalt fort, daß Kneißl auch den Überfall auf Dannhofer unternommen hat. Ich ersuche Sie, meine Herren Geschworenen, die Schuldfragen gegen beide Angeklagte in vollem Umfange zu bejahen und alle Unterfragen zu verneinen. Tragen Sie durch Ihren Wahrspruch dazu bei, daß ein solcher Mordbube für immer für die menschliche Gesellschaft unschädlich gemacht werde. Sie geben damit der hiesigen ländlichen Bevölkerung ihren Frieden wieder.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz (München) (für Kneißl): Meine Herren Geschworenen! Ich gebe ohne weiteres zu, der Überfall bei Scheurer war eine ganz gemeine Tat. Ebenso gemein war der Überfall auf Mooseder. Es ist eine furchtbare Gemeinheit, solch alte Leute wie die Moosederschen Eheleute zu berauben, auch wenn man in Not ist. Ich werde deshalb auch nicht auf mildernde Umstände plädieren. Dagegen halte ich den Angeklagten nicht für schuldig, daß er den Vorsatz hatte, in Oberschweinbach die Bauernburschen zu erschießen. Alle Umstände sprechen dafür, daß Kneißl nur deshalb geschossen hat, um die Leute von sich abzuwehren und sich der Verhaftung zu entziehen. Ebensowenig hat sich Kneißl in Paar der vorsätzlichen Tötung schuldig gemacht. Ich gehe nun zur Hauptanklage, dem traurigen Vorgang in Irchenbrunn über. Die Anklage wegen Mordes steht und fällt mit der Anklage gegen Rieger. Ist Rieger schuldig, dann hat er Kneißl zur Tat angestiftet, darüber helfen alle Künsteleien nicht hinweg. Allein der Herr Staatsanwalt hat die Anklage wegen Anstiftung gegen Rieger nicht erhoben, weil alsdann Rieger zum Tode verurteilt werden müßte und weil er sich sagte: Für ein solches Urteil ist kein Geschworener zu haben. Rieger soll sich der Beihilfe schuldig gemacht haben, weil er die Haustür verschlossen hatte. Einmal verlangte Kneißl, daß die Tür verschlossen werde. Hätte Rieger dies nicht getan, dann würde Kneißl sofort gesehen haben, daß er verraten war. Er hätte alsdann Rieger niedergeschossen und wäre davongelaufen. Es wird ferner gesagt: Rieger habe ihm den besten Platz im Hause angewiesen. Aber die Küche war nicht der beste, sondern der schlechteste Platz im Hause. Aus der hinteren Kammer konnte Kneißl nach hinten entschlüpfen, aus der Küche konnte er dagegen nicht entkommen. Es wird gesagt: Rieger war ein geschworener Feind des Brandmeier. Aber nicht mit einem Wort ist behauptet worden, daß Rieger auch ein Feind des Scheidler war. Und was tat Rieger, als er den Scheidler niederstürzen sah? Er hob ihn auf, trug ihn ins Zimmer, reichte ihm Tropfen und gab ihm Milch zu trinken, so daß Scheidler noch auf dem Sterbebette sagte: Rieger hat an mir wie ein Bruder gehandelt. So handelt der Mann, der dem Kneißl beim Mord Hilfe geleistet haben soll.

Es ist behauptet worden: Kneißl habe die Leiche des Brandmeier mit dem Fuße gestoßen mit den Worten: „Du bist gut hin.“ Das ist eine Unwahrheit. Hätte dies Kneißl getan, dann hätte es Scheidler wissen müssen. Dieser hat aber bei seiner zweimaligen Vernehmung auf dem Sterbebett kein Wort davon erwähnt. Es ist doch nicht anzunehmen, daß ein so gottesfürchtiger Mann wie Scheidler, der auf seinem Sterbelager vereidet und vernommen wurde, sein Gewissen belastet und ein solch wichtiges Vorkommnis verschwiegen haben würde. Nun sagt der Herr Staatsanwalt: Der Angeklagte hat zugestanden: Der Flecklbauer ist an allem schuld, als er seinen Tod nahen fühlte. Das angebliche Geständnis des Kneißl ist menschlich erklärlich. Er wurde, nachdem er zwei Tage lang gehungert und gefroren hatte, in furchtbarster Weise verletzt. Obwohl er furchtbare Schmerzen gehabt hat, wurde er von den Gendarmen heftig geschlagen. Deshalb sagte er: Um wenigstens den Mißhandlungen handlungen zu entgehen, wälze ich alle Schuld auf Rieger. Und siehe da, das Mittel wirkte. Die Gendarmen nahmen von weiteren Mißhandlungen Abstand, und es wurde ihm sogar ein Labetrunk gereicht. Und dieses Geständnis hat er bei dem Untersuchungsrichter wiederholt. Aber niemals ist ein Untersuchungsrichter so angelogen worden, wie in diesem Falle von Kneißl. Rieger habe zu ihm gesagt: „Ich habe die Gendarmen holen lassen, es kommen alle drei.“ Wer der dritte sein sollte, konnten wir nicht erfahren. Rieger soll weiter gesagt haben: „Du schießt sie nieder, du tust es nicht umsonst, und wenn es mein halbes Häusel kostet, die haben mich genug angezeigt. Niemand weiß etwas davon, ich sage nichts davon.“ Gibt es einen größeren Blödsinn? Ist man der Meinung: Rieger wollte mit Kneißl zum Notar gehen und ihm eine Hypothek auf sein Häusel schreiben lassen? Denn bar Geld hatte Rieger nicht. Und was für ein Blödsinn ist die Behauptung, Rieger habe gesagt: Du schießt die drei Gendarmen nieder und niemand weiß etwas davon? Was soll das heißen? Wenn Kneißl in seiner Wohnung drei Gendarmen erschießt, dann erfährt niemand etwas davon? Und was sagte Kneißl weiter: Ich dachte mir, wenn die drei Gendarmen kommen, dann schieße ich halt auf den Boden und lauf davon. Meine Herren Geschworenen! Können Sie sich einen größeren Blödsinn denken? Kneißl hat aber, als er dies Geständnis machte, nicht seinen Tod nahen sehen, denn er ist wenige Stunden darauf von dem Pfarrer überrascht worden, als er seine Hand um eine junge schwarze Schwester geschlungen hatte. Aber er hat auch nicht die Wahrheit gesagt, denn er hat den Überfall auf Mooseder, auf Scheurer und die Schießerei in Paar bestritten. Aber Kneißl ist nicht ganz so schlecht, wie ihn der Herr Staatsanwalt geschildert hat. Als er nach einigen Tagen gefährlich erkrankte, so daß er glaubte, er werde sterben müssen, da widerrief er sein Geständnis. Da schlug ihm offenbar sein Gewissen. Er wollte nicht, daß Rieger seinetwegen unschuldig bestraft wird. Daß zwei Familienväter, pflichttreue Beamte in der Ausübung ihrer schweren Amtspflicht niedergeschossen wurden, daran hat wahrlich Rieger keine Schuld. Dessen Handlungsweise hätte einem gewiegten Kriminalbeamten alle Ehre gemacht. Ich kann aber leider den erschossenen Gendarmen den Vorwurf der Unvorsichtigkeit nicht ersparen. Denn wenn man einen solch gefährlichen Räuber wie Kneißl fangen will, dann muß man einen Operationsplan machen. Und Zeit genug haben die Gendarmen dazu gehabt. Sie hatten eine volle Stunde nach Irchenbrunn zu gehen. Aber auf diesem langen Wege soll, wie die Zeugen bekundeten, zwischen den zwei Gendarmen nicht ein Wort gewechselt worden sein, angeblich weil zwischen ihnen nicht das beste Einvernehmen herrschte. Als die Gendarmen mit den sechs jungen Bauernburschen in die Nähe des Riegerschen Hauses kamen, da sagte Brandmeier zu den jungen Leuten: Geht Ihr nur voran, wir kommen nach, und haben scharf geladen. Wenn er Euch was tut, dann schießen wir ihn nieder. Ja, den Gendarmen mußte es doch bekannt gewesen sein, daß Kneißl stets mit Schußwaffen versehen war. Es wird weiter gesagt: Wenn Rieger nicht mit Kneißl unter einer Decke gesteckt hätte, dann hätte er ihn festnehmen müssen. Was zwei bewaffneten Gendarmen und sechs kräftigen Bauernburschen nicht gelang, sollte dem Rieger allein gelingen. Es ist leider selbst in ausländischen Zeitungen behauptet worden: Die oberbayerische Landbevölkerung lehne sich gern gegen die Organe der Obrigkeit auf. Zur Ehre unserer Landbevölkerung muß ich das als eine gemeine Lüge bezeichnen. Unsere Landbevölkerung ist gottesfürchtig und königstreu bis auf die Knochen. Solche Leute lehnen sich aber nicht gegen die Organe der Obrigkeit auf. Auch Rieger hat wie ein braver Mann gehandelt. Es war ihm ernst damit, den Kneißl den Gendarmen zu überliefern; dies wäre auch gelungen, wenn die Gendarmen etwas vorsichtiger gewesen wären. Und zum Dank für seine brave Tat wurde er wegen Verdachts der Anstiftung oder der Beihilfe zum Morde verhaftet. Dies dürfte wohl die Hauptschuld gewesen sein, daß es Kneißl möglich war, sich so lange Zeit der Verhaftung zu entziehen: die Landbevölkerung befand sich in einer furchtbaren Zwickmühle. Auf der einen Seite die Furcht vor Kneißl, auf der anderen die Gefahr, wenn sie den Kneißl den Gendarmen in die Hände spielen würde, wegen Anstiftung verhaftet zu werden. Herr Journalist Fischer hat bekundet: Er habe sich selbst überzeugt, daß die Riegerschen Eheleute nach jenem Vorgange alles verrammelt hatten, weil sie die Rache des Kneißl fürchteten. Der Herr Staatsanwalt sagt: Kneißl brauchte nicht erst bestimmt zu werden, die Gendarmen zu erschießen, er hatte diesen Entschluß längst gefaßt. Aber es ist doch nachgewiesen worden, daß der Angeklagte nach unten geschossen hat. Hätte der Angeklagte die Gendarmen erschießen wollen, dann würde er sie in die Brust geschossen haben, denn daß ein Schuß ins Bein den Tod eines Menschen zur Folge hat, ist doch nur ein unglücklicher Zufall. Die Drohungen des Angeklagten sind doch nur Renommistereien. Der Angeklagte wollte eben der zweite bayerische Hiesel sein, von ihm sollte man ein noch viel dickeres Buch schreiben als von dem bayerischen Hiesel. Aber der Angeklagte war kein Held, sondern nur ein Maulheld. Als Held galt er nur deshalb, weil er sich so lange seiner Verhaftung zu entziehen wußte und das ganz besonders bei einigen verrückten Frauenzimmern, die den Anspruch erheben, heben, „Damen“ genannt zu werden. Diese hatten ihm ins Gefängnis die schwärmerischsten Liebesbriefe geschrieben. Aber glücklicherweise haben über den Angeklagten nicht hysterische Frauenzimmer, sondern ernsthafte Männer zu urteilen. Daß der Mord nicht geplant war, ist unwiderleglich durch das Zeugnis der Zeugin Danner erwiesen worden. Dieser hat Kneißl erzählt: Er habe, als die Gendarmen klopften, zu Rieger gesagt: Michel, wenn du mich verraten hast, dann schieße ich dich sofort mausetot.

Meine Herren! Sie werden bei Ihrem Urteilsspruch auch in Erwägung ziehen müssen, daß dem Angeklagten von Jugend auf angehaftet hat die Schande und der Fluch seiner Familie. Er ist ohne Erziehung aufgewachsen, er hat ein Familienleben nie kennengelernt, und bedauerlich ist es, daß gerade der Pfarrer ihn in der Schule die Schande seiner Familie hat fühlen lassen. Der Angeklagte hat sich, als er im Februar 1899 aus dem Gefängnis kam, redlich um Arbeit bemüht. Er hat aber leider durch ein begreifliches Vorurteil keine Arbeit gefunden und ist durch Schuld eines Stationskommandanten um seine Arbeit bei Christoph gekommen. Der Angeklagte ist durch Hunger und Not getrieben, auf die Räuberlaufbahn gedrängt worden. Er hat mit vielen Entbehrungen kämpfen müssen. Die Sonne des Glückes hat ihm niemals geschienen. Aber trotzdem hat er sich noch immer einen menschlichen Zug bewahrt. Er hat den Holzleitner abgehalten, dem Hütejungen die Sachen zu nehmen und aus den Briefen, die der Angeklagte aus dem Gefängnis an seine Mutter geschrieben hat, geht hervor, daß er ein guter Sohn war. Ein berühmter Dichter sagt: „Wie der Mensch zu seiner Mutter ist, so ist er.“ Der Angeklagte schreibt sogar in einem Briefe: „Laß doch den Alois ein Handwerk lernen, damit er sich einmal auf anständige Art ernähren kann.“ Ich habe die Überzeugung, Sie werden den Angeklagten nicht dem Schafott überliefern. Daß der Angeklagte die Gendarmen mit Vorsatz und Überlegung erschossen hat, können Sie nicht annehmen. Ich bitte Sie, zum mindesten die Frage der Überlegung zu verneinen.

Verteidiger Rechtsanwalt Prechtl (Augsburg) (für Rieger): Meine Herren Geschworenen! Gegen meinen Schutzbefohlenen, den Angeklagten Rieger, ist die schwere Anklage wegen Beihilfe zum Morde in zwei Fällen erhoben worden. Ehe Sie Ihren Wahrspruch auf Schuldig abgeben, ist es Ihre Pflicht, genau zu prüfen, ob dem Angeklagten die Schuld zweifellos bewiesen ist. Allein ein solcher Beweis ist in der langen Verhandlung nicht geführt worden. Es ist eine Anzahl Verdachtsmomente aufgeführt worden, die jedoch bei näherer Prüfung sich als vollständig haltlos erweisen. Der Verteidiger ging hierauf auf die Zeugenaussagen ein und suchte den Nachweis zu führen, daß dem Rieger ger es voller Ernst war, Kneißl durch die Gendarmen festnehmen zu lassen. Der Herr Staatsanwalt selbst sagte, so etwa fuhr der Verteidiger fort: „Kneißl ist ein vollständig lügenhafter Bursche, der alles ableugnet und nicht eher etwas zugesteht, bis ihm das Messer an der Kehle sitzt.“ Aber als es galt, Rieger zu belasten, da wurde Kneißl als glaubhaft bezeichnet. Es ist aber nicht angänglich, einen Menschen einmal für lügenhaft und das andere Mal als glaubwürdig zu halten. Es ist nachgewiesen, daß Rieger mit Kneißl seit 1892 nicht mehr zusammengekommen ist. Nun frage ich, wodurch sollte Rieger wissen, Kneißl habe sich vorgenommen, jeden Gendarmen zu erschießen? Der einfache Bauernbursche, Zeuge Stumpferl, gab die Lösung auf die Frage, weshalb Rieger nicht sofort die Haustüre öffnen wollte, als die Gendarmen erschienen. Er sagte, als er hierüber befragt wurde: Das hat Rieger getan, damit Kneißl nicht merkte, daß er ihn verraten habe. Rieger ist schon mehrfach vorbestraft, er mußte aber Kneißl aufnehmen, weil er sich vor seiner Rache fürchtete; er mußte auch sofort die Gendarmerie benachrichtigen lassen, weil er anderenfalls zu befürchten hatte, wegen Begünstigung verhaftet zu werden. Rieger, ein schwerfälliger, alter Mann, sollte den bewaffneten Kneißl, einen Menschen in voller Jugendkraft, festnehmen. Wenn das so leicht gewesen wäre, dann wäre dies den sechs Bauernburschen und den zwei Gendarmen gelungen, dann wäre es nicht nötig gewesen, eine so große Zahl Gendarmen nach Geisenhofen zu schicken, ja, dann wäre es nicht nötig gewesen, eine Belohnung von 1000 M. für die Festnahme des Kneißl auszusetzen. Und trotzdem konnte sich diese Belohnung niemand verdienen. Rieger wußte auch ganz genau, in welcher Zeit die Gendarmen kommen konnten. Und was geschah, als die Gendarmen ankamen? Rieger saß mit Kneißl ganz ruhig in seiner Wohnstube. Der Verteidiger suchte im weiteren den Nachweis zu führen, daß, selbst wenn die Geschworenen annehmen, Kneißl habe sich des Mordes schuldig gemacht, noch nicht die Notwendigkeit bestehe, auch Rieger schuldig zu sprechen. Der Verteidiger schloß mit der Bitte, seinen Schutzbefohlenen freizusprechen.

Nach noch einigen Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern bemerkte Kneißl: Ich versichere nochmals, daß ich die Gendarmen nicht erschießen wollte.

Rieger erklärte, daß er sich den Ausführungen seines Verteidigers anschließe.

Die Geschworenen bejahten die Schuldfragen gegen Kneißl wegen Mordes an Brandmeier, wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit tödlichem Ausgange an Scheidler, wegen der räuberischen Erpressung bei Mooseder, wegen schweren Raubes bei Scheurer und wegen vorsätzlicher Körperverletzung an Seitz. Alle anderen Schuldfragen, auch sämtliche Schuldfragen betreffs Rieger wurden von den Geschworenen verneint.

Der Gerichtshof verurteilte daraufhin Kneißl, dem Antrage des Staatsanwalts entsprechend, wegen Mordes zum Tode und wegen der anderen Straftaten zu 15 Jahren Zuchthaus sowie zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und erkannte außerdem auf Einziehung des Drillings. Rieger wurde freigesprochen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt. Der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Rebholz, bemerkte in der Urteilsbegründung: Der Gerichtshof hat bezüglich des Kneißl bei der Strafzumessung die große Gemeingefährlichkeit des Angeklagten und außerdem erwogen, daß sich Gendarm Scheidler in Ausübung seines schweren Berufes befunden habe. Der Angeklagte Kneißl ist abzuführen, Rieger sofort in Freiheit zu setzen.

Kneißl wurde bei Verkündung des Todesurteils leichenblaß. Die Mutter und Schwester Kneißls brachen in lautes Wehklagen aus. Frau Kneißl lärmte und schrie, als sie den Gerichtssaal verließ, so laut „Justizmörder“, daß sie festgenommen wurde.

Nachdem das Urteil gegen Kneißl rechtskräftig geworden, wurde er hingerichtet.

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Der Prozeß gegen den Bankier August Sternberg wegen Sittlichkeitsverbrechen

Das sexuelle Gebiet ist für den Psychologen noch in tiefes Dunkel gehüllt. Fast alltäglich haben sich die Strafgerichte mit Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit zu befassen. Und zwar sind es keineswegs bloß die niederen Kreise, die sich wegen sittlicher Verfehlungen zu verantworten haben. Die schlechten Wohnungsverhältnisse in den Großstädten und Industriezentren und auch die schlechten wirtschaftlichen Zustände tragen allerdings sehr viel zu Vermehrung der Sittenlosigkeit in der ärmeren Bevölkerung bei. Daß aber auch in den höchsten Kreisen arge sittliche Ausschreitungen vorkommen, dafür liefern die verschiedenen Sensationsprozesse der Gegenwart und Jüngstvergangenheit einen unwiderleglichen Beweis. Blutschande und sexueller Verkehr mit Tieren kommen allerdings in gebildeten Kreisen kaum vor, im übrigen begegnet man sittlichen Verfehlungen mehr oder weniger in allen Gesellschaftskreisen. Ungemein bedauerlich ist es, daß Sittlichkeitsverfehlungen der guten Gesellschaft, entsprechend dem Dichterwort: „Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären“ vielfach Erpressungen und andere re Verbrechen im Gefolge haben. Vor welch sittlichem Abgrunde wir in diesem fortgeschrittenen Jahrhundert stehen, dafür lieferte der am Ausgange des Jahres 1900 in der deutschen Reichshauptstadt stattgefundene Prozeß wider den Bankier August Sternberg einen geradezu schreckenerregenden Beleg. Und, um es von vornherein zu sagen, weniger die sittlichen Verfehlungen des Angeklagten, so sehr man sie auch vom Standpunkte der Moral verurteilen mag, ließen in diesen Abgrund blicken, sondern ganz besonders die Korruption, die dieser Prozeß zur Folge hatte. August Sternberg, damals wohl etwa 45 Jahre alt, spielte in Berliner Finanzkreisen keine unbedeutende Rolle. Er hatte es in verhältnismäßig sehr jungen Jahren von einem mittellosen Bankangestellten zu einem sehr vermögenden Bankier gebracht. Als er im Oktober 1897 wegen Verletzung des Aktiengesetzes angeklagt war, wurde rechnerisch vor Gericht durch Sachverständige festgestellt, daß er ein Vermögen von 18 Millionen Mark besitzt. Sternberg, persönlich ein sehr liebenswürdiger, schöner Mann mit blondem Haupthaar und kurz geschnittenem Vollbart, war mit der Tochter eines Oberst vermählt. Er war an einer Reihe von guten industriellen Unternehmungen, Berg-und Eisenwerken, Kleinbahnen und Straßenbahnen in hervorragender Weise beteiligt. Er hatte u.a. die Dampfbahn, die die Residenzstadt Kassel mit Wilhelmshöhe helmshöhe verbindet und viele andere industrielle Unternehmungen ins Leben gerufen; er hatte alle Anwartschaft, ein deutscher Harriman oder Vanderbilt zu werden. Allein ein griechischer Philosoph sagte einmal: „Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen.“ Am 26. Januar 1900 durcheilte die Welt die Kunde, August Sternberg ist wegen Sittlichkeitsverfehlungen verhaftet. Der große Finanzmann mußte seine feenhaft schöne Villa mit einer kleinen düsteren Zelle des Moabiter Untersuchungsgefängnisses vertauschen. Er wurde beschuldigt, in der in der Alexandrinenstraße 1b belegenen Wohnung der Masseuse Margaretha Fischer mit Mädchen unter 14 Jahren unzüchtigen Verkehr unterhalten zu haben. Die Fischer soll durch Zeitungsinserate junge, hübsche Mädchen als Modelle für einen Maler gesucht haben. Auf Grund dieser Inserate meldeten sich zahlreiche hübsche Mädchen in noch sehr jugendlichem Alter. Die Fischer soll diese Mädchen Herrn Sternberg und anderen Herren als Malermodelle zugeführt haben. Sternberg wurde den Mädchen als Maler aus Frankfurt a.d.O. bezeichnet. In der Fischerschen Wohnung verkehrte ein bildhübsches 17jähriges Mädchen, namens Auta Wender. Diese soll, trotz ihrer geradezu auffallenden Schönheit, nicht das Wohlgefallen des Herrn Sternberg erregt haben, sie soll ihm zu – alt gewesen sein. Fräulein Wender wußte sich aber trotzdem dem nützlich zu machen. Ein Hausbewohner bekundete als Zeuge: Sobald Sternberg die Fischersche Wohnung betreten hatte, begab sich die Wender auf die Straße und kehrte nach kurzer Zeit mit einem, bisweilen auch mehreren Mädchen in jugendlichstem Alter zurück. Im April 1900 hatte sich Sternberg vor der neunten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen mit drei minderjährigen Mädchen zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Weinmann. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Romen, die Verteidigung führten Justizrat Dr. Sello und Rechtsanwalt Dr. Werthauer. Die Verhandlung fand unter vollem Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Auch die Presse war ausgeschlossen. Sternberg wurde in zwei Fällen freigesprochen, da die betreffenden Mädchen zur Zeit der Unzuchtsvornahme das vierzehnte Lebensjahr bereits überschritten hatten. Dagegen wurde er wegen unzüchtiger Handlungen, begangen mit der 13jährigen Frida Woyda, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Infolge eingelegter Revision hob der zweite Strafsenat des Reichsgerichts das Urteil, soweit Verurteilung erfolgt war, auf und wies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück. In der Zwischenzeit wurde ermittelt, daß sich Sternberg noch gegen zwei andere minderjährige Mädchen vergangen habe. Es wurde deshalb Anklage erhoben. Sternberg mußte daher nochmals Ende Oktober 1900 vor der neunten Strafkammer des Landgerichts Berlin I erscheinen. Der Gerichtshof war zumeist in anderer Weise als das erstemal zusammengesetzt. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Müller. Da der frühere Staatsanwalt Dr. Romen inzwischen als Geheimer Kriegsrat ins Kriegsministerium berufen war, wurde die Anklage vom Staatsanwalt Braut vertreten. Neben Sternberg mußten diesmal Bergwerksdirektor Paul Luppa, die 18 Jahre alte Auta Wender und die unverehelichte Kassiererin Anna Scheding auf der Anklagebank Platz nehmen. Luppa und Scheding waren beschuldigt, Schritte unternommen zu haben, um Sternberg der Bestrafung zu entziehen, die Wender, Sternberg Beihilfe geleistet zu haben. Die Verteidigung führten in diesem Prozeß Justizrat Dr. Sello, Rechtsanwalt Dr. Werthauer, Rechtsanwalt Dr. Hugo Heinemann, Rechtsanwalt Dr. Fuchs I, Rechtsanwalt Dr. Mendel und Justizrat Wronker. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit während der ganzen Dauer der Verhandlung ausgeschlossen, den Vertretern der Presse aber der Zutritt gestattet. Auch vielen anderen Leuten, Juristen, Ärzten, Schriftstellern und sonstigen distinguierten Persönlichkeiten wurde vom Vorsitzenden der Zutritt gestattet. Infolgedessen war sowohl der Innenraum als auch der Zuhörerraum und die Tribünen des großen, im alten Moabiter Gerichtsgebäude belegenen Schwurgerichtssaales trotz des Ausschlusses der Öffentlichkeit stets dicht gefüllt. Als Sachverständige wohnten Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer, Gerichtsarzt Professor Dr. Puppe (jetzt Gerichtsarzt in Königsberg i. Pr.), Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulenburg und Nervenarzt Sanitätsrat Dr. Albert Moll der Verhandlung bei. Die Verhandlung, die am 30. Oktober 1900 begann und nach 38 Verhandlungstagen am 21. Dezember endete, bot, wie bereits erwähnt, ein geradezu schauderhaftes Bild der Korruption. Kriminalschutzmann Stierstädter, dem von seiner vorgesetzten Behörde, insbesondere dem Chef der vierten Abteilung der Berliner Kriminalpolizei, Regierungsrat Dieterici, und dem früheren Staatsanwalt Dr. Romen das Zeugnis eines sehr pflichteifrigen und äußerst gewissenhaften Beamten gegeben wurde, hatte in dieser Strafsache eine ganz außergewöhnliche Tätigkeit an den Tag gelegt. Er hatte sich tage- und nächtelang gegenüber dem Hause Alexandrinenstraße 1b aufgestellt, um das Treiben in der Fischerschen Wohnung, in der noch mehrere andere Herren zu gleichem Zwecke wie Sternberg verkehrt haben sollen, zu beobachten. Er wurde aber auch beschuldigt, kleine Zeuginnen in unzulässiger Weise beeinflußt zu haben. Am zweiten Tage der Verhandlung wurde Kriminalschutzmann Stierstädter als Zeuge vernommen. Er bekundete u.a.: Kriminalkommissar Thiel, der vorübergehend früher einmal die Abteilung vertrat, in der ich arbeitete, hat viermal mit mir über die Sternbergsche Angelegenheit gesprochen. Zunächst lud er mich zu seinem Geburtstag ein und wir waren dann mehrere Male in besseren Restaurants zusammen. Er hat dabei immer gefragt, wie die Sternbergsche Sache eigentlich stehe. Da Kommissar Thiel mein Vorgesetzter war, habe ich ihm vieles darüber gesagt. Bei einer dieser Zusammenkünfte, als wir Rebhuhn aßen, hat mir Herr Thiel die Frage vorgelegt: Sagen Sie mal, sind Sie denn nicht auf andere Gedanken zu bringen? Ich fragte: Wieso? Darauf sagte Kommissar Thiel: Man muß doch ein menschliches Gefühl haben. Sehen Sie, Sternberg sitzt nun schon so lange. Denken Sie sich einmal, Sie erhalten 200000 M. und schwimmen nach dem Genfer See ab, was meinen Sie, ob Sie mich dann noch ansehen werden, wenn ich Sie dann besuche?

Vors.: Waren Sie denn damals nüchtern?

Zeuge: Ja.

Vors.: Was haben Sie Herrn Thiel geantwortet?

Zeuge: Ich sagte: Ja, wenn ich von Anfang an nicht meine Pflicht erfüllt hätte, dann könnte ich wohl ein reicher Mann sein. Stierstädter bemerkte ferner seinem Vorgesetzten: Das Sternbergsche Geld könne ihn nicht blenden. Er werde Tag und Nacht arbeiten, der Jude muß ins Zuchthaus.

Beiläufig bemerkt war Sternberg kein Jude, sondern rein germanischer Abstammung. Er entstammte einer alten Protestantenfamilie aus Frankfurt a.M. Allein der Umstand, daß er Sternberg hieß und 18 Millionen sein eigen nannte, war die Veranlassung, daß sich auf der einen Seite zahllose Menschen, Männer und Frauen der verschiedensten Gesellschaftsklassen dazu drängten, die Belastungszeugen zugunsten Sternbergs zu beeinflussen, in der Erwartung, von Sternberg eine hohe Belohnung zu erhalten. Andererseits hetzte eine gewisse Presse in ganz furchtbarer Weise gegen den „sittenlosen Juden“. Es wurden aber auch die ärgsten Verleumdungen gegen die Staatsanwaltschaft, den Gerichtshof, die Verteidiger, ja selbst gegen die Mitglieder des zweiten Strafsenats des Reichsgerichts erhoben. Es wurde tatsächlich die ungeheuerliche Behauptung ausgesprochen, alle Gerichtsbehörden, selbst Mitglieder des höchsten deutschen Gerichtshofes seien für Sternbergsches Geld nicht unzugänglich. Kriminalkommissar Thiel, der zunächst die Stierstädterschen Behauptungen eidlich in Abrede stellte, mußte schließlich zugeben, daß Stierstädter die volle Wahrheit gesagt, daß er (Thiel) einer Zeugenvernehmung in Sachen Sternberg im Zimmer des Kriminalkommissars v. Tresckow beigewohnt wohnt und außerdem Akten in dieser Sache eingesehen und auf Grund dieser Informationen den Generalbevollmächtigten des Sternberg, Bergwerksdirektor Luppa unterrichtet habe. Er habe in Gemeinschaft mit Luppa den Versuch unternommen, zugunsten Sternbergs Zeugen zu beeinflussen. Dafür habe er von Luppa 8000 M. erhalten.

Polizeidirektor v. Meerscheidt-Hüllessem mußte zeugeneidlich zugeben, daß er dem Kriminalschutzmann Stierstädter untersagt hatte, in Sachen Sternberg, ohne ausdrückliches Einverständnis seines Kommissars, Nachforschungen anzustellen, obwohl dem Stierstädter diese Nachforschungen vom Staatsanwalt Dr. Romen aufgetragen waren. Der Polizeidirektor mußte ferner zugeben, daß er in der Sternbergschen Villa freundschaftlich verkehrt und daß Sternberg ihm einmal auf seine auf Insel Rügen belegenen Villa eine Hypothek gegeben habe, die allerdings nach erfolgter Verhaftung Sternbergs sofort zur Löschung gebracht worden sei. Polizeidirektor v. Meerscheidt-Hüllessem mußte endlich zugeben, daß er sich, obwohl er nicht dazu befugt war, Sternberg nach dessen Verhaftung hatte vorführen lassen und daß er die Versetzung des Kriminalschutzmanns Stierstädter in das Kommissariat des Kriminalkommissars Thiel verfügt hatte. Aber auch der Kriminalschutzmann Stierstädter mußte zugeben, daß er mit zwei Frauen, die er wegen Kuppelei angezeigt, noch an demselben Tage sträflichen Umgang gehabt habe. Die amtliche Berliner Korrespondenz brachte auch sehr bald die Nachricht, daß Meerscheidt-Hüllessem, Thiel und Stierstädter infolge ihrer gerichtlichen Zeugenaussagen bis nach Erledigung des bereits gegen diese drei Beamten eingeleiteten Disziplinarverfahrens vom Dienst suspendiert seien.

Kriminalkommissar Thiel wurde nach einigen Tagen, und zwar des Nachts vom Kriminalpolizei-Inspektor Hoeft in seiner Wohnung verhaftet und nach einiger Zeit vom Schwurgericht des Landgerichts Berlin I wegen Verbrechens im Amte und wissentlichen Meineids zu drei Jahren Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und zur dauernden Unfähigkeit zur Bekleidung eines öffentlichen Amtes verurteilt. v. Meerscheidt-Hüllessem, der nach erfolgter Enthebung vom Dienst nervenkrank wurde, starb am 21. Dezember 1900, am Tage der Verurteilung Sternbergs, in seiner Wohnung, angeblich infolge eines plötzlichen Schlaganfalls. Es wurde jedoch allgemein der Vermutung Ausdruck gegeben, daß der Polizeidirektor durch Selbstmord geendet habe. Aber auch eine große Anzahl Privatpersonen wurden während der Verhandlung teils wegen Zeugenbeeinflussung, teils wegen Erpressung, teils auch wegen Beleidigung im Gerichtssaale verhaftet. Der Angeklagte Luppa, der sich bei Beginn der Verhandlung auf freiem Fuße befand, flüchtete eines Tages nach London. Die Angeklagte Wender wurde im Laufe der Verhandlung auf Antrag des Staatsanwalts verhaftet. Die fortgesetzte Hetze gegen die richterlichen Behörden veranlaßten den Chef der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I, Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel, am 24. Tage der Verhandlung am Tische der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und folgende Erklärung abzugeben:

Gegen den Artikel der Staatsbürger-Zeitung, der die gröbsten Verdächtigungen gegen die höchsten Richter, die Beamten der Staatsanwaltschaft und speziell gegen meine Person enthält, dessen Verfasser sich in der bekannten Art gegen die Gefahr, zur Rechenschaft gezogen zu werden, zu decken sucht, habe ich eine kurze Erklärung abzugeben.

Obschon nach der Meinung jedes Einsichtigen diese Verdächtigungen den Stempel der Lüge an der Stirn tragen und sie nur einem wahnsinnigen Hirn entsprungen sein können, halte ich es im Interesse der Beamten und Richter für geboten, vor dem Gerichtshof wie allen Anwesenden und vor jedem anständigen Menschen der Welt zu erklären, daß die Behauptungen, soweit sie mich und den früheren Staatsanwaltschaftsrat Dr. Romen betreffen, infame und nichtswürdige Lügen sind. Dem Artikel der Staatsbürger-Zeitung sind zwei anonyme Briefe mit gleichen Verdächtigungen dächtigungen voraufgegangen, von denen der erste, im August an den Staatsanwaltschaftsrat Dr. Romen gerichtete, leise Andeutungen darüber enthält, daß man bestrebt sei, ihm die Sache aus den Händen zu nehmen. Der zweite, vom 30. Oktober, ist an Herrn v. Tresckow gerichtet und enthält dieselben Behauptungen, und zwar mit Nennung der Namen der Damen, die sich Einwirkungen zugunsten Sternbergs erlaubt haben sollen. Wie immer an solchen elenden Verdächtigungen ein Körnchen ist, um das sich das andere kristallisiert, so ist es auch hier. Von den beiden in dem Artikel genannten Damen ist Frau v.G., deren Namen zu nennen ich jederzeit jedem Berechtigten gegenüber bereit bin, mir bekannt. Ich hätte gar keinen Anlaß, meine Privatbeziehungen, die keinen Menschen etwas angehen, hier zu berühren. Man möge mit allen Detektivs der Welt meinem Privatleben nachforschen, man wird nichts Anstößiges darin entdecken! Ich halte es aber für zweckmäßig, in diesem Falle mit der reinsten Offenheit vor das Publikum zu treten und infolgedessen erkläre ich: Frau v.G. ist mir seit 30 Jahren, seit der Zeit, als ich in Breslau Referendar war, bekannt, da unsere beiden Familien in demselben Hause wohnten und ihr Ehemann gleichfalls Referendar war. Der freundschaftliche Verkehr zwischen meinen Angehörigen und dieser Dame, deren Gatte schon in jungen Jahren als Regierungsrat in Düsseldorf gestorben ist, hat durch jahrelange örtliche Trennung zwar eine längere Unterbrechung erfahren, ist aber brieflich fortgesetzt und demnächst bei meiner Versetzung nach Berlin, wohin Frau v.G. vor einigen Jahren verzogen war, wieder aufgenommen worden. Frau v.G. gehört einer hochachtbaren Familie an, die in den allerbesten Gesellschaftskreisen verkehrt, und ihre Bekanntschaft habe ich mir stets zur Ehre gerechnet. Welche Beziehungen diese Dame zu anderen Personen hat, dafür trage ich natürlich keine Verantwortung. Frau v.G., die die Schwiegermutter eines Hauptmanns eines hiesigen Garde-Regiments ist hat mir gegenüber anerkannt, daß sie früher mit Frau Sternberg auf einem Bazar bekannt geworden ist und sie einmal besucht hat. Unumstößliche Tatsache ist es, daß Frau v.G. niemals weder direkt noch indirekt, weder verschleiert noch sonstwie auf mich zugunsten des Herrn Sternberg einzuwirken versucht hat. Sie würde dies auch nicht gewagt haben, denn wie sie mich kannte, würde sie gewußt haben, daß sie eine schroffe Zurückweisung erfahren würde. Der Name Sternberg ist meines Erinnerns von ihr in meiner Gegenwart nur einmal kurz nach der ersten Verurteilung Sternbergs genannt worden, indem Frau v.G. damals im engsten Familienkreise ihr Bedauern mit der ehrenwerten Ehegattin des Verurteilten ausdrückte. Eine Familie Platho, von der in dem Artikel der Staatsb.- Zeitung die Rede ist, ist mir persönlich und auch dem Namen nach völlig unbekannt. Ich habe meines Wissens auch niemals von einer solchen Dame irgend etwas gehört. Es würde banal sein, wollte ich nun noch näher darauf eingehen, daß ich es gewagt haben sollte, meine Ansichten über den Prozeß dem Reichsgericht aufzudrängen. Ich würde mit einem solchen Beginnen sofort die schroffste Zurückweisung erfahren haben und unweigerlich würde sofort das Disziplinarverfahren gegen mich eingeleitet worden sein. Unumstößliche Tatsache ist es, daß ich seit etwa 16 Jahren nicht in Leipzig war. Ich kenne keinen einzigen Richter des betr. Reichsgerichts-Senats, ich habe weder schriftlich noch mündlich ein Wort mit ihnen gewechselt. Die Gründe, weshalb das erste Urteil aufgehoben wurde, liegen klar zutage, sie beruhen auf formalen Verstößen, die das Reichsgericht für ausreichend erachtet hat, um das erste Urteil aufzuheben. Ob ich das gewünscht oder nicht gewünscht hätte, wäre dem Reichsgericht und dem hiesigen Landgericht furchtbar gleichgültig gewesen. Ich bin mit der Strafsache gegen August Sternberg nur in meiner Eigenschaft als Vorsteher der verfolgenden Staatsanwaltschaft, im Rahmen des mir zugewiesenen Pflichtenkreises, tätig gewesen und habe die strengste Nachprüfung und Offenbarung aller meiner Maßregeln und Anordnungen nicht im entferntesten zu scheuen.

Was Herrn Staatsanwaltschaftsrat Romen betrifft, so ist dieser auf Grund seiner eigenen Bewerbung, zu welcher die Justizverwaltung Stellung nicht zu nehmen hatte, auch nicht genommen hat, in das Kriegsministerium berufen worden, mit dem Prozeß Sternberg hat diese Berufung auch nicht den Schatten einer Beziehung. Daß Herr Dr. Romen nicht mehr diese schwierige und verwickelte Sache vertreten konnte, ist mir am meisten unlieb gewesen. Ich behaupte aber, daß an Stelle des Herrn Dr. Romen ein Mann getreten ist, der die Staatsanwaltschaft mit der größten Sachkenntnis, Objektivität und unerschütterlicher Energie vertreten hat und täglich vertritt. Es handelt sich also bei der Andeutung in dem Artikel um eine niederträchtige Verleumdung, die vollständig grundlos ist. Ich habe bisher den Stolz gehabt, in meiner langjährigen Wirksamkeit noch nicht in die Lage gekommen zu sein, für mich einen Strafantrag zu stellen. Da es sich hier aber darum handelt, daß meine Ehre und mein guter Name geschändet werden soll, so habe ich und mein höchster Vorgesetzter gegen die Urheber und Verbreiter der niederträchtigen Verleumdungen, soweit deren Ermittelung gelingt, den Strafantrag gestellt. Das Verfahren ist bereits anhängig. Die Hydra der Verleumdung werden wir zertreten und wenn ihr tausend Köpfe nachwachsen. Ihr Gift mögen sie verspritzen, spritzen, uns Richter und Beamte werden sie nicht treffen können!

Vert. Rechtsanwalt Dr. Fuchs I dankte dem Oberstaatsanwalt, daß er diese Verleumdungen als Ausgeburt eines wahnsinnigen Hirns bezeichnet habe. Die Verteidiger seien selbstverständlich überzeugt, daß alles in dem Artikel von Anfang bis zu Ende erlogen ist, aber prozessual sei dies nicht genügend. Es sei nötig, volles Licht in die Sache zu bringen und letztere als grobe ehrlose Verleumdung festzunageln. Deshalb beantrage er, den Oberstaatsanwalt Wachler sowie sämtliche sieben Mitglieder des Strafsenats des Reichsgerichts als Zeugen darüber zu laden, ob sie durch Anerbieten von Geld oder sonstige Versprechungen angegangen worden seien, auf den Prozeß Sternberg einzuwirken.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel erklärte diese Beweiserhebung für vollständig überflüssig. Oberstaatsanwalt Wachler stehe der ganzen Sternberg-Sache völlig fern.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Soweit der Artikel der Staatsbürger-Zeitung mich betrifft, ist er vollständig unrichtig. Was die Beziehungen des Fräulein Platho, des Herrn Luppa, des Herrn X. untereinander betrifft, so gehen sie mich nichts an und sind mir nicht bekannt. Bei mir ist X. nur einmal gewesen und abgewiesen worden. Ich schätze deutsche Richter und Beamte zu hoch, als daß der Gedanke, sie zu beeinflussen, je anders als absurd aufgefaßt werden kann. Staatsanwaltschaftsrat Dr. Romen ist, wenn auch temperamentvoll, so doch persönlich stets so human in dem Prozeß verfahren, daß sein Bleiben erwünschter als sein Gehen der Verteidigung erschien.

Eine Hauptzeugin war die dreizehnjährige Frida Woyda, ein hübsches, noch ganz unschuldsvoll aussehendes Mädchen. Sie wurde vom Vorsitzenden Landgerichtsdirektor Müller auf das allerernsteste und nachdrücklichste ermahnt, nur die reine Wahrheit zu sagen, niemandem zuliebe und niemandem zuleide. Das Mädchen machte seine Aussagen mit sehr leiser Stimme, so daß sich sämtliche Verteidiger und Sachverständige um es herum gruppierten.

Frida Woyda war am 1. Januar 1887 als die Tochter eines Zimmermanns geboren; sie hatte frühzeitig beide Eltern verloren und war zunächst zu ihrer Tante Frau Huth gekommen. Dort schien sie recht streng behandelt worden zu sein, denn es hatte ihr dort gar nicht gefallen. Dann war sie zu Margarethe Fischer nach der Atexandrinenstraße 1b gekommen, welche durch ein Inserat bekanntgemacht hatte, daß sie ein Kind zu sich nehmen wolle. Die Fischer war, wie Frida sagte, sehr nett zu ihr. Sie hatte dem Onkel Huth versprochen, daß Frida ganz umsonst aufgenommen, in eine gute Schule geschickt und dann etwas lernen sollte. Sie war aber nicht in eine solche Schule gekommen, sondern wurde tagsüber damit beschäftigt, abzuwaschen, kleine Gänge zu besorgen, Fleisch einzuholen u. dgl. Die Zeugin erzählte auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie eines Tages den Angeklagten Sternberg bei der Fischer im Zimmer getroffen habe. Sie sei hineingetänzelt gekommen, aber sofort wieder hinausgeschickt worden, weil Herr St. sagte, sie solle ihn nicht nervös machen, sondern sofort hinausgehen.

Vors.: Und hat dir Herr Sternberg nichts getan?

Zeugin: Nein, nichts!

Vors.: Aber du hast doch bei deiner Vernehmung das vorige Mal gerade das Gegenteil gesagt?

Zeugin: Das ist nicht wahr gewesen.

Vors.: Aber sage nur, wie bist du denn nur dazu gekommen, etwas Falsches zu sagen?

Zeugin: Herr Stierstädter hat soviel mir eingeredet, was gar nicht wahr war.

Vors.: Ist denn Herr Stierstädter mit dir in Verbindung getreten?

Zeugin: Er hat mich von der Schule abgeholt und mir immerzu gesagt, ich soll nur alles sagen, was bei der Fischer passiert ist.

Vors.: Und was hast du ihm darauf erwidert?

Zeugin: Ich habe ihm gesagt, er solle mich zufrieden lassen, ich weiß von gar nichts. Er sagte dann von anderen Leuten, die alles schon erzählt haben.

Vors.: Behauptest du, daß du irgendwie verwirrt gemacht worden bist?

Zeugin: Herr Stierstädter hat so viel gefragt, daß ich gar nicht darauf antworten konnte. Er hat immer gesagt: Du willst es bloß nicht sagen; du hast doch Unsittlichkeiten getrieben.

Vors.: Willst du behaupten, daß er dir erst alle Einzelheiten gesagt hat?

Zeugin: Ja.

Vors.: Aber Kind, du hast doch das erstemal alles bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt?

Zeugin: Das hat mir Stierstädter alles eingeredet.

Vors.: Aber das ist doch eigentlich ganz unglaublich; wie sollst du denn das alles behalten haben?

Zeugin: Als ich mit ihm in der Droschke nach der Polizei fuhr, hatte er ein kleines Buch in der Hand, und daraus hat er mir alles abgefragt.

Vors.: Also, du willst behaupten, daß du voriges Mal die Unwahrheit gesagt hast und jetzt die Wahrheit sprichst?

Zeugin: Ja.

Vors.: Sage einmal, ist auch von keiner Seite auf dich eingewirkt worden?

Zeugin: Nein, bloß Herr Stierstädter hat mir alles gesagt. Wenn ich ihm sagte: es ist nicht wahr, so sagte er: es ist doch wahr.

Die Zeugin wurde dann eingehend darüber vernommen, wie es bei ihrer Vernehmung auf dem Polizei-Präsidium zugegangen ist; ihre Schilderung stand in verschiedenen Punkten in Widerspruch mit der Darstellung des Kriminalkommissars v. Tresckow und des Schutzmanns Stierstädter. Sie behauptete namentlich, daß Herr v. Tresckow u.a. zu Stierstädter gesagt habe: Wir wollen die Sache lieber lassen, da wird doch nichts daraus. Außerdem wollte sie auch bei Herrn v. Tresckow gar keine selbständige Aussage gemacht haben, vielmehr habe ihr Stierstädter das, was sie sagen sollte, immer in den Mund gelegt.

Vors.: Sage mir nur, Frida, warum logst du denn im vorigen Termin?

Zeugin: Stierstädter hat mich öfter angeschnauzt und mit seinen unheimlichen Augen so angesehen, daß ich Angst vor ihm hatte.

Vors.: Du willst also wirklich dabei bleiben, daß alles unwahr ist, was du das vorige Mal gesagt hast?

Zeugin: Ja.

Vors.: Es ist noch immer nicht plausibel gemacht, wie du das vorige Mal dazu gekommen bist, zu lügen. Die Angst vor Herrn Stierstädter klingt doch zuwenig glaubhaft.

Zeugin: Er hat gesagt, ich brauche zum Termin gar keine Angst zu haben.

Vors.: Gerade dann brauchtest du doch nicht die Unwahrheit zu sagen.

Die Zeugin schwieg.

Der Vorsitzende stellte durch weiteres sehr eingehendes Befragen der Zeugin fest, daß das Mädchen seiner Schwester eines Tages gesagt habe, sie wolle ihr Gewissen nicht länger belasten, es wäre alles nicht wahr, und sie habe mit Herrn Sternberg nie etwas zu tun gehabt.

Vors.: Willst du das auch heute ganz bestimmt verneinen?

Zeugin: Ja.

Vors.: Obgleich ich dir immer wieder vorhalte, daß es ein schweres Unrecht ist, vor Gericht zu lügen?

Zeugin: Ich habe jetzt die Wahrheit gesagt.

Vors.: Du hast doch aber die belastenden Angaben schon vor der Hauptverhandlung vor dem Richter gemacht. Hast du denn das alles von dem einen Mal behalten, wie es dir Herr Stierstädter in der Droschke gesagt hat?

Zeugin: Er ist wiederholt bei uns gewesen und hat alles wiederholt.

Vors.: Ist dir nicht in der vorigen Verhandlung eindringlich vorgehalten worden, welches Unrecht du begehst, wenn du falsches Zeugnis ablegst?

Zeugin: Ja.

Vors.: Und trotzdem hast du etwas Falsches mit allen Einzelheiten erzählt?

Die Zeugin bleibt dabei, daß ihr Stierstädter alles eingeredet habe. Er habe nur die „schwereren Punkte“ angegeben und danach habe sie ihre Aussage gemacht.

Auf weitere Fragen des Vorsitzenden, ob Stierstädter sonst noch etwas gesagt habe, erzählte die Woyda u.a.: Sie habe jetzt öfter Kopfschmerzen gehabt, ihre Schwester habe dies Herrn Stierstädter erzählt, und da habe dieser gesagt, das komme alles von da her. Als sie vorübergehend im Waisenhause war, habe sie über das Essen daselbst geklagt, und da habe Stierstädter sofort gesagt, man habe sie gewiß vergiften wollen.

Vors.: Hast du nun wirklich die reine Wahrheit gesagt?

Zeugin: Ja.

Vors.: Deine Aussagen widersprechen aber doch in verschiedenen wesentlichen Punkten den Aussagen der Polizeibeamten über deine Vernehmung. Bist du etwa von irgendeiner Seite eingeschüchtert und beeinflußt worden!

Zeugin: Nein.

Vors.: Herr v. Tresckow, entsinnen Sie sich, ob die Frida Woyda in der vorigen Hauptverhandlung ebenso leise gesprochen hat wie heute?

Zeuge v. Tresckow: Die Zeugin ist heute absolut nicht wiederzuerkennen. Sie hat in der vorigen Verhandlung handlung zwar nicht mit erhobener, aber doch mit verständlicher Stimme ihre Aussagen gemacht.

Am folgenden Tage wurde Frida Woyda nochmals vorgerufen und vom Vorsitzenden wiederum eingehend vernommen. Sie blieb bei ihrer Darstellung, daß alles, was sie das vorige Mal bekundet habe, unwahr sei und daß sie nunmehr die reine Wahrheit gesagt habe. Der Vorsitzende gab sich die erdenklichste Mühe, aus dem Mädchen herauszubekommen, wie sie die ganz ungeheuerliche Tatsache erklären wolle, daß sie das vorige Mal angeblich so kolossal gelogen habe. Das Mädchen wurde vom Vorsitzenden eindringlichst und mit väterlichem Ernst, unter Hinweis auf die Religion und das schwere Unrecht, welches im falschen Zeugnis liege, zur Wahrheit ermahnt. Die Zeugin blieb aber dabei, daß sie das vorige Mal zumeist nur das gesagt, was ihr Stierstädter vorerzählt habe. Stierstädter habe, wie sie behauptet, ihr einmal auch gesagt: „Wenn du das nicht alles aussagst, dann kommt deine Schwester wegen Begünstigung heran.“

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Frida Woyda: Die Angeklagte Scheding hat mich nicht aufgefordert, etwas Unwahres zu sagen. Sie hat nur gesagt: ich solle nicht lügen, sondern die Wahrheit sagen. Es wäre nicht hübsch, wenn ich durch Lügen einen so großen Mann ins Gefängnis brächte. Wenn ich lüge, würden meine toten Eltern aus dem Grabe kommen und mich warnen. Der Vorsitzende hielt dem Mädchen vor, daß es selbst mit kleinen Jungen Dummheiten gemacht habe. Sie wollte sich nicht darauf besinnen können. Weitere Fragen des Vorsitzenden bezogen sich auf die Behauptung, daß die Woyda einmal einen Mann fälschlich beschuldigt habe. Sie meinte, sie habe damals nur die Wahrheit gesagt. Ferner fragte der Vorsitzende, ob etwa der mehrfach erwähnte Mann aus Frankfurt a.d.O. oder andere Männer sie unzüchtig berührt haben. Das Mädchen verneinte dies. Der Vorsitzende ging alsdann nochmals Satz für Satz der früheren Aussage des Mädchens durch, hielt ihr Punkt für Punkt vor und fragte sie immer wieder, wie sie zu solchen Bekundungen gekommen sei. Sie kam immer wieder zu der Schlußversicherung, daß sie durch den Schutzmann Stierstädter zu ihrer Aussage vorbereitet worden sei. Bei verschiedenen Punkten erklärte das Mädchen, daß es sich auf die Dinge nicht mehr erinnere.

Hierauf wurde Schutzmann Stierstädter mit dem Mädchen konfrontiert.

Vors.: Herr Stierstädter, Sie haben die Aussage des Mädchens gehört. Ihre eigenen Aussagen haben – auf mich wenigstens – einen günstigen Eindruck gemacht. Sie haben sogar aus eigenem Antriebe Tatsachen zugegeben, die gerade kein günstiges Licht auf Sie werfen. Ich hoffe, daß Sie sich streng an die Wahrheit halten werden. Ich frage Sie nun: Ist es wahr, was das Mädchen gesagt hat?

Zeuge: Nein, Herr Präsident. Es ist entschieden unwahr, daß ich in der Droschke auf das Kind eingewirkt habe. Der Wagen verursachte ein so starkes Geräusch, daß es garnicht möglich war, eine verständliche Unterhaltung zu führen.

Vors.: Haben Sie vielleicht in der Weise auf die Woyda eingewirkt, daß Sie ihr die Tatsachen vorerzählt und sie dann gefragt haben: „Kind, ist es so gewesen?“

Zeuge: Nein, so ist es sicher nicht gewesen. Ich bestreite auch, daß ich während der Droschkenfahrt ein Notizbuch zur Hand gehabt habe.

Vors.: Nun, Frida, dieser Herr hat einen Eid geleistet, er sagt dir ins Gesicht, daß du nicht die Wahrheit gesprochen hast. Willst du dich nicht entschließen, nunmehr die volle Wahrheit zu sagen?

Woyda: Ich bin bei der Wahrheit geblieben, ich habe zuletzt noch zu Herrn Stierstädter gesagt: „Belästigen Sie mich nicht mehr, ich weiß von nichts!“

Vors.: Herr Stierstädter, haben Sie vielleicht eingegriffen, als Herr v. Tresckow die Woyda vernahm?

Zeuge: Nein, ich bin bei der Vernehmung, gar nicht zugegen gewesen, und eine Einmischung würde Herr v. Tresckow sich auch nicht haben gefallen lassen.

Kriminalkommissar v. Tresckow, nochmals vorgerufen, erklärte, daß er nicht wisse, ob Stierstädter während der Vernehmung des Mädchens im Zimmer anwesend war. Jedenfalls wisse er bestimmt, daß er das Mädchen dringend zur Wahrheit ermahnt und ihr ernstlich ins Gewissen geredet habe, nicht durch eine Unwahrheit einen Menschen unglücklich zu machen.

Frida Woyda bestätigte dies, setzte aber sofort hinzu: Aber Herr Stierstädter saß gleich am Nebentisch.

v. Tresckow betonte, daß er im allgemeinen ein Protokoll selbständig abzufassen oder zu diktieren pflege, gab aber die Möglichkeit zu, daß Stierstädter in bescheidener Form diesen oder jenen Punkt noch angeregt habe. Dann sei aber jedenfalls das Kind von ihm selbst befragt worden und das Protokoll sei das Resultat seiner eigenen Befragung. Er halte es für absolut ausgeschlossen, daß Herr Stierstädter das Kind unter dem Banne seiner Augen gehalten und sie beeinflußt haben könnte.

Vors.: Frida Woyda, sieh doch mal Herrn Stierstädter an, der hat ja gar nicht so große Augen.

Die Zeugin wendete sich zu Stierstädter um, blieb aber bei ihrer Darstellung.

v. Tresckow: Frida, du weißt doch, daß ich ganz freundlich mit dir verhandelt habe, daß ich dich in keiner Weise grob behandelte und du mir alles erzählt hast, wonach du befragt wurdest. Ist das richtig?

Das Mädchen bejahte dies, erklärte aber wieder, daß Stierstädter dabei war. Letzterer widersprach den Angaben des Mädchens über die Vorgänge bei ihrer polizeilichen Vernehmung.

Die Verteidiger Justizrat Dr. Sello und Rechtsanwalt Dr. Werthauer suchten die Glaubwürdigkeit des Zeugen Stierstädter abzuschwächen. Justizrat Dr. Sello bemerkte: Es scheine auf den Gerichtshof einen besonders günstigen Eindruck gemacht zu haben, daß Stierstädter seine sittlichen Verfehlungen ohne Zwang ganz frei dem Gerichtshofe mitgeteilt habe. Dies sei aber durchaus nicht freiwillig gewesen, denn der Zeuge habe nach seiner eigenen Angabe „schon geahnt“, daß seitens der Verteidigung diese sittlichen Verfehlungen zur Sprache gebracht werden. Ferner fragte Justizrat Dr. Sello den Zeugen Stierstädter: Haben Sie einmal geäußert: Wenn ich purzele, dann purzeln noch zehn andere; ich werde mit einer Sache vorkommen, wegen deren sich der Justizrat Sello eine Kugel durch den Kopf schießen wird?

Stierstädter: Ich habe nur die Äußerung Thiels von dem Totschießen im Auge gehabt und vielleicht geäußert: die Sache wird Herrn Justizrat Dr. Sello als Verteidiger „schmeißen“.

Justizrat Dr. Sello wünschte von dem Zeugen Auskunft darüber, ob er an einer offenbaren „Falle“ beteiligt ligt gewesen sei, die ihm (Dr. Sello) eines Tages gestellt werden sollte. Es habe sich ein angeblicher Kriminalschutzmann Müller brieflich an ihn gewendet und versprochen, belastende Tatsachen gegen Stierstädter vorzubringen, es drohe aber dem Briefschreiber die Exmission und deshalb könne er nur mit der Sprache herausrücken, wenn er 500 M. erhalte. Man wollte ihn (Sello) damit offenbar in eine Falle locken.

Stierstädter erklärte, nichts hiervon zu wissen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Werthauer fragte, ob die Äußerung des Zeugen bezüglich des „Purzelns“ nicht dahin gegangen sei: Wenn ich purzele, dann purzeln noch einige Vorgesetzte mit, die Sternberg möglichst schonen wollen.

Stierstädter: Mir ist von Kollegen zu verstehen gegeben worden, daß ich Sternberg etwas schonen möchte.

Vors.: Welche Kollegen waren das?

Zeuge: Mein Kollege Rohrbach, der Ordonnanz des Direktors v. Meerscheidt-Hüllessem war, hat mir einmal vorgehalten, ich solle an meine Familie denken, vernünftig sein usw.

Vors.: Erzählen Sie das doch etwas näher.

Zeuge: Mein Kollege Rohrbach hat einmal in einem Gespräch, welches er in einem Bierlokal mit mir anknüpfte, die Rede auf Sternberg gebracht und dabei gesagt: Seien Sie nicht so scharf, denken Sie an Ihre Familie und Ihre Stellung, es wird Ihnen später von Nutzen sein.

Der Zeuge brachte noch einige Momente vor, aus denen er zu folgern schien, daß man in den Kreisen von Polizeibeamten Fühlung mit Sternberg oder mit der Verteidigung haben müsse. So habe ihm Rohrbach auch einmal gesagt: Denken Sie an das Schreiben der Briefe an Blümke. Woher habe er die Kenntnis gehabt, daß solche Briefe geschrieben waren?

Vors.: Dann läßt sich also die Sache vielleicht so erklären, daß Rohrbach Kenntnis erhalten hatte, daß Sie mit Frau Blümke korrespondieren und vielleicht aus diesem Grunde Sie aufgefordert hat, an Ihre Familie und Ihre Zukunft zu denken.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Haben Sie nicht, als Sternberg einmal sich über Sie beschwerte, gesagt: Jetzt werde ich Rache nehmen und ihm ordentlich etwas einbrocken, daß er nicht mehr herauskommt?

Zeuge: Nein, ich habe nur gesagt, wenn ich etwas gegen ihn feststelle, kommt er hinein.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde immer wieder die Frida Woyda gefragt, wie sie dazu gekommen sei, in der ersten Verhandlung den Angeklagten Sternberg mit so großer Entschiedenheit zu belasten und nunmehr zu sagen: Das sei alles nicht wahr. Der Vorsitzende bemühte sich, ohne zu ermüden, aus dem Mädchen herauszubekommen, weshalb sie fünf Monate nate lang vor Polizei und Gericht, vor ihrer Schwester usw. ihre früheren angeblichen Lügen aufrecht erhalten habe und nun mit einemmal ihr Gewissen erleichtern wolle. Das Mädchen erklärte: „sie sei von ganz allein darauf gekommen“, weil sie sah, daß Stierstädter immer wiederkam und ihr Fragen über Dinge vorlegte, die sie gar nicht wußte. Sie habe keine Ruhe gehabt, habe nicht einschlafen können und habe gedacht: wenn sie immer bei ihrer Aussage verbliebe und es wäre doch nicht wahr, dann würde sie der liebe Gott bestrafen!

Angekl. Sternberg: Das Verhalten der Frida Woyda und ihre Aussagen sind doch nicht so sehr unerklärlich. Ich nehme an, daß Herr Stierstädter in der Droschke dem Mädchen gesagt hat, nicht etwa: „Du mußt lügen“, wohl aber: „Sag’ es nur, wir wissen ja doch schon alles; wenn du es sagst, bist du ein gutes und artiges Kind“ u. dgl. Dann wird er dem Kinde im Laufe des Gesprächs gewiß noch manches gesagt und hinzugefügt haben: „Sag’s nur, es ist gewiß noch mehr vorgekommen“, und da ist es denn doch kein Wunder, daß bei dem Mädchen, das nach seinen ganzen Antezedentien solchen Gedanken zugänglich war und dem solche Gedanken in der Unterhaltung nahegelegt wurden, schließlich ohne Schwierigkeit die Aussage zustande kam.

Im weiteren Verlauf wurde der Vormund der Frida Woyda, der Rektor und die Lehrer, der Vorsitzende der ersten Verhandlung, Landgerichtsdirektor Weinmann, Frau Huth und Frau Schindler, bei denen das Mädchen in Pflege war, vernommen. Alle diese Zeugen gaben sich die erdenklichste Mühe, aus dem Mädchen herauszubekommen, weshalb sie jetzt das Gegenteil sage von dem, was sie früher mit vollster Bestimmtheit in allen Einzelheiten erzählt habe. Das Mädchen antwortete entweder gar nicht oder sagte: Ich weiß nicht; jetzt sage ich die Wahrheit, das vorige Mal habe ich gelogen, weil Herr Stierstädter mir gedroht hatte.

Es erschien ferner als Zeuge Kriminalschutzmann Rohrbach: Er sei Ordonnanz des Direktors v. Meerscheidt-Hüllessem und als solcher zumeist in dem Bureau anwesend, auch während die Beamten ihrem Chef Bericht erstatten. Es sei ihm auffallend gewesen, daß Stierstädter im Vorzimmer das Gespräch häufig auf den Prozeß Sternberg brachte und dabei ein mehr als gewöhnliches Interesse für den Ausgang an den Tag legte. Es war unter allen Kriminalbeamten bekannt, daß Stierstädter eine wichtige Rolle in dem Prozeß spielte und sich darauf etwas einbildete. Am Tage vor der Verhandlung habe Stierstädter triumphierend gesagt: „Na, morgen geht es los! Ich habe ihn jetzt, der Jude muß jetzt hinein!“ Er (Zeuge) habe Veranlassung genommen, St. zu ermahnen, daß er nicht gehässig und eigenmächtig gegen Sternberg vorgehen und nicht mehr aussagen solle, als er verantworten könne. Er möge an seine Familie denken und vorsichtig sein. Auf Befragen gab der Zeuge an, daß er auch zu Stierstädter gesagt habe, es könne für ihn von Nutzen sein, wenn er nicht allzu schroff gegen Sternberg vorgehe. Dies sei darauf zurückzuführen, daß der Direktor v. Hüllessem Bemerkungen gemacht habe, wonach Stierstädter zu eigenmächtig vorgehe. Er habe Stierstädter darauf vorgehalten, daß er bei einem etwaigen Abgange doch ein gutes Attest brauche. Ach was, habe Stierstädter geantwortet, ich brauche keinen Menschen und brauche auch kein Attest!

Im weiteren Verlauf erschien als Zeugin die 16jährige Hedwig Ehlert, ein hübsches, körperlich sehr entwickeltes Mädchen. Sie hatte im Kottbuser Gefängnis wegen Diebstahls in Strafhaft gesessen und befand sich zurzeit im Magdalenenstift. Als sie kaum 13 Jahre alt war, soll sie in der Passage, die die Behrenstraße mit der Straße Unter den Linden verbindet und in der Friedrichstraße auf „Männerfang“ ausgegangen und der Prostitution obgelegen haben. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei von Freundinnen darauf aufmerksam gemacht worden, daß sie bei der Fischer in der Alexandrinenstraße 1b viel Geld verdienen könne, dort wohne ein reicher Modellmaler, der Modelle brauche. Sie habe deshalb die Zahl der Mädchen, die bei der Fischer aus und eingingen, vermehrt. Als Kriminalkommissar v. Tresckow der Zeugin in Kottbus das Bild des Angeklagten Sternberg vorlegte, soll sie in ihm den Maler wiedererkannt haben. In der Verhandlung erklärte sie, Herrn Sternberg nicht als den Maler wiederzuerkennen. Sie mußte den Angeklagten recht genau betrachten, Sternberg mußte mit der Zeugin sprechen, die Zeugin blieb jedoch dabei, daß sie den Angeklagten nicht als den Maler wiedererkenne. Letzterer scheine ihr mehr Haare gehabt und auch einen anderen Dialekt gesprochen zu haben. Die Zeugin gab zu, in der vorigen Verhandlung gesagt zu haben, sie erkenne Sternberg wieder, sie wollte aber durch ein Kopfnicken ihrer früheren Gefängniskollegin, Zeugin Schnörwange, dazu bewogen sein. In Kottbus habe sie auch nur gesagt: Wenn die Schnörwange ihn erkennt, dann wird er es ja wohl sein. Sie erklärte ferner, daß sie mit demselben Maler auch bei einer Frau Töpfer in der Besselstraße verkehrt habe.

Die Angeklagte Wender bestritt auf Befragen, daß sie die Zeugin jemals bei der Fischer gesehen habe. Die Zeugin blieb jedoch dabei und beschrieb das Zimmer, wobei sie erwähnte, daß auch eine Staffelei darin gestanden habe. Auch das bestritt die Angekl. Wender. Die Zeugin beschrieb ferner einen großen Hund, eine Katze und viele Vögel, die in der Fischerschen schen Wohnung gewesen sein sollen. Die Angeklagte Wender betonte, daß niemals Vögel in der Wohnung gewesen seien und daß sie auch das Mädchen niemals dort gesehen habe. Die Zeugin erklärte, daß sie sich in der Zwischenzeit sehr verändert habe.

Auf Befragen des Staatsanwalts, ob sie von irgendeiner Seite beeinflußt worden sei, erklärte die Zeugin: Es haben sich mehrere Herren an sie herangedrängt und über die Sternberg-Sache mit ihr gesprochen. Besonders sei dies ein Mann gewesen, der sich Ebstein nannte und auch ein „Kapitän Wilson“. Ebstein habe ihr gesagt, daß er nach Amerika gehe, ob sie mitkommen wolle. Sie wäre auch mitgegangen, aber ihr Valer würde es verhindert haben. Auch andere Herren haben sich an sie herangemacht und ihr gesagt, sie solle die Wahrheit sagen, damit nicht ein Unschuldiger verurteilt werde. Sie hätten ihr ferner gesagt: sie würde diesmal vereidigt werden, und wenn sie beschwören würde, daß es Sternberg sei, dann würde sie ins Zuchthaus kommen. Sie habe von Ebstein 10 M., dann 20 M. und von den anderen Herren 15 M. erhalten. Sie habe auch Briefe erhalten, in welchen sie angewiesen wurde, was sie aussagen solle. Die Briefe habe sie nach ergangener Anweisung verbrannt.

Staatsanwalt Braut: Ich frage Sie noch einmal: Ist es nun wirklich wahr, was Sie heute behaupten, daß Sie Sternberg nicht wiedererkennen?

Die Zeugin schlug die Augen nieder und begann zu weinen.

Staatsanwalt: Na, heraus mit der Sprache!

Die Zeugin schwieg.

Staatsanwalt: Ich frage Sie noch einmal: Sie werden vor Gott dem Allmächtigen heute zu schwören haben! Gehen Sie doch in Ihr Gewissen hinein! Ist Sternberg der Mann gewesen?

Zeugin weinte.

Staatsanwalt: Na, Ehlert, besinnen Sie sich!

Zeugin: Ja, er ist es gewesen! (Große, allgemeine Bewegung.)

Angekl. Sternberg rief mit lebhafter Gebärde dazwischen: Das ist ja eine abgekartete Sache!

Der Staatsanwalt verbat sich derartige Äußerungen und der Vorsitzende untersagte derartige Ausbrüche der Empörung.

Vors.: Warum haben Sie vorhin ganz etwas anderes gesagt?

Zeugin: Es ist mir gedroht worden.

Vors.: Wer hat Ihnen gedroht?

Zeugin: Auf dem Korridor hat ein großer Herr mit dunklem Schnurrbart und Zylinder im Vorübergehen zu mir gesagt: Wenn du es sagst, dann kommst du nicht mehr lebendig heraus.

Auf Antrag des Staatsanwalts ordnete der Vorsitzende an, daß sämtliche Zeugen sofort in den Saal eintreten. Sämtliche Herren mußten den Hut aufsetzen, die Zeugin fand aber den Herrn, der sie bedrohte, nicht heraus.

Vors.: Sie wiederholen also im Hinblick auf den Eid, den Sie zu leisten haben werden: Jeder Irrtum ist ausgeschlossen, Sie haben Herrn Sternberg in Kottbus nach dem Bilde erkannt, Sie haben ihn in der vorigen Verhandlung erkannt und Sie erkennen ihn auch jetzt wieder?

Zeugin: Ja!

Die Zeugin bekundete des weiteren, daß ihr Ebstein u.a. auch gesagt habe: sie solle nur angeben, daß der betr. Mann einen anderen Dialekt gesprochen habe.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Heinemann erinnerte daran, daß die Zeugin in der vorigen Verhandlung auch eine Frau mit allerlei Dingen belastet habe, die sich als durchaus falsch herausgestellt haben.

Auf die Frage eines Beisitzers bestätigte die Zeugin, daß sie mit 15 Jahren schon einen Zuhälter hatte.

Vert. Justizrat Dr. Sello hielt der Zeugin vor, daß sie doch auch heute auf alle Fälle einmal die Unwahrheit gesagt habe und daß sie heute manche Einzelheiten angegeben, von denen sie in der vorigen Verhandlung kein Wort gesagt habe. Sie antwortete, daß sie nicht danach gefragt worden sei.

Justizrat Dr. Sello: Ich frage Sie nun auch unter Hinweis auf die Heiligkeit des Eides: Was ist nun wahr, was Sie zuerst oder was Sie zuletzt gesagt haben?

Zeugin: Was ich zuletzt gesagt habe.

Angeklagter Sternberg: Ich habe die Zeugin im ersten Termin zum ersten Male gesehen. Ich erkläre so feierlich wie möglich, daß ich das Mädchen vorher niemals gesehen habe. Ich hatte schon im vorigen Termin den Eindruck, daß durch eine Improvisation Frl. Wender unglaubwürdig gemacht werden sollte. Wie das Komplott zustande gekommen ist, vermag ich im Augenblick nicht zu übersehen, das wird sich aber hoffentlich noch ergeben. Jedenfalls spricht das Vorleben, die Vorstrafen und noch manches andere nicht für die Glaubwürdigkeit der Zeugin. Bezüglich des Vorlebens möchte ich beantragen, die Akten vorzulegen. Ich werde verschiedene Persönlichkeiten benennen, die über die Glaubwürdigkeit der Zeugin bekunden werden.

Die Zeugin wehrte sich gegen diese Äußerungen. Herr Ebstein habe ihr auch einmal gesagt, Stierstädter und v. Tresckow würden noch ins Zuchthaus gebracht werden.

Angeklagter Sternberg: Er habe die bestimmte Überzeugung, daß die Namen Wilson und Ebstein nicht zufällig durch das Mädchen in die Verhandlung hineingebracht worden seien, daß dies alles vielmehr nur Glieder einer wohlgeordneten Komplott-Kette seien. Auf eingehendes Befragen des Angeklagten erklärte die Zeugin, daß sie mit Stierstädter, außer bei Gelegenheit einer Vernehmung, nicht zusammengekommen sei. Ihren Vater kenne Stierstädter, sie wisse aber nicht, ob er in dessen Wohnung gewesen sei.

Angeklagter Sternberg: Es hat auf mich den Eindruck gemacht, daß hier ein weiteres Glied einer sehr geschickt und höchst gewandt konstruierten Abrede vorliegt. Das Mädchen ist nach meiner festen Überzeugung dahin instruiert worden, zuerst heute hier Nein zu sagen, dann durch den Hinweis auf den Eid sich bewegen zu lassen, zu weinen und zögernd mit der angeblichen Wahrheit herauszukommen. Auf Sie, meine Herren Richter, kann es natürlich nicht den Eindruck machen, wie auf mich, weil Sie nicht in meine Seele blicken können, der ich ganz genau weiß, daß die Aussage von A bis Z nicht wahr ist.

Vors.: Angeklagte Wender, Sie haben doch nun gehört, wie es dem Staatsanwalt gelungen ist, nach und nach die Zeugin Ehlert zur Wahrheit zu bringen, und wie diese mit einer gewissen elementaren Gewalt durchgedrungen ist. Was sagen Sie nun dazu?

Angekl. Wender: Ich bleibe dabei, daß ich das Mädchen nie bei der Fischer gesehen habe.

Staatsanwalt Braut: In der Darlegung des Angeklagten liegt doch eigentlich die schamlose Verdächtigung, daß ich die Zeugin zu ihrer Aussage „abgerichtet“ tet“ habe.

Angekl. Sternberg: Ich habe ja allerdings verschiedentlich den Eindruck gehabt, daß der Herr Staatsanwalt wiederholt Fragen auf Grund neuer Informationen stellte, die er in der Zwischenzeit aus polizeilichen Kreisen erhalten haben muß. Aber ich erkenne durchaus an, daß der Herr Staatsanwalt loyal vorgeht. Ich will zugestehen, daß, wenn ich Richter wäre, ich mich auch durch die Aussage der Zeugen vielleicht überzeugt halten würde, ich bitte aber nur, diese Sache etwas zu vertagen und das weitere Beweismaterial erst abzuwarten.

Staatsanwalt: Es bedarf keiner Erklärung des Angeklagten, ob ich loyal vorgehe oder nicht.

Die Zeugin Ehlert erzählte unter anderem noch, daß sie ihrem Vater sofort mitgeteilt habe, was die fremden Herren alles von ihr gewollt haben, ihr Vater habe sich dies auch aufgeschrieben. Außerdem sei ihr auch gesagt worden, man wolle die Sache so drehen, als ob sie nicht recht bei Verstande sei.

Angekl. Sternberg stellte durch eine Anzahl von Fragen fest, daß der Vater der Zeugin Gelegenheitsschreiber sei. Kriminalschutzmann Stierstädter verneinte die Frage, ob Ehlerts Vater etwa für die Polizei Schreibereien verrichte.

Auf Befragen eines Beisitzers erklärte die Zeugin Ehlert, daß sie im August 1884 geboren sei und im vorigen Jahre zum ersten Male mit Herrn Sternberg etwas zu tun gehabt habe.

Frida Woyda wurde nochmals vorgerufen und gefragt, was denn nun an ihrer Aussage wahr sei. Sie antwortete recht energisch: Was ich jetzt hier ausgesagt habe, ist die Wahrheit.

Vors.: Hat dir neuerdings jemand gedroht, daß du in die Zwangserziehung oder ins Waisenhaus kommen würdest?

Zeugin: Nein.

In weiteren Sitzungen wurde mitgeteilt, daß die Masseuse Margarete Fischer, die nach Newyork geflüchtet sei, bereit sei, sofort vor Gericht als Zeugin zu erscheinen unter folgenden Bedingungen: 1. freies Geleit; 2. Zahlung einer Summe von 5000 M.; 3. freie Fahrt zweiter Klasse und freie Verpflegung für sich und ihre Begleiterin Helene Fischer. Der Staatsanwalt bemerkte, daß er bereit sei, soweit dies innerhalb der gesetzlichen Grenzen gehe, die Hand dazu zu bieten, daß die Fischer hier in Berlin an Gerichtsstelle erscheine. Es werde sich fragen, ob es der preußische Staat, unter dessen Steckbrief die Maragarete Fischer stehe, erfüllen kann. Ganz unerfüllbar erscheine ihm die Zahlung von 5000 M. Es bestehe keine gesetzliche Möglichkeit, eine derartige Summe zu zahlen, denn in Frage könne bloß die Anwendung der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige kommen und wenn auch bei weiten Reisen in dieser Beziehung großes Entgegenkommen gezeigt werden könne, so sei doch die Zahlung einer derartigen festen Summe völlig ausgeschlossen. Dagegen sei es angängig, freie Her- und Rückfahrt II. Kajüte zu gewähren. Was die Forderung des freien Geleits anlange, so sei folgendes zu erwägen: Die öffentliche Klage gegen Margarete Fischer sei seines Wissens noch nicht erhoben, es sei nur gegen sie im Vorverfahren vom Amtsgericht I ein Haftbefehl erlassen worden. Nach seiner Meinung würde diese Strafkammer befugt sein, der Margarete Fischer freies Geleit zu gewähren. Die Staatsanwaltschaft würde eventuell in der Lage sein, ihrerseits den amtsrichterlichen Haftbefehl aufzuheben, diese Aufhebung würde aber für die Staatsanwaltschaft gleichbedeutend sein mit der Nichtverfolgung eines Verbrechens und deshalb würde er sich zu einer solchen Aufhebung nur für befugt halten, wenn die Strafkammer beschließt, daß, um das Herkommen der Zeugin zu ermöglichen, ein solcher Schritt unternommen werden solle.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Für Herrn Sternberg wird es keine große Sache sein, die 5000 M. selbst zu geben; er würde es aber jedenfalls nur dann tun, wenn es der Gerichtshof ausdrücklich für zulässig erklärt, damit nicht wieder der Verdacht einer Beeinflussung entsteht.

Vert. Rechtsanwalt Fuchs: Die Verteidigung, welche selbst die Ladung der Margarete Fischer beantragt hat, hat gegen die Vorschläge des Staatsanwalts nichts einzuwenden.

Justizrat Wronker bat, die Entscheidung darüber, ob Herr Sternberg die 5000 M. aus eigenen Mitteln hergeben soll, bis morgen zu vertagen, da alsdann der heute nicht anwesende Justizrat Dr. Sello wieder zur Stelle sein werde.

Staatsanwalt Braut: Prinzipiell scheine ihm nicht angängig, daß der Staat in einem solchen Strafverfahren ein derartiges Geschenk annimmt, es würden aus dieser Hergabe der Summe durch den Angeklagten auch neue Bedenken bezüglich der Glaubwürdigkeit der Zeugin sich ergeben.

Angekl. Sternberg: An den 5000 M. würde ihm an sich nichts gelegen sein, aber er habe doch auch die Vermutung, daß, wenn er die Summe hergebe, wieder der Verdacht entstände, daß die Fischer beeinflußt sein und nicht mehr als unbefangene Zeugin erachtet werden könnte. Gibt aber der Staatsanwalt die 5000 M., so würde sich die Fischer sagen: Das ist ja himmlisch, ich werde wegen eines Verbrechens steckbrieflich verfolgt, und sowie ich die Bereitschaft zur Reise erkläre, erhalte ich nicht nur freie Fahrt für mich und eine angebliche Gesellschafterin, sondern bekomme noch ein kleines Vermögen von 5000 M. sowie freies Geleit. Sie wird sich sagen, daß sie einem solchen Staatsanwalt sehr obligiert und dankbar sein muß, und daraus ergebe sich wieder die Gefahr, daß sie etwas aussagt, was sie nicht verantworten kann. Wenn ihr in so phänomenaler Weise entgegengekommen werde, müsse ihre Zeugenaussage bedenklich erscheinen.

Staatsanwalt: Der Angeklagte Sternberg hat hier soeben ein sehr feines Gefühl für die Einwirkung des Geldes auf Zeugen bekundet, das ist mir sehr interessant gewesen. Was ich gegen die Fischer auszusetzen habe, hat der Angeklagte Sternberg wiederholt. Auch ich glaube, sie ist auf alle Fälle eine so wenig intakte Zeugin, daß auf ihre Aussage kein großes Gewicht zu legen sein dürfte.

Angekl. Sternberg: Mir ist kein Fall bekannt, daß auf Zeugen mit Geld eingewirkt worden ist. Nur der Herr Staatsanwalt wittert in jeder Ermittelung, die von unserer Seite angestellt wird, eine Beeinflussung und hält schon jeden, der mit einem Detektiv spricht, für verdächtig.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof weist die Zumutung, einer als Zeugin vorgeladenen Person gewisse Bedingungen zu erfüllen, zurück, namentlich auch die Zumutung, ihr einen Betrag von 5000 M. zu zahlen oder mit dem Angeklagten Sternberg in irgendeine Erörterung örterung darüber zu treten, ob und in welcher Form dieser zur Hergabe der 5000 M. bereit sei. Der Gerichtshof erklärt sich ferner für unzuständig, die Gewährung freien Geleits zu beschließen, weil die Strafsache Fischer erst im Vorverfahren sich befindet, und eine Verbindung dieser Sache mit der Affäre Sternberg durch die Strafkammer nicht beschlossen werden kann. Der Gerichtshof gibt dem Staatsanwalt anheim, die Aufhebung des Haftbefehls durch das Amtsgericht herbeizuführen und ist bereit, diejenigen Gebühren anzuweisen, welche angemessen und gesetzlich sind; dazu sind auch die Gebühren für die Mitreise einer Gesellschafterin zu rechnen.

Im Verlauf der Verhandlung erschien als Zeugin Fräulein Helene Pfeffer. Der Zeugin, die damals 37 Jahre alt war, sah man die Spuren dereinstiger großer Schönheit an. Sie hatte kohlschwarze Augen und ein schneeweißes, klassisch-schönes, feingeformtes Gesicht. Sie gab an, sie sei mit siebzehn Jahren zu Sternberg als Wirtschafterin gekommen, als dieser noch unverheiratet war. Sie habe in intimem Verkehr mit Sternberg gestanden. Sternberg habe ihr nach einiger Zeit den Vorschlag gemacht, ein Pensionat für kleine Mädchen zu errichten, er werde sie alsdann oftmals besuchen. Darüber seien sie in Konflikt gekommen, und sie sei im Unfrieden von Sternberg geschieden. Sternberg habe mehrfach gesagt, er wolle für sie sorgen, gen, er habe es aber nicht getan. Von der ganzen Woyda-Sache habe sie keine Ahnung gehabt und könne darüber gar nichts sagen, auch stehe sie mit dem bei der Polizei eingegangenen anonymen Briefe in gar keiner Verbindung. Stierstädter sei eines Tages bei ihr erschienen und habe gesagt, daß er bezüglich der Sternberg-Sache recherchiere und aus einem Briefe gesehen habe, daß sie etwas wisse. Sie habe dies sofort verneint; Stierstädter meinte aber, sie wolle wohl bloß nichts sagen, worauf sie antwortete: Ich kann absolut nichts sagen, ich weiß absolut im Falle Woyda nichts, ich bin 17 oder 18 Jahre von Herrn Sternberg weg, habe keinen Verkehr mehr mit ihm gehabt und weiß nichts. Sie habe dann ferner gesagt, daß sie mit ihrer Aussage Herrn Sternberg weder nützen noch schaden könne, sie sei schwer krank und bitte, sie ganz aus dem Spiel zu lassen.

Vors.: Wie sind Sie nun auf die Polizei gekommen, und zwar gerade zu der Zeit, als Frida Woyda dort vernommen wurde?

Zeugin: Sie sei sehr erschreckt über die Mitteilungen des Herrn Stierstädter gewesen und befürchtete, daß, wenn die Angelegenheit in die Zeitungen komme, auch ihr Name damit verquickt werden würde. Deshalb sei sie auf das Polizeipräsidium gegangen. Auf dem Korridor habe sie Herrn Stierstädter gesprochen, und dieser habe gesagt, sie brauche nichts zu erzählen, das Kind sei schon ermittelt und werde gerade von Herrn v. Tresckow vernommen. Sie habe Herrn v. Tresckow bitten wollen, mit Rücksicht auf ihre schwere Krankheit und ihre bevorstehende Operation, sie aus der Sache herauszulassen.

Vors.: Zu welchem Zweck hat Ihnen Herr Stierstädter das Kind gezeigt?

Zeugin: Herr Stierstädter sagte, es sei erzählt worden, daß Fräulein Fischer ein Mädchen eingesperrt gehalten habe. Sie selbst habe das natürlich sofort bestritten, sie habe aber gewußt, daß Fräulein Fischer einmal eine kleine Pensionärin gehabt habe, und deshalb habe sie sich das Kind angesehen. Sie habe keine feindliche Gesinnung gegen Herrn Sternberg mehr, die Zeit habe das ausgeglichen, sie sei auch in keiner Weise von Sternberg oder anderen Personen zu falscher Aussage bestimmt worden, sondern habe die Wahrheit gesagt.

Angeklagter Sternberg behauptete: Die Zeugin sei von intensiver Feindschaft gegen ihn beseelt. Es sei vollständig unwahr, daß er ihr zugemutet habe, ein Pensionat für kleine Mädchen zu errichten. Als die Zeugin von ihm weggegangen war, habe sie sich in der Charlottenstraße ein Absteigequartier gemietet und sich der Straßenprostitution ergeben.

Die Zeugin sprang darauf in furchtbarer Erregung auf und bemerkte: Sternberg habe nach der Fournaçon-Sache çon-Sache sich mit ihr in Verbindung gesetzt, sie gefragt, warum sie denn so voll Gift und Galle gegen ihn sei und sie schließlich bedroht, daß er sie vernichten werde. Er habe sie unglücklich gemacht, sie ihrem Schicksal überlassen, nachdem sie von ihm gegangen. Er habe sie mit Füßen getreten und sie im Hunger und Elend gelassen. Das sei empörend. Die Zeugin, welche sich in immer größeren Groll hineinredete, behauptete schließlich, daß Sternberg sie zur Kuppelei habe treiben wollen, daß er von ihr verlangt habe, ihm kleine Mädchen von 12-14 Jahren zuzuführen, und daß er auch gegen eine kleine Verwandte Unanständigkeiten begangen habe bzw. habe begehen wollen. Sie habe sich geweigert, ihm dieses Verlangen zu erfüllen und auf das Zuchthaus verwiesen, worauf er gesagt habe: „Es schade ja nichts, wenn sie einmal ins Zuchthaus gehe.“ Einmal habe Sternberg zu ihr gesagt: Ich hätte gern eine Achtjährige, alte Weiber von 16 Jahren sind mir zuwider. Der Angeklagte zeigte hier durch heftige Gebärden an, daß diese ganze Erzählung Erfindung sei und gab dieser Ansicht auch erregten mündlichen Ausdruck, er wurde aber wiederholt von der sehr empörten Zeugin mit den Worten unterbrochen: „Es ist doch wahr! Wenn mich ein Millionär hier schließlich noch zur Kupplerin machen will, dann kenne ich keine Rücksicht mehr!“

Der Angeklagte Sternberg blieb dabei, daß an der ganzen Erzählung kein wahres Wort sei. Die Pfeffer sei seinerzeit freundschaftlich von ihm geschieden. Erst etwa zwei Jahre später habe sie begonnen, Erpresserbriefe an ihn zu richten. Es sei sogar so weit gegangen, daß die Zeugin ihn mit Vitriol und Mord bedroht habe.

Vors.: Woher wissen Sie, daß die Zeugin die Schreiberin war?

Angekl.: Die Briefe waren ja mit ihrem Namen unterschrieben.

Vors.: Haben Sie die Briefe?

Angekl.: Jawohl. Ich habe mir alle Behauptungen der Zeugin aufgeschrieben, um ihr durch Vorlegen der Briefe zu beweisen, daß sie die Unwahrheit spricht.

Vors.: Wo befinden sich die Briefe?

Angekl.: In meiner Wohnung, ich nehme an, in der Wilhelmstraße.

Staatsanw.: Dann beantrage ich, daß dort nach den Schriftstücken gesucht wird.

Angekl.: Ich bin gewiß damit einverstanden, aber ich muß bemerken, daß man wohl zwei Tage Zeit haben müßte, um die Briefe herauszufinden. Ich nehme an, daß sie sich in einer der vielen großen Kisten befinden, die auf dem Boden stehen.

Vors.: Haben Sie denn nicht, wie es Geschäftsleute zu tun pflegen, die Briefe nach den einzelnen Jahrgängen sortiert?

Angekl.: Die Privatbriefe nicht. Der Gerichtshof beschloß darauf, den Kriminalkommissar v. Tresckow mit einem Beamten sofort nach der Wilhelmstraße zu entsenden, um nach den Briefen zu suchen.

Der Angeklagte Sternberg fragte die Zeugin, ob er ihrer Mutter nicht noch längere Zeit nach der Trennung Unterstützungen habe zukommen lassen. Die Zeugin räumte dies ein, fügte aber hinzu, daß ihr selbst nach dem Bruch keinerlei Zuwendungen gemacht worden seien. Sternberg bemerkte, daß er gegen alle Leute eine offene Hand gehabt habe, und es sei entschieden unwahr, daß er die Zeugin mittellos von sich gestoßen habe. Zweifellos sei auf die Zeugin eingewirkt worden. Der Eifer des Kriminalbeamten Stierstädter müsse doch jedenfalls als ungewöhnlich bezeichnet werden. Er bleibe dabei, daß er das Opfer eines vollständigen Komplotts geworden sei, dessen Zentrum die Pfeffer und Klara Fischer seien, die untereinander und mit der Margarete Fischer in Neuyork in regem Briefwechsel standen.

Die Zeugin entgegnete: Sie habe der Margarete Fischer einmal geschrieben, sie solle doch in dieser entsetzlichen Sache die Wahrheit sagen; wenn Sternberg schuldig sei, dann müsse sie es sagen; sei die ganze Woyda-Sache aber nicht wahr, dann wäre es furchtbar, wenn Sternberg unschuldig verurteilt würde.

Angekl. Sternberg warf den Aussagen dieser Zeugin gin wiederholt in höchster Erregung das Wort „Lüge“ entgegen, so daß der Vorsitzende ihm das ernstlich untersagte. Er entschuldigte sich damit, daß er hier um seine ganze Existenz kämpfe und naturgemäß durch solche total unwahren Beschuldigungen erregt werde.

Staatsanwalt Braut teilte mit: Nach einem neuerdings eingetroffenen Telegramm des Generalkonsuls in Neuyork ist die Fischer bereit, zu kommen, wenn ihr 200 Dollars zur Einlösung ihrer Sachen gewährt werden und sie erfahre, wieviel Reise- und Versäumniskosten ihr vergütigt werden. Sie sei ganz mittellos.

Der Staatsanwalt beantragte, einen Gerichtsbeschluß zu fassen.

Der Gerichtshof blieb auf seinem Standpunkt stehen, daß er nur gesetzliche Gebühren gewähren könne. Er habe diese überschläglich auf höchstens 380 M. veranschlagt, wobei für die Fischer und ihre Begleiterin 14 Tage Herfahrt, 14 Tage Rückfahrt und ein zehntägiger Aufenthalt auf dem Festlande als Unterlage angenommen seien. Ferner würde ihr ein Freibillett von Neuyork nach Berlin und ein barer Vorschuß von 100 M. zu gewähren sein.

Im weiteren Verlauf erschien Geh. Kriegsgerichtsrat Dr. Romen, der in der ersten Verhandlung amtierender Staatsanwalt war, als Zeuge: Er sei sehr erstaunt gewesen, zu hören, daß Frida Woyda zu ihrer früheren Aussage gedrillt sein soll. In seiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Staatsanwalt habe er zu unterscheiden gelernt zwischen eingepaukten Aussagen und solchen, die auf wahren Erlebnissen beruhen. Die Möglichkeit, daß Stierstädter die Frida Woyda bearbeitet haben könnte, halte er für vollständig ausgeschlossen. Er erkläre unter seinem Eide, daß er kaum jemals einen Beamten von solcher Pflichttreue, Findigkeit und Energie kennengelernt habe, wie Herrn Stierstädter, dem es neben Herrn v. Tresckow in erster Reihe zu danken sei, daß die Übeltaten, um die es sich hier handle, aufgedeckt worden seien. Er (Zeuge) habe wiederholt Veranlassung genommen, dem Herrn Reg.-Rat Dieterici zu erklären, daß er geradezu erstaunt sei über die Pflichttreue dieses Beamten. In den sieben Monaten, in denen er mit Herrn Stierstädter zu tun gehabt habe, habe er sich den Mann sehr scharf angesehen und sich oft die Frage vorgelegt, ob bei ihm vielleicht eine Voreingenommenheit vorwalte. Er habe sich in seiner staatsanwaltlichen Tätigkeit immer das nobile officium der Staatsanwaltschaft vor Augen gehalten, auch alle für einen Angeklagten sprechenden Entlastungsmomente zu sammeln, und er würde es unbedingt für seine Pflicht gehalten haben, wenn ihm eine Voreingenommenheit oder Animosität bei Stierstädter bemerkbar gewesen wäre, diese nicht zu dulden und ihn ablösen zu lassen. Er habe sich sehr gewundert, daß ein solcher Beamter mit so anerkennenswerter Dienstfreude plötzlich kaltgestellt werden sollte. Er, Zeuge, habe schon längere Zeit Aussicht gehabt, bei der Staatsanwaltschaft nicht länger zu bleiben, und angesichts der Machinationen, die von seiten der Agenten und Freunde des Angeklagten – letzteren selbst könne er ja in dieser Beziehung nicht verdächtigen – habe er sich auf die Polizei stützen müssen und deshalb auch dem Stierstädter die Anweisung gegeben, die Frida zu beobachten. Er habe nun gelesen, daß Herrn Stierstädter von anderer Seite der Auftrag gegeben worden sei, diese Anweisung nicht auszuführen. Wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, würde er sofort zu dem Regierungsrat Dieterici oder dem Polizeipräsidenten gegangen sein und lebhafte Beschwerde erhoben haben, und zwar auf Grund des § 153 des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach er als Staatsanwalt zur Erteilung solcher Anweisung nicht der Genehmigung der Polizeibehörde bedarf. Für ihn falle die Frage, wann die Frida Woyda wohl zu einer anderen Meinung gekommen sein mag, mit dem Augenblick zusammen, da Herr Stierstädter lahmgelegt wurde, und nun die Agenten und Freunde Sternbergs freie Hand zu ihren Machinationen hatten.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Fuchs I: Der Herr Zeuge hat dem Zeugen Stierstädter das glänzendste Zeugnis gegeben. Würde er dabei bleiben, wenn er weiß, daß Stierstädter vormittags mit einer Person wegen Kuppelei amtlich verhandelte und abends sich an derselben Person und an einer anderen Frauensperson sittlich verging?

Zeuge: Er habe keine Kenntnis davon, daß Stierstädter aus Anlaß einer amtlichen Handlung sich vergessen habe. Er habe nur gelesen, daß Stierstädter mit der Hausmann geschlechtlich verkehrt habe. So sehr er es bedauere, daß ein so überaus pflichttreuer und findiger Beamter sich vergessen habe, so habe dies doch auf das, was vorher liegt, nicht den geringsten Einfluß. Er habe Herrn Stierstädter auf Herz und Nieren geprüft und sei sich immer bewußt gewesen, daß es Pflicht der Staatsanwaltschaft sei, neben den Belastungsmomenten auch die Entlastungsmomente zu sammeln. Damals habe er den Eindruck absolutester Zuverlässigkeit des Zeugen Stierstädter erhalten und dieser habe ihm viele Beweise erstaunlicher Findigkeit gegeben. Seine Ermittelungen hätten sich bis zum Tippelchen über dem i bewahrheitet. Wenn Stierstädter seinen eigenen Vorteil hätte wahrnehmen wollen, dann würde er sich auf die andere Seite geschlagen haben, und er sei der Überzeugung, daß sich die Legende von dem Schloß am Genfer See leicht zur Wahrheit hätte machen lassen.

Rechtsanwalt Dr. Fuchs: Würde der Herr Zeuge Herrn Stierstädter noch für „nicht voreingenommen“ erachten, wenn er hört, daß er nach der eidlichen Aussage eines Zeugen diesem gesagt hat: „Und wenn ich Tag und Nacht arbeiten soll – der Jude muß hinein“?

Zeuge: Ich weiß nicht, ob ein Zeuge dies eidlich bekundet hat.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Fuchs I: Da sich der Herr Zeuge auf seine fünfzehnjährige Erfahrung beruft, so frage ich: Sind Sie derselbe Staatsanwalt, der einmal gesagt hat: Die Eide der Sozialdemokraten sind Meineide? Der Vorsitzende beanstandete diese Frage, der Verteidiger ersuchte um einen Gerichtsbeschluß. Der Gerichtshof beschloß, die Frage nicht zuzulassen, da sie mit dieser Sache nichts zu tun habe und außerdem so gestellt sei, daß der Gerichtshof nicht prüfen könne, ob und inwieweit die Behauptung wahr sei.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Fuchs: Haben Sie einen tatsächlichen Anhalt dafür, daß die Agenten Frida Woyda beeinflußt haben?

Zeuge: Ja, ich erhielt von dem Zeugen Stierstädter Kenntnis, daß auf Blümkes eingewirkt worden sei durch die Hingabe eines Ringes usw.

Der Verteidiger verwies auf eine Verfügung des Staatsanwalts Romen, in der ausgedrückt worden, daß gegen Blümkes nicht das geringste Bedenken vorliege.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Werthauer erklärte der Zeuge, daß er bei der Beurteilung der Frage, wann wohl auf Frida Woyda eingewirkt sei, nach dem alten Satze gehe: „post hoc ergo propter hoc.“ Frida Woyda habe so lange ihre Beschuldigungen aufrecht erhalten, als sie von Stierstädter beobachtet wurde. Als Herr Stierstädter kaltgestellt wurde, kam plötzlich die Wendung.

Vert.: Wie kommt der Zeuge zu der Behauptung, daß Herr Stierstädter kaltgestellt worden ist?

Zeuge: Es steht doch die Tatsache fest, daß der Auftrag, meine Befehle nicht auszuführen, von einer Seite erfolgt ist, die nicht ganz unabhängig von Herrn Sternberg gewesen zu sein scheint.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Glaubt der Zeuge, daß die Fischer und die Wender weggebracht worden sind wegen der Zeitungsartikel oder wegen des Falles Woyda?

Zeuge: Aus welchen Gründen Sternberg die Fischer hat wegbringen lassen, weiß ich nicht, aber ich bin dem Angeklagten die Erklärung schuldig, daß damals der Fall Woyda aktenmäßig noch nicht existierte.

Auf weiteres Befragen des Verteidigers wurde festgestellt, daß in der vorigen Verhandlung ein taubstummer Zeuge behauptet hat: er sei einmal von der Frida Woyda ohne Grund verdächtigt, angezeigt und auf ihre Aussage auch verurteilt worden.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Heinemann gab der Zeuge zu, daß er in der ersten Verhandlung das Gutachten des Physikus Dr. Störmer scharf angegriffen habe; er betonte aber, er habe die volle Überzeugung, daß Dr. Störmer sein Gutachten nach bestem Wissen abgegeben habe.

Rechtsanwalt Dr. Heinemann: Der Herr Zeuge hat doch in dem ganzen Woyda-Fall nur einen einzigen Beeinflussungsversuch mitteilen können.

Zeuge: Er habe aus dem Detektiv-Direktor Schulze erst ganz allmählich und auf wiederholtes ernstes Eindringen herausholen können, daß er 6000 M. Honorar erhalten habe und ihm 50000 M. für den Fall eines günstigen Erfolges versprochen worden seien. Dies sei in den Annalen der Kechtspflege noch nicht vorgekommen, und er mußte annehmen, daß in unlauterer Weise gearbeitet werde. Er habe gerade in dieser Strafsache außerordentlich sorgfältig, penibel, aber auch energisch vorgehen zu müssen geglaubt, weil er, wie immer, so auch hier sich auf den Standpunkt stellte, Recht müsse Recht bleiben, ob es sich um einen Millionär oder um einen Mann im Arbeiterkittel handle. Er habe es für seine Aufgabe gehalten, alle Maßnahmen der Agenten Sternbergs zu durchkreuzen. Er gehe nicht so weit, zu behaupten, daß Herr Sternberg diese Maßnahmen der Agenten veranlaßt habe, er halte Herrn Sternberg dazu für viel zu schlau, jedenfalls haben ihm seine Freunde mit diesen Treibereien reien den schlechtesten Dienst erwiesen.

Vert. R.-A. Dr. Heinemann: In der vorigen Verhandlung ist nicht eine einzige Feststellung getroffen worden, daß Angestellte des Herrn Schulze Verdunkelungs- und Beeinflussungsversuche gemacht haben.

Geh. Rat Dr. Romen: Nach meiner Erinnerung ist nachgewiesen worden, daß einer Anzahl von Detektiven für Zeitversäumnisse, Erscheinen vor Gericht kleinere und größere Summen gezahlt worden sind.

Vert.: Können Sie einzelne Namen nennen?

Zeuge: Nein.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Ich stelle also fest, daß die Freundschaftsdienste, die oft in ungeschickter Weise sich für Sternberg bemerkbar gemacht haben, von dem Zeugen nicht direkt auf letzteren zurückgeführt werden. Sie können also kaum zu seiner Schuldüberführung verwertet werden.

Vors.: Die Gelder, die verwendet sind, rühren doch wohl unzweifelhaft aus Sternbergs Kasse?

Vert.: Selbst wenn dies der Fall wäre, würde es doch auf die Schuldfrage von gar keiner Bedeutung sein.

Angeklagter Sternberg betonte, daß er seit Aufrollen des Falles Woyda in strenger Isolierung sich befinde. Er bitte den Zeugen um Auskunft, ob irgendwelche Tatsachen festgestellt sind, die darauf hindeuten, daß er in irgendwelcher Verbindung mit seinen Freunden stehe.

Vors.: Auffällig ist doch der Zwischenfall bezüglich der „Post“ –Artikel. Es ist doch sonderbar, wie eine solche Ordre gegeben werden konnte.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Ist es denn festgestellt, daß eine solche Ordre gegeben worden ist?

Staatsanwalt: Darüber werden wir vielleicht in wenigen Tagen Auskunft erhalten.

Angekl. Sternberg: Ich habe mit den ganzen sogenannten Bestechungsversuchen bezüglich der „Post“ absolut nichts zu tun und habe keinerlei Anweisung gegeben.

Geh. Rat Dr. Romen erklärte noch, daß der Angeklagte ihm gegenüber sich immer höflich und ruhig bewegt habe.

Angekl. Sternberg: Auch mir ist der Herr Staatsanwaltschaftsrat immer in humaner Weise entgegengekommen. Wenn er aber sagt, er sei nicht voreingenommen gewesen, so ist es außer Zweifel, daß er wissentlich nicht voreingenommen war; ich behaupte aber, daß er unwissentlich voreingenommen war von Kopf bis zu Fuß, von Anfang bis zu Ende, daher ist es gekommen, daß der reiche Mann nicht mit demselben Maß gemessen wurde, wie der arme, sondern daß von Anfang an mit besonderer Schärfe gegen ihn vorgegangen und er schlechter gestellt wurde, wie der arme Mann. Ist dem Zeugen auch nur ein einziger Fall bekannt, in welchem die Agenten des Herrn Schulze oder dieser selbst irgendeinem Zeugen zugeredet haben, die Unwahrheit zu sagen?

Zeuge: Ich kann mich eines bestimmten Falles nicht erinnern.

Alsdann wurde Frida Woyda dem Geheimrat Dr. Romen gegenübergestellt. Dieser richtete in sehr nachdrücklicher Form eine Reihe von Fragen an das Mädchen, die darauf hinausliefen, ob es ihm ins Gesicht sagen wolle, daß es ihm früher auf alle seine väterlichen Ermahnungen die Unwahrheit gesagt habe. Das Mädchen blieb dabei, daß es früher die Unwahrheit gesagt habe. Auf die Frage: weshalb, verwies sie wieder auf Stierstädter.

Der Vorsitzende bemerkte alsdann: Ein weiteres Eindringen auf das Mädchen halte er für überflüssig und zwecklos.

Der folgende Zeuge war Justizrat Dr. Kleinholz, der in der ersten Verhandlung die Verteidigung mitgeführt hatte. Er bekundete: Ihm sei namentlich in Erinnerung, daß Frida Woyda behauptet habe, mit Gewalt zu dem unzüchtigen Akt bewogen worden zu sein. Er habe damals dem Mädchen nicht geglaubt, sondern direkt den Eindruck gehabt, als ob es stark gelogen habe. Er habe aus der ganzen Beweisaufnahme entnommen, daß das Mädchen eine eigentümliche und fruchtbringende Phantasie besitze und daß ein Kind, welches schon selbst unzüchtige Handlungen mit kleinen Knaben vorgenommen, in bezug auf seine Glaubwürdigkeit auf solchem Gebiete sehr ängstlich zu prüfen sei. Ihm sei es sehr eigentümlich erschienen, daß ein Kind, dem so etwas Schreckliches passiert sein soll, keinem Menschen etwas davon gesagt haben sollte, ja, daß ein solches Kind, dem bei Fischers mit „Gewalt“ böses Unrecht zugefügt sein sollte, bitten konnte, es doch dort zu lassen, da sie es dort sehr gut hätte. Auf Befragen des Vorsitzenden, wie er sich denn vorstelle, daß ein Kind sich alle von ihm bekundeten Einzelheiten ausdenken könne, erklärte Zeuge: er halte es wohl für denkbar, daß, wenn die Phantasie eines solchen geschlechtlich leicht erregbaren Kindes erregt worden sei, dieses weiter und weiter arbeitet und Dinge mit hineinnimmt, die es bei anderen Gelegenheiten gehört und gesehen habe. Daraus können schon solche Bilder entstehen, namentlich wenn ein solches Mädchen denkt, es werde nun zum Mittelpunkt einer solchen Tragödie gestempelt und damit interessant werden. Unglaublich habe es ihm auch geschienen, daß ein Mann wie Sternberg in Gegenwart anderer Personen, die ihn ja für alle Zukunft an der Strippe haben würden, unzüchtige Akte mit einem Kinde vornehmen würde. Ein Mädchen, welches für solche Akte selbst prädestiniert erscheine, habe ihm bei all den Seltsamkeiten, die in die Erscheinung traten, nicht glaubwürdig geschienen. Er habe das Kind für verstockt gehalten. In der ersten Verhandlung sei nicht festgestellt worden, daß unzulässige Beeinflussungen seitens der Sternbergschen Freunde stattgefunden haben, namentlich nicht, daß Herr Sternberg mit dem Kapitän Wilson zusammen agitiert habe. Die Verteidiger seien von der Unschuld Sternbergs überzeugt gewesen: Da eine Voruntersuchung im Interesse des Angeklagten nicht für empfehlenswert erachtet wurde, weil zuviel Zeit damit verloren ginge, habe die Verteidigung sich dafür entschieden, durch den Detektivdirektor Schulze Ermittelungen anstellen zu lassen. Diesem sei ausdrücklich gesagt worden, es dürfe bei diesen Ermittelungen nichts vorkommen, was gegen die Wahrheit verstoße oder auf unlauteren Beeinflussungen beruhe. Was die in Aussicht gestellte Belohnung von 50000 M. anlange, so erinnere er sich, daß die Sache sich etwa so abgespielt habe: Herr Schulze habe dem Herrn Justizrat Dr. Sello erklärt, daß er, wenn sich alles, was er ermittelte, bewahrheitete, und diese Ermittelungen zu einem günstigen Erfolg führten, natürlich ein Extrahonorar haben müsse. Justizrat Dr. Sello habe dann, soviel er wisse, gefragt, was er denn für diesen Fall beanspruche, darauf habe Herr Schulze gesagt: 50000 M. Justizrat Dr. Sello habe ihm erklärt, er werde die Sache Herrn Sternberg unterbreiten, und dieser habe, wenn er sich recht besinne, darauf keine zusagende Antwort erteilt, sondern gesagt, er werde es sich überlegen. Auf Befragen erklärte der Zeuge schließlich, daß in der ersten Verhandlung nichts festgestellt wurde, daß das, was Schulze ermittelte, falsch war. Richtig sei es auch, daß nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Störmer in der vorigen Verhandlung die Verteidiger die Freisprechung des Angeklagten für sehr wahrscheinlich hielten.

Es wurden noch einige kleine Mädchen als Zeuginnen vernommen, die nach längerem Zögern bekundeten, daß sie in der Fischerschen Wohnung mit Sternberg in unzüchtiger Weise verkehrt hätten. Auch diese Mädchen mußten zugeben, daß sie bereits mit 13 Jahren sich der Prostitution ergeben hatten.

Schriftsteller Ludwig Rittershaus bekundete: Er sei ein Freund des Sternbergschen Hauses und kenne Herrn Sternberg seit etwa 10 Jahren. Als letzterer verhaftet wurde, sei Frau Sternberg in größter Aufregung gewesen. Sie erklärte: sie traue ihrem Mann ein solches Verbrechen nicht zu, und äußerte den Wunsch, daß nach dem Leumund des betreffenden kleinen Mädchens Ermittelungen angestellt werden möchten. Die von ihm (Zeugen) angestellten Nachforschungen bezüglich der Frida Woyda seien sehr ungünstig ausgefallen. Letztere sei ihm als lügenhaft und zu allen möglichen Schlechtigkeiten geneigt geschildert worden. Er habe Herrn Sternberg als einen Mann von außerordentlich kühler Überlegung kennengelernt. Auf weiteres Befragen der Verteidigung bekundete der Zeuge, daß Herr Sternberg öfter mit ihm über die Anlage seines Vermögens gesprochen und ihm große soziale Pläne entwickelt habe, die sich beispielsweise auf eine ausführliche Fürsorge für Arbeitslose erstreckten.

Auf Antrag des Rechtsanwalts Dr. Werthauer wurde der Zeuge gefragt, ob er auf Grund seiner Tätigkeit in dieser Sache Herrn Sternberg für schuldig oder unschuldig gehalten habe. Der Zeuge erklärte, daß er ihn für unschuldig gehalten habe. Zunächst sei ihm ganz unglaubwürdig erschienen, daß der Angeklagte dem betreffenden Mädchen 10 Pf. als Belohnung gegeben haben solle. Einem Mann von der eminenten Klugheit des Herrn Sternberg habe er ein solches Verbrechen und eine solche verbrecherische Dummheit nicht zugetraut, und schließlich habe Herr Sternberg, als die Fournaçon-Sache schwebte, ihn versichert, daß absolut nichts weiter gegen ihn vorliege. Sternberg habe auch keinerlei Anstalten zur Flucht getroffen, sondern sich stark in die Geschäfte gestürzt. Eines Tages habe ihm Frau Sternberg erzählt, es sei ein Mann bei ihr erschienen, der einen falschen Bart getragen und ihr angeboten habe, daß er ihren Mann gegen 20000 M. befreien könnte. Der Mann sei dann noch einmal wiedergekommen und habe einen angeblich von Sternberg herrührenden Kassiber mitgebracht, auf welchem die Worte standen: „Errette mich, errette mich, sonst bin ich verloren. Dein Gatte.“ Da die Worte unorthographisch geschrieben waren, habe sie sofort gesehen, daß es sich um einen Menschen handelte, der Geld erpressen wollte. Frau Sternberg habe sich ferner darüber beklagt, daß sie von allen möglichen Personen überlaufen werde, die immer behaupteten, sie wüßten etwas. Sie habe sich auch über die Machenschaften gegen ihren Mann in der Presse beklagt und behauptet, diese gingen von einem bestimmten Journalisten aus. Auf Verlangen des Vorsitzenden nannte der Zeuge nach längerem Sträuben den Namen des Journalisten Porges.

Redakteur Bettauer bekundete als Zeuge: An dem Tage, als das Reichsgericht die Revision für begründet erachtete und das Urteil aufhob, habe Stierstädter in der Redaktion der „Berliner Morgenpost“ angefragt, ob schon Nachricht aus Leipzig eingetroffen sei. Stierstädter habe dabei geäußert: Es sei inzwischen noch neues Belastungsmaterial eingegangen, so daß zu hoffen sei, das Urteil werde auch das zweitemal nicht anders ausfallen. Er hatte die Empfindung, daß Stierstädter einen großen Haß gegen Sternberg besaß. Es komme bisweilen vor, daß Leute von geringerer Bildung Berufssachen zu ihrer eigenen machen.

Die 19jährige, unverehelichte Schönherr bekundete: Sie sei mit Sternberg einmal zwecks intimen Verkehrs zusammengetroffen. Sie sei auch mehrere Male mit der jetzt 16jährigen Callis zusammengewesen. Letztere habe vor einigen Tagen in einer in der Nähe des Gerichtsgebäudes belegenen Konditorei geäußert: „Ob es Sternberg gewesen ist oder nicht, ist gleichgültig, der Jude muß auf alle Fälle ins Zuchthaus.“ Die Callis hatte ebenfalls bekundet, daß sie mit Sternberg in der Fischerschen Wohnung unzüchtigen Verkehr gehabt habe.

Kaufmann Karl Munthe bekundete: Er sei ein Freund Sternbergs und sei aus reiner Freundschaft für ihn tätig gewesen. Als er aber zur Familie Fournaçon gekommen, um diese zu bewegen, von einem Strafantrage gegen Sternberg Abstand zu nehmen, sei ihm gesagt worden, daß das schon zu spät sei. Am Tage vorher sei der Kriminalschutzmann Stierstädter vier-bis fünfmal dagewesen und habe zur Stellung des Strafantrages unter der Androhung, daß andernfalls die kleine Fournaçon unter sittenpolizeiliche Kontrolle kommen werde, gedrängt.

Fräulein Katharina Liebert, deren Aussagen von geringem Belang waren, bemerkte: Ihre Schwägerin, Frau Liebert, habe das lebhafteste Interesse, in den Gerichtssaal hineinzukommen. Sie habe von einer hundertjährigen Frau ein Amulett zum Geschenk erhalten, vor dem sich die Richter beugen und Sternberg freisprechen müßten. (Heiterkeit.)

Frau Liebert, die darauf als Zeugin erschien, bestritt auf Befragen des Vert. Justizrats Dr. Sello die Amulettgeschichte.

Vors.: Wir haben auch von der wunderkräftigen Wirkung des Amuletts noch nichts gemerkt. (Heiterkeit.)

Im weiteren Verlauf bemerkte Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Heinemann: Es sei ihm soeben gemeldet worden, daß die Zeugin Ehlert erklärt habe, sie wolle nun die Wahrheit sagen, es sei nicht wahr, daß sie den Angeklagten Sternberg kenne, sie habe ihn fälschlich beschuldigt.

Zeugin Ehlert, sofort vorgerufen, erklärte: „Was ich zuletzt gesagt habe, ist nicht wahr; was ich früher gesagt habe, ist wahr: Ich kenne Herrn Sternberg nicht, ich habe mit ihm nichts zu tun gehabt.“

Der Vorsitzende hielt der Zeugin vor, daß es doch ungeheuerlich sei, wenn sie nun wieder gerade das Gegenteil von dem sage, was sie früher behauptete.

Zeugin Ehlert: Ich hätte die Beschuldigungen gegen Sternberg auch nicht erhoben, wenn nicht Herr Stierstädter in mich gedrungen hätte, zu sagen: Sternberg ist es.

Vors.: Wie sollte denn Herr Stierstädter dazu gekommen sein?

Zeugin: Er sagte, ich kriege Geld, wenn ich so aussage.

Vors.: Das glauben Sie doch wohl selber nicht. Herr Stierstädter ist ein doch nicht übermäßig besoldeter Beamter, und der Staat macht es doch nicht so wie andere Leute, daß er Leuten für ihre Aussagen Geld verspricht. Wir leben doch in Preußen!

Zeugin: Herr Stierstädter hat mir gesagt, er würde in eine höhere Stelle kommen und mir dann von seinen größeren Einkünften Geld geben.

Vors.: Das wollen Sie uns glauben machen?

Zeugin: Ich sage jetzt die Wahrheit: Herr Sternberg ist nie mit mir zusammen gewesen und hat nie Unzüchtigkeiten mit mir begangen.

Vors.: Da müßten Sie also früher dem Gerichtshof direkt dreist in das Gesicht gelogen haben.

Zeugin: Meine Mutter war ja auch noch dabei, als Herr Stierstädter mir zuredete.

Vors.: Ihre Mutter soll geisteskrank sein, diese können wir also nicht vernehmen. Warum haben Sie das, was Sie heute gegen Herrn Stierstädter behaupten, nicht früher ausgesagt?

Zeugin: Ich wollte Herrn Stierstädter keine Unannehmlichkeiten machen.

Stierstädter erklärte die Behauptung der Zeugin für absolut falsch und erfunden. Die Ehlert behauptete mit erhobener Stimme und besonderem Nachdruck: Es ist doch wahr! Sie haben ja auch gesagt, ich soll meinen Vater aufhetzen, daß er den Strafantrag stellt.

Stierstädter: Das ist nicht wahr!

Zeugin Ehlert (sehr laut): Es ist doch wahr!

Der Vorsitzende verbat sich den brüsken Ton und drohte mit einer Ordnungsstrafe.

Der Vorsitzende hielt der Zeugin Ehlert wiederholt vor, daß es doch ganz unglaubwürdig sei, was sie jetzt sage, und fragte sie immer wieder, ob jemand auf sie eingewirkt habe. Die Zeugin verneinte dies. Der Vorsitzende betonte ferner: Es sei sehr auffallend, daß dies Umfallen der Zeugin mit der Tatsache zusammenfalle, daß ein Hilfstransporteur mit der Ehlert – wie festgestellt worden – nach der Sitzung vorübergehend in einem Restaurationslokal gewesen sei. Die Zeugin bestritt, daß dieser Hilfstransporteur irgendwie auf sie eingewirkt habe.

Der Vorsitzende und der Verteidiger gaben sich die größte Mühe, den Grund zu erforschen, weshalb die Zeugin nun plötzlich ihre Aussage ändere. Die Zeugin hatte u.a. früher bekundet, daß sie einem Herrn ein kleines silbernes Döschen entwendet habe, welches mit einem Wappenschild verziert war, das die Buchstaben A. St. enthielt. Dieser Herr sei Sternberg gewesen. Nun widerrief die Zeugin auch dies. Sie wollte sich nur entsinnen, daß der Buchstabe A. auf der Dose stand, der Bestohlene sei auch nicht Sternberg, sondern der schon mehrfach erwähnte Herr Oskar Stein gewesen. Sie wiederholte, daß sie mit Sternberg nie etwas zu tun gehabt habe.

Justizrat Dr. Sello: Sie haben früher die Angeklagte Wender beschuldigt, daß diese ebenfalls mit Sternberg unzüchtige Handlungen vorgenommen habe. Als die Wender dagegen protestierte mit den Worten: „Das ist nicht wahr!“ haben Sie in lautem Tone gerufen: „Das ist doch wahr!“ Jetzt sagen Sie selbst, daß auch dies gelogen war, wie konnten Sie diese Ungeheuerlichkeit begehen?

Die Zeugin gab keine Antwort.

Rechtsanwalt Dr. Fuchs: Waren Ihre Eltern beide dabei, als Herr Stierstädter zu Ihnen sagte, Sie sollten angeben, daß es Sternberg sei, die Schnörwange habe es auch schon gesagt?

Zeugin: Jawohl, Herr Stierstädter hat mir bei einer Vernehmung auf dem Gerichtskorridor das gesagt.

Vors.: Sie haben einmal um Schutz vor Ihrem Vater gebeten, weil dieser Sie auf dem Korridor fortwährend beschimpfe. Ist das vielleicht ein Umstand, der auf Sie eingewirkt hat?

Zeugin: Nein, ich habe auch nur um Schutz gebeten, weil mir jemand auf dem Flur sagte, „Dein Vater schimpft ja schön auf dich.“

Auf Vorhalt des Rechtsanwalts Dr. Werthauer wiederholte die Zeugin, daß sie nie in der Fischerschen Wohnung gewesen sei und ihre Schilderung von der Ausstattung dieser Wohnung und Einzelheiten über das, was sie in dieser an Vorgängen bemerkt haben wollte, teils selbst erfunden, teils aus Erzählungen der Schnörwange in sich aufgenommen habe.

Auch Justizrat Dr. Sello ging weiter auf die Einzelheiten der früheren Aussage der Ehlert ein; sie erklärte ohne weiteres, daß sie sich das alles erfunden habe und kein Wort davon wahr sei. Das sei jetzt die reine Wahrheit, und sie bleibe dabei.

Vors.: Wenigstens vorläufig bleiben Sie dabei. Wer weiß, wie oft Sie Ihre Aussage noch wechseln werden.

Auf weiteren Vorhalt der Verteidiger erklärte die Zeugin ausdrücklich: Auch die Behauptungen über denjenigen Mann, von dem sie zum ersten Male verführt worden sei, seien unwahr. Auch dies sei Herr Sternberg nicht gewesen.

Vors.: Wer war es denn? Nun heraus mit der Sprache!

Zeugin: Ich möchte den Namen nicht nennen.

Vors.: Das geht nicht! Wo ist der Mann jetzt?

Zeugin: Ich glaube, in Amerika. (Heiterkeit.)

Vors.: Und wie ist sein Name?

Zeugin: Er hieß Müller. (Heiterkeit.)

Vors.: Also auf diese wertvollen Angaben beschränkt sich Ihre Kenntnis von der Persönlichkeit?

Zeugin: Der junge Mann war im Hause Händelstraße 19 in einem Geschäft tätig.

Justizrat Dr. Sello stellte durch Befragen fest, daß das Mädchen schon im Dezember v.J., als der Fall Fournaçon aufgerollt worden war, ihrer Mutter gesagt habe, daß sie keinen Verkehr mit Herrn Sternberg gehabt habe.

Zeuge Ehlert, der Vater des Mädchens, bestätigte das. Seine Tochter habe ihm dasselbe auch schriftlich gegeben. Er habe seinerzeit schon festgestellt, daß seine Tochter überhaupt nicht bei der Fischer gewesen ist, und sie in dieser Beziehung gelogen hatte. Stierstädter habe auch ihm gegenüber den Versuch gemacht, ihm etwas zu suggerieren.

Die nun wieder vorgerufene Zeugin Schnörwange blieb auf Befragen dabei, daß sie mit Herrn Sternberg bei der Fischer zu tun gehabt habe. Sie wollte auch beeiden, daß sie der Ehlert eine Beschreibung der Fischerschen Wohnung gegeben habe.

Justizrat Dr. Sello bat, mit der Vereidigung der Zeugin zu warten, da die Verteidigung noch umfangreiche Beweise bezüglich der Glaubwürdigkeit der Schnörwange zu stellen habe. Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Fuchs I erklärte die Zeugin Ehlert, daß sie sich bereits am Freitag anderen Zeuginnen gegenüber genüber dahin geäußert habe, sie werde ihre frühere Aussage widerrufen und die Wahrheit sagen.

Justizrat Dr. Sello: Zeugin Ehlert, wie wollen Sie es erklären, daß Sie gerade nach den eindringlichen Verwarnungen des Herrn Staatsanwalts sich diesem gegenüber zu dem endlichen unter Tränen abgegebenen Geständnis herbeiließen: „Ja, es war Sternberg!“

Zeugin Ehlert: Seine Verwarnung hatte mehr Eindruck auf mich gemacht.

Vors.: Dann haben Sie ja dem Herrn Staatsanwalt gerade vermöge seiner eindringlichen Verwarnung die Unwahrheit gesagt, als Sie erklärten, „er ist es“, denn Sie haben dies widerrufen und behaupten jetzt „er ist es nicht“.

Staatsanwalt: Kommen Sie hier mal näher heran und sehen Sie mir in die Augen! Nun blicken Sie mich an, sagen Sie mir ins Gesicht, daß Sie mich unter Tränen belogen haben, als Sie mir erklärten „Ja, er ist es“.

Die Zeugin sagte mit leiser Stimme: „Ja, ich habe Sie belogen.“ Die Zeugin blieb dabei, daß Stierstädter sie zu der ersten falschen Aussage angestiftet habe. Er habe gesagt, sie solle bei der belastenden Aussage bleiben, und wenn man sie auch mit einem Jahre Gefängnis bedrohe, ausgeführt werde die Drohung doch nicht.

Zeuge Stierstädter erklärte ebenso entschieden, daß dies alles unwahr sei, er habe die Ehlert seit der letzten Verhandlung nicht wieder gesehen.

Auf Antrag des Staatsanwalts wurde nun nochmals die 16jährige Callis, die bisher behauptete, daß sie niemals etwas mit Sternberg vorgehabt habe, vorgerufen. Sie erklärte nunmehr auf Befragen, daß sie bisher gelogen habe.

Vors.: Wollen Sie jetzt die Wahrheit sagen?

Zeugin: Ja. Ich bin fünf – bis sechsmal mit Sternberg zusammen gewesen. Ich erkenne Sternberg aufs bestimmteste wieder. Ich wurde von der Obstfrau Stabs, Fräulein Saul und Herrn Fritz Wolff beeinflußt. Diese sagten: Ich werde nicht vereidet und kann deshalb aussagen, was ich will. Ich habe von den genannten Personen etwa 170 M. in Teilbeträgen erhalten. Auch heute, als ich zum Untersuchungsrichter geführt wurde, rief mir Frau Stabs zu, ich solle mich nicht verplappern. Frau Krüger rief mir zu, ich solle sagen, daß ich Sternberg nicht kenne. Fräulein Saul sagte: Wenn ich zum Schwur kommen sollte, dann werde man mich zu rechter Zeit ins Ausland schicken.

Der Vorsitzende rief hierauf die im Saale anwesende Frau Stabs und Fritz Wolff vor. Beide bestritten die Angaben der Callis mit großer Entschiedenheit.

Der Vorsitzende ließ darauf die Aussage der Callis protokollieren. Alsdann beantragte der Staatsanwalt die vorläufige Festnahme der Frau Stabs und des Fritz Wolff. Der Gerichtshof beschloß dementsprechend. Beide Personen wurden im Saale verhaftet und von zwei Kriminalbeamten dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

Die Callis bekundete noch auf Befragen: Sie habe auch die 13jährige Teichert, die schon damals viel mit Herren verkehrt hatte, mit zu Fischer genommen. Letztere habe der Teichert zugeredet, sie solle sagen, daß sie über 14 Jahre alt sei. Die Mutter der Teichert habe später von Frau Stabs und Fräulein Saul wiederholt talerweise Geld erhalten.

Am 31. Verhandlungstage wurde die Kellnerin Franziska Ecke als Zeugin vernommen: Sie sei im vorigen Jahre bei der Margarete Fischer in der Alexandrinenstraße 1b als Aufwärterin tätig gewesen. Sternberg habe sie dort nie gesehen, dagegen einen Mann, der ihm ähnlich sehe. Sie wisse nur, daß ein starker Herrenverkehr dort stattgefunden habe. Sie sei allerdings manchmal in ein Zimmer gesperrt worden. Sie habe sich gedacht, daß das sogenannte Massagegeschäft nur das Aushängeschild für unsittliche Handlungen sei. Malutensilien oder Pinseltöpfe habe sie nicht gesehen; ebenso wisse sie von dem Maler, von dem die Modell-Annoncen ausgingen, nichts.

Inzwischen wurde dem Vorsitzenden gemeldet, daß Margarete Fischer, jetzige Frau Miller aus Neuyork eingetroffen sei. Sie wurde unter allgemeiner Spannung nung in den Saal gerufen. Sie wurde belehrt, daß sie berechtigt sei, Antworten auf Fragen zu verweigern, durch die sie sich selbst belasten würde. Die Zeugin bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei 24 Jahre alt und mit einem Herrn Miller, der ein Hotel in Neuyork besessen habe und jetzt beschäftigungslos sei, verheiratet. Sie kenne Sternberg seit 3-4 Jahren, die Bekanntschaft habe zu keinem dauernden Verkehr geführt. Dann sei Sternberg zu ihr gekommen und habe sich einen verstauchten Arm massieren lassen. Sie habe ein Diplom, daß sie ausgebildete Masseuse sei. Die Massage fand in ihrer Wohnung in der Königgrätzer Straße statt. Sie sei vorübergehend nach Friedrichshagen und von da nach der Alexandrinenstraße 1b gezogen. Die Wohnung habe sie selbst bezahlt, irgendwelche laufenden Unterstützungen von Sternberg habe sie nicht erhalten. In ihrem Hause sei mit ihrer Erlaubnis und mit ihrem Wissen nie Unzucht getrieben worden.

Vors.: Das steht aber mit vielen Bekundungen in vollem Widerspruch, das kann also nicht wahr sein.

Zeugin: O ja!

Vors.: Haben Sie in unzüchtiger Weise Massage getrieben?

Zeugin: Nein, doch kann es vielleicht einmal vorgekommen sein.

Vors.: Haben Sie den Angeklagten Sternberg in solcher Weise behandelt?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben Sie dem Angeklagten Sternberg Mädchen zugeführt?

Zeugin: Nein.

Vors.: Sie sollen nachher vereidigt werden! Sie können die Antwort verweigern.

Zeugin: Nein. Es sind zwar öfter Mädchen bei mir gewesen, aber nicht zu dem Zweck. Herr Sternberg hat mir weder den Auftrag dazu gegeben, noch habe ich Kenntnis davon, daß er Unzüchtigkeiten bei mir vorgenommen hat.

Vors.: Ich mache Sie wiederholt darauf aufmerksam, daß Sie vielleicht vereidigt werden. Sie können Ihre Antwort verweigern, wenn Sie sich selbst belasten mußten.

Zeugin: Dann verweigere ich meine Auskunft.

Vors.: Wie groß war Ihre Wohnung?

Zeugin: Vier Zimmer und Küche.

Vors.: Hat die Auta Wender in Ihrer Wohnung Unzucht getrieben?

Zeugin: Nein, mit meinem Wissen und Willen nicht.

Vors.: Warum haben Sie die Frida Woyda zu sich genommen?

Zeugin: Weil ich ein Kind um mich haben wollte. Wir hatten uns früher schon mal eins angenommen, das aber fortkam, als meine Mutter starb.

Vors.: Die Auta Wender war doch bei Ihnen?

Zeugin: Ja, ich wollte aber ein Kind um mich haben.

Vors.: Es ist auffallend, daß Sie die Frida bald wieder abschoben, und zwar unter erdichtetem Vorwande.

Zeugin: Nein, ich hatte die Absicht, nach Schlesien zu reisen, ich wurde aber daran verhindert.

Vors.: Wie oft kam Sternberg zu Ihnen?

Zeugin: Die Woche vielleicht einmal oder auch zweimal.

Vors.: Was wollte er bei Ihnen?

Zeugin: Wir haben geplaudert.

Vors.: Ist er nur Ihretwegen gekommen? Das sollen wir Ihnen glauben? Sie können Ihre Aussage hierüber verweigern.

Zeugin: Dann verweigere ich die Aussage.

Die Zeugin erklärte, die Teichert nicht zu kennen, und behauptete nochmals auf das bestimmteste, daß mit Frida Woyda nichts passiert sein könne und auch nichts passiert sei. Sie bestritt auch entschieden, daß sie angeordnet habe, daß die Woyda eines Tages mit der Angeklagten Wender in das Zimmer getänzelt kam. Staffelei und Palette habe sie nicht in ihrer Wohnung gehabt. Die Annoncen wegen der Modelle habe sie aufgegeben. Unter dem Maler aus Frankfurt habe sie Sternberg gemeint, einen anderen Maler aus Frankfurt gebe es nicht.

Vors.: Sie haben dann noch ein zweites Quartier in der Wilhelmstraße gehabt?

Zeugin: Ja, aber nur ein möbliertes Zimmer, nachdem ich meine Wohnung in der Alexandrinenstraße aufgegeben hatte.

Vors.: Wer bezahlte die Miete für das Zimmer?

Zeugin: Ich selbst.

Vors.: Haben Sie keine Zuwendungen von Herrn Sternberg erhalten?

Zeugin: Nein, vielleicht mal ein Geschenk.

Vors.: Wofür?

Zeugin: Weil er häufig mal mein Zimmer benutzte.

Vors.: Wozu benutzte er es?

Zeugin: Er trank wohl mal ein Glas Wein, oder er kam auch wohl, um sich auszuruhen oder zu plaudern.

Vors.: Ein 18facher Millionär, der die vornehmsten Räume bewohnt und eine Villa im Werte von Hunderttausenden besitzt, der geht zu Ihnen, um sich dort auszuruhen? Um uns das vorzureden, sind Sie aus Amerika gekommen?

Die Zeugin gab schließlich auf Befragen zu, daß Sternberg auch in der Wilhelmstraße etwa zweimal war und dort mit der Fournaçon zusammengetroffen sei.

Vors.: Zu welchem Zweck haben Sie überhaupt das Mädchen Fournaçon zu sich genommen?

Zeugin: Darf ich darüber die Aussage verweigern?

Vors.: Ja.

Zeugin: Dann verweigere ich sie.

Beisitzer Landgerichtsrat Kämpfe: Hat Herr Sternberg gewußt, daß er als Maler aus Frankfurt a.d.O. bezeichnet wurde?

Zeugin: Ich weiß nicht, ob er das gewußt hat.

Vors.: Die Modell-Annoncen haben Sie selbst geschrieben?

Zeugin: Manchmal auch die Auta Wender.

Vors.: Was wollten Sie denn mit den Modell stehenden Mädchen und wollen Sie weitere Auskunft darüber geben?

Zeugin: Nein, darüber verweigere ich die Aussage. Eines Falles, daß ich die Aufwärterin Ecke eingeschlossen habe, entsinne ich mich nicht, erkläre aber, daß ich die Aussage darauf verweigere.

Staatsanwalt Braut: Nun erzählen Sie einmal, wer alles in Amerika an Sie herangetreten ist, um Sie zu beeinflussen?

Zeugin: Um mich zu beeinflussen, ist niemand an mich herangetreten, sondern nur, um mich nach einzelnen Vorgängen zu befragen und mir nahezulegen, daß ich die Wahrheit bekunden solle.

Vors.: Wer war das?

Zeugin: Der frühere Rechtsanwalt Dr. Fritz Friedmann, mann, der Neuyorker Notar Kemptner und Eugen Friedmann. Es handelte sich darum, daß das, was Frida Woyda ausgesagt hatte, mir vorgelegt wurde und man von mir wissen wollte, was daran wahr und was unwahr sei.

Staatsanwalt Braut: Haben Sie nicht ein Telegramm irgendeines Mannes vor noch gar nicht langer Zeit erhalten, in dem Ihnen gesagt wurde, daß Sie in Southampton bei Ihrer Ankunft Besuch erhalten würden?

Zeugin: Ich kann mich nicht mehr recht darauf besinnen, was in dem Telegramm stand, denn ich bin seekrank gewesen.

Staatsanwalt: Ach, Sie sind ja gar nicht seekrank gewesen! Von wem rührte die Depesche her?

Zeugin: Von Eugen Friedmann. Er wollte in Southampton auf den Dampfer kommen.

Staatsanwalt: Ist er denn gekommen?

Zeugin: Nein.

Auf verschiedene Fragen verweigert die Zeugin die Antwort.

Vors.: Sie haben von Amerika aus für Ihre Aussage 5000 M. verlangt?

Zeugin: Für meine Aussage nicht, ich nahm nur an, Herr Sternberg werde mich entschädigen.

Vors.: Entsinnen Sie sich der Badeszene, die sich in Ihrer Wohnung abgespielt haben soll?

Zeugin: Nein, ich habe erst in Neuyork beim Notar Kemptner erfahren, daß so etwas bei mir vorgekommen sein soll, der Notar hatte die Aussage der Frida Woyda zugeschickt erhalten. Wenn ich dergleichen gesehen hätte, würde ich es nicht geduldet haben.

Der Zeugin wurden nochmals die Modell-Annoncen vorgelegt, doch verweigerte sie wiederum die Antwort.

Vors.: Nun wollen wir einmal von Ihrer übereilten Abreise sprechen.

Zeugin: Ich hatte nach dem Artikel der „Morgenpost“ total den Kopf verloren, obgleich beinahe alles davon gelogen und beinahe jedes Wort übertrieben war.

Vors.: Und trotzdem reisten Sie schleunigst ab und nahmen sogar die Wender mit?

Zeugin: Auta Wender bat mich flehentlichst, sie mitzunehmen.

Vors.: Warum sind Sie nun auf so großem Umwege nach Paris und nach Amerika gereist?

Zeugin: Darüber verweigere ich die Aussage.

Vors.: Hat Ihnen Sternberg etwas versprochen?

Zeugin: Jawohl, ich glaube auf ein Jahr vierteljährlich 1000 M.

Vors.: Herr Sternberg behauptet, daß er Ihnen nur versprochen habe, einmal Ihnen noch 1000 M. zu schicken, falls Sie keine Stellung finden könnten?

Zeugin: Ich habe tatsächlich nur einmal 1000 M. erhalten.

Vors.: Es sollen dann scharfe Ausdrücke von Ihnen über Sternberg brieflich hierhergeschickt worden sein?

Zeugin: Das ist richtig. Ich habe nach Amerika einen anonymen Brief erhalten, in welchem gesagt wurde, Sternberg habe über den angeblichen Verkehr in meiner Wohnung alles mögliche ausgesagt, was nicht richtig war; das hat mich aufgebracht.

Vors.: Weshalb hat sich denn Sternberg für verpflichtet gehalten, Ihnen 1000 M. nach Amerika zu schicken?

Zeugin: Ich denke aus Interesse an meinem Schicksal.

Vors.: Sie meinen, er hatte kein eigenes Interesse daran und wollte Sie nicht in seinem Interesse außer Landes bringen?

Zeugin: Nein.

Vors.: Nun sind mal Frau Suchart und Herr Ebstein, genannt Silz, bei Ihnen erschienen. Was dachten Sie sich wohl dabei?

Zeugin: Der Besuch hat den Zweck gehabt, die Wender abzuholen. (Heiterkeit.) Im weiteren Verlaufe Ihres Verhörs gab die Fischer an, daß der frühere Rechtsanwalt Fritz Friedmann aus Berlin in Neuyork zweimal mit ihr zusammengekommen sei und ihr im Auftrage Sternbergs Geld ausgezahlt habe, nachdem sie ihm ihre Not geklagt hatte.

Auf wiederholtes Befragen des Vorsitzenden blieb die Zeugin dabei, sie sei der Überzeugung gewesen, daß der Besuch des Herrn Ebstein und der Frau Suchart in Neuyork den Zweck gehabt habe, die Auta Wender abzuholen.

Vors.: Das wollen Sie uns glauben machen?

Zeugin: Ja, ich glaubte, Herr Sternberg wollte die Auta nach Deutschland haben, vielleicht deshalb, weil die Woyda behauptet hatte, daß die Wender dabei war und dies doch nicht der Fall war.

Vors.: Haben Sie also nicht die Meinung gehabt, daß Sie ein Recht gehabt haben, von Herrn Sternberg etwas zu verlangen?

Zeugin: Nein, ein Recht hatte ich nicht. Ich habe mehrfach nach Geld geschrieben, weil ich annahm Herr Sternberg würde sich veranlaßt fühlen, aus alter Freundschaft für mich etwas zu tun.

Vors.: Wie sind Sie dazu gekommen, 20000 M. zu verlangen, wenn Sie eine Aussage machen würden?

Zeugin: Ich war damals sehr empört über Sternberg, weil ich gehört hatte, daß er allerlei Ungünstiges über mich ausgesagt habe. Da glaubte ich, daß ich nicht nötig hätte, umsonst für ihn etwas zu tun. Nachher habe ich erfahren, daß Sternberg gar nichts Ungünstiges gesagt hatte.

Staatsanwalt: Von wem wußten Sie denn das?

Zeugin: Von Dr. Fritz Friedmann. Dieser hatte mir gesagt, daß ich über Sternbergs Aussage falsch berichtet sei. Ich habe dann Herrn Dr. Friedmann auf seine Fragen Auskunft erteilt, und wenn ich mich recht besinne, hat Dr. Friedmanns Vetter, Eugen Friedmann, der auch in Neuyork ansässig ist und dort eine Restauration betreibt, die Aussage stenographiert.

Staatsanwalt Braut: Haben Sie Geld erhalten?

Zeugin: Ich habe 100 Dollar erhalten für meine entlastende Aussage, später habe ich nochmals 50 Dollar erhalten.

Vors.: Also weiter wollen Sie Geld nicht erhalten haben?

Zeugin: Nein.

Vors.: Was haben Sie sich denn eigentlich dabei gedacht, daß zwei Herren von Berlin nach Neuyork reisen, um Sie zu besuchen?

Zeugin: Sie wollten nur meine Aussage in der Sternbergschen Sache haben.

Vors.: Und dafür verlangten Sie 20000 M.? Dann müßten Sie ja Ihrer Aussage eine große Bedeutung beilegen?

Zeugin: Ich habe soviel verlangt, weil ich damals auf Sternberg böse war.

Vors.: Wie lange waren die beiden Herren drüben?

Zeugin: Beinahe acht Tage.

Vors.: Und Sie haben Ihnen die Aussage nicht gegeben?

Zeugin: Nein. Die Herren sind unverrichteter Sache wieder abgereist.

Vors.: Es ist dann eine Depesche an Sie abgesandt, des Inhalts, daß Ihre Forderung unbegründet sei. Entsinnen Sie sich, was Eugen Friedmann mit der Depesche bezweckte, die Sie in Cherbourg antraf und worin er Ihnen mitteilte, daß Sie jemand in Southampton erwarten würde?

Zeugin: Nein, ich weiß es nicht, es ist niemand dort gewesen.

Staatsanwalt: Sind Sie nach Ihrer ersten Ladung durch die Gesandtschaft noch mit Dr. Fritz Friedmann in Verbindung geblieben?

Zeugin: Nein.

Staatsanwalt: Haben Sie später keine Zuwendungen von Sternberg erhalten?

Zeugin: Einmal 100 Dollar, und als ich mich dann in großer Not befand, erhielt ich noch einmal 50 Dollar.

Staatsanwalt: Und weiter wollen Sie nichts erhalten haben?

Zeugin: Von Sternberg nicht, wohl aber Unterstützungen von meinen Verwandten.

Der Zeugin wurde auf Antrag des Staatsanwalts noch einmal der Brief vorgelesen, in welchem sie ihrer Schwester Klara einige Herzensergüsse über die ihr von ihren Verwandten gemachten Vorwürfe und über das, was sie getan haben solle, übersendet. In diesem Briefe war auch eine Stelle, deren Fassung den Schluß zuließ, daß die Zeugin einen Vorfall wußte, bei welchem sich Sternberg gegen ein kleines Mädchen vergangen habe.

Die Zeugin erklärte, ihre Aussage hierüber zu verweigern. Auf wiederholten Vorhalt der Verteidigung erklärte die Zeugin, daß der Vorgang, den sie in ihrem Briefe erwähne, tatsächlich nicht vorgekommen sei, daß sie aber über den Zweck, den sie mit dem Briefe verfolgte, die Aussage verweigere.

Der Vorsitzende gab sich Mühe, aus der Zeugin herauszubekommen, wieso sie zu der heiklen Fassung gekommen sei; ein Erpressungszweck gehe doch nicht ohne weiteres daraus hervor.

Die Zeugin blieb dabei, daß sie zu einem besonderen Zweck diese Fassung gewählt habe, aber die Aussage darüber verweigere.

Vors.: Dann will ich nochmals die bestimmte Frage an Sie richten: Hat Herr Sternberg in Ihrer Wohnung mit Mädchen unter 14 Jahren unzüchtig verkehrt?

Zeugin: Nein, das hat er niemals getan.

Auf Befragen des Justizrats Dr. Sello gab die Zeugin zu, daß sie ursprünglich fälschlich einen Mann aus Frankfurt a.d.O. als den „Maler“ bezeichnet habe. In Neuyork habe sie von der Frida Woyda niemals mit Auta Wender gesprochen, ihre Unterhaltungen drehten sich nur um den Fall Fournaçon, denn sie habe keine Ahnung von dem Fall Woyda gehabt. Sie habe auch von Neuyork aus Briefe an verschiedene Personen, an Herrn v. Tresckow, die „Morgenpost“ usw. geschrieben, und auch darin nie mit einem Worte eines Falles Woyda Erwähnung getan. Auf weiteres Befragen des Justizrats Dr. Sello gab die Zeugin zu, daß, als sie die beiden Briefe mit Gesuchen um Geld an Sternberg gerichtet, sie sich in der Tat in großer Not befunden habe. Sie habe insbesondere beabsichtigt gehabt, durch Besuch eines Hebammen-Unterrichts sich einen neuen Erwerbszweig zu schaffen, ihr Gesuch um Geld habe nicht den Hintergrund gehabt, daß sie etwa Herrn Sternberg einer verbrecherischen Tätigkeit beschuldigen könnte.

Sehr lange wurde infolge einer Frage des Angeklagten die Zeugin nach dem Ursprung und der Urheberschaft der Modell-Annoncen befragt; sie wollte darauf die Aussage wiederholt verweigern, der Angeklagte wünschte aber bestätigt zu hören, daß er die Annoncen nicht veranlaßt habe. Die Zeugin erklärte schließlich stark indigniert: sie würde die Annoncen nicht erlassen haben, wenn sie nicht angenommen hätte, daß Sternberg sie den Mädchen gegenüber in dieser Beziehung nicht dementieren würde. Sie habe aus Gesprächen mit Sternberg entnommen, daß dieser Freude an jugendlichen Gestalten hatte. Sie habe allerdings gewußt, daß Sternberg kein Maler sei, aber angenommen, daß er als reicher Mann aus Passion vielleicht malte. Sie würde nie geduldet haben, daß in ihrer Wohnung unzüchtige Handlungen mit den Modell-Mädchen vorgenommen würden.

Hier trat die Callis vor und behauptete unter lebhaftem Protest der Zeugin, daß diese davon gewußt haben müsse, denn sie habe ihr gesagt, sie solle ihre Freundinnen mitbringen.

Zeugin Fischer erklärte schließlich noch: Sie habe die 20000 M. keineswegs für eine falsche Aussage verlangt, sie sei von vornherein fest entschlossen gewesen, die volle Wahrheit zu sagen. Auch eine Erpressung gegen Sternberg habe sie nicht verüben wollen.

Die Zeugin Fischer wurde nochmals aufs eindringlichste ermahnt, unter der Zusicherung, daß sie volles freies Geleit habe, die reine Wahrheit zu sagen. Die Zeugin erklärte schließlich: Sternberg habe bei ihr in der Alexandrinenstraße verkehrt. Sie habe wohl gehört, daß Sternberg mit Frida Woyda Unsittlichkeiten vorgenommen habe, gesehen habe sie es aber nicht.

Frau Emilie Besser, die Tante der Frida Woyda, gab an: Frida habe zugestanden, daß sie mit Sternberg fünf- bis sechsmal unzüchtig verkehrt habe.

Frida Woyda, vom Vorsitzenden nochmals ermahnt, die Wahrheit zu sagen, bemerkte: Ich habe damals gelogen, ich sage jetzt die Wahrheit. Frau Besser stellte sich hierauf dicht neben Frida Woyda und brach unter Tränen in die Worte aus: „Frida, sieh mich doch mal an, Kind, du weißt, daß ich dich immer lieb gehabt habe, denke, ich sei deine Mutter, und sage endlich die Wahrheit!“ Das Kind zeigte keine Spur von irgendeiner Gemütsbewegung, es wiederholte ständig: Was ich jetzt sage, ist wahr.

Vors.: Frau Besser, entsinnen Sie sich jetzt?

Zeugin Besser: Jawohl, das Kind weinte und sagte, es wäre alles wahr.

Vors.: Frida, und du willst behaupten, du hättest damals gelogen?

Frida: Ja.

Vors.: Setze dich wieder hin.

Der folgende Zeuge, der 14jährige Knabe Hermann Burke, hat früher mit der Minna Teichert gespielt und ist dann mit ihr gemeinsam auf den Blumenhandel gegangen. Während dieser Zeit habe er wiederholt bemerkt, daß die damals 13jährige Minna Teichert Herren auf der Straße Blicke zugeworfen habe und auch einmal mit einem Herrn in der Droschke davongefahren sei. Die Teichert habe damals ein halblanges Kleid getragen und im ganzen den Eindruck eines Schulmädchens gemacht.

Der Vorsitzende ließ die Zeugin Miller-Fischer vorrufen.

Staatsanwalt Braut: Haben Sie vor dem Notar Kemptner in Neuyork nicht zwei Aussagen in der Sternbergschen Sache sich beglaubigen lassen, die eine belastend und die andere entlastend, und haben Sie nicht die entlastende Aussage Herrn Justizrat Dr. Sello in einem Briefe zugeschickt, in welchem noch ein Privatbrief an den Angeklagten Sternberg lag? Sie sollen eine dahingehende eidliche Aussage gestern vor dem Untersuchungsrichter Herrn Brandt gemacht haben?

Zeugin: Sie sei eines Tages von Eugen Friedmann zu dem Notar Kemptner bestellt worden, um daselbst eine Aussage in bezug auf Sternberg zu machen. Sie habe gesagt, sie habe keine Veranlassung, für Sternberg etwas zu tun. Einige Zeit darauf sei Eugen Friedmann, den sie für einen zuverlässigen Mann hielt und in dessen Familie sie damals wohnte, mit dem Plane an sie herangetreten, daß sie eine belastende und eine entlastende Aussage aufschreiben und ihre Unterschrift beglaubigen lassen solle. Er wolle damit nach Berlin fahren, der Verteidigung das Schriftstück zum Kaufe anbieten und das Geld dann mit ihr teilen. Sie habe das entlastende Schriftstück, welches einzig die Wahrheit enthielt, nach Berlin geschickt, das belastende stende habe sie zerreißen wollen, Eugen Friedmann habe es aber nicht herausgegeben, sondern gesagt, er wolle es noch verwerten. Das belastende Schriftstück sei unwahr, das entlastende sei wahr gewesen.

Staatsanwalt: Sie geben also zu, daß Sie ein solches Manöver gemacht haben?

Zeugin: Es tut mir ja leid, daß ich es getan habe.

Auf Befragen des Rechtsanwalts Dr. Werthauer bekundete die Zeugin, daß der Vorgang mit den zweierlei Protokollen im September geschehen sei, daß Fritz Friedmann davon nichts gewußt habe und daß Eugen Friedmann direkt den Gedanken des zweierlei Protokolls angeregt habe. In dem belastenden Protokoll habe nur allgemeines gestanden, aber nichts von der Frida Woyda, denn von dieser sei nichts bekannt gewesen. In dem entlastenden Schriftstück habe die Wahrheit gestanden.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Wieviel Geld wollte sich denn Eugen Friedmann mit den Schriftstücken machen?

Zeugin: Er sprach von 20- oder 50000 M., die wir uns teilen wollten.

Rechtsanwalt Dr. Werthauer: Das entlastende Schriftstück ist bei Justizrat Dr. Sello eingegangen, aber nicht benutzt worden; ich habe es hier in den Akten.

Vors.: Wie viele junge Mädchen haben nach Ihrer Schätzung mit dem Angeklagten bei Ihnen verkehrt?

Zeugin: Es können 30-50 gewesen sein.

Rechtsanwalt Dr. Fuchs: Sie wollen doch wohl nur sagen, daß auf die Annoncen 30-50 Mädchen zu Ihnen gekommen sind. Darunter sind doch gewiß auch solche gewesen, die nicht angenommen worden sind, oder solche, denen gesagt wurde, sie sollten ein andermal wiederkommen?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Wollen Sie angesichts der von Ihnen angegebenen großen Zahl noch dabei bleiben, daß Ihnen von unzüchtigen Handlungen, die gegen die Mädchen begangen sein sollen, nichts bekannt war?

Zeugin: Ich habe geglaubt, Sternberg habe Freude an jugendlichen Körpern; von Unzüchtigkeiten war mir nichts bekannt.

Die Verteidiger beantragten schließlich die Vertagung der Verhandlung, da neben dieser Sache noch zwei Sachen vor dem Untersuchungsrichter geführt werden, die mit dieser Angelegenheit in engster Verbindung stehen, von der Verteidigung aber nicht nachgeprüft werden können. Dies widerspreche dem Grundsatz der mündlichen Verhandlung. Es empfehle sich daher, diese Verhandlung bis zum Abschluß der anderen Verfahren zu vertagen.

Der Gerichtshof beschloß, den Antrag abzulehnen.

Inzwischen betrat Frida Woyda den Saal.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Fuchs: Frida Woyda, tritt doch mal hier vor. Ich habe gesehen, daß du soeben in den Saal gekommen bist und sehr geweint hast. Welchen Grund hattest du dazu? Bist du etwa inzwischen beim Herrn Untersuchungsrichter vernommen worden?

Frida: Ja.

Vert.: Worüber denn?

Vors.: Was soll das?

Vert.: Auf andere Weise werden wir Verteidiger doch nicht erfahren können, wie die Zeugen in den anderen Sachen vernommen werden, da uns die Akten vorenthalten werden. Ich frage also die Zeugin, worüber sie befragt worden ist.

Zeugin: Ich bin über meinen Aufenthalt bei Fräulein Fischer befragt worden.

Vert.: Und was hast du ausgesagt?

Zeugin: Genau dasselbe, was ich hier gesagt habe.

Vert.: Wie hat sich der Herr Untersuchungsrichter dazu gestellt?

Zeugin: Der Herr Richter sagte immer: Es ist ja doch vorgekommen!

Vert.: Du bliebst aber bei deiner Aussage?

Zeugin: Ich sagte: Sie haben doch nicht dabei gestanden und können es nicht beurteilen.

Vert.: Hat dich Herr Stierstädter nach oben gebracht?

Zeugin: Nein, Herr Stierstädter war auch oben, um vernommen zu werden. Wir wurden gegenübergestellt, ich habe gesagt, er habe mir die erste Aussage ja eingeredet, Herr Stierstädter hat es bestritten, ich bin aber dabei geblieben.

Vert.: Du hast also vor dem Untersuchungsrichter genau so ausgesagt wie hier?

Zeugin: Ja.

Die medizinischen Sachverständigen begutachteten, daß Frida Woyda ein Kind von deutlich krankhafter Veranlagung sei, die eine sexuelle Grundlage habe. Frida Woyda sei zu allen Lügen fähig. Der sexuelle Akt mit Sternberg könne gar nicht so ausgeführt sein, wie ihn das Mädchen geschildert habe.

Am letzten Verhandlungstage nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Braut: Meine Herren Richter! Im vorigen Prozeß hat Frida Woyda, von Abweichungen abgesehen, erzählt: Als sie ungefähr acht Tage bei der Fischer gewesen sei, habe ihr diese eines Tages gesagt, der Hausarzt sei gekommen, sie zu untersuchen. Bei Beginn dieses Prozesses ein ganz anderes Bild: Frida Woyda hat alles vergessen, weiß sich kaum noch zu erinnern auf das, was sie damals gesagt hat, und sagt: es ist alles nicht so gewesen. Wenn man nach den Motiven für diese Änderung der Aussage sucht, so war bei dem ungeheuren Maß von Beeinflussungen, das bei diesem Prozeß zur Anwendung dung gekommen, der erste Gedanke nicht: ist die Frida Woyda beeinflußt? sondern: wer hat sie beeinflußt? Zunächst lag der Gedanke nahe, an Blümkes zu denken. An diese ist früh der Versucher herangetreten, schon im ersten Stadium des Verfahrens hat Rechtsanwalt Möhring die Scheding zu Blümkes geschickt mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, daß Frida Woyda zu Blümkes komme gegen ein Monats- oder Jahresgehalt von 200 M. Dann ist bei Blümkes Wolff gewesen, der dem Mann schriftliche Arbeiten für das „Fremdenblatt“ in Aussicht gestellt und versprochen hat, ihm zur Gründung eines Geschäftes 15000 Mark zu geben, und der auch das Wohlwollen der Frau Blümke zu erwerben gesucht hat. Blümkes sind eine goldene Uhr, goldene Ringe geschenkt und es ist ihnen in Aussicht gestellt worden, Goldsachen zum halben Preise zu erhalten. Richtig ist, daß Blümkes diese Versuche der Polizei gemeldet haben; dem Schutzmann Stierstädter, der darüber wachen sollte, daß keine dunkle Gestalten sich an Blümkes herandrängten, haben sie alles mitgeteilt. Als dem Stierstädter die weiteren Nachforschungen bei Blümkes untersagt waren, da ist auch die Familie Blümke von ihm abgefallen und hat die Briefe, die Stierstädter ihr geschrieben hatte, an Wolff weitergegeben, dessen Persönlichkeit ich wohl nicht zu schildern brauche. Ich brauche nur an die Aussage der letzten Zeugin zu erinnern, die da sagte: Wolff ist ein Mensch gewesen, der in der Kneipe laut zu den Zeuginnen gesagt hat: „Ihr dürft aber nur die Wahrheit sagen!“ und dann leise hinzugesetzt hat: „Ihr braucht Sternberg ja nicht zu kennen!“ Ein wirklicher Beweis dafür, daß Blümkes die Frida Woyda wirklich beeinflußt haben, ist nicht erbracht. Es gibt aber noch eine andere Lösung: Blümkes haben tatsächlich noch kein Geld bekommen, es ist auch nicht strikt bewiesen, daß es ihnen, abgesehen von den 15000 M. für das Geschäft, versprochen worden ist. Aber haben wir nicht gesehen, daß die Hoffnung auf die spätere Dankbarkeit. Sternbergs manchen bewogen hat, von seiner früheren Aussage abzugehen? Dasselbe ist auch bei der Frida Woyda der Fall gewesen. Diese ist in der Welt herumgeworfen, zunächst bei den ehrenwerten Leuten Schindler gewesen, hat nach dem ersten Prozeß dies Haus verlassen müssen, weil die Kinder auf der Straße und in der Schule mit ihr nicht mehr spielen wollten. Sie ist dann in ein Waisenhaus gekommen, und es scheint, nach den Bemerkungen über das schlechte Essen usw., daß sie wohl große Angst vor dem Waisenhause gehabt habe; sie wollte lieber frei bleiben. Es ist sehr gut möglich, daß sie hoffte, bei Blümkes bleiben zu können, wenn sie bestritt, daß mit ihr irgend etwas Unsittliches passiert sei, denn dann habe der Vormund keine Veranlassung, sie in eine Besserungsanstalt zu bringen. Vielleicht ist auch das alte Wort: „Schweigen ist Gold!“ nicht ohne Einfluß auf das Mädchen gewesen, vielleicht hofft sie auf die spätere Dankbarkeit Sternbergs, vielleicht sind ihre Reden von der Erbschaft, von dem späteren Besuch der hohen Schule nicht eitle Luftschlösser, sondern haben einen realen Untergrund. Erst im letzten Sommer hat sie von der Erbschaft gesprochen. Das ist vielleicht nicht, wie die Sachverständigen meinen, ein Ausfluß ihrer Kunst zum Fabulieren, sondern der unvorsichtige Ausdruck der Hoffnungen, welche Frida bewegen. Wenn man nun fragt, welche Gründe die Frida haben kann, ihre frühere Aussage vollständig umzuwerfen, so könnte man ja antworten: das Mädchen stelle sich jetzt als ein reuiges Kind dar, welches bereut, daß es durch Lügen einen Menschen unglücklich gemacht hat, und nun die Wahrheit sagen will. Wer schon jemals einen reuigen Menschen gesehen hat, der weiß, daß ein solcher Mensch ganz anders aussieht wie Frida Woyda! Es liegt auch gar kein Anhalt dafür vor, daß Frida Woyda von außen her, von dritter Seite, zur Reue gebracht worden ist, man weiß davon nichts aus der Zeit, wo sie im Waisenhause, nichts aus der Zeit, wo sie bei Blümkes war. Wenn die Reue bei einem 13jährigen Mädchen durchbricht, dann äußert sie sich durch einen Tränenerguß, und ein solches Mädchen zeigt an ihrem Auftreten ein ganz anderes Wesen. Man sieht es ihr an, daß sie sich von einer Schuld und Last befreit habe, sie tritt dann frei und offen mit ihren Bekundungen hervor. Beispiele dieser Art hat ja die Verhandlung gezeitigt. Von der Ehlert will ich ganz absehen; ich brauche bloß an die Callis zu erinnern: diese hat gelogen, wochenlang gelogen, daß sich die Balken bogen, und erst, als sie vor dem Eide stand, hat sie der Wahrheit die Ehre gegeben und sich ganz frei und offen gezeigt. Ganz anders ist es mit der Frida Woyda! Sie hat keinen Menschen ansehen können und sich im Notfalle immer damit zu helfen gesucht, daß sie sagte: Das weiß ich nicht! Wenn jetzt wirklich Reue bei ihr vorläge, dann würde dies doch dahin führen müssen, daß ein plausibler Grund für ihre früheren Lügen vorhanden sein müßte. Sie sagt: Stierstädter habe es ihr eingeredet. Diese Behauptung liegt in demselben scheußlichen System, in der Art, wie Stierstädter hier angegriffen worden ist. Nachdem feststand, daß Frida Woyda ihre Aussage abänderte, mußte man nach einem Grunde suchen, weshalb sie es tat. Nur über die Leiche Stierstädters konnte der Weg gehen zu den Hintertüren, durch welche man den Beweis erbringen wollte, daß das Mädchen früher die Unwahrheit und jetzt die Wahrheit sage. Was hat man nicht alles gegen Herrn Stierstädter vorgebracht und was ist von alledem an Herrn Stierstädter hängen geblieben?

Stierstädter soll beim Militär als Schwindler bekannt gewesen und wegen Gehorsamsverweigerung entlassen worden sein. Keines von beiden ist wahr. Der Zeuge Telegraphen-Assistent Schulz hat bekundet, daß Stierstädter ein zuverlässiger, braver Soldat war und in Ehren aus dem Militärdienste ausgeschieden ist. Und nun soll Stierstädter mit dem Fräulein Pfeffer, wie die Verteidigung behauptet, ein scheußliches Komplott geschmiedet haben. Er soll Geschenke von ihr angenommen haben. Nichts davon ist erwiesen! Einen alten Regulator hat Stierstädter für wenig Geld von Fräulein Pfeffer erstanden; das ist alles! Wenn Sternberg eine ganze Einrichtung für eine Villa verschenken kann, dann kann der Regulator wohl kaum in Betracht kommen. Die verschiedenen Begegnungen, die Stierstädter mit Personen gehabt hat, die in diesem Prozesse eine Rolle spielten, werden von der Verteidigung als berechnet und vorbereitet hingestellt. Nein, Zufall war es, und wenn Stierstädter es sagt, so glaube ich ihm. Er hat sich als ein Mann gezeigt, der durch keine Verlockungen, weder durch eine Villa am Genfer See, noch durch andere Versprechungen vom Wege der Pflicht abzubringen war. Allerdings, er hat sich als Beamter des Ehebruchs schuldig gemacht, und dafür wird er die Folgen zu tragen haben. Aber er hat unter seinem Eide erklärt, daß es nur einmal geschehen ist. Und da ist denn Sternberg die geeignete Persönlichkeit, um auf Stierstädter den ersten Stein zu werfen!

Es erschienen die Artikel in der „Morgenpost“, die Fischer war verschwunden. Da kam der Vater der Hedwig Ehlert zu Stierstädter und teilte ihm mit, daß seine Tochter verschwunden war. Stierstädter forschte im Hause nach, in welchem die Fischer gewohnt hatte, und erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß die Frida Woyda auch dort gewesen und zu den Schindlerschen Eheleuten gebracht worden sei. Nach einigen Tagen holte er die Frida in einer Droschke aus der Schule ab. Er soll nun unterwegs, wie Frida Woyda behauptet, sie in ärgster Weise beeinflußt haben. Ich glaube es nun und nimmermehr. Wie das Kind selbst erklärt hat, hat sie zu ihm gesagt: „Belästigen Sie mich nicht, ich werde oben die Wahrheit sagen!“ Darauf wird sie vom Kriminalkommissar v. Tresckow vernommen, einem Beamten, gegen dessen Urbanität und loyales Verhalten wohl nichts einzuwenden ist. Vor ihm gibt Frida alle die belastenden Tatsachen gegen Sternberg zu Protokoll. Sternberg wird geholt. Er bestreitet, die Frida zu kennen, und fragt schließlich: Wie alt ist das Kind?

„Es ist unter 14 Jahren, Herr Sternberg“, erwiderte der Beamte. Die Woyda wird dann vom Untersuchungsrichter vernommen, sie gibt haarklein dieselbe belastende Aussage ab, und als sie dann in der Verhandlung, handlung, auf das eingehendste zur Wahrheit ermahnt, vernommen wird, da wiederholt sie ihre früheren Aussagen. Und dies alles soll der Beeinflussung des Herrn Stierstädter zuzuschreiben sein? Ich halte dies für vollständig ausgeschlossen, abgesehen davon, daß es mit der Persönlichkeit des Stierstädter unvereinbar ist. Er soll mit den großen Augen gerollt haben. Ich glaube kaum, daß einer im Gerichtssaale bemerkt hat, daß Stierstädter große Augen hat und damit rollen kann. Frida Woyda hat von dem, was Sternberg mit ihr vorgenommen hat, nicht nur an Stierstädter, sondern auch an andere Personen Mitteilung gemacht. Als Frau Dreßler die Geschichte in der Blümkeschen Wohnung hörte und beide Frauen bitterlich weinten, da fragte Frau Dreßler: „Aber Frida, ist das wirklich wahr?“

Frida erwiderte darauf: „Ja, es ist alles wahr, Sternberg hat noch lange nicht genug gekriegt!“ Die Frida Woyda ist auch der Scheding gegenüber bei ihrer Erzählung geblieben.

Wir haben uns nun zu fragen, was war das Motiv, was gibt uns eine Erklärung für die Annahme, daß Frida Woyda früher gelogen haben sollte? Wir haben gehört, daß Frida Woyda als Kind wiederholt gelogen hat und daß sie als Kind mit anderen Kindern Unzüchtigkeiten vorgenommen haben soll. Das ist alles, was bis dahin gegen Frida Woyda vorlag. Die Sachverständigen verständigen nehmen dies ohne weiteres als wahr an und gründen darauf ihre sexuelle Veranlagung. Ich nehme dies nicht als bare Münze, ich meine, diese Erzählungen sind meist als Hausklatsch anzusehen. Und nun denken Sie sich, in ein solches Haus kommt ein Mann wie der Detektiv-Vorsteher Schulze, ein Mann, der auf Bestellung Ehebruch treibt, der hier auch sonst zur Genüge gekennzeichnet ist und dem im Falle einer Freisprechung Sternbergs 50000 M. versprochen sind. Er erkundigt sich bei den Frauen, was sie vor 7 bis 8 Jahren von der Frida gesehen haben wollen, und nun erzählen diese Geschichten, die sie damals gesehen haben wollen! Es ist richtig, daß die Frida Woyda kleine Unwahrheiten gesagt hat. Aber daraus kann man doch nicht folgern, daß sie fähig ist, eine so große und, wenn es eine Lüge wäre, über alle Maßen und über alle Begriffe hinaus schamlose und rücksichtslose Lüge zu sagen. Das Ungünstige über die Frida kommt von der Frau Huth und von Hausklatsch her, der soundso viel Jahre zurückliegt, auf den Detektivdirektor Schulze von dem Bureau Jus. Andere haben die Frida aber durchaus gelobt. Sie hat sich in der Schule durchaus ehrsam und sittlich betragen und ist von ihren Lehrern gelobt worden. Das Ehepaar Schindler, offenbar zwei treffliche Leute in guter Lage, haben uns übereinstimmend erklärt, Frida habe nie gelogen, sie war immer anständig und sittsam. sam. Auch Frau Dreßler kennt sie eine Reihe von Jahren und lobt auch ihre Mutter als eine ordentliche Frau. So war die Frida damals: sie trat überall kindlich und bescheiden auf, wenn sie an den Richtertisch gerufen wurde, hat sie einen Knix gemacht und bescheiden geantwortet. Herr v. Tresckow hat gesagt: Das Kind sei jetzt gar nicht wiederzuerkennen, sie ist wie umgewandelt, denn früher war sie freundlich und durchaus kindlich. Der Vormund Huth hat dasselbe gesagt. Jetzt konnte das Kind bei seinen Aussagen ihn nicht ansehen, auch an Frau Dreßler hat sie immer vorbeigesehen. Ihre Tante hat gesagt: der Frida sieht man es immer gleich an, wenn sie lügt. Und jetzt? Jetzt macht Frida Woyda den Eindruck, daß sie stolz darauf ist, als das Wunderkind angestaunt und angeschaut zu werden. Nun sagen die Sachverständigen, daß sie sexuelle Anlage habe. Aber weshalb? Der Fall Sternberg hat die Anregung dazu gegeben. Hat jemand sie beeinflußt, oder hat der Prozeß die Wirkung gehabt, daß sie den Entschluß gefaßt hat, so zu reden, dann mag den Fluch, dieses Kind verdorben zu haben für ewige Zeiten, derjenige tragen, der sie dazu veranlaßt hat. Die Frida ist von ganz unparteiischer Seite in der ausgedehntesten Weise zur Wahrheit ermahnt worden, Herr v. Tresckow, Staatsanwalt Dr. Romen, Amtsgerichtsrat Hagen, der Vorsitzende der Strafkammer haben sich alle bemüht, sie zur Wahrheit zu ermahnen, und sie ist trotzdem bei ihrer jetzigen Aussage geblieben: also gelogen hat sie damals. Nun ist die Frage aufgeworfen: wenn sie auch nicht gelogen hat und vielleicht Selbsterlebtes hat erzählen wollen, so ist ihre Erzählung doch deshalb unzuverlässig, weil sie sich die ganze Sache eingebildet hat. Die Sachverständigen sagen, sie sei zu fehlerhafter Wiedergabe des Erlebten disponiert, und dazu komme eine abnorme sexuelle Anlage. Wenn für die Glaubwürdigkeit eines Menschen in Betracht kommt, ob er sehr viele unzüchtige Handlungen vorgenommen hat, so würde wohl der Angeklagte Sternberg der letzte sein, dem man glauben darf. Das ärztliche Gutachten spricht auch nur von Fehlern der Auffassung der Dinge und der Wiedergabe des Erlebten. Ich halte es für vollkommen ausgeschlossen, daß ein Kind ohne jede Grundlage, ohne es selbst gesehen zu haben, und selbst wenn es das gesehen hat, imstande sein soll, aus eigener Einbildung heraus eine Geschichte zu erfinden und Monate hindurch konsequent ohne wesentliche Abweichung festzuhalten, ohne daß die Sache irgendwie mit der Wahrheit übereinstimmt. Diese meine Annahme, daß die Einbildung nicht so ist und nicht so sein kann, wird bestärkt durch die Erwägung, wie die Sache an das Tageslicht gekommen ist. Von derartigen Einbildungen könnte man ja reden, wenn es sich um Klatsch und Tratsch handelte, bei dessen Weiterverbreitung jeder immer noch ein bißchen hinzusetzt. Von derartigen Dingen ist aber hier doch gar keine Rede. Frida Woyda hat über ihre Erlebnisse mit keinem Menschen gesprochen. Dann ist sie eines Tages von einem Schutzmann abgeholt worden, und nun sollten plötzlich die paar schmutzigen Bilder, die sie bei der Fischer gesehen hat, auf die Phantasie des Kindes so eingewirkt haben, daß sie sich eine solche Geschichte vollkommen ausdenken konnte? Selbst wenn man den Sachverständigen die theoretische Möglichkeit zugeben wollte, so trifft es doch hier in dem konkreten Fall nicht zu.

Weshalb hat Frida Woyda so lange geschwiegen? Sie sagt: aus Scham. Das dürfte nicht zutreffen. Der Frida hat die Sache bei der Fischer offenbar Spaß gemacht, sie wollte deshalb auch ganz gerne bei der Fischer bleiben, und sie hat keinen Grund gehabt, ihre eigenen Sünden einem anderen zu beichten. Gewalt ist bei ihr nicht angewendet worden, das gebe ich ohne weiteres zu, das steht ja auch ganz deutlich in dem Briefe, den Margarete Fischer an die Zeugin Pfeffer gerichtet hat. Ist es nach alledem ausgeschlossen, daß Frida Woyda bewußt gelogen hat, daß sie sich die ganze Sache ausgedacht, so gibt es keine Motive für ihren Umfall, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß Frida Woyda damals nach bestem Wissen Erlebtes erzählt hat. Das würde aber nicht ausreichen chen zur Überführung eines Mannes; die Aussagen eines solchen Kindes können keine bündigen Beweismittel abgeben, und kein Richter würde darauf allein verurteilen. Aber es kommen noch viele Momente hinzu. Frida Woydas Aussage wird in objektiver Beziehung durch zahlreiche andere Momente unterstützt. Was Frida Woyda ausgesagt hat, behauptete sie nicht von einem sittenreinen Mann, sondern von einem Manne wie Sternberg. Wir wissen aus seinem Vorleben so viel, daß er seit vielen Jahren in ausgedehntem Maße Ehebruch mit jugendlichen Personen getrieben hat, daß schon 1885 ein solches Strafverfahren gegen ihn geschwebt hat, das aber fallen gelassen werden mußte, weil objektiv feststand, daß damals das betr. Mädchen den Eindruck eines siebzehnjährigen machte. Nun haben wir ja dank der eigenen Unvorsichtigkeit Sternbergs eine ganze Reihe von Zeugen, die gegen ihn sprechen. Wir sehen wohl alle noch die Szene vor uns, als die Verteidiger nach der Vernehmung der Pfeffer offen erklärten, daß sie nun nicht mehr an eine Konspiration der Pfeffer mit Herrn Stierstädter glauben. Da stand dann Herr Sternberg auf und redete nach seiner bekannten Art so viel, daß er sich schließlich ins Unglück redete, daß er Fräulein Pfeffer in Erregung brachte, in welcher sie dann mit allem auspackte, was sie auf ihrer gequälten Seele hatte. Da haben wir denn alle die Beschuldigungen gehört, mit denen sie das Verlangen Sternbergs nach jungen Mädchen, die aber „noch nicht alte Weiber von 15 und 16 Jahren sein durften“, klar darlegte, ferner alle die scheußlichen Zumutungen, die er ihr selbst gemacht hat, als sie hungerte und darbte, und endlich die Frivolität, mit der er ihr, die sich gegen diese Zumutungen mit dem Hinweis auf das Zuchthaus sträubte, sagte: „Na, was machen für Sie ein paar Jahre Zuchthaus?“ Das war Sternberg! Der Pfeffer wird gewiß niemand im Saale die Glaubwürdigkeit versagen! Kein Mensch wird der Spuk- und Gespenstergeschichte des Angeklagten über das angebliche Komplott glauben. Jetzt wird das immer klarer, nachdem wir den Brief der Fischer an Fräulein Pfeffer kennen, dessen Existenz Sternberg sicher auch kannte. Das ist aber noch nicht alles. Auch andere Zeugen und die Schnörwange haben uns Spezialfälle von den unzüchtigen Handlungen des Angeklagten mitgeteilt. Der gegen die Glaubwürdigkeit der Schnörwange noch zu guter Letzt inszenierte Sturm war geradezu „erschütternd“. Im übrigen kann sich doch Herr Sternberg über das hier aufmarschierende weibliche Zeugenmaterial gar nicht beschweren. Die Schnörwange ist sicher keine Tugend-Perle, aber Geheimrats-Töchter werden sich gottlob nicht mit ihm abgegeben haben! Er hat sich in dem Schlamm der Straße bewegt, und wenn die Gestalten aus diesem Schlamm hervorgeholt werden und nun vor Gericht erscheinen, so kann er sich nicht darüber beschweren! Er verkehrte in dem der Unzucht dienenden Quartier der Margarete Fischer. Kein Mensch war zweifelhaft, daß er der Maler sei, schließlich hat es auch Margarete Fischer zugegeben. Er behauptet, er habe diese besucht, um mit ihr zu „plaudern“. Er hatte wohl in der Weise noch mehr solche Plauder-Boudoirs gehabt. Sternberg ist doch ein ganz gebildeter Mann, und niemand wird es ihm glauben, daß er, wenn er auch in geschlechtlicher Beziehung einen unglaublich schlechten Geschmack gehabt hat, sich gerade eine Person wie Frau Miller zum Plaudern aussuchen wird.

In diesem Kuppelquartier verkehrte Sternberg. Was wollte die Fischer mit der Frida Woyda? Es ist selbstverständlich, daß sie sie für den Angeklagten wollte. Die Woyda ist zur Arbeit gar nicht herangezogen worden. Der Fischer ging es nicht gut, und doch nahm sie sich ein Kind umsonst an! Die Grete Fischer hat dann ihrer Schwester vorgelogen, sie bekomme 30 M. Pflegegeld, sie hat dem Vormund vorgeredet, als sie die Frida abschob, daß sie nach Beuthen übersiedeln wolle und das Kind dorthin nicht mitnehmen könne. Alles dies ist nicht wahr gewesen. Warum hat sie alles dies sich ausgesonnen? Weil sie wußte, daß sie das Kind nur zu unsittlichen Zwecken haben wollte. Die Wender hat jetzt die Geschichte von dem „Hereintänzeln“ eintänzeln“ in das Zimmer erzählt; dies klingt ganz anders als der Ausbruch des Zornes, den die Wender in der vorigen Verhandlung zeigte, als die Woyda ihre Anschuldigungen gegen sie erhob. Jetzt ist die Wender natürlich instruiert, und die Woyda hat plötzlich alles übrige vergessen und nur das Tänzeln behalten. Der Angeklagte sagt, er würde doch nicht dem Mädchen 10 Pf. gegeben haben, das will gar nichts sagen. In der Verhandlung ist nichts davon hervorgetreten, daß der Angeklagte trotz seines Reichtums übermäßig viel für seine Gelüste bezahlte, und so dumm ist er doch nicht, einem solchen kleinen Mädchen ein Goldstück zu geben, denn das wäre gleich überall aufgefallen. Die Behauptung des Angeklagten, daß er diese Dinge doch nicht in Gegenwart dritter Personen vorgenommen haben würde, hat durch die Beweisaufnahme keine Stütze gefunden, im Gegenteil! Auch der Hinweis des Angeklagten, daß er nichts dazu getan habe, um die Woyda wegzubringen, beweist gar nichts. Zunächst würde ein solcher Schritt sofort bekannt geworden sein, und dann wußte doch damals noch niemand als er selbst, daß er bei dem Woyda-Fall in Frage kommen könnte. Ferner sagt der Angeklagte: er hätte sich doch nicht in die Hände zweier Frauen begeben, die eine Erpresserschraube ohne Ende gegen ihn in Bewegung setzen konnten. Auch das trifft nicht zu. Die Fischer und die Wender konnten ten nicht eidlich als Zeugen gegen ihn auftreten, sondern höchstens als Mitschuldige. Und dann: er hat ja auch die beiden Frauenzimmer weggeschickt, nicht „aus Mitleid“ für sie, wie er in der vorigen Verhandlung behauptete, und auch nicht aus Angst, in einen Prozeß wegen gewöhnlicher Wohnungs-Kuppelei verwickelt zu werden, sondern aus Angst, daß sie seine Schandtaten aufdecken könnten. Ich bin der Überzeugung, daß er mit Fleiß seine Geldspenden an die Margarete Fischer so knapp eingerichtet hat, daß diese nicht auf einmal in den Besitz von 1000 M. und damit in die Lage kommen könnte, nach Europa zurückzukehren.

Sternberg hat das Zeugnis der Margarete Fischer gefürchtet. Hätte die Fischer sich nur der Kuppelei schuldig gemacht, so hätte er keine Furcht haben brauchen, daß sie als Zeugin gegen ihn auftreten werde. Die Wender hat er nicht gefürchtet, denn er wußte: sie macht ein freundliches Gesicht und macht ihre Aussage, und dann bist du heraus. Aber die Grete hat er nicht herhaben wollen. Hier wurde ihr Zeugnis verlangt; die Kehrseite war ein Telegramm nach Neuyork: „Nicht herüberkommen! Der Staatsanwalt wird Dich nicht wieder weglassen.“ Tatsächlich hat man der Grete Fischer auch Geld dafür geboten, daß sie falsch aussagen solle. Wenn noch ein Zweifel bestehen könnte, daß Sternberg im Falle Woyda schuldig, ist, so wird dieser Zweifel gelöst durch einen Brief der Margarete Fischer an die Pfeffer. Dieser Brief gibt ein vollkommenes Bild von dem Seelenzustand der Schreiberin, sie bemüht sich, zu gestehen und stoßweise herauszubringen, was vorgekommen ist. Ein Erpresserbrief ist dieser Brief nun und nimmer. Es ist geradezu eine Kühnheit gewesen, diesen Brief als Entlastungsmittel benutzen zu wollen. Man hätte nämlich gesagt, wenn der Brief zuerst der Verteidigung in die Hände gefallen wäre: Dieser Brief belastet, aber weil ein Komplott besteht, so ist er nicht wahr und entlastet. Auf so etwas wird sich, glaube ich, das Gericht nicht einlassen. Aus den Umständen, wie der Brief gekommen und gefunden worden ist, kann absolut kein anderer Schluß gezogen werden, als daß er ein Geständnis enthält. Deshalb ist er der Schlußstein in dem Gebäude, das ich Ihnen vorgeführt habe, um die Schuld des Angeklagten im Falle Woyda nachzuweisen.

Der Fall Callis hat als solcher auszuscheiden, aber er charakterisiert doch den Angeklagten. Die Callis hat unter dem Eide bekundet, daß sie mindestens sechs- bis siebenmal mit ihm zusammengekommen sei, und auf die Verteidigung haben die Szenen, die sich abgespielt haben, insoweit Eindruck gemacht, daß die Erklärung abgegeben wurde, Sternberg wolle das nicht weiter bestreiten. Die Callis hat bekundet, sie habe nur deshalb die Unwahrheit gesagt, weil man ihr in Aussicht gestellt hatte: wenn du schwören mußt und fällst mit der Geschichte herein, dann bekommst du Geld und gehst ins Ausland.

Die Teichert lügt. Sie hat nach dem Bilde Sternberg ursprünglich erkannt und sagt jetzt, er ist es nicht. Sie braucht ja nicht zu schwören! Sie hat 500 M. bekommen; ihre Eltern leugnen, daß sie die 500 M. bekommen hätten. Das mag sein; die Teichert ist eben eine verdorbene Person, und es kann ja sehr leicht sein, daß sie die 500 M. mit ihren Freundinnen verjuxt hat oder sonst irgendein Abnehmer ihr dabei geholfen hat. Die Teichert war damals schon ein verdorbenes Mädchen; Sternberg hätte sich sagen müssen, daß sie auch unter 14 Jahre alt sein könne, und er hat sich dies auch gesagt. Es liegt also mindestens der dolus eventualis vor.

Ist der Angeklagte also schuldig, so tritt die Frage nach mildernden Umständen und nach dem Strafmaß heran. Der Angeklagte Sternberg hat das vorige Mal milde Richter gefunden, und es kann im Falle Woyda auf eine höhere Strafe, als das vorige Gericht festgesetzt hat, nicht erkannt werden. Aber das muß ich sagen: wenn irgendeinem Angeklagten keine mildernden Umstände zugebilligt werden können, dann ist es der Angeklagte Sternberg. Wer sich so verteidigt, wie sich Sternberg verteidigt hat, geht der mildernden Umstände unter allen Umständen verlustig. Es streift an das Undenkbare, daß der Mensch es gewagt hat, die Spur der Behörde von sich abzulenken auf einen andern Mann, von dem er ganz genau gewußt hat, daß der es nicht gewesen ist. Das hat er nicht nur in der ersten Instanz, sondern auch noch in der zweiten Instanz getan. Daß er als Maler aus Frankfurt bei der Fischer ausgegeben wurde, kann er doch nicht bestreiten, und doch sagte er, der Maler sei der Herr Schneider aus Frankfurt a.d.O. in der Richtstraße! Der Angeklagte Sternberg hat sodann alles getan, um die Margarete Fischer in Amerika zurückzuhalten, damit sie nicht als Zeugin hier auftreten könne. Und dann die Briefe! Daß Sternberg sagt: es sind so viele Kisten da, da müssen sie drin sein, – das ist doch alles Kohl, das ist geradezu kindisch. Aber es geht noch weiter. Als Sternberg damals vernommen wurde und die Frida Woyda dann vernommen wurde, da war die Sache klar; die näheren Verwandten hatten der Frida Woyda ein gutes Zeugnis ihrer Glaubwürdigkeit ausgestellt; der Staatsanwalt hätte die Anklage erhoben, der Gerichtshof vielleicht eine halbe Stunde beraten, und der Angeklagte wäre abgeurteilt worden – wenn der Angeklagte nicht Sternberg, sondern vielleicht ein armer Fabrikarbeiter gewesen wäre! Sternberg hätte leicht Aufklärung verschaffen können, wenn er es hätte wollen; er hat uns dagegen in dieser Verhandlung lung eine Sorte Menschen vorgeführt, auf deren Kennzeichnung ich nicht näher eingehen will. Und mit welchen Mitteln ist gekämpft worden! Bestechung und Beeinflussung von Zeugen waren an der Tagesordnung. Die Detektivs des Angeklagten drängten sich in unverschämtester Weise bis an die Türen des Gerichtssaales, um die Beamten zu beobachten. Was wurde nicht alles aufgeboten, um die Wahrheit, nach der wir alle lechzen, zu verdunkeln! Was hat Sternberg durch die Art seiner Verteidigung für Unheil angerichtet! Wenn er das alles dereinst vor seinem ewigen Richter verantworten soll, was er über eine große Menge seiner Mitmenschen heraufbeschworen hat, dann wird ihm wohl jetzt schon die Last zu schwer werden. Luppa hat sich, um seinem Herrn zu dienen, schwerer Verfehlungen schuldig gemacht und flüchten müssen; Kriminalkommissar Thiel, der Agent Wolff und Frau Stabs befinden sich in Haft; Popp und die Suchart sind flüchtig! Und wer weiß, welch weitere Folgen dieser Prozeß noch haben wird.

Es werden noch schwere Straftaten zur Erörterung kommen, und ich hoffe, daß ich auch deren Verüber noch hier vor Gericht sehen werde. Sternberg erklärt: „Ich kann nicht für das, was meine Freunde ohne mein Zutun für mich getan, verantwortlich gemacht werden.“ Wer solche Dienste leistet, wie Luppa sie geleistet hat, der weiß auch, wem er sie leistet, und er weiß auch, daß Sternberg Verbrechen begangen hat. Er hat zum Verbrechen gegriffen, um den „armen unschuldigen Mann“ zu befreien. Ein solcher Angeklagter, dessen ganze Vergangenheit in moralischer und geschäftlicher Beziehung skrupellos, rücksichtlos, anrüchig ist, der es gewagt hat, den Dollar rollen zu lassen, gegen die staatliche Justiz mit seinem schnöden Mammon einzugreifen in einer Weise, die einem das Blut in die Schläfen treiben möchte, der seine Millionen benutzt hat, um die festen Säulen der Justiz ins Wanken zu bringen, dieser Mann, wenn er jetzt von der Justiz niedergeworfen wird, verdient keine mildernden Umstände, trotzdem die Teichert ein verdorbenes Geschöpf war, dem weder sittlich noch körperlich ein Schaden zugefügt ist.

Ich beantrage wegen des Falles Woyda zwei Jahre Gefängnis, wegen des Falles Teichert eine Zuchthausstrafe von zwei Jahren. Diese beiden Strafen ersuche ich zusammenzufassen in eine Zuchthausstrafe von drei Jahren. Ich beantrage außerdem die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre. Gegen Auta Wender, die sich fortwährend als verkörperte Lüge hingestellt hat, beantrage ich sechs Monate Gefängnis. Gegen die Scheding beantrage ich 20 Tage wegen Begünstigung und drei Tage Gefängnis wegen der Beleidigung im Gerichtssaal, insgesamt drei Wochen Gefängnis. Gegen Luppa liegt außer dem Verdacht der Begünstigung auch der Verdacht wegen Verleitung zum Meineid vor. Es liegt also Idealkonkurrenz mit einem anderen Verbrechen vor. Da er geflohen ist, beantrage ich die Aussetzung des Urteils gegen ihn.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Nach den glänzenden Ausführungen meines Kollegen werde ich nicht notwendig haben, auf die Sache einzugehen. Ich werde mich, wie es von vornherein meine Absicht war, auf einige allgemeine Bemerkungen beschränken, zu denen der Prozeß, der uns nunmehr sechs Wochen in Anspruch nimmt, reichen Anlaß gibt. Zu den Faktoren, die es der Justiz schwer gemacht haben, ihres Amtes zu walten, gehört auch die Presse. Am Anfang dieses Prozesses schrieb ein Hamburger Blatt: Zu den Eigentümlichkeiten dieses Prozesses gehört es auch, daß ein junger, unerfahrener Staatsanwalt beauftragt ist, gegen sechs der gewiegtesten Berliner Rechtsanwälte zu plädieren. Ich weiß nicht, ob das Blatt diese Behauptung jetzt noch aufrechterhalten wird. Dieser junge Staatsanwalt hat eine Schlußrede gehalten, wie sie von keinem anderen vortrefflicher hätte erwartet werden können. Ich glaube also, daß die Auswahl dieses Staatsanwalts durchaus gut getroffen war. Schmerzlich hat es mich berührt, daß die Verteidigung den Vorwurf erhoben hat, Licht und Schatten seien nicht gleich verteilt, man kämpfe mit ungleichen Waffen. Ich kämpfe nicht mit ungleichen Waffen; wenn ich es aber muß, dann habe ich lieber die schlechteren auf meiner Seite. Selten hat es einen ungerechteren Vorwurf gegeben als diesen. Die Prozeßordnung schreibt für die Voruntersuchung geheimes Verfahren vor. Der Untersuchungsrichter ist ein unabhängiger Richter, in seine Hände kann die Voruntersuchung ruhig gelegt werden. Aber Licht und Schatten werden gleichmäßig verteilt; weder der Staatsanwalt noch die Verteidiger dürfen bei der Vernehmung der Beschuldigten zugegen sein. Der einzige Unterschied ist, daß die Staatsanwaltschaft schon während des Verlaufes des Verfahrens von den Akten Kenntnis nehmen kann, während die Verteidigung dies erst nach Abschluß der Voruntersuchung verlangen kann. Ein billig denkender Untersuchungsrichter wird ihr aber die Akten auch schon früher zugänglich machen, sobald er es ohne Schädigung oder Verdunkelung des Verfahrens tun zu dürfen glaubt. Wir haben mit großer Offenheit und Ehrlichkeit alles, was wir aus den Vernehmungen vor dem Untersuchungsrichter erfahren haben, hier vorgeführt. Die Verteidiger sind nicht im Dunkeln geblieben. Es ist ein geschlossener Brief, den die Zeugin Miller nur für Sternberg bestimmt hatte, hierher gelangt. Nun weiß jeder, der mit dem Strafverfahren zu tun hat, und insbesondere ein Rechtsanwalt und Verteidiger, daß ein verschlossener Brief an einen Untersuchungsgefangenen nur unter Zustimmung und Kenntnisnahme eines Richters an seine Adresse gelangen darf. Die Kollusionsgefahr erfordert eine solche Kontrolle der Behörde. Es war überaus wichtig, daß der Vorsitzende der Strafkammer von dem Briefe Kenntnis erhielt, ehe er in Sternbergs Hände gelangte. Der Vorsitzende hat aber nichts von dem Inhalte gewußt, wohl aber Sternberg! Ob er einen so harmlosen Inhalt gehabt hat, wie Herr August Sternberg behauptet, können wir nicht nachweisen, aber daß wir es nicht können, ist die ungünstige Lage, in die wir gebracht worden sind, nicht kraft des Gesetzes, sondern kraft der von Ihnen geschaffenen Tatsachen! Wir müssen uns damit abfinden und werden auch so das Recht finden. Aber das können Sie uns nicht zumuten, daß wir glauben sollen, der Brief habe einen harmlosen Inhalt gehabt. Wenn Margarete Fischer ihrer eidesstattlichen Versicherung nach einen intimen Brief an Herrn August Sternberg beilegt, so wird sie sicher darin die ihr zukommende Belohnung besprochen und angedeutet haben, daß sie auf seine Dankbarkeit für das ganze Leben rechnet.

Mein Herr Kollege hat angedeutet, wie viele Personen Herr August Sternberg in diesem Prozesse zu Leichen gemacht hat. Dazu gehört auch die Zeugin Frau Miller. Ausgestoßen von ihrem Vaterlande muß sie flüchtig umherirren und darf es nicht mehr wagen, die heimatliche Scholle zu betreten. Das ist der Fluch, der sie immer begleiten wird. Und doch wäre es ihr wohl nicht schwer gewesen, sich durch ein offenes Geständnis mildernde Umstände zu sichern! Auch bei Sternberg könnte man dies behaupten.

Ich habe viel Erfahrung in den verschiedensten Provinzen gesammelt und viele Angeklagte gesehen, aber das muß ich sagen, kein Angeklagter ist schlechter verteidigt worden, als der reiche Herr Sternberg. Den Herren Verteidigern selbst ist kein Vorwurf zu machen, denn der Angeklagte selbst hatte sich die Führung nicht nehmen lassen, und die Verteidiger haben wiederholt erklären müssen, daß ihre Anträge das Ergebnis stundenlanger Konferenzen mit dem Angeklagten seien. Ich wiederhole, Sternbergs Verteidigung war die denkbar schlechteste. Er hätte sich wohl mildernde Umstände verschaffen können, wenn er als reuiger Sünder gestanden hätte, daß er ein Opfer seiner perversen Leidenschaften geworden wäre. Jetzt hat er sich jede Sympathie durch die Art seiner Verteidigung verscherzt. Ich gehe nicht so weit wie mein Kollege, der da meinte, daß ein anderer Angeklagter in einer halben Stunde abgeurteilt worden wäre, nein, an der üblichen Gründlichkeit der Verhandlung würde es in keinem Falle gefehlt haben. Sternberg, der den Kampf mit Hilfe seines Portemonnaies aufnahm, hat sich verrechnet, das Recht ist keine Ware, keine Dirne, die sich kaufen läßt. Herr August Sternberg mag bei der Gründung von Aktiengesellschaften gewandt sein, bei seiner Verteidigung ist er es nicht.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Fuchs I: Ein höchst fragwürdiges Zeugenmaterial ist es, mit dem wir zu rechnen haben. Dirnen, wie die Callis und die Teichert, können Anspruch auf Glaubwürdigkeit nicht erheben. Als der Callis zum ersten Male die Photographie Sternbergs vorgelegt wurde, war sie unsicher und zweifelhaft. Nach zwei Tagen erklärte sie mit Bestimmtheit: „Ja, das ist er.“ Das ganze Verhalten der Callis und Teichert läßt darauf schließen, daß sie es mit der Wahrheit nicht genau nehmen. Es ist nicht denkbar, daß der Gerichtshof lediglich auf Grund solcher Aussagen zu einer Verurteilung kommen wird. Noch weniger hat die Verteidigung geglaubt, daß die Staatsanwaltschaft wegen des Falles Teichert Zuchthaus beantragen würde, selbst wenn man in diesem Falle die Schuld des Angeklagten für erwiesen erachtet. Wie kann man einem Angeklagten mildernde Umstände versagen, bloß weil er in einem Falle seine Verteidigung so geführt hat, daß sie Mißfallen erregte? Sternberg hat von vornherein erklärt, daß die ganze Geschichte bezüglich der Zusammenkünfte mit der Frida Woyda aus den Fingern gesogen sei. Das Mädchen hat dies auch in der gegenwärtigen Verhandlung handlung zugegeben. In der sechswöchentlichen Verhandlung ist Frida Woyda trotz der eindringlichsten Verwarnungen seitens des Vorsitzenden, des Staatsanwalts, des Vormundes, der Pflegemutter usw. bei ihrer entlastenden Aussage geblieben. Welche Beweise liegen überhaupt vor, daß Sternberg Mädchen unter 14 Jahren mißbraucht hat? Man darf doch nicht mit bloßen Vermutungen rechnen. Die Zeugin Fischer hat bekundet: Sie habe nur wenige Mädchen gesehen, die Sternberg besuchten, die sie aber gesehen habe, seien über 14 Jahre alt gewesen. Es ist gewiß sehr bedauerlich und vom Standpunkte der Moral nicht zu billigen, wenn ein Mann Neigung für 15- bis 16jährige Mädchen hat. Aber nach dem Gesetz ist es nicht strafbar. Möge man doch bedenken, daß Sternberg auf diesem Gebiete kein Neuling ist. Schon zweimal hatte er sich die Finger verbrannt. Sternberg ist ein Mann, der ganz genau wußte, wieweit er zu gehen hat. Schon in den früheren Verhandlungen ist zur Sprache gekommen, daß Sternberg Mädchen wieder fortschickte, wenn er nur Verdacht hatte, daß sie unter 14 Jahren seien. Der Verteidiger beleuchtete im weiteren die einzelnen Aussagen der Frida Woyda und fuhr alsdann fort: Die Aussagen eines Kindes, das solche Geschichten erzählt, kann man unmöglich für ausreichend erachten, um drei Menschen zu verurteilen. In der ersten Verhandlung hat das Kind alle möglichen Einzelheiten erzählt über die Gewalt, die gegen sie angewendet worden sei. Die Sachverständigen haben bekundet, daß diese Einzelheiten nicht passiert sein können, da sie in der geschilderten Form einfach unmöglich sind. Der Gerichtshof wird diese Einzelheiten nicht glauben, weil sie nicht wahr sein können. Das Gericht kann und wird auch nicht glauben, daß Sternberg dem Kinde 10 Pf. gegeben habe. Wenn aber die Gewalt fällt und die Einzelheiten fallen, dann bleibt nichts Verwertbares übrig. Wenn der Gerichtshof sich die Frage vorlegt, ob und was geschehen ist, dann kann er nur zu dem Schluß kommen: Ignoramus. Wie solche Mädchen lügen können, ist ja bekannt, das hat sich auch bei der Ehlert erwiesen. Frida Woyda ist aber im Lügen eine wahre Virtuosin. Das ist das Kind, auf dessen Aussage man einen Angeklagten jahrelang der Freiheit berauben will. Will der Gerichtshof wirklich sagen: Es muß so sein, wie Frida Woyda es in der ersten Verhandlung gesagt hat und es kann nicht so sein, wie sie es diesmal sagt? Das würde den alten Rechtsgrundsatz: „Im Zweifelsfalle für den Angeklagten“ in sein Gegenteil verwandeln. Der Weisheit letzter Schluß kann auch bezüglich der Frida Woyda tatsächlich nur dahin gehen: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Ich will gern zugeben, daß Stierstädter nicht in böser Absicht auf Frida Woyda eingewirkt hat. Aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß er sich bei seinen Ermittelungen nicht immer in den Grenzen gehalten hat, die ihm sein schweres Amt zieht. Jedenfalls hat Stierstädter unbewußt einen kolossalen Einfluß auf das Mädchen ausgeübt. Das Sachverständigen-Gutachten gewährt einen tiefen Blick in das Seelenleben dieses Kindes und läßt keinen Zweifel, daß man der Frida Woyda überhaupt nichts glauben kann.

Daß die Staatsanwaltschaft nicht mit „ehrlichen“ Waffen kämpfe, wird wohl niemand behauptet haben, aber daß die Waffen der Staatsanwaltschaft und die der Verteidigung nicht gleiche sind, diese Behauptung möchte ich doch aufrechterhalten. Der Staatsanwaltschaft stehen Akten zu Gebote, die der Verteidigung vorenthalten bleiben, sie erfährt die Aussagen der Zeugen vor dem Untersuchungsrichter, die Verteidigung nicht. Das sind keine gleichen Waffen.

Kriminalkommissar Thiel hat sich als ein Opfer hingestellt, das für seine Mitteilungen einen kargen Lohn erhalten hat. Es sind doch immerhin 8000 M. gewesen. Es scheint sogar, als habe Luppa seinen Auftraggeber gehörig übers Ohr gehauen. Was hat denn Justizrat Dr. Sello eigentlich getan? Thiel ist zu ihm gekommen und hat ihm offenbart, was er in der Sternbergschen Sache getan. Dr. Sello hat ihm erklärt, daß das, was er bisher getan, noch nicht strafbar sei. Es sei aber etwas höchst Gefährliches, was er vorhabe, be, und er rate ihm mit aller Entschiedenheit, seine Finger davon zu lassen. Mußte Dr. Sello nun nicht aufs höchste überrascht sein, als er nach einem Zeitraum von beinahe vier Monaten, während er nichts von Thiel gesehen oder gehört hatte, erfahren mußte, daß sein Rat nicht befolgt worden war? Sollte er deswegen den Angeklagten, dessen Akten er genau kannte, ohne Verteidigung lassen? Ich kann etwas Tadelnswertes in dem Verhalten des Justizrats Dr. Sello nicht erblicken.

Der Gerichtshof hat den Menschen zu beurteilen, seine Moral kann man verdammen, aber ich hoffe, daß der Gerichtshof bei Prüfung der Frage, ob Sternberg der ihm zur Last gelegten Straftaten überführt sei, zu einem „Nein“ kommen wird. In dem Schmutz, in dem die Callis, die Schnörwange und die Ehlert lebten, ist nichts mehr zu verderben, verderben kann nur der, der da hinuntersteigt. Die Einbuße, die der Moral dadurch zugefügt wird, würde das deutsche Volk leicht verwinden, es würde aber nicht überwinden, wenn es sich nicht mehr darauf verlassen könnte, daß Gerechtigkeit das Fundament des Staatslebens ist.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Heinemann (für die Wender) wies darauf hin, daß die Wender zur Zeit der Tat kaum 18 Jahre alt war und im Höchstfalle der Beihilfe für schuldig befunden werden könne. Nach den Bekundungen der Fischer habe die Wender weiter nichts getan, als die Mädchen zu Sternberg hineingeführt. Selbst wenn sie aber Augenzeugin gewesen sei, habe sie sich höchstens einer vorbereitenden Handlung schuldig gemacht oder der Kuppelei, die nicht strafbar sei, weil weder die Gewohnheitsmäßigkeit noch die gewinnsüchtige Absicht nachgewiesen sei. Auch das Gutachten der Sachverständigen sei zugunsten der Wender auszulegen. Diese sei freiwillig aus Amerika zurückgekehrt, ein Beweis ihrer Unschuld. Sie müsse gewußt haben, daß sie bestraft werden würde, wenn sie schuldig sei, denn sonst wäre sie keine lächelnde Lügnerin, sondern eine lächelnde Idiotin. Sie würde freizusprechen sein, selbst wenn Sternberg für schuldig befunden würde.

Der Verteidiger legte alsdann nochmals die Gründe dar, die für die Unglaubwürdigkeit der Woyda sprechen. Es sei nicht richtig, was der Staatsanwalt behauptete: daß man geglaubt habe, nur über Stierstädters Leiche den Weg zur Freisprechung Sternbergs erringen zu können. Sternberg müsse freigesprochen werden, nicht weil man annimmt, daß Stierstädter der Woyda die Beschuldigungen eingeredet habe, sondern weil sie überhaupt verlogen sei und man ihr überhaupt nicht glauben könne. Stierstädter habe gewiß im besten Glauben und mit der besten Absicht, die Wahrheit zu ergründen, gehandelt. Der Verteidiger zitierte tierte einen Ausspruch des Justizrats Staub in der „Deutschen Juristenztg.“, in welchem auf das Bedenkliche solcher Wahrheits-Ermahnungen durch einen Schutzmann hingewiesen werde, und schloß mit dem Bemerken, daß ihm selten ein Fall vorgekommen sei, in welchem sowenig Material zu einem Schuldigspruche vorliege, wie hier. Mindestens müsse man zu einem non liquet kommen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Mendel suchte in längerer Rede nachzuweisen, daß sein Klient Luppa sich nicht der Begünstigung schuldig gemacht habe.

Verteidiger Justizrat Wronker suchte den Nachweis zu führen, daß die Freisprechung seiner Klientin Scheding aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen geboten sei.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Rechtsanwalt Fuchs fordere mit Recht Gerechtigkeit. Um so mehr müsse er sich wundern, daß er ihm diese Gerechtigkeit nicht widerfahren lasse. Er habe absolut nicht daran gedacht, einen ganzen Stand, den Rechtsanwaltsstand, anzugreifen. Er habe die größte Hochachtung vor dem Rechtsanwaltsstande; er habe keinen Namen genannt, sich der größten Zurückhaltung befleißigt und nur mit Tatsachen gerechnet. Er habe nur gesagt, die Handlungen, die hier vorgenommen werden, schädigen die Stellung der Staatsanwaltschaft. Ganz ungeheuerlich sei die Behauptung des Rechtsanwalts Fuchs, daß die Fälle zu zählen seien, in denen die Staatsanwaltschaft zur Entlastung der Angeklagten die Hand reiche. Die Staatsanwaltschaft sei die objektivste Behörde bis zur Erhebung der Anklage und prüfe das Für und Wider sehr sorgsam. Dann strecke sie die Waffen und überlasse das weitere dem Gericht. Rechtsanwalt Dr. Fuchs kenne eben die Akten der Staatsanwaltschaft nicht, sonst würde er wissen, daß in dem überwiegenden Teile der Fälle das Verfahren eingestellt werde, weil die Staatsanwaltschaft den Belastungen skeptisch gegenüberstehe. Vor den Ausführungen des Herrn Justizrats Wronker müsse er den Hut ziehen. Dieser habe ihn derartig überzeugt, daß er seinen Ausführungen beitrete und nun selbst die Freisprechung der Angeklagten Scheding beantrage.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Fuchs I wendete sich zunächst gegen die vom Oberstaatsanwalt geäußerte Anschauung, daß die Staatsanwaltschaft die objektivste Behörde sei. Wenn Staatsanwalt Braut sage, man müsse dem Angeklagten die mildernden Umstände schon aus Prinzip versagen, um dem Laster und der Prostitution entgegenzuwirken, so erwidere er: Die Prostitution sei so alt wie die Welt, und wenn sie – was er bestreiten möchte – heute größer sein sollte als früher, so sei dies nicht Schuld eines einzelnen Mannes, sondern Schuld gewisser sozialer Schäden, durch welche täglich ganze Scharen in den Schlamm hinabgedrückt gedrückt werden. Das Übel werde nicht verstopft werden, wenn man einen einzelnen Mann als Sühnopfer vor aller Welt schlachtet, sondern die Quelle könne vielleicht einmal durch gesetzliche Mittel verstopft werden. Und dann: die Teichert sei die letzte, über die man in Klagetöne ausbrechen müsse; sie sei ein verdorbenes Mädchen gewesen. Wenn man einen Mann, der in Verblendung einem mächtigen Naturtrieb folgend, mit solchen verdorbenen Mädchen in Berührung tritt, ins Zuchthaus schickt und das Gesetz mit verschränkten Armen zusehe, wenn ein junger Mann ein unbescholtenes 17jähriges Bürgermädchen verführt, so würde dies keine Gerechtigkeit sein.

Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel: Herr Dr. Fuchs sei ausschließlich „Zivilist“, und er begreife nicht, wie dieser auf so ungeheuerliche Angriffe gegen die Staatsanwaltschaft verfallen sei. Die Staatsanwaltschaft habe die schöne Aufgabe, die Rechtsgüter zu schützen, und wenn Rechtsanwalt Fuchs einmal in die Lage käme, sie zu diesem Schutz anzurufen, so würde er sehen, daß dies in vollstem Maße geschieht. Was das Strafmaß betrifft, so habe sein Kollege den durchaus richtigen Satz vertreten: es würden nicht so viele Mädchen auf den Weg des Verderbens geraten, wenn nicht so viele reiche Männer vorhanden wären, die sie darin unterstützten.

Angeklagter Sternberg erklärte, indem er um Nachsicht sicht wegen seiner leisen Stimme bat, da er gänzlich erschöpft und kampfesmüde sei, daß er derartige Handlungen, wie sie ihm in der Anklage zur Last gelegt werden, nie getan habe. Die Versuchung liege für ihn nahe, das ganze Gebiet der Anklage einzeln durchzugehen, er verzichte darauf und wolle sich darauf beschränken, sich gegen einige gegen ihn erhobene Vorwürfe zu verteidigen. Zunächst wolle er betonen, daß er keine Schuld an der langen Verhandlung habe. Er habe nichts verabsäumt zu seiner Verteidigung, aber er habe das Verfahren nicht frivol verschleppt. Wenn es sich um Zeugen, wie die Ehlert, die Schnörwange usw. handle und man deren Glaubwürdigkeit zeigen wolle, so müsse man sich doch in die Kreise begeben, in denen sie leben, um nachweisen zu können, wes Geistes Kinder sie seien. Den Zustand, in welchem er in dem vollen Gefühle seiner Unschuld hier auf der Anklagebank sitze, könne sich ein anderer gar nicht ausmalen. Es würde für ihn noch erträglicher gewesen sein, wenn dieser Prozeß, wie das erstemal, unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt worden wäre. Er gestehe zu, daß die bedauerlichen Zwischenfälle, die sich hier ereigneten, das öffentliche Interesse lebhaft erregen mußten. Unter der täglich größer werdenden Öffentlichkeit habe er aber furchtbar gelitten, und die Wirkung sei gewesen, daß die Zeitungen sich täglich mehr und mehr des Stoffes bemächtigten. mächtigten. Wenn er, wie er hoffe, freigesprochen werde, so sei er doch ein toter Mann, und seine Familie habe darunter furchtbar zu leiden. Er könne nur immer wieder und wieder versichern, daß er unschuldig sei, und könne versichern, daß seine Verteidiger von seiner Unschuld vollständig überzeugt seien. Der Fall Teichert, mit dem er tatsächlich gar nichts zu tun habe, stehe und falle mit der Aussage der Callis, die doch gänzlich unglaubwürdig sei. Er müsse sich auch gegen den Vorwurf verwahren, als ob er durch seine Nachforschungen nach Herrn Schneider aus Frankfurt a.d.O. in frivoler Weise auf einen sittlich intakten Menschen einen bösen Verdacht habe werfen wollen. So ungeheuer penibel habe er doch mit einem Manne nicht umzugehen brauchen, der mit einem Mädchen seit einem Jahre in Konkubinat lebe und Frau und Kinder verlassen habe. Er gestehe jetzt ohne weiteres, daß der von ihm gegen Herrn Schneider seinerzeit gehegte Verdacht keinerlei Hintergrund habe. Aber damals mußte er es annehmen, weil er wußte, daß er mit der Woyda nichts begangen habe, und weil er annehmen mußte, daß, wenn überhaupt etwas begangen worden sei, es von einem anderen begangen sein müsse. Würde die Woyda damals Herrn Schneider bezichtigt haben, dann wäre dieser in viel üblerer Lage gewesen als er selbst; denn wenn er auch durch Leichtsinn moralisch gefehlt habe, so habe er doch sein häusliches Leben so geführt, daß ihm nach dieser Richtung Vorwürfe nicht gemacht werden können. Für ihn waren damals die Ermittelungen nach Herrn Schneider durchaus nicht frivol, sondern sehr notwendig. Als er in diese Verhandlung eintrat, habe er noch nicht gewußt, daß Woyda jetzt eingestehe, wie er den sogenannten Umfall wohl nennen dürfe.

Was die Verwendung von Detektivs und die privaten Ermittelungen anlange, so bekenne er, daß er, der mit dem Bewußtsein, unschuldig zu sein, eine schwere Leidenszeit durchzumachen habe, selbstverständlich alles tun und alles aufbieten mußte, um die Hinfälligkeit der gegen ihn erhobenen schweren Vorwürfe zu erweisen. Ohne Detektivs sei dies absolut nicht möglich gewesen. Es sei doch nun einmal so: wer Bausteine zu einem Baukasten suchte und blaue Steine brauche, der suche eben nur nach blauen Steinen, und ebenso sei es doch bei der Polizei, die es nicht als ihre Aufgabe betrachte, Entlastungsmaterial zu ermitteln, sondern immer nur nach Belastungsmaterial ausschaue. Im Falle Fournaçon und im Falle Erhardt hatten die Ermittlerdienste doch schon wesentliche Dienste geleistet und bewirkt, daß diese beiden Fälle ohne weiteres fallen gelassen werden mußten. Gegen die Verwendung des Detektivs Schulze haben damals keinerlei Momente vorgelegen; gegen diesen sei Ungünstiges nicht bekannt gewesen, und er habe auch nichts darin gefunden, wenn er ihm für einen günstigen Erfolg seiner korrekt gedachten Tätigkeit eine große Belohnung zusicherte. Inkorrekte Handlungen, die in seinem Interesse unternommen sein sollten, können und dürfen ihm nicht zur Last gelegt werden, denn er habe davon keine Ahnung gehabt. Alles, was an schiefen Sachen vorgekommen, habe ihn völlig überrascht und verblüfft. Er bedauere, wenn sich Wolff, um ihm zu helfen, zum Unrecht habe hinreißen lassen. Er sei daran nicht beteiligt. Durch dieses Beiwerk und die ganze Atmosphäre, die durch diese Dinge hier verbreitet wurde, sei zu Unrecht seine eigene Position verschlechtert worden. Die Geschichte von der angeblich beabsichtigten Bestechung des Reichsgerichts sei eine so unsinnige Sache, daß er sie nur für eine Burleske halten könne. Er halte es für ganz ausgeschlossen, daß Fräulein Platho mit Dr. Werthauer das behauptete Gespräch gehabt haben könne. Solchen Unsinn begehe ein Verteidiger nicht, er sei aber auch völlig überzeugt, daß kein einziger seiner Verteidiger auch nur im entferntesten daran gedacht habe, irgendwelche unlauteren Mittel zu seinen Gunsten anzuwenden.

Den tiefbetrübenden Zwischenfall mit dem Kommissar Thiel bedauere er unendlich. Er könne es nicht fassen, daß Luppa einen solchen Weg gegangen sein sollte. Er selbst habe von Thiel nichts, absolut nichts gewußt, er müsse aber auch sagen, daß Thiel nach dem, was bisher bekannt geworden, außerordentlich geringfügige Dienste geleistet und dafür doch die sehr hohe Summe von 7-8000 M. erhalten habe. Luppa sei ein älterer Herr, der ihm treu ergeben sei, und der es sich zur Ehrenpflicht gemacht habe, alles daran zu setzen, um seine Unschuld an den Tag zu bringen. Wenn Luppa nur in diesem ganz uneigennützigen Streben zuweit gegangen sei, so bedauere er dies unendlich, um so mehr, als der gänzlich unbescholtene Luppa sich dadurch selbst in schwere Bedrängnis gebracht habe. Er wiederhole, daß er von der Thielschen Affäre nichts gewußt habe und müsse doch darauf hinweisen, daß Thiel ihm nicht als Opfer an die Rockschöße gehängt werden könne, da nicht Luppa sich an Thiel, sondern Thiel sich an Luppa gewandt habe.

Was Stierstädter anlange, so müsse er doch sagen, daß er nicht ganz der Meinung, die von autoritativer Stellung ausgesprochen worden, sei. Stierstädter sei von Haß und Verfolgungssucht gegen ihn erfüllt gewesen, derselbe Haß habe unbegründeterweise auch die Pfeffer efüllt, Fräulein Pfeffer und Stierstädter seien eng miteinander in Verbindung gewesen; sie waren befreundet und deshalb mußte der Verdacht ganz dringend werden, daß Fräulein Pfeffer der Mittelpunkt eines Komplotts sei. Dadurch seien seine Freunde dazu gekommen, darüber nachzudenken, wie man diese beiden Leute unschädlich machen könne.

Der Angeklagte wendete sich sodann in langer Ausführung zu dem Falle Pfeffer und verteidigte sich mit besonderem Nachdruck gegen den Vorwurf, daß er das Leben des Fräulein Pfeffer vergiftet und verdorben habe. Er habe das nicht getan. Sie habe sich, als er noch Junggeselle war, auf eine Annonce, in welcher für einen alleinstehenden Mann eine Wirtschafterin gesucht wurde, bei ihm gemeldet. Es sei grundfalsch, wenn eine Zeitung behaupte, sie sei als „Stütze“ bei ihm eingetreten. Fräulein Pfeffer habe die Situation durchaus klar überblickt, sie habe sich sofort am Tage nach ihrem Eintritt zu einem Verkehr mit ihm bereit erklärt, von einem romantischen Liebesverhältnis sei gar nicht die Rede gewesen. Das Verhältnis habe sich in Ruhe gelöst, er habe ihr vollauf das gewährt, was er ihr gewähren zu müssen meinte; er habe sie keineswegs hilf- und mittellos in die Welt gestoßen, sondern auch noch für Mitglieder ihrer Familie gesorgt. Er habe die Pfeffer keineswegs auf seinem Gewissen, deren Haß sei aber so groß, daß sie hier auch ihre Schwester in den Kreis ihrer Beschuldigungen hineinzog und die sofort herbeigeholte Schwester ihr erklären konnte, daß sie von alledem nichts wußte. Die Geschichte mit dem Briefe der Fischer an Fräulein Pfeffer halte er für eine zwischen diesen beiden Personen abgekartete Sache, um Geld von ihm zu erlangen.

Er sei keineswegs bloß den Weibern nachgelaufen, sondern sei auch bemüht gewesen, Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter zu schaffen. Er sei auch nicht ein Schlemmer, sondern ein Freund anstrengender geistiger Arbeit und besitze den Ehrgeiz, eine angesehene Position zu erlangen. Sein Vermögen sei ihm sicher nicht in den Schoß gefallen, sondern die Frucht seines Fleißes. Seine Lieferanten und viele Geschäftsleute könnten davon erzählen, wie er noch spät abends mit ihnen verhandelt habe. Er habe sparsam gelebt, und in seinem Hause sei nie eine Lotterwirtschaft gewesen, er habe sein Haus stets rein gehalten. Allerdings, seine Frau habe er unglücklich gemacht – hier brach der Angeklagte in Schluchzen aus. Er sei seinem fürchterlichen Bedürfnis nachgegangen, aber er habe sich Personen ausgesucht, bei denen er einen moralischen Schaden nicht anrichten konnte. So viel Klugheit müsse man ihm doch zutrauen, daß er nicht alles dadurch aufs Spiel setzen würde, indem er sich zu Handlungen hinreißen lasse, die das Gesetz schwer bestrafe. Er habe, wie er es früher getan, jedes Mädchen, das ihm zu jung erschien, fortgewiesen. Er bitte dringend, ihm zu glauben, daß Margarete Fischer, die Wender und er selbst in dem Woyda-Falle die volle Wahrheit gesagt haben, er bitte, ihm zu glauben, daß er nicht annahm, ein Mädchen unter 14 Jahren vor sich zu haben, als er mit der Teichert in Berührung gekommen sei und bitte dringend um seine Freisprechung.

Die Angeklagte Wender versicherte nochmals, daß alles, was die Frida Woyda in der ersten Verhandlung von ihr behauptet habe, unwahr sei.

Nach mehrstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Müller, folgendes Urteil: Der Angeklagte Sternberg ist des Verbrechens gegen die Sittlichkeit in vier Fällen schuldig und deshalb zu zwei Jahren sechs Monaten Zuchthaus, wovon sechs Monate als verbüßt zu erachten sind, ferner zu fünf Jahren Ehrverlust zu verurteilen, von der Anklage des Sittlichkeitsverbrechens in einem fünften Falle aber freizusprechen. Die Angeklagte Wender ist der Beihilfe in drei Fällen schuldig und deshalb zu sechs Monaten Gefängnis, unter Anrechnung von zwei Monaten Untersuchungshaft, zu verurteilen. Die Angeklagte Scheding ist freizusprechen. Die Kosten fallen, soweit eine Verurteilung erfolgte, den Angeklagten, soweit Freisprechung erfolgte, der Staatskasse zur Last.

Durch die Hauptverhandlung ist festgestellt, daß Sternberg lange Jahre hindurch in zügelloser Weise geschlechtlichen Ausschweifungen gefrönt hat. Er selbst hat zugegeben, daß er, obgleich er verheiratet ist, häufig mit Frauenspersonen verkehrte, die ihm von Kupplerinnen, darunter der Margarete Fischer, zugeführt wurden. Nach der Beweisaufnahme waren es 30 bis 50 in einem halben Jahre. Weiter ist erwiesen, daß Sternberg seine sträfliche Begierde besonders auf unerwachsene Mädchen gerichtet hat. Dies ergibt sich schon aus einem früheren Urteil, ferner daraus, daß Margarete Fischer, welche die Malermodelle zu Unzuchtszwecken anlockte, nur Mädchen von 14 bis 16 Jahren verlangte und daß Barbier Sandmann Mädchen im gleichen Alter ein- und ausgehen sah. Der Pfeffer gegenüber hat der Angeklagte Sternberg offen erklärt, daß er nur an Mädchen jugendlichen Alters Gefallen finde und daß ihm 15jährige schon zu alt seien. Seine Geneigtheit, seine Begierden zu befriedigen und dabei nicht bloß die Grenzen der Sittlichkeit, sondern auch die des Strafgesetzbuches zu überschreiten, wird dadurch bewiesen, daß er die Pfeffer zu schwerer Kuppelei anhalten wollte und ihr auf ihre Bedenken eine zynische Äußerung machte. Nach alledem ist Sternberg ein Mann, dem man die Begehung solcher Straftaten zutrauen kann.

Was die Verbrechen gegen die Woyda betrifft, so hat der Gerichtshof auf Grund des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen, daß sich der Vorgang so zugetragen hat, wie ihn die Frida Woyda in der früheren Verhandlung geschildert hat, daß namentlich dreimal unzüchtige Handlungen dieser Art mit ihr vorgenommen worden sind. Daß in Einzelheiten sich Abweichungen vorfinden, ist sehr erklärlich. Frida war damals ein Kind mit freundlichem, offenen Wesen. Sie zeigte Schamhaftigkeit und sprach zunächst mit niemandem über ihre Erlebnisse. Die erste Mitteilung hat sie erst gemacht, als sie darum befragt wurde, und dann hat sie der Frau Schindler gesagt, daß sie sich geschämt habe. Weinend hat sie wiederholt, daß sie nicht dafür könne. Frida wußte, daß sie bei Schindlers bleiben konnte, wenn sie alles leugnete, und sie hat es doch nicht getan, ferner hat sie den Frauen Koslowski und Dreßler gesagt, Sternberg hätte noch mehr verdient. Ähnliche Äußerungen hat sie gegenüber der Frau Piper und anderen Schulmädchen gemacht. Alles das spricht klar dafür, daß die Erzählungen nicht Erfindungen einer krankhaften Phantasie gewesen sind. Es wäre auch ganz undenkbar, daß Frida Woyda solche Erfindungen monatelang behalten und in der ersten Verhandlung trotz aller Einreden der Verteidigung aufrechthielt. Dazu werden die Erzählungen noch mit unterstützt durch die Auta Wender. Die Gutachten der medizinischen Sachverständigen sind voll berücksichtigt worden, aber der Gerichtshof ist der Meinung, daß Frida in diesem konkreten Falle nicht die Unwahrheit gesagt hat. Wenn sie jetzt anders aussagt, so beruht dies augenscheinlich auf Beeinflussung. Es ist festgestellt, daß zahlreiche Verbrechen begangen sind, um die Taten des Angeklagten zu verdunkeln, daß mit Sternbergschem Gelde die unsaubersten Machenschaften Platz gegriffen haben, und es liegt auf der Hand, daß diese vor der Hauptzeugin Frida Woyda nicht halt gemacht haben. Mit Sicherheit ist nicht festgestellt worden, von wem die Beeinflussungen ausgegangen sind, aber Herrn v. Tresckow und dem Lehrer ist das veränderte und verstockte Benehmen nach der ersten Verhandlung aufgefallen. Dazu kommt, daß dem Zeugen Stierstädter plötzlich das veränderte Verhalten der Eheleute Blümke ihm gegenüber auffiel. Frida fiel um in dem Augenblick, als Stierstädter den Befehl erhielt, seine Ermittelungen einzustellen. Auf eine Beeinflussung deutet ferner, daß Blümkes keine Anzeige von der anderen Aussage des Mädchens gemacht haben, endlich die gleichlautende Motivierung Fridas: „Stierstädter hat es mir eingeredet!“ Die Richter müßten in geradezu grenzenloser Weise leichtgläubig sein, wenn sie dies glauben sollten. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß sie zu der diesmaligen Aussage abgerichtet ist, und zwar nach der bestimmten Methode, immer zu sagen: „Ich weiß es nicht.“ Das behält sich leichter, als die bogenlangen Instruktionen, die ihr angeblich auf dem Gerichtskorridor oder auf der Straße beim Rasseln der Wagen eingepaukt sein sollen. Alle Behauptungen Sternbergs, daß ein Komplott gegen ihn geschmiedet sei, um ihn zu verderben, daß die Pfeffer, die Clara Fischer usw. sich an ihm rächen wollen, erscheinen dem Gerichtshof völlig widerlegt. Daß ferner eine Anwendung von Gewalt nicht vorgekommen, zeigt schon der Brief der Margarete Fischer vom 1. Mai, der vom Gerichtshof als das Geständnis einer schuldbeladenen Seele aufgefaßt worden ist. Das Gericht hat sich hiernach auch für zuständig in dieser Sache erachtet.

Die Teichertsche Tat wird nachgewiesen durch die Callis in Verbindung mit der eigenen Aussage der Teichert und des Angeklagten selbst. Nach Ansicht des Gerichts hat der Angeklagte gewußt oder annehmen müssen, daß die Teichert damals noch nicht 14 Jahre all war. Herr v. Tresckow, Herr Stierstädter und andere haben bekundet, daß das Mädchen damals noch den Eindruck eines Schulkindes machte. Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte, selbst wenn die Teichert gesagt haben sollte, sie sei schon 14 Jahre, mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß sie doch noch unter 14 Jahre alt sei. Sein Bestreben ging eben dahin, mit möglichst jungen Mädchen Verkehr zu haben. Sonach liegen drei Verbrechen gegen die Sittlichkeit im Falle Woyda, eins im Falle Teichert vor. Der Fall Callis scheidet aus, weil dies Mädchen schon über 14 Jahre alt war.

Was die Zumessung der Strafe betrifft, so kann der Gerichtshof bezüglich des Falles Woyda nicht über das früher erkannte Strafmaß von zwei Jahren Gefängnis hinausgehen; es liegt aber auch kein Anlaß vor, die Strafe zu ermäßigen. Der Fall Teichert liegt milder als der Fall Woyda; hier ist die moralische Schädigung nicht so groß, denn die Teichert war schon früh verdorben, während die Frida Woyda ein unschuldiges, in Pflege gegebenes Waisenkind war. In der ersten Verhandlung sind dem Angeklagten mildernde Umstände zugebilligt worden, weil der Fall Woyda als vereinzelte Verirrung angesehen wurde. Jetzt ist aber jeder Zweifel gehoben, daß ihm ein Hang innewohnt, sich an Kindern zu vergehen. Deshalb hat der Gerichtshof eine Zuchthausstrafe für angemessen erachtet, ist aber im Falle Teichert nicht erheblich über das Strafminimum hinausgegangen und hat auf ein Jahr drei Monate Zuchthaus erkannt. Die zwei Jahre Gefängnis im Falle Woyda sind in ein Jahr acht Monate Zuchthaus umgewandelt und die Gesamtstrafe auf zwei Jahre sechs Monate Zuchthaus, wovon sechs Monate als verbüßt erachtet werden, festgesetzt worden. Bei der Schwere der Tat und der Ehrlosigkeit der Gesinnung ist auch auf fünf Jahre Ehrverlust erkannt.

Bei der Wender liegen drei Fälle der Beihilfe vor. Mit Rücksicht darauf, daß sie noch jugendlich und bei der Fischer verdorben worden ist, ist auf sechs Monate Gefängnis erkannt, wovon zwei Monate als verbüßt erachtet wurden.

Bezüglich der Scheding war der Gerichtshof nicht überzeugt, daß sie sich der Begünstigung schuldig gemacht hat, obwohl erhebliche Gründe dafür sprechen. Der Gerichtshof war außerdem der Ansicht, daß die Scheding die Beleidigung in Wahrung berechtigter Interessen ausgesprochen hat.

Die Verhandlung gegen Luppa mußte vertagt werden. Die Wender wird aus der Haft entlassen.

Die von Sternberg gegen das Urteil eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen.

Das auf eigenen Antrag eingeleitete Disziplinarverfahren gegen Justizrat Dr. Sello, Rechtsanwalt Dr. Werthauer und Rechtsanwalt Dr. Mendel endete in allen drei Fällen, und zwar in beiden Instanzen mit völliger, glänzender Freisprechung. Dagegen wurden noch mehrere Leute wegen Verleitung zum Meineid, Erpressung und Beleidigung zu hohen Strafen verurteilt.