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Prozeß wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki wegen Kindesunterschiebung

Nirgends spiegelt sich das öffentliche Leben derartig wieder als an der Stätte, wo Frau Justitia mit Zepter und Wage ihres Amtes waltet. Unaufhörlich wechseln die Bilder. Bald ist es ein Lustspiel, bald ein erschütterndes Drama, bald gar eine Tragödie, die zur richterlichen Aburteilung gelangt. Der Prozeß wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki, der im letzten Viertel des Jahres 1903 das Schwurgericht des Landgerichts Berlin I zwanzig Tage beschäftigte, zählt trotzdem zu den größten Seltenheiten. Handelte es sich doch um den spannenden Roman eines Grafenkindes, der nicht in einem Roman erzählt wird, sondern in rauher Wirklichkeit vor einem preußischen Schwurgerichtshof in der Hauptstadt des Deutschen Reiches verhandelt wurde. Und das Grafenkind, über dessen Geburt sich noch immer eine arme Bahnwärtersfrau und ein sehr reiches Grafen-Ehepaar streitet, erschien leibhaftig, von einem preußischen Gerichtsdiener geführt, vor dem Richtertisch. Der damals siebenjährige Graf Josef Adolf Stanislaus Kwilecki, Erbe des großen, in der Provinz Posen belegenen Majorats Wroblewo, ein auffallend schöner Knabe, soll der uneheliche Sohn eines blutarmen Krakauer Dienstmädchens sein, das inzwischen einen böhmischen Bahnwärter geheiratet hat. Kaum geboren, soll ihn seine arme Mutter für hundert österreichische Gulden verkauft haben. Nach einiger Zeit regte sich aber bei dem Mädchen die Mutterliebe. Sie empfand Sehnsucht nach ihrem Kinde und bereute, daß sie den hübschen Jungen für ein paar Silberlinge verschachert hatte. Sie wandte sich an die Hebamme, die den Verkauf des Kindes vermittelt hatte, und an den Krakauer Rechtsanwalt Dr. Filmowski, dem vom Gericht die Vormundschaft des Kindes übertragen war. Die Hebamme wußte, daß das Kind an eine Grafenfamilie nach Deutschland verkauft worden sei. Die Käuferin hatte der Mutter die Versicherung gegeben: das Kind werde es so gut haben, daß ihm eigentlich nur noch das Himmelreich fehlen werde. Inzwischen traf auch ein Mann aus Deutschland in der armseligen Wohnung des Krakauer Dienstmädchens ein. Dieser erzählte: ein Grafen-Ehepaar in der Provinz Posen, Besitzer eines umfangreichen Majorats, werde beschuldigt, einen Knaben aus Krakau gekauft zu haben, um den Anschein zu erwecken, es sei dem schon bejahrten Grafen-Ehepaar ein männlicher Leibeserbe geboren worden. Das Grafenpaar bedürfe eines solchen, da durch die große Verschwendungssucht der Gräfin die gräfliche Familie eine große Schuldenlast habe, so daß der Gerichtsvollzieher fast täglicher Gast im Grafenschloß sei und von den Familienangehörigen und der Dienerschaft „Onkel“ genannt werde. Das Vorhandensein eines männlichen Leibeserben berechtige die Grafenfamilie, eine Hypothek auf das Majorat aufzunehmen, in den weiten Waldungen Holz in großen Massen fällen zu lassen und dies zu verkaufen. Ohne das Vorhandensein eines männlichen Leibeserben sei zu beiden Sachen die Genehmigung der Agnaten erforderlich, an die auch alsdann nach dem Tode des Grafen das Majorat falle. Die Gräfin müßte, wenn ein männlicher Leibeserbe nicht vorhanden sei, nach dem Ableben ihres Gatten die gräfliche Besitzung verlassen. Der Mann war der Agent Hechelski aus Posen, der im Auftrage des Grafen Hektor Kwilecki nach Krakau gekommen war, um die Verschacherung des Knaben festzustellen. Graf Hektor würde der Erbe des Majorats sein, wenn der jetzige Majoratsherr Graf Zbigniew Wesierskie Kwilecki ohne männlichen Leibeserben stürbe. Es wurde außerdem festgestellt, daß die im Jahre 1846 geborene Gräfin Isabella Wesierska Kwilecki Ende Januar 1897 von Wroblewo nach Berlin gekommen sei, hier in der Kaiserin-Augustastraße 74 eine Wohnung gemietet und am 27. Januar 1897 angeblich einen Knaben geboren habe. Es fiel auf, daß die Gräfin, deren letzte Schwangerschaft 18 Jahre zurücklag, und die mit ihrem damals 58jährigen Gatten eine sehr schlechte Ehe geführt, noch im 51. Lebensjahre bensjahre Mutterfreuden erlebt habe. Es fiel auch auf, daß sie ihre Niederkunft nicht im Grafenschlosse Wroblewo, wo sie alle Bequemlichkeiten hatte, abwartete, sondern eigens zu diesem Zweck eine Wohnung in Berlin gemietet hatte, hier ohne Hinzuziehung eines Arztes einen Knaben gebar und als der aus Wronke telegraphisch herbeigerufene langjährige Hausarzt, Sanitätsrat Dr. Rosinski die Gräfin und das Kind untersuchen wollte, die gräfliche Wöchnerin beide Untersuchungen mit Entschiedenheit ablehnte. Diese und noch andere Verdachtsgründe gelangten schließlich zur behördlichen Anzeige. Im Januar 1903 wurde Gräfin Isabella Kwilecka verhaftet. Einige Zeit darauf wurde auch ihr Gatte, Grat Zbigniew Kwilecki, in Haft genommen. Ende Oktober 1903 wurde das gräfliche Ehepaar unter der Anklage der Kindesunterschiebung vor das Schwurgericht Berlin I gestellt. Neben dem gräflichen Ehepaar saßen die Hebamme Katharine Ososka wegen wissentlichen Meineids, die Dienerin Josepha Knoska und die Dienerin Pronislawa Chwiatkowska wegen Beihilfe zur Kindesunterschiebung auf der Anklagebank. Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Leuschner. Die Anklage vertraten Erster Staatsanwalt Steinbrecht und Staatsanwalt Dr. Müller. Die Verteidigung führten Justizrat Wronker und Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner (Berlin), Justizrat Dr. v. Sittorski, Justizrat Dr. Lewinski, Rechtsanwalt Dr. v. Rychlowski, Rechtsanwalt Dr. Eger und Rechtsanwalt Dr. Iborowski (Posen). Als medizinische Sachverständige wohnten der Verhandlung bei Professor Dr. Dührßen, Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer, Kreisarzt Medizinalrat Dr. Leppmann, Gerichtsarzt Professor Dr. Straßmann und Professor Dr. Alexander Brückner (Berlin), Kreisarzt Dr. Paniarski (Posen), Sanitätsrat Dr. Rosinski (Wronke), Professor Dr. Freund (Straßburg, Elsaß) und als Schreibsachverständiger Rechnungsrat Junge (Berlin). Da die Mehrheit der Zeugen nur polnisch verstand, waren Regierungsrat Brandt und Rechnungsrat Groß als Dolmetscher der polnischen Sprache hinzugezogen. Der große Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Gerichtsgebäudes, in dem der Kampf um das Grafenkind 20 Tage geführt wurde, bot einen ganz seltenen Anblick. Ist es schon ein noch niemals vorgekommenes Ereignis, daß ein gräflicher Majoratsbesitzer nebst seiner Gattin aus der Untersuchungshaft auf die Anklagebank geführt wird, um sich wegen eines Verbrechens zu verantworten, das im Strafgesetzbuch mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bedroht ist, so veranschaulichten die Zeugen, weit über 200 an der Zahl, ein ganz eigenartiges Bild. In erster Reihe fiel der kleine Graf Joseph Stanislaus Kwilecki, der, ganz in Weiß gekleidet, den Gerichtssaal betrat, auf. Der kleine Junge, mit schneeweißem, fein geschnittenem, klassisch schönem Antlitz, schwarzem, dichtem Lockenhaar und kohlschwarzen großen Augen, hatte jedenfalls keine Ahnung, daß er die Hauptperson in diesem forensischen Drama bildete. Nicht weit von ihm stand seine angebliche Mutter, die jetzt verehelichte böhmische Bahnwärtersfrau Cäcilie Meyer, geborene Pracza, eine ärmlich gekleidete, aber noch immer hübsche Frau mit ihrem kleinen unehelichen Sohn Felix, der ein Jahr früher als der kleine Graf in einer armseligen Dachkammer in einer Vorstadt Krakaus das Licht der Welt erblickt hat. Aber auch der angebliche Vater der beiden Knaben, Ritter v. Ziegler, Hauptmann im 20. österreichischen Infanterieregiment aus Krakau, ein mittelgroßer, schneidiger, hübscher Mann von damals etwa 35 Jahren, war erschienen. Die große Mehrheit der Zeugen waren polnische Arbeiterinnen, aber auch einige Vertreter des polnischen Hochadels, wie die Agnaten, Mitglied des preußischen Herrenhauses Graf Miecislaw Kwilecki und dessen Sohn, der Reichstagsabgeordnete und Rittmeister der Reserve, Graf Hektor Kwilecki, ferner polnische Reichstags- und Landtagsabgeordnete, Geistliche und endlich Polizeibeamte, an der Spitze der bekannte Berliner Kriminalkommissar v. Tresckow I. Die Vernehmung der angeklagten Gräfin, die dem höchsten polnischen Adel entstammte und einstmals eine auffallende Schönheit gewesen wesen sein soll, gestaltete sich ungefähr folgendermaßen: Vors. (zur Gräfin): Bekennen Sie sich schuldig? Sie sind angeklagt, in Gemeinschaft mit Ihrem Ehemann ein Kind untergeschoben zu haben.

Angeklagte: Will ich ausgeblasen werden und hier Erde sein, wenn ich was weiß von solcher secret – wie sagt man doch, Geheimnis?

Vors.: Seit wann sind Sie verheiratet?

Angekl.: Seit dem 12. Juli 1864.

Vors.: Sie waren am 27. Januar 1897, als Sie einem Kinde das Leben gegeben haben wollen, 51 Jahre alt?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Ihre Ehe soll nicht sehr friedlich gewesen sein. Angekl.: Glücklich war sie nicht. Vors.: Sie soll mehr wie nicht glücklich gewesen sein, Sie sollen Ihren Gatten oft mit sehr groben Schimpfworten bedacht haben?

Angekl.: Oft war ich böse, oft habe ich geschimpft; es gab aber auch Zeiten, wo wir sehr gut lebten, namentlich in den letzten Jahren.

Vors.: Also früher war Ihr eheliches Verhältnis mehr schlecht als gut?

Angekl.: Es war bald so, bald so.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Angekl.: Sie habe fünf Kinder geboren. Der Älteste, ein Knabe, sei 1865 geboren und bald verstorben. Ihre älteste Tochter ter sei 1866, die zweite 1873 und die dritte 1879 geboren. Vors.: Sie sollen häufig von Ihrem Mann getrennt gelebt und sich gar nicht um ihn gekümmert haben?

Angekl.: Ich bin häufig monatelang bei meinen Eltern gewesen, da war die Trennung doch natürlich.

Vors.: Sie sollten schon vor Jahren den Offenbarungseid leisten, zogen es aber vor, ins Ausland zu gehen?

Angekl.: Es waren Schulden meines Mannes, die mich nichts angingen. Ich habe alles, was wir nötig hatten, selbst gekauft und auch bezahlt.

Vors.: Der Gerichtsvollzieher soll bei Ihnen aus – und eingegangen sein. Er soll so häufig zu Ihnen gekommen sein, daß er „Onkel“ genannt wurde?

Angekl.: Das ist wahr.

Vors.: Ihre Schuldenlast soll 450000 Mark betragen haben, Sie sollen sehr verschwenderisch gelebt haben?

Angekl.: O nein. Ich habe sehr viel Geld ausgeben müssen, aber nicht für meine Person. Ich habe das Schloß aufbauen lassen und alles gekauft, was sich in Wroblewo befindet. Es waren 20 Zimmer, aber keine Möbel oder sonst was, das hat natürlich eine erhebliche Summe verschlungen. Mein Vater hat mir häufig Geld gegeben, um die Schulden meines Mannes zu bezahlen.

Vors.: Sie sollen geäußert haben: „Ich muß mit meinem Körper eine Veränderung vornehmen, damit die Leute glauben, ich sei in gesegneten Umständen, dann werden wir wieder Kredit erhalten“?

Angekl.: Herr Vorsitzender, das ist leeres Gerede.

Vors.: Als Sie im Sommer 1896 von Montreux nach Wroblewo zurückkehrten, sollen Sie angegeben haben: Sie seien in anderen Umständen?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Es wird nun von der Anklage angenommen, daß dies Heuchelei war, es sei Ihnen nur darauf angekommen, einen männlichen Erben vorweisen zu können, der einst Anspruch auf das Majorat hätte und daß Sie deshalb ein fremdes Kind untergeschoben haben?

Angekl.: O bitte, mein Mann ist so gesund, wie ein Mann nur sein kann.

Vors.: Sie hatten Ihren Verwandten angezeigt, daß Sie nochmals Mutter werden würden und Ihre Entbindung im Auslande vornehmen lassen wollten?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie wissen, daß Ihre angebliche Schwangerschaft bei den Agnaten ein solches Mißtrauen erregte, daß diese brieflich an Sie die Aufforderung richteten, im Reichsgebiet zu entbinden. Sie wissen auch, daß wiederholt gesagt wurde, Sie müßten in Posen auf offenem Markte entbunden werden, sonst glaube man es nicht?

Angekl.: Das waren nur Späße. Der Angeklagte, Grat Zbigniew Kwilecki bestritt, sich der Beihilfe zur Kindesunterschiebung schuldig gemacht zu haben. Der kleine Joseph Stanislaus sei sein natürlicher Sohn, er sei stolz darauf.

Vors.: Sie sollen zu einigen Leuten, die die große Schönheit des Kindes betonten, gesagt haben: Ich wünschte, der Junge wäre tot?

Angekl.: Das ist eine krasse Unwahrheit.

Vors.: Sie sollen eine schlechte Ehe geführt haben, zumal Sie mehrere Liebesverhältnisse hatten?

Angekl.: Weshalb sollte ich nicht Liebesverhältnisse haben. (Große Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Der Vorsitzende setzte darauf die Vernehmung der angeklagten Gräfin fort und hielt ihr vor, daß sie die im Jahre 1828 geborene Dienerin Aniela Andruszewska im Januar 1897 nach Krakau mit dem Auftrage gesandt habe, ihr einen neugeborenen Knaben mit schwarzen Augen und dunklem Haar zu besorgen. Die alte Frau, die 1900 gestorben sei, habe dies ihrer Tochter Hedwig auf dem Sterbebett erzählt und hinzugefügt, daß die Schwangerschaft der Gräfin eine Komödie gewesen sei. Der Vorsitzende hielt der Angeklagten ferner vor, daß der Droschkenkutscher sich gemeldet habe, der am 26. Januar 1897 zwei schwarz gekleidete, verschleierte Damen, die polnisch sprachen, von der Kaiserin-Augusta-Straße nach dem Schlesischen Bahnhof gefahren habe. Der Kutscher habe am Bahnhof lange Zeit warten müssen. Als die Damen aus dem Bahnhofsgebäude gekommen seien, hatte die eine unter ihrem Mantel einen großen Gegenstand. Er habe die Damen nach der Kaiserin-Augusta-Straße zurückgefahren und dafür 6 Mark und 1 Mark Trinkgeld erhalten. Die Angeklagte versicherte auf alle diese Fragen, daß sie richtig entbunden habe.

Die angeklagte Hebamme Ossowska bemerkte: Sie habe aus Anhänglichkeit zu der gräflichen Familie der Gräfin schriftlich bescheinigt, daß sie richtig geboren habe und dies auch auf dem Gericht in Posen beschworen. Sie habe aber falsch geschworen. Sie müsse das bekennen, da sie ihr Gewissen bedrücke.

Die angeklagten Dienerinnen beteuern, sich der Beihilfe zur Kindesunterschiebung nicht schuldig gemacht zu haben.

Eine große Anzahl Zeugen bestärkten den Verdacht der Kindesunterschiebung, einige Damen vom polnischen Hochadel beschworen jedoch, daß sie der Entbindung in der Kaiserin-Augusta-Straße beigewohnt haben bzw. bald nach geschehener Entbindung am Wöchnerinnenbett erschienen seien. Es habe eine richtige Entbindung stattgefunden. Sehr lange Zeit nahm die Vernehmung der Hedwig Andruszewska in Anspruch. Diese versicherte: ihre Mutter habe ihr auf dem Sterbebett erzählt: die Entbindung der Gräfin sei eine Komödie gewesen. Die Mutter sei im Auftrage des gräflichen Ehepaares im Januar 1897 nach Krakau gefahren, um einen neugeborenen Knaben mit schwarzen Augen und dunklem Haar zu besorgen. Dies habe sie auch nach anfänglicher Weigerung getan. Sie habe einen solchen Knaben durch Vermittelung einer Krakauer Hebamme einem armen Dienstmädchen in einer Vorstadt Krakaus für 100 Gulden abgekauft, obwohl der Knabe schon einige Wochen alt war. Der Knabe sei nach Berlin gebracht worden. Dieser Knabe werde jetzt als von der Gräfin geboren ausgegeben. Von einer Anzahl Zeugen wurde Hedwig Andruszewska als wenig glaubwürdig und auch als rachsüchtig bezeichnet. Sie soll auch geäußert haben, sie werde sich an der Gräfin wegen schlechter Behandlung rächen. Mehrere Zeugen bekundeten: Die alte Andruszewska sei im ganzen Monat Januar und auch ganz bestimmt am 26. und 27. Januar in Wroblewo gewesen. Die Warschauer Hebamme, die die Gräfin entbunden, weilte nicht mehr unter den Lebenden. Ihr Sohn, der nebst seiner Frau aus Warschau als Zeuge erschienen war, vermochte nichts von Belang zu bekunden.

Von Bedeutung war die Zeugenaussage des Grafen Hektor Kwilecki, aus dessen Vernehmung folgendes mitzuteilen ist.

Vors.: Welches persönliche oder pekuniäre Interesse resse haben Sie selbst an dem Ausgang dieses Prozesses?

Zeuge: Ich habe vor allen Dingen das Interesse, daß die Wahrheit an den Tag komme. Ich betrachtete es gewissermaßen als meine Pflicht, dahin zu wirken, daß mein Vater von dem Vorwurf befreit würde, daß sein bezüglich des Knaben erhobener Verdacht unberechtigt gewesen sei. Als Familienmitglied habe ich schließlich doch auch ein Interesse daran, daß die Familie rein bleibt und nicht ein Kind in die Familie kommt, das der uneheliche Sohn einer sonst vielleicht ganz braven Person ist und den man dann als seinen Vetter und später vielleicht als Haupt der Familie anerkennen muß. Keineswegs leitet mich Habsucht. Ich habe genug und brauche nicht nach der Übernahme des verlotterten Majorats zu streben, das mindestens für eine Generation gar kein Geschäft ist. Ich halte es für die Pflicht eines jeden, der einmal in das Majorat eintreten würde, für diejenigen, die, schuldig oder unschuldig, aus dem Majorat herausmußten, Sorge zu tragen. Ich halte es für meine Pflicht, die Lebensversicherungspolice des Herrn Grafen weiter zu zahlen, für die armen Komtessen, die für die ganze Geschichte doch nichts können, zu sorgen, aber auch für den Jungen zu sorgen, der unglücklich ist, weil er aus seinen Verhältnissen herausgerissen und verzogen worden ist. Ich würde ihn nicht, wie angedeutet worden ist, zu irgendeinem Schuster oder Schneider, sondern ganz woanders hinbringen, um dafür zu sorgen, daß er nicht künftig zu einem Verbrecher würde. Von einem Plus aus der Bewirtschaftung des Majorats wird auf Jahre hinaus nicht die Rede sein können. Unsere Familie ist seit 500 Jahren in Ehren gewesen. Ich kenne keine Familie in ganz Europa, die es sich gefallen lassen würde, daß ein hergelaufenes uneheliches Kind plötzlich der Besitzer eines Majorats werde. Ich bin an die ganze Geschichte nur höchst ungern herangetreten, mir liegt an der Verurteilung nichts, denn es ist nicht angenehm, Angehörige seines Namens und seiner Familie hinter Schloß und Riegel zu wissen. Dieses Strafverfahren ist ja nur das Vorspiel, das Nachspiel wird in Posen kommen, denn nach Schluß dieses Prozesses werde ich den Zivilprozeß in Posen aufnehmen. Richtig ist, daß einmal der Gräfin der Gedanke nahegelegt worden ist, zur Vermeidung des Eklats doch ins Ausland zu gehen. Es tut mir ja leid, daß es soweit gekommen ist, aber vor allen Dingen muß doch die Wahrheit an den Tag kommen.

Vors.: Sie, Herr Zeuge, befinden sich in glänzender Vermögenslage? Sie sind zu einem Einkommen von 150000 Mark veranlagt. Ihr Vater hat ein Vermögen von 1300000 Mark, sein Besitz beträgt 30000 Morgen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Wie groß ist Ihre eigene Familie?

Zeuge: Ich habe einen Sohn und drei Töchter. Ich würde natürlich stets dafür sorgen, daß die Gräfin, wenn sie aus der Herrschaft hinaus müßte, nicht auf die Straße gesetzt würde, aber die Frau Gräfin geht wohl aus Hochmut oder weil sie nicht auf die Gnade von Verwandten angewiesen sein will, ihre eigenen Wege.

Auf weiteres Befragen erklärte der Zeuge: Die Frau Gräfin hat einmal die Äußerung getan: „Wenn ich den Prozeß verliere, so schieße ich den Jungen und mich tot.“ So spricht doch keine Frau, die die wirkliche Mutter eines Kindes ist. Ebenso hat der Vater einmal geäußert: „Er sei der letzte Majoratsherr aus seiner Familie“, und als man ihn auf seinen Knaben hinwies, hat er gesagt: „Ach, ich wäre froh, wenn der Sohn nicht da wäre oder nicht lebte.“ Das ist doch auch bezeichnend genug.

Graf Hektor bemerkte ferner auf Befragen: Zu dem Thema „Bestechung“ ist so viel gelogen worden, daß es um aus der Haut zu fahren ist. Man hat gesagt, ich hätte der Ossowska 15000 Taler versprochen, einem anderen soll ich 30000 Mark versprochen haben, man behauptet, ich hätte „Millionen“ ausgegeben (die ich überhaupt nicht habe). Man hat gefabelt, ich wollte nachts in Wroblewo den angeblichen Sohn stehlen, um ihn beiseite zu schaffen, der Untersuchungsrichter hat mir sogar einmal in scherzhafter Form mitgeteilt, daß behauptet werde, ich wollte den Knaben ermorden. Ich habe geantwortet: Jawohl, ich sehe wohl gerade wie ein Mörder aus! (Heiterkeit!) Später erhielt ich von dem Dr. Filimowski in Krakau, der dort Rechtsgeschäfte betreibt, einen Brief des Inhalts, daß er die Angelegenheit des untergeschobenen Kindes gut kenne. Dr. Filimowski ist inzwischen durch Dekret des Bezirksgerichts in Krakau zum Vormund des kleinen Jungen, der in Wahrheit Leo Franz Parcza heißt, bestellt worden. Dr. Filimowski hat mir in dem Briefe auch mitgeteilt, daß Professor Rosenblatt und ein Rechtsanwalt sich an diesen gewandt und gesagt hätten: er möchte doch die Familie nicht ins Unglück stürzen. Nachdem ihm Hechelski Bericht erstattet, sei er nach Krakau gefahren. Er habe dort der Cäcilie Meyer sechs bis acht Knaben-Photographien vorgelegt und ihr gesagt: „Darunter befindet sich Ihr Sohn, suchen Sie diesen doch einmal heraus!“ Sie hat auf die Photographie des angeblichen „kleinen Grafen“ gedeutet und gesagt: „Das ist er! Das ist mein Sohn, darauf will ich schwören!“ Nach sieben Jahren konnte sie ihn natürlich nicht ohne weiteres erkennen, sie erkannte ihn aber an der Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder, der von demselben Vater stammt. Einige Zeit darauf meldete sich bei mir die Hedwig Andruszewska und teilte mir alles auf die Kindesunterschiebung Bezügliche mit. Ich dachte mir, daß ja schließlich alles Quatsch sei, was so unter vier Augen gesagt werde, ich habe deshalb einen Fragebogen mit 25 Fragen aufgestellt, bin damit zum Distriktskommissar gegangen und habe dort die Antworten der Andruszewska von dieser unterschreiben lassen, wobei der Ortsgeistliche als Dolmetsch fungierte. Da die Leute bei uns den größten Respekt vor dem Distriktskommissar und dem Ortsgeistlichen haben, ist bei dieser Gelegenheit alles durchaus ordnungsmäßig zugegangen. Für die Reise habe ich der Hedwig 20 Mark gegeben. Natürlich habe ich auch gesagt, daß ich mich eventuell erkenntlich zeigen würde, falls durch die gerichtliche Untersuchung die Kindesunterschiebungsgeschichte als wahr sich erweisen wurde.

Distriktskommissar Leithof (Wronke) bekundete auf Befragen des Verteidigers Justizrats Wronker: In seiner Gegend werden leider ungeheuer viel Meineide geleistet.

Frau Biedermann, Portiersfrau des Hauses Kaiserin-Augusta-Straße 74, bekundete: Sie habe die Gräfin schon am Abend des 26. Januar wiederholt stöhnen gehört; sie hatte am folgenden Tage keinen Zweifel, daß die Gräfin geboren habe. Vorher habe sie Kindergeschrei nicht gehört.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung bat Graf Hektor v. Kwilecki folgende Erklärung abgeben zu dürfen:

1. Nicht wir, sondern die angeklagten gräflichen Eheleute haben es für angezeigt erachtet, die Entscheidung über die Legitimität des Kindes den Gerichten zu übertragen, indem sie den Vorschlag meines Vaters, die Angelegenheit in dem diskreten Rahmen einer Erörterung im engen Familienkreise zu prüfen, abgelehnt hatten. Nachdem aber die Sache auf Anregung des gräflichen Ehepaares zur öffentlichen Besprechung bei Gerichten gelangte, mußte man mit logischer Konsequenz verlangen, daß auch auf dieselbe Weise das gesamte uns durch dritte Personen enthüllte Material zur Aburteilung gelange.

2. Trotz meiner hier wiederholt abgegebenen Versicherung, daß meine Tätigkeit nicht durch Rücksichten auf pekuniäre Vorteile veranlaßt war, sind Zweifel an der Aufrichtigkeit meiner Worte erhoben worden. Um einen klaren Beweis für meine Absichten zu liefern, erkläre ich hiermit feierlich, daß ich auf das Majorat Wroblewo, falls die Frage an mich herantreten sollte, für meine Person verzichten werde.

Professor Dr. Dührßen gab sein Gutachten dahin ab: Ich kann nicht den Beweis liefern, daß die Frau Gräfin nicht geboren hat, ich kann aber nicht annehmen, daß gerade in diesem Fall eine Reihe von besonderen Umständen zusammengetroffen sein sollte, die eine Entbindung nach Schema F für wahrscheinlich erscheinen ließen. Ich glaube daher nicht, daß die Gräfin 1896 schwanger war und 1897 geboren hat.

Professor Dr. Freund (Straßburg): Daß eine 50jährige Frau noch schwanger wird, ist nichts Wunderbares. Es kommt nicht auf die Zahl der Jahre an, sondern darauf, daß die Frau noch ihre Menstruation habe. Medizinisch ist gegen die Schwangerschaft oder gegen die Geburt nichts Positives vorzubringen. Mit Vermutungen will ich nicht operieren.

Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer trat im wesentlichen dem Gutachten des Prof. Dr. Dührßen bei.

Auf Anregung des Gerichtsarztes Medizinalrats Dr. Störmer wurde beschlossen: eine Kommission, bestehend aus Medizinalrat Dr. Störmer, Professor Dr. Straßmann und dem Porträtmaler Professor Vogel mit der Prüfung der Ähnlichkeitsfrage zu betrauen.

Rechtsanwalt Dr. Filimowski (Krakau): Er sei durch Dekret des k.k. Bezirksgerichts in Krakau am 1. April 1903 zum Vormund des kleinen Franz Pracza, alias Grafen Josef Adolf Stanislaus v. Kwilecki ernannt worden. Die angebliche Mutter des Knaben, Frau Cäcilie Meyer, habe ihm gesagt: Sie wurde es lieber sehen, wenn der Knabe ein ehrsamer, wenn auch armer Mann werde, als ein Eindringling in eine gräfliche Familie.

An einem der letzten Verhandlungstage erstattete die Ähnlichkeitskommission, zu der auch der Leiter des polizeilichen Erkennungsdienstes nach dem Bertillonschen System, Polizeiinspektor Klatt, hinzugezogen war, ihr Gutachten. Außer dem kleinen Grafen und seinem angeblichen um ein Jahr älteren, aber kleineren Bruder, Felix Pracza, die beide, in Weiß gekleidet, von einem Gerichtsdiener in den Saal geführt wurden, nahmen als Vergleichsobjekte vor dem Richtertisch Platz: die Tochter des angeklagten gräflichen Ehepaares, Graf Brinski, Bruder der angeklagten Gräfin, und Frau Cäcilie Meyer. Diese bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden unter Tränen: das von ihr verkaufte Kind habe sie nur etwa 4 1/2 Wochen gesehen; seitdem habe sie es nicht mehr vor Augen bekommen. Sie behauptete, die Ähnlichkeit zwischen ihrem früher geborenen Sohne und dem jüngeren kleinen Grafen sei ziemlich bedeutend.

Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer erstattete darauf sein Gutachten:

Die körperlichen Details, die zum Vergleiche herangezogen wurden, seien gewesen: die Kopfform, die Form des Gesichts, das Verhalten der Jochbeine, die Gestalt der Ohren, Wölbung, Verlauf und Behaarung der Augenbrauen, das Verhalten der Regenbogenhäute, Gestalt und Behaarung der Nasenwurzel, die Form der Nasen, die Schwingungslinien und Fülle der Lippen, die Form der Mundwinkel, der Verlauf der Mundspalte, die Bildung der Zähne, Gestalt des harten ten und weichen Gaumens, die Konfiguration und Richtung des Kinns. Sodann sei die Gestalt der Hände, Form und Länge der Finger und Nägel, der Verlauf der Hautfurchen in den Handtellern sowie die Wölbung des Fußes, endlich auch der Gang geprüft worden. Zum Typus der gräflich Brinski-Kwileckischen Familie gehören in erster Linie die mäßig längliche Gesichtsbildung und eine ziemlich lange, ein wenig gebogene und spitze, an der Nasenwurzel schmale Nase. Bei dem kleinen Grafen finden sich Anklänge der Ohrform an die der Frau Gräfin und der Komtessen, wenn auch von einer Identität der Ohrform des Knaben mit irgendwelchen Mitgliedern der gräflichen Familie ganz bestimmt nicht die Rede sein kann. Außerdem zeige der Knabe auch in der Art der Behaarung der Augenbrauen eine starke Anlehnung an die Familie der Frau Gräfin, er habe auch mit ihr die mäßige Behaarung der Nasenwurzel gemeinsam, endlich auch die dunkelbraune Farbe der Regenbogenhaut. Schließlich ähnele auch die Kinnbildung des Knaben derjenigen der Komtessen ganz auffallend; jedoch unterscheide sich das Kinn des Knaben von dem der Gräfin, wobei jedoch zu beachten sei, daß das Kinn bei älteren Personen stärker hervortritt. Von dem v. Zieglerschen Ohr unterscheide sich das des Knaben Joseph Stanislaus in wesentlichen Punkten Einen Familientypus für die drei zum Vergleich vorhandenen Mitglieder der Meyerschen Familie zu finden, sei nicht gelungen. Bezüglich der Ohren bestehe zwischen den drei Personen eine große Verschiedenheit. Ein Vergleich der Frau Meyer mit ihrem Sohne Felix sei dadurch besonders schwierig, daß das Skelett dieses Kindes durch schwere englische Krankheit ganz wesentliche Veränderungen erfahren hat. Aus demselben Grunde sei auch ein Vergleich dieses Knaben mit dem von Rachitis völlig verschonten Kinde Joseph Stanislaus gewagt. Um so mehr müsse es befremden, daß bei beiden Knaben genau die gleiche fehlerhafte Bildung im Bau der Genitalorgane wahrgenommen worden ist, doch sei der vorgefundenen Mißbildung kein allzu großer Wert beizulegen, denn die Erfahrung der Kinderärzte lehre, daß im Alter von sechs bis sieben Jahren der in Rede stehende Zustand doch noch dann und wann, jedenfalls nicht allzuselten, zur Beobachtung kommt, so daß das Vorhandensein gerade dieser Mißbildung bei beiden Knaben immerhin ein Zufall sein kann. Sonstige anatomische Obereinstimmungen zwischen dem kleinen Grafen und dem kleinen Felix Pracza finden sich noch in dem Verlauf der Handlinien und in der Nase, soweit die breite Nasenwurzel in Frage kommt, die ganz und gar von dem Kwileckischen Typus abweiche. Augenfällige Unterschiede zeigen sich bei dem durch Ecke und Gegenecke gebildeten Schnitt am Ohr. Der Gang der beiden Kinder könne wegen der Knochenverkrümmung bei dem Felix Pracza überhaupt nicht miteinander verglichen werden, was um so mehr zu bedauern sei, als gerade der Gang bei dem Joseph Stanislaus recht charakteristisch sei.

Ziehe man nun das Fazit aus all diesen Betrachtungen, so ergebe sich, daß zwar eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen des Joseph Stanislaus und denen des Grafen und der Komtessen bestehe, und daß auch hinsichtlich der Ohrformen Anklänge zwischen dem Kinde und der Gräfin vorhanden seien, aber auch nur Anklänge, keineswegs eine Identität. Demnach habe die anatomische Untersuchung keine Anhaltspunkte für die sichere Zusammengehörigkeit des Knaben Joseph Stanislaus zu der gräflichen Familie ergeben, andererseits können die Sachverständigen aber auch nicht die Zusammengehörigkeit des umstrittenen Knaben zu der Familie der Frau Meyer sicher beweisen.

Der zweite Gutachter, Gerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich in den Einzelheiten dem Vorgutachten an. Die Kommission sei vor eine Aufgabe gestellt gewesen, wie sie wohl kaum jemals einem Gerichtsarzt vorgelegt worden sei. Es fehlten hier die Grundlagen für ein wissenschaftliches Gutachten und man könne hier auch nur ein Wahrscheinlichkeitsgutachten erwarten. Das Urteil über Ähnlichkeit sei ein sehr subjektives und es können Irrtümer vorkommen. Eine sichere Unterlage bilde schon das Vorhandensein von besonderen Familieneigentümlichkeiten oder von Abnormitäten. Er komme zu folgendem Ergebnisse: einerseits sei eine allgemeine Ähnlichkeit dieses Knaben mit dem anderen oder mit der Frau Meyer nicht vorhanden. Andererseits falle ins Gewicht, daß die Genitalien der beiden Kinder dieselbe Abnormität zeigen. Das Vorkommen dieser Abnormität sei zwar nichts Außergewöhnliches, auffallend sei es aber, daß sie gerade bei diesen beiden Knaben gleichzeitig vorhanden sei. Eine Abschätzung, welches dieser beiden Momente gewichtiger sei, lasse sich nicht machen. Daher könne hieraus auch kein Schluß weder nach der einen noch nach der anderen Seite gezogen werden.

Der dritte Gutachter, Kunstmaler Prof. Hugo Vogel, bemerkte auf Befragen, daß sein Spezialfach Geschichte und Porträt sei. Er erstattete alsdann folgendes Gutachten:

Das Urteil, das Sie von mir verlangen, wird ein subjektives bleiben müssen. Hier erscheint die Feststellung der Ähnlichkeit um so schwieriger, als der kleine Pracza entstellt ist durch schwere Rachitis. Immerhin finde ich, daß die Rachitis nicht imstande war, die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter zu verwischen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß, wenn eine Ähnlichkeit vorhanden gewesen wäre, sie auch jetzt noch zu erkennen sein müßte zwischen dem kleinen Pracza und dem kleinen Grafen. Der Typus der beiden Kinder ist für mich, vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, ein ganz verschiedener. Der kleine Graf hat ein gradliniges Profil, das des kleinen Pracza ähnelt dem seiner Mutter und Tante. Zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin finde ich eine gewisse Ähnlichkeit. Die ovale Gesichtsform der Frau Gräfin hat etwas Viereckiges, das ist auch bei dem kleinen Joseph Stanislaus der Fall. Auf die Ohren soll ja nach der Versicherung der Herren Ärzte die Rachitis keine Einwirkung ausüben. Ich habe die Ohren der beiden Knaben mit einigen Strichen gezeichnet, und da finde ich als Künstler, daß das Ohr des kleinen Pracza ein ziemlich gewöhnliches ist, während das des kleinen Grafen ein recht charakteristisches, rassiges Aussehen hat und in bezug auf die Bildung eines kleinen Knöllchens hinter dem Ohre eine Übereinstimmung mit dem Ohr der Frau Gräfin zeigt. Ich komme also zu dem Schluß, daß eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter besteht, daß aber andererseits auch eine Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin sowie seiner Schwester Komtesse Marie nicht zu leugnen ist.

Kriminalinspektor Klatt spricht sich auch dahin aus, daß das abzugebende Urteil unter den vorliegenden Verhältnissen nur ein subjektives sein könne. Gerade bei Ähnlichkeitsfragen kämen die größten Irrtümer vor. Als der Raubmörder Wetzel das schwere Verbrechen in Spandau begangen hatte und verfolgt wurde, ließ eine Frau einen Mann arretieren, in dem sie mit aller Bestimmtheit den Mörder, den sie unmittelbar nach der Tat gesehen, wiedererkennen wollte. Gleich ihr ging es noch vielen anderen Leuten, bis es sich herausstellte, daß der Verhaftete das Opfer einer auffallenden Ähnlichkeit mit dem Täter geworden war. Einer der berühmtesten Kriminalbeamten, die es je gegeben, sei der verstorbene Kriminalkommissar Wolschina gewesen. Dieser habe einmal auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens gestanden, als er einen lange gesuchten schweren Verbrecher vor einem Schaufenster stehen sah. Er sprang hinunter und packte den Gesuchten mit den Worten: „Nun habe ich dich endlich!“ Der Ergriffene habe ruhig gefragt: „Was wollen Sie von mir, Herr Kommissar?“

„Das werde ich dir auf dem Molkenmarkt sagen.“

Auf dem Molkenmarkt habe sich herausgestellt, daß Wolschina einen Kriminalschutzmann arretiert hatte. (Heiterkeit.) Dergleichen Ähnlichkeitstäuschungen hätten der Polizei schon viele Schwierigkeiten gemacht. Der Sachverständige ließ sich dann über das Bertillonsche System aus und knüpfte hieran seine Betrachtungen über die Ohrenfrage. Bekanntlich gäbe es nicht zwei Personen auf der Welt, die vollständig gleiche Ohren hätten. Ebensowenig wie zwei vollständig gleiche Hände. Das Ohr des kleinen Grafen habe an einer Stelle eine ähnliche Abflachung, wie das der angeklagten Gräfin, es beständen aber außerdem so viele Unterschiede, daß darauf unmöglich ein abschließendes Urteil sich aufbauen ließe.

Am 19. Verhandlungstage begannen die Plädoyers.

Staatsanwalt Dr. Müller führte aus: Wenn Ihnen vor Jahr und Tag jemand mit den geradezu verblüffenden Einzelheiten des polnischen Dramas gekommen wäre, so würden Sie diese für das Produkt einer überhitzten Romanphantasie oder für die Ausgrabung aus mittelalterlichen Chroniken gehalten haben. Und in der Tat, eine ganze Reihe von Momenten sind hier in Erscheinung getreten, die einer weiten Vergangenheit anzugehören scheinen. Kein Roman, kein Theaterstück kann, wie sich hier wieder zeigt, an das wirkliche Leben mit seinen kaleidoskopartigen Mannigfaltigkeiten heranreichen. Das wirkliche Leben schlägt in dieser Beziehung jede Konkurrenz. Der Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise die Zeugenaussagen und schloß mit etwa folgenden Worten:

Gegenüber diesen unwiderleglich feststehenden Tatsachen lassen Sie sich, meine Herren Geschworenen, nicht durch allerlei Nebendinge von der Hauptsache ablenken. Wenn Sie dieser meiner Ansicht folgen und das verdächtige Verhalten der Gräfin vor und nach der angeblichen Entbindung, das durch nichts zu beschönigen ist, wenn Sie ferner die ehelichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den mysteriösen Aufenthalt der Gräfin in Paris berücksichtigen, so können Sie sich der zwingenden Beweiskraft solcher Tatsachen unmöglich entziehen. Die Beweise sind so zwingend und überzeugend, daß man sich eigentlich an den Kopf fassen und sich fragen muß, warum es erst noch der Entrollung eines so kolossalen Beweismaterials bedurfte. Wer logisch denken kann, der muß sich zu der Überzeugung bekennen, daß die Gräfin das Verbrechen begangen hat. Wenn Sie noch mehr Beweise verlangen sollten, dann würden Sie dem viel angefeindeten Schwurgerichtsverfahren direkt das Todesurteil sprechen. (Unruhe auf der Geschworenenbank.)

Die Gräfin ist schuldig, und zwar schuldig der Kindesunterschiebung, um dadurch Vermögensvorteile zu erlangen. Um nichts und wieder nichts wird diese Gräfin sicher nicht ein fremdes Bankert annehmen und ihr eigenes Nest beschmutzen. Es handelt sich keineswegs in erster Linie um einen „Kampf ums Majorat“. Diese Zivilstreitigkeiten müssen hier völlig im Hintergrunde bleiben; sie gehören vor das Zivilgericht, hier aber handelt es sich um ein Delikt gegen die allgemeine Rechts- und Staatsordnung, das geeignet ist, den öffentlichen Glauben zu erschüttern, wie denn auch das frühere Zivilurteil durch Lug und Trug zustande gekommen ist.

Meine Herren Geschworenen! Ich bin am Schluß, und ich lege das Urteil vertrauensvoll in Ihre Hände. Ob hoch oder niedrig, ob Gräfin oder armes Dienstmädchen, das dürfen Sie nicht in Betracht ziehen. Sie haben allein dem Recht zum Siege zu verhelfen. Aber um eins bitte ich Sie noch: Halten Sie sich nur an die Tatsachen, und lassen Sie sich von diesen nicht durch das Beiwerk abbringen. Halten Sie sich auch frei von allen Sentimentalitäts- und Gefühlsanwandlungen. Nicht Sie, sondern das Zivilgericht hat über das Majorat die Entscheidung zu fällen. Aber das eine sage ich Ihnen frei und offen: nach Lage der Akten und nach der Beweisaufnahme wird kein preußisches Zivilgericht – darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel – auch nur einen Augenblick zweifeln, die Identität des Kindes auszusprechen. Zeigen Sie durch Ihren Spruch, daß der alte Satz noch immer Wahrheit hat: „Es gibt noch Richter in Berlin!“ Ja, zeigen Sie, daß es noch Richter in Berlin gibt, die sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen von finsteren Scheinmächten und von Leuten, die vermeinen, Meineid auf Meineid schwören zu können, und die nachher zu ihrem Geistlichen beichten gehen. Legen Sie die Axt an die Wurzel des Übels, das schon Opfer genug gehabt hat und noch mehr nach sich ziehen wird. Der Zweck einer Strafe ist, zu bessern und zu sühnen. Wenn Sie ein Schuldig sprechen werden, dann wird das reinigend und sühnend wirken und den Leuten in Wroblewo wird dann vielleicht ein Licht aufgehen, daß es etwas gibt, was höher steht, als knechtische, sklavische – falschverstandene Hingebung; und das ist die Majestät des Gesetzes.

Erster Staatsanwalt Steinbrecht beantragte ebenfalls in längerer Rede gegen alle Angeklagte das Schuldig. Gegen den Grafen Hektor Kwilecki, so bemerkte der Erste Staatsanwalt, sei das ganze Polentum in Bewegung gesetzt worden. Das Polentum sei erbittert, weil auf seine Anregung hier manch häßliches Bild aus dem polnischen Adelsleben enthüllt worden sei. Deshalb stehe das ganze Polentum, hoch und niedrig, gegen den Grafen Hektor, deshalb sei man bestrebt, die fünf polnischen Angeklagten den deutschen Richtern zu entreißen. Er glaube, an der Hand untrüglicher Tatsachen nachgewiesen zu haben, daß die Gräfin das Kind untergeschoben habe, daß dies aus gewinnsüchtiger Absicht geschehen, sei ganz zweifellos.

Verteidiger Justizrat Wronker führte aus: Die öffentliche fentliche Meinung, wie sie ja auch in der Presse zum Ausdruck kommt, stellt sich auf den Standpunkt, es sei hier ein Kampf ums Majorat. Diese Auffassung entspricht nicht der Auffassung der Gräfin Wensierska-Kwilecka. Sie kämpft um ihr Kind und die Familie, die sich um sie geschart hat, sie kämpft um ihre Ehre, und wir, die wir der Gräfin beistehen, kämpfen für das Recht. Herr Staatsanwalt Dr. Müller hat gestern mit Emphase betont, daß es den Kampf ums Recht gelte. Aber die königliche Anklagebehörde hat nicht allein das Vorrecht, das Recht zu finden, gepachtet, auch wir nehmen es in Anspruch für uns. Das objektive Recht hier zu finden, wird Ihre Aufgabe sein. Die Art, wie der Kampf sich hier abgespielt hat, gibt ihm etwas Sensationelles. Soweit es sich darum handelte, ob die Nachgeburt im Topf nach Berlin gebracht worden ist, ob Schweineblut in Weinflaschen gefüllt worden ist, wird es nach Art eines Kolportageromans das Herz eines Dienstmädchens, das Ackerstraße vier Treppen wohnt, erfreuen. Das Sensationelle dieses Prozesses für uns Männer liegt in dem Prozessualen; es liegt in der Befürchtung, daß hier etwas nicht stimme. Weite Kreise haben hier diese Empfindung und man sagt sich: da müssen die Räder der Justiz nicht in Ordnung sein.

Sehen wir uns die Eigenart dieses Prozesses näher an. Hinter mir sitzt eine Frau, gegen deren Moralität niemand etwas vorgebracht hat, mit einem makellosen Leben, von der wir gehört haben, wie sie ihr Vermögen für das Majorat aufgewendet hat. Sieht diese Frau so aus, daß man sie fähig halten könnte, aus gewinnsüchtiger Absicht ein gemeines Verbrechen zu begehen?'

Und von wem wird die Gräfin belastet? Von Fräulein Hedwig Andruszewska, von Herrn Peter Hechelski, von Frau Ossowska und von Frau Valentine Andruszewska. Das sind die Zeugen, gegen die das Wort der Gräfin einfach verpufft im Winde. Aber steht denn die Gräfin allein? Ich denke, nein, und doch ist sie isoliert worden. Sie beruft sich auf das Zeugnis von treuen Leuten, die in ihrem Dienst standen, von Leuten ferner, mit denen sie gesellschaftlich verkehrt. Aber was geschieht mit diesen Leuten, die auftreten, um ihre Unschuld zu beweisen, während man ihr doch umgekehrt die Schuld nachweisen muß. Die alte, treue Dienerin Knoska tritt für die Gräfin ein, man glaubt ihr nicht, eine Lehrersfrau, die Kwiatkowska, tut dasselbe, man glaubt ihr nicht; Frau von Moszewska, eine zwölffache Großmutter, man glaubt ihr nicht, denn ihr haftet ja der Makel an, daß sie die Schwester des Grafen ist. Frau von Koczorowska eilt über die Grenze, tritt für die Gräfin ein, man glaubt ihr nicht. Die Wienskowska hat jetzt andere Bekundungen gemacht wie früher, sie wird verhaftet, und ich bin der Ansicht, sie wird vielleicht heute noch nicht wissen, weshalb sie verhaftet worden ist. Bei aller Hochachtung vor den Gründen, die ich respektiere, frage ich mich doch, ob diese Verhaftung gerechtfertigt gewesen ist. Die Knoska und die Kwiatkowska sind verhaftet, gegen die Frau von Koszorowska, eine hochachtbare Dame, ist die Voruntersuchung eingeleitet, gegen die alte Frau von Moszewska ebenso. Wohin kommen wir, wenn wir schon bei Frau von Koczorowska annehmen wollten, daß sie aus besonderem Interesse gehandelt habe, dann erst bei den Belastungszeugen? Da stehen wir alsdann doch völlig vis-à-vis de rien. Der Staatsanwalt hat nach dem Gesetz mehr Recht als die Verteidigung, er steht im Kontakt mit dem Untersuchungsrichter und hat jederzeit das Recht der Akteneinsicht. Das gibt ihm auch ein Übergewicht über die Verteidigung. Zwar ist hier in diesem Saale das Wort gefallen: „Die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt.“

Daß das Wort ehrlich gemeint ist, daran zweifle ich keinen Augenblick. Das Wort gilt aber nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens. Das wird niemand mehr bestreiten, nachdem er gestern die Rede des Herrn Staatsanwalts Dr. Müller gehört hat in ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit.

Mich hat es auf das tiefste geschmerzt, daß ein Staatsanwalt, der die Ehre hat, gegen uns zu plädieren, ren, es gewagt hat, die Verteidigung vor der Öffentlichkeit zu beleidigen. Das werde ich nachher näher begründen. Da wurde gestern gesagt: „aus Hechelski ist so manches herausgeholt worden,“ „man hat gewisse Kniffe angewendet,“ „schlimmer als die Folter“ usw. Weiter wurde gesagt: „man hat versucht, durch Kinkerlitzchen die Aufmerksamkeit von den Tatsachen abzulenken.“ Ich frage mich: wer ist denn dieses unpersönliche „man“. Hat der Herr Staatsanwalt die Herren Geschworenen gemeint? Das ist nicht anzunehmen. Oder den Gerichtshof und den Herrn Vorsitzenden? Das ist ausgeschlossen. Wer bleibt da noch übrig? Wir! Die Verteidigung. Die Frau Gräfin kann er auch nicht gemeint haben, denn sie hat ja kaum einmal zu einer Frage den Mund aufgetan. Auch die Zeugen können nicht, als diejenigen gemeint sein, die „etwas herausgeholt“ haben. Wer also bleibt anders übrig als das Aschenbrödel Verteidigung. Herausgequetscht mit gewissen Kniffen wurde gesagt. Das ist ja der negative Knigge!

Die Verteidigung hat erfahren, daß mit dem Zeugen Hechelski nicht alles in Ordnung sein soll, und da sollen wir stillschweigen? Wo sind die Kinkerlitzchen? Haben wir Zeugen, ohne etwas mitzuteilen, nach Warschau geschickt? „Versteckte Vorwürfe“ wurde weiter gesagt! Was wir getan haben, geschah frei und offen, wir haben niemand draußen auf dem Korridor ausgefragt. Am wenigsten hat der Herr Staatsanwalt Dr. Müller, der vor mir den großen Vorzug hat, bedeutend jünger zu sein, das Recht, jemand, der in diesem Saal alt und grau geworden ist, derartige heftige Vorwürfe zu machen.

Der Verteidiger erörtert im weiteren die Mängel der Voruntersuchung, und fuhr fort:

Wer aber bezahlt den Geschworenen die Kosten für die vielen Verluste, die sie während dieser vielwöchigen Arbeit in ihrem Berufe erleiden? Etwa der Staat, der sehr besorgt war, dem kleinen Sohne des Weichenstellers Meyer ein weißes Mäntelchen auf Staatskosten zu besorgen? Wenn die Gräfin nach diesen zehn Monaten, die sie in körperlicher Pein im Untersuchungsarrest zugebracht, aus diesem Saale gehobenen Hauptes herausgeht, so wird sie ihre Pein nicht bereuen, denn die Lehren, die dieser Prozeß gibt, werden sicherlich nicht an der Kommission vorübergehen, die jetzt gerade mit der Reform der Strafprozeßordnung beschäftigt ist! Ich komme noch mit einem Wort auf die ärztlichen Gutachten. Ich bedauere, daß die Überzeugung von der Schuld der Gräfin auch in diesen Saal hinübergestrahlt ist und den einen Sachverständigen, Herrn Professor Dr. Dührßen, dessen Tätigkeit ich sonst bewundere, erfüllt hat. Ich habe bei dem Gutachten des Professors Dührßen die Objektivität und Unparteilichkeit leider vermißt. Er hat wohl nach bestem Wissen und Gewissen sein Gutachten abgegeben, aber die Voraussetzungen zu seinem Gutachten sind derartig, daß man ihm unmöglich großen Wert beilegen kann. Wenn er nach einem Gutachten von 3/4 Stunden endlich zu dem Schluß kam: „Ich glaube nicht, daß die Gräfin schwanger war“, so hat er sich von Tatsachen leiten lassen, die auch andere ehrenwerte Männer schon bestochen haben und doch nichts beweisen! Ich kann mich auch bezüglich dieses Gutachtens auf die Öffentlichkeit berufen. Die Zeiten, wo in diesem Hause ein Mann sagen konnte: „Es gibt keine Öffentlichkeit“ sind ja glücklicherweise vorüber! Das Volk spricht in solchen Sachen mit.

Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes, und niemand kann mit Scheuklappen daran vorübergehen! Fragen Sie nur im Volke nach, und Sie werden finden, daß das gesamte Volk keine andere Meinung hat, als die Verteidigung. Ich bedauere, daß es so weit gekommen ist, daß in einer Zeitung ein Artikel mit der Überschrift „Professor Dührßen als Staatsanwalt“ erscheinen konnte. Auch die Berliner Ärzteschaft wird sich wohl mit der Frage beschäftigen müssen: Wieweit darf ein ärztlicher Sachverständiger in seinem Gutachten gehen? Der Staatsanwalt sagt: die Polen haben sich zusammengetan, um die Angeklagte den deutschen Richtern zu entreißen. Nun fragen Sie aber mal das Bürgertum, welches doch die adlige polnische sche Gräfin und die polnische Wirtschaft gar nichts angeht, wie es über die Sache denkt, und Sie werden allseitig Zustimmung zu der Auffassung der Verteidigung finden.

Wie aber steht es denn mit der Stimme der Natur? Fest steht doch, daß in der Ähnlichkeitsfrage die Kunst und die Wissenschaft für die Behauptungen der Frau Gräfin greifbaren Stoff geliefert. Der Ritter von Ziegler ist hierher getreten und hat gesagt: ich weiß nicht, ob der Knabe mein Kind ist, Frau Meyer ist hergetreten und hat gesagt: ich glaube, daß es mein Kind ist, dagegen hat die Gräfin gesagt: es ist mein Kind! Wollen Sie dies Kind, welches von der Gräfin gehegt und gepflegt wird, der Mutter von der Brust reißen? Wollen Sie sich von einer gewissen Beredsamkeit überzeugen lassen? Ich dächte, die Berliner Richter und Geschworenen lassen sich durch Beredsamkeit nicht zwingen, sondern lediglich durch die Macht der Gründe und Tatsachen. Denken Sie daran, wie man den Grafen, der sich unbeobachtet wähnte, kniend am Bette des Knaben, und ihn herzend und mit ihm spielend, vorfand. Das ist die Stimme der Natur. Auch der Umschwung der Öffentlichen Meinung ist zweifellos hervorgerufen durch die Macht der Tatsachen, durch die Beweisaufnahmen. Wenn Sie den Richterspruch in Übereinstimmung mit dieser öffentlichen Meinung fällen, dann folgen Sie ihr nicht, sondern dern zeigen nur, daß Sie richtig und zutreffend die Tatsachen erfaßt haben. Ich zweifle nicht, daß nach dem Resultat dieser Beweisaufnahme das einzige Wort, das Sie, meine Herren Geschworenen, auf die Schuldfrage sprechen werden, das Wort „Nein!“ ist.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Eger (Posen) suchte den Nachweis zu führen, daß das Geständnis der Angeklagten Ossowska sowohl gegen sie selbst als auch gegen die anderen Angeklagten als Beweismittel ausscheide. Es fehlen alle Beweggründe, die bei einem richtigen Geständnis vorhanden zu sein pflegen. Ich hoffe daher auf einen Freispruch meiner Klientin.

Verteidiger Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner: Wenn die Gräfin alles das, was auf sie hier eingestürmt ist, mit so großer Ruhe ertragen hat, so dankt sie es ihrem unerschütterlichen, felsenfesten Gottvertrauen. Als wir Verteidiger der Gräfin am Sonnabend den letzten Besuch im Gefängnis machten, fanden wir sie förmlich verklärt, strahlend. Sie sagte uns: „Heute wird in den Kirchen für mich gebetet; meine Unschuld wird an den Tag kommen, mir wird kein Haar gekrümmt werden.“ Still verließen wir das Untersuchungsgefängnis. Draußen sagte einer von uns: „Wie glücklich wären wir, wenn wir auch ein solches Gottvertrauen hätten.“ Der Herr Staatsanwalt hat geglaubt, eine Lanze für das Majorat brechen zu müssen. Wir haben gesehen, wie das Majorat nicht nur die Bande der Familie sprengt, sondern sogar demoralisierend wirkt. Als bekannt wurde, daß nach langjähriger Pause die Gräfin sich wieder in anderen Umständen befinde, schlug das wie eine Bombe ein. Die Agnaten regten sich. Man sehe sich das große Heer der Mitwisser an und stelle sich ein Verbrechen vor, welche von soviel Leuten genau gekannt wird. Der Staatsanwalt hat ausgeführt, daß in der Gegend von Wroblewo eine wahre Meineids seuche grassiere, die alle Entlastungszeugen ergriffen habe. Nur, o Wunder, Herr Peter Hechelski und Fräulein Hedwig Andruszewska sind von dieser Seuche verschont geblieben. Und doch haben diese das Geld des Grafen Hektor Kwilecki deutlich rollen hören. Wie heißt das wunderbare Serum, das gerade diese beiden Zeugen immun gemacht hat?

Noch andere Merkwürdigkeiten sind aus diesem Prozeß zu verzeichnen. Beispielsweise die Stellung der Staatsanwaltschaft zu dem gewiß hochangesehenen Sachverständigen Professor Dr. Dührßen. Der Staatsanwalt hat gesagt: das Strafverfahren gegen Professor Dührßen sei wesentlich aus dem Grunde eingeleitet worden, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Ich weiß nicht, ob Professor Dr. Dührßen über diese Fürsorge des Staatsanwalts sehr entzückt war, das aber weiß ich, daß in Preußen sich keine Strafkammer gefunden hätte, die das Hauptverfahren fahren eröffnet hätte, um einem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Nein, die Strafkammer, die das Verfahren eröffnete, hat den Prof. Dr. Dührßen für „hinreichend verdächtig“ befunden; genau so, wie hier andere Personen „hinreichend verdächtig“ befunden wurden. Und wenn das erkennende Gericht Herrn Dr. Dührßens Ehre so glänzend wiederherstellte und sich nicht an den Eröffnungsbeschluß gebunden hielt, ist ebensowenig für Sie, meine Herren Geschworenen, die Ansicht der Eröffnungskammer bindend, ebensowenig für Sie maßgebend, wenn hier einzelne Zeugen, als der Begünstigung verdächtig, nicht vereidigt worden sind.

Man hat in den Aussagen einzelner Entlastungszeugen Widersprüche entdeckt. Was sind diese Widersprüche aber gegen den Widerspruch des Gesetzgebers bei der Konstruktion der Schwurgerichte?! Sie, meine Herren Geschworenen, sind dazu berufen, das entscheidende Wort über Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu sprechen, und dann kommt ein Dreimänner-Kollegium und entscheidet, ob ein Zeuge vereidigt werden soll oder nicht! Diese Entscheidung müßte doch gewiß auch den Herren Geschworenen zustehen! Der zweite Herr Staatsanwalt hat den Herren Geschworenen zugerufen: Wenn Ihnen diese Beweise noch immer nicht genügen, dann erklären Sie gewissermaßen den Bankerott der Schwurgerichte. Die Schwurgerichte sind ja manchem ein Dorn im Auge, sie sind deshalb verdächtig, weil sie aus dem Jahre 1848 stammen! Ich glaube, das Geschworenengericht wird noch lange den jüngsten Berliner Staatsanwalt überleben, dem ich im übrigen ein recht langes Leben wünsche. (Heiterkeit im Publikum, die der Vorsitzende rügt.)

Nun zum Grafen Hektor Kwilecki. Die rechte Hand des Grafen Hektor ist Herr Peter Hechelski, das Medium ist Hedwig Andruszewska. Ich muß dem Grafen Hektor wirklich mit aufrichtigem Bedauern zurufen: Es tut mir in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh! Er hat durch Hechelski in halb Europa arbeiten lassen und hat doch nichts erreicht. Ich halte es für erwiesen, daß die damals unverehelichte Cäcilie Parcza ein Kind aus Not verkauft hat, ich halte es aber nicht für erwiesen, daß der kleine Leo Parcza nach Berlin gekommen ist, ich halte es auch nicht für erwiesen, daß der kleine Leo Parcza am 26. Januar 1897 auf die Reise gegangen ist; auf Grund der verschiedenen Zeugenaussagen bin ich der Überzeugung, daß der Knabe Leo Parcza schon in der Zeit zwischen dem 12. und 14. Januar aus Krakau weggekommen ist.

Der Hauptfehler, daß dies Rätsel noch nicht gelöst worden, liegt darin, daß man von Anfang an immer nur die Spur nach Wroblewo verfolgte, und doch hat die Cäcilie Meyer einen deutlichen Wink gegeben, wohin die Spur vielleicht führt. Sie hat gesagt, als sie nach Weggabe des Kindes von Reue gepackt in das Hotel rannte und dort sich nach der Frau erkundigen wollte, die das Kind erhalten haben könnte, sie die Auskunft erhalten habe: es habe eine Gräfin aus Oswice dort logiert. Aber niemand hat nach der Gräfin aus Oswice geforscht, denn an dem kleinen Leo hatte niemand auf der Gotteswelt ein Interesse, Graf Hektor hatte nur Interesse an dem kleinen Majoratsherrn, man lugte nur immer nach Wroblewo, und darum hat man andere Spuren nicht verfolgt, und diese haben sich verwischt und verweht. Man suche nur fleißig nach und man wird vielleicht finden!

Ich muß mich ein wenig länger mit dem Grafen Hektor Kwilecki beschäftigen. Er ist hier eidlich als Zeuge vernommen und er ist als Edelmann wissentlich nicht um Haaresbreite von der Wahrheit abgewichen. Er hat weit von sich gewiesen, daß er sich von materiellen Rücksichten leiten lasse, er wollte angeblich nur verhindern, daß ein hergelaufener Knabe den Namen Graf Kwilecki annahm. Ich weiß nicht, ob es ehrenhafter ist, wenn jemandes Vettern im Zuchthause sitzen, als wenn böse Zungen an der Echtheit des künftigen Majoratsbesitzers zweifeln. Herr Graf Hektor Kwilecki hat die Verhaftung seiner Verwandten beantragt nach der ganzen Strenge des Gesetzes. Graf Hektor hat erklärt, daß er bei der Übernahme von Wroblewo keine Vorteile haben würde. Das Majorat bringt aber jährlich 70000 Mark Revenüen, die der Herr Graf bekommen hätte, ohne einen Pfennig zahlen zu brauchen, und das soll ein schlechtes Geschäft sein?

Und damit komme ich zu der Frage: Was ist Wahrheit? Über diese Frage hat man sich seit Jahrtausenden den Kopf zergrübelt. Die Wahrheit ist eine spröde Schöne, die sich nicht demjenigen entschleiert, der da meint, sie auf Grund einer aus den Akten gewonnenen Voreingenommenheit gewinnen zu können. Einst hielt man für Wahrheit, daß die Erde stille stehe – und sie bewegt sich doch! Im Interesse der angeblichen Wahrheit hat man Luther verfolgt und Huß verbrannt, und der Molochdienst der Wahrheit fordert auch in unseren Tagen noch immer Opfer. Eins dieser bedauernswerten Opfer ist die Zeugin Wienkowski, die mit ihrem Säugling ins Untersuchungsgefängnis wandern mußte. Ich muß es nach meiner juristischen Ansicht, die ja vielleicht von anderen Juristen bestritten werden mag, hier offen aussprechen: Nach meiner Überzeugung war die Vereidigung dieser Zeugin bei dem Untersuchungsrichter ungesetzlich und unzulässig, denn nach § 65 Abs. 3 der Strafprozeßordnung soll in dem Vorverfahren eine Vereidigung nur stattfinden, wenn die Vereidigung als Mittel zur Herbeiführung führung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich erscheint. Der Untersuchungsrichter hielt ja aber die Aussage der Zeugin, die sie vor ihm abgegeben, für wahr und deshalb war die Vereidigung für den Untersuchungsrichter unzulässig. Und nun ist diese schwache, konfuse Frau zu ihrem Unglück auch hier in der Hauptverhandlung vorher vereidigt worden, und daher stammen für sie die traurigen Folgen.

Meine Herren, dieser Prozeß wäre längst zu Ende, wenn nicht die Staatsanwaltschaft die Anklage wie eine verlorene Festung mit Todesverachtung verteidigt hätte. Jeder Tag brachte neue Wunden, und die schlimmste Wunde war für die Anklage, als wir hier nach dreitagigem Warten die Aussage des Cwell aus Warschau entgegennahmen. Da brach das morsche Gebäude zusammen, die Anklage löste sich in Atome auf. Es ist nichts übrig geblieben, daran kann auch die gestrige Würdigung der Zeugenaussagen durch den zweiten Herrn Staatsanwalt nichts ändern. Der zweite Herr Staatsanwalt hat im wesentlichen nur die Anklageschrift vorgetragen, die er selbst verfaßt hat, und seine Ausführungen hin und wieder gewürzt durch ein Wörtlein, das die Schriftsprache nicht kennt und nicht verträgt. Er hat von Leuten gesprochen, die heute einen Meineid leisten und morgen beichten. Ich bin nicht Katholik, aber ich habe mich gewundert, daß ein Staatsbeamter, eine Stütze von Thron und Altar, hier so wenig achtungsvoll von einer Einrichtung der katholischen Kirche gesprochen hat.

Staatsanwalt Dr. Müller: Das kann ich nicht zulassen.

R.-A. Chodziesner (fortfahrend): Bitte, mich nicht zu stören. Der zweite Herr Staatsanwalt hat dann weiter davon gesprochen, wie der Zivilprozeß unter allen Umständen zugunsten des Grafen Hektor und zuungunsten der Gräfin entschieden wird. Mit Emphase hat er gesagt, er gebe Ihnen Brief und Siegel dafür. Nun, dieses Siegel kostet viel Geld, und diese Prophezeiung ist falsch, dieser Zivilprozeß wird niemals stattfinden, weil er nicht stattfinden kann; denn gegen ein Versäumnisurteil ist ein Wiederaufnahmeverfahren fast unmöglich. Er wird aber auch deshalb nicht stattfinden, weil auch in der Brust des Mannes, mit dem wir uns ausgiebig hier beschäftigen mußten, der Friede eingezogen sein wird und er sich unter Ihr Urteil beugen und wieder ein Edelmann sein wird, wie früher. Er wird vornehm um Verzeihung bitten, davon bin ich überzeugt.

M. H. Geschworenen! Schwer war die Bürde Ihres Amtes, und schwerwiegend sind die Folgen, die sich an Ihren Spruch knüpfen. Es handelt sich darum, soll die Frau Gräfin ins Zuchthaus wandern, soll den Eltern das Kind, dem Kinde die Eltern genommen werden. Was des Kindes harrt, hat uns Graf Hektor in einer schwachen Stunde verraten. Er sagte, ich werde es nicht zum Schuster und Schneider bringen, und man wird sorgen müssen, daß es nicht zum Verbrecher wird. Was berechtigt den Herrn Grafen Hektor, so von diesem schönen Knaben zu sprechen, der in seiner Unschuld keine Ahnung hat, welchen Kampf hier die Verteidiger seiner Eltern durchkämpfen, dessen unschuldsvolle Seele nichts ahnt von den Niederungen dieses Lebens.

Sprechen Sie die Angeklagten frei, und geben Sie denen endlich die Ruhe wieder, die seit sechs Jahren verleumdet und verfolgt werden wie ein gehetztes Wild.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Rychlowski (Posen): Der Kampf um das Majorat reiche weit zurück. Schon von vornherein hätten die Agnaten das Kind im Mutterleibe bekämpft, weil man befürchten mußte, daß das Kind ein Knabe, also ein unerwünschter Konkurrent in der Nachfolgeschaft, sein könnte. Das Vorgehen der Agnaten mußte die Gräfin erbittern, und daß der Trotz über die Klugheit siegte, hat die arme Frau ja schwer genug büßen müssen. Graf Hektor Kwilecki hat hier betont, daß er nicht um das Majorat, sondern um die Ehre kämpfe. Das mag glauben, wer will, vielleicht liegt hier auch eine Selbsttäuschung vor. Wie erklärt man es sich denn dann, daß die Agnaten, wie auch dieser Prozeß ausfallen möge, einen zweiten Zivilprozeß um das Majorat führen wollen. Nun hat hier Graf Hektor erklärt, daß er persönlich auf das Majorat verzichte. Diese nichtssagende, unverbindliche und verspätete Erklärung hat mich an die Fabel von dem Fuchs und den Trauben erinnert. Für die Mitstreiter des Herrn Grafen Hektor handelte es sich jedenfalls aber nicht um eine Ehrensache, sondern um eine Geschäftsfrage. Das Laienauge und das Künstlerauge sind sich darin einig, daß der schöne Knabe der Gräfin überaus ähnlich sieht. Wenn alles schwinden sollte, so ist, meine Herren Geschworenen, dies der feste Punkt: Sie werden nimmermehr einer Mutter ihr Ebenbild vom Busen reißen und es einer anderen Frau zu sprechen. Der Staatsanwalt hat von „großer Phantasie“ gesprochen, die größte Phantasie hat er aber selbst entwickelt, indem er ausführte, daß der Knabe sich den schönen Schwestern angepaßt haben kann. (Heiterkeit.) Der Staatsanwalt ist auch auf das alte polnische ancien régime zu sprechen gekommen. Ich könnte darauf erwidern, dränge aber meine Worte von den Lippen zurück, denn ich verschmähe es, in diesen Saal Sachen hineinzutragen, die nicht dahin gehören. Der Staatsanwalt hat Ihnen, meine Herren Geschworenen, auch vorgeführt, daß Sie dem Institut des Geschworenengerichts Schaden zufügen könnten, wenn Sie die Angeklagten nicht schuldig sprechen. Sie haben nach Ihrem Eide nur nach bestem Gewissen und Wissen Ihren Spruch zu fällen. Daß es zu solchem Prozeß kommen konnte, ist sehr bedauerlich, aber begreiflich. Graf Hektor hatte schon bei dem Posener Prozeß 100000 Mark ausgesetzt, falls er den Prozeß gewönne – noch eine solche Prämie, und vielleicht machen neue Leute neue Enthüllungen über das große Geheimnis. Ich zweifle nicht, daß die Gräfin als Siegerin, wenn auch mit vernichtetem Lebensglück, diesen Saal verläßt, daß Sie Ihr die Ehre und die lang entbehrte Freiheit wiedergeben werden.

Nach mehrstündiger Beratung verneinten die Geschworenen bezüglich aller Angeklagten die Schuldfragen. Dementsprechend sprach der Gerichtshof alle Angeklagten frei, erklärte die Haftbefehle für aufgehoben und legte die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auf. Noch während der Plädoyers hatten sich vor dem Gerichtsgebäude viele Tausende von Menschen angesammelt. Der Wahrspruch der Geschworenen wurde in dem uberfüllten Zuschauerraum mit lautem Bravo begleitet. In demselben Augenblick schallten von der Straße aus Tausenden von Kehlen stürmische Hochrufe in den Saal.

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Der Hannoversche Spieler- und Wucherprozeß

Olle ehrliche Seemann

Eine der schlimmsten Leidenschaften, der in der ganzen Kulturwelt gefrönt wird, ist zweifellos das Spiel, und zwar ganz besonders das Karten- und Roulettespiel in den verschiedensten Formen, wenn es nicht zur Unterhaltung, sondern als Glücksspiel, zum Zwecke des „corriger la fortune“ betrieben wird. Den Spielbanken in Wiesbaden, Baden-Baden und Homburg wurde 1866 nach geschehener Annexion von dem Fürsten Bismarck ein jähes Ende bereitet. Soweit mir bekannt, ist der Inhaber dieser Spielbanken, Monsieur Blanc, damals nach Monaco übergesiedelt. Aber nicht nur dort, sondern auch in Nizza, Ostende und anderen Orten wird dem Glücksspiel in leidenschaftlichster Weise noch heute obgelegen. Obwohl das gewerbsmäßige Glücksspiel in Deutschland gesetzlich verboten ist, wird in allen Gesellschaftskreisen noch vielfach dieser Leidenschaft gefrönt. Der große Spielerprozeß in Hannover und der Prozeß gegen den Klub der „Harmlosen“ in Berlin haben blitzartig in das Spielerwesen hineingeleuchtet.

Im Oktober 1893 erregte ein vor der Strafkammer des Landgerichts Hannover geführter Spieler- und Wucherprozeß ein ganz unendliches Aufsehen, und zwar hauptsächlich, weil weit über 100 Offiziere aller Truppengattungen vom Generalmajor bis zum Leutnant abwärts aus allen Garnisonorten Deutschlands als Zeugen geladen waren. Angeklagt waren: 1. Bankier Max Rosenberg, 2. Bankier Albert Heß, genannt Seemann, 3. Bankier Louis Abter, 4. Bankier Ludwig Sußmann, 5. Rentier Johann Fährle, 6. Rittmeister a.D. Freiherr v. Meyerinck, 7. Rentier Samuel Seemann, genannt „der olle ehrliche Seemann“, 8. Bankier Julius Rosenberg, 9. Geschäftsreisender Ludwig Stamer.

Max Rosenberg, Abter, Albert Heß und Rentier Albert Arnold Lichtner betrieben in Hannover ein „Bankgeschäft“, d.h. sie boten unter dem Deckmantel eines solchen den Offizieren der Hannoverschen Garnison und denen der Hannoverschen Militärreitschule durch Zirkulare Gelddarlehen an. Wenn nun ein Offizier Geld geliehen haben wollte, so trugen die „Bankiers“ zunächst Bedenken. Schließlich erklärten sie sich bereit, die verlangte Summe auf Wechsel und Ehrenschein gegen 5-6% Zinsen und 1-2% Provision, die sofort in Abzug gebracht wurde, zu leihen. Bares Geld erhielten aber die Offiziere in nur kleinen Beträgen, den größten Betrag erhielten sie in Gestalt von braunschweigischen, sächsischen und Hamburger Lotterielosen, und zwar nicht in Originallosen, sondern dern in Anteilscheinen, sogenannten Verzichtlosen, das heißt die Offiziere hatten nur auf die Klasse, auf die der Anteilschein lautete, ein Anrecht, aber auch nur bis zu einem Gewinn von 2000 Mark. Wenn das Los mit einem höheren Gewinn herauskam, so fiel er den Darleihern zu. Auf die folgende Klasse hatten die Offiziere in den meisten Fällen kein Anrecht. Auf die letzte Klasse, die bekanntlich die meisten Chancen bietet, hatten die „Verzichtlose“ niemals Anrecht. Es war keine Seltenheit, daß ein Offizier Verzichtlose im Betrage von 10000 Mark und darüber im Besitz hatte. Wenn nun am Verfalltage der Wechsel nicht eingelöst werden konnte, so war, um eine Prolongation des Wechsels zu bewirken, ein neuer Loskauf erforderlich, und zwar in noch höherem Betrage als bei der ersten Ausstellung des Wechsels. Es kam infolgedessen vor, daß ein Offizier, der sich einige hundert Mark geliehen hatte, in kurzer Zeit eine Schuldenlast von vielen tausend Mark hatte. Bei einer Prolongation der Wechsel oder einem zweiten Darlehen erhielten diejenigen, die für bestimmte Losnummern die erste oder mehrere Vorklassen bereits bezahlt hatten, andere Losnummern, wofür sie wiederum die Vorklassen bezahlen mußten. Deren bisherige Nummern erhielten andere Offiziere, die die Vorklassen auch noch einmal bezahlen mußten. Ein Offizier, der sich von Abter 2500 Mark lieh, mußte für 8500 Mark Verzichtlose nehmen, so daß der zu unterschreibende Wechsel auf 11000 Mark lautete. Der Vater eines Offiziers, ein Rittergutsbesitzer, übergab diesem selben Abter 2000 Mark mit dem Auftrage, damit Schulden seines Sohnes zu bezahlen. Abter berechnete sich für seine „Bemühungen“ 300 Mark; die Schulden hat er nicht bezahlt, sondern das Geld für sich behalten. Max Rosenberg, Heß, Fährle, Samuel Seemann, v. Meyerinck, Stamer, Abter, der bereits erwähnte Rentier Lichtner und ein Leutnant a.D. Freiherr v. Zedlitz-Neukirch besuchten alle größeren Badeorte und Rennplätze des In- und Auslandes und große deutsche Städte, in denen sie durch Falschspielen eine große Anzahl Offiziere, Rittergutsbesitzer, Studenten usw. in des Wortes vollster Bedeutung ausplünderten. Sie stellen ihre Kumpane unter falschem Namen als Großfabrikanten oder Großindustrielle, Barone oder Grafen vor und flüsterten den Offizieren ins Ohr, diese Herren hätten stets viel Geld bei sich, seien leidenschaftliche Spieler, hätten aber kein Glück im Spiel, es sei daher ein leichtes, diesen Leuten 50 bis 80000 Mark abzunehmen. Wenn sich nun die herangeschleppten Opfer zum Spiel verleiten ließen, dann wendete sich das Blättchen. Die „Großindustriellen“ waren „ausnahmsweise“ stark vom Glück begünstigt, denn sie spielten mittelst doppelter Roulette, bzw. gezeichneter Karten, und wußten auch durch Winke aller Art das Glück stets an sich zu fesseln, so daß die Offiziere, Studenten usw. oftmals in einer Nacht viele tausend Mark verloren. Wenn nun die Gerupften nicht das genügend bare Geld bei sich hatten, mußten sie für den Restbetrag einen Wechsel geben. Wenn Samuel Seemann, der in Berlin wohnte, mit seiner Roulette aber die Welt durchzog, nach Hannover kam, da bestellte v. Meyerinck die geeigneten Zimmer im Hotel de Russie daselbst; er sorgte außerdem dafür, daß zahlreiche Offiziere ins Hotel kamen und daß beim Spiel keine Störung eintrat. Den aufwartenden Kellnern nahm v. Meyerinck die bestellten Speisen und Getränke vor der Tür ab. Lichtner schrieb einmal an seine Konkubine aus Baden-Baden: „Ich habe so ziemlich ein großes Unternehmen durchgeführt, jedenfalls habe ich mich nicht umsonst geplagt.“ Dieser Brief bezog sich auf ein Spiel in Baden-Baden, bei welchem er am Tage vorher, in Gemeinschaft mit v. Meyerinck, einem Rittergutsbesitzer Landfried 60000 Mark abgenommen hatte. Um den Verlierer nicht mißtrauisch zu machen, verlor Lichtner zum Schein ebenfalls 60000 Mark. v. Zedlitz wußte Landfried zu überreden, für 6000 Mark für ihn Bürgschaft zu leisten. v. Zedlitz versicherte dem Landfried: die Bürgschaft sei eine bloße Form, seine Mutter, die sehr begütert sei, werde die 6000 Mark sofort bezahlen. Landfried mußte jedoch die 6000 Mark bezahlen, denn die Mutter des v. Zedlitz, einstmals eine Sehr begüterte Dame, hatte durch den Leichtsinn ihres Sohnes längst ihr ganzes Vermögen verloren. Stamer schrieb von Homburg an von Zedlitz eine Postkarte: „Gestern großes Jeu mit Boditzka, nach allen Richtungen hin angeschossen. Es wird höchste Zeit für den Blattschuß auf Friedlaender.“ Mit Friedlaender wurde der Rittergutsbesitzer Landfried bezeichnet, dem bereits in Baden-Baden in einer Nacht 10000 Mark abgenommen worden waren und der in Homburg von neuem gerupft werden sollte. Zu den interessantesten Persönlichkeiten auf der Anklagebank gehörte der Rittmeister a.D. Freiherr v. Meyerinck. Dieser bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Heinroth: Er habe bei Bresa zwei Güter besessen. Das eine hatte einen Kaufpreis von 180000 Talern, das andere von 110000 Talern. Für eins hatte er 120000 Taler, für das andere 80000 Taler angezahlt. Im Jahre 1880 sei er genötigt gewesen, beide Güter zu verkaufen. Er habe 855000 Mark und 360000 Mark dafür erhalten. Er sei alsdann mit seiner Familie nach Koburg, 1885 nach Hannover gezogen.

Vors.: Sie haben bereits im Jahre 1879 in Straßburg den Manifestationseid geleistet?

v. Meyerinck: Ich war damals bereits im Vermögensverfall.

Vors.: Wovon haben Sie nach dem Verkauf Ihrer Güter gelebt?

v. Meyerinck: Ich hatte zusammen mit meiner Schwiegermutter eine jährliche Rente von 22000 Mark.

Vors.: Nachdem Sie Ihre Güter verkauft hatten, haben Sie noch den Rest Ihres väterlichen Erbteils von 42000 Mark erhalten, wodurch sind Sie trotzdem derartig in pekuniäre Bedrängnis gekommen?

v. Meyerinck: Einmal durch Spielverluste, andererseits infolge Unterhaltung eines großen Haushalts.

Vors.: Ihr Haushalt muß allerdings sehr kostspielig gewesen sein, denn Sie wurden von einem Metzgermeister wegen 8000 Mark, die Sie ihm für Fleisch schuldeten, verklagt. Aus der Rechnung geht hervor, daß Sie von dem Metzgermeister für etwa 4000 Mark jährlich Fleisch bezogen, und zwar war dies nicht der einzige Metzgermeister, bei dem Sie Fleisch kauften. Ihr jährlicher Fleischbedarf muß sich auf 5-6000 Mark belaufen haben?

v.M.: Das ist richtig.

Vors.: Sie behaupten, Sie seien durch Ihre Spielwut in Vermögensverfall geraten, während die Anklage behauptet: Sie hätten durch das Spielen Ihre Vermögenslage aufbessern wollen und auch wirklich aufgebessert?

v.M.: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Wie kamen Sie mit Fährle und Lichtner zusammen, diese Leute stehen doch gesellschaftlich weit unter Ihnen?

v.M.: Ich habe auch gesellschaftlich mit diesen Leuten nicht verkehrt, als Spieler waren sie mir aber sympathisch.

v. Meyerinck gab auf weiteres Befragen zu, daß er mit Lichtner, Albert Heß und dem Rittergutsbesitzer Landfried in Öynhausen gespielt und daß dabei Landfried 14000 Mark in wenigen Stunden verloren habe. In Baden-Baden habe Landfried 50000 Mark, Lichtner 40000 Mark verloren. Es haben dabei noch mitgespielt v. Zedlitz und ein Fräulein Schenk aus Berlin.

Vors.: Wer hat denn nun die 90000 Mark gewonnen?

v.M.: Ich habe 62000 Mark, das übrige v. Zedlitz und Fräulein Schenk gewonnen. Ich habe aber von Lichtner das Geld nicht erhalten, da ich ihm viel schuldete.

Der Vorsitzende hält dem Angeklagten vor, daß er in Gotha mit zwei Offizieren und einem Redakteur in Gemeinschaft mit Lichtner gespielt und daß einer der Offiziere ihn beschuldigt habe: er gebe dem Oberkellner falsche Karten zur Verteilung. Der Angeklagte bestritt dies.

Vors.: Im Jahre 1891 haben Sie mit Fährle und dem Hauptmann v. Boditzka in Homburg v.d. Höhe gespielt. Hauptsächlich soll dabei Fährle gewonnen haben. Sie sollen sich plötzlich verabschiedet haben unter der Angabe, daß Sie ein Rendezvous hatten. Bald darauf verschwand auch Fährle. v. Boditzka verfolgte Sie beide und traf Sie nicht auf dem Platze, wo Sie das Rendezvous haben wollten, sondern vor Ihrem Hotel. Bald darauf sollen Sie mit Fährle in Ihr Zimmer gegangen sein. v. Boditzka folgte Ihnen, und als er die Tür aufmachte, zählten Sie mit Fährle die gewonnenen Geldrollen?

v.M.: Das geschah, weil ich mir von Fährle Geld borgen wollte, Fährle mir aber sagte, daß er nicht soviel besitze.

Vors.: Die Anklage behauptet, daß Sie gemeinschaftliche Sache mit Fährle beim Spiel gemacht haben und ins Hotel gegangen seien, um sich den Raub zu teilen.

v.M.: Das bestreite ich ganz entschieden.

Im weiteren Verlauf wurde v. Meyerinck allgemein als der Schlepper bezeichnet. Er besitzt im Villenviertel von Hannover eine hochelegante, fürstlich eingerichtete Wohnung. In dieser veranstaltete er Bälle und andere Festlichkeiten, bei denen Offiziere der Hannoverschen Garnison, insbesondere aber die zur Reitschule nach Hannover kommandierten Offiziere stets eingeladen waren. v. Meyerinck dinierte auch vielfach mit Offizieren in den feinsten Hotels und sagte gewöhnlich nach aufgehobener Tafel: „Ich gehe zum Jeu.“ v. Meyerinck beschränkte seine Tätigkeit keineswegs auf Hannover. Er besuchte, wie bereits erwähnt, alle besseren Badeorte und Rennplätze, um Kavaliere zum Spiel zu verleiten. „Ganz zufällig“ traf er an allen diesen Orten mit Fährle, Abter und Lichtner zusammen, die er als Barone, Großindustrielle usw. vorstelle. Fährle wurde allgemein „Herr Kommerzienrat“ tituliert. Eines Abends spielte v. Meyerinck und Lichtner mit einem Offizier. Lichtner gewann, der Offizier verlor etwa 50000 Mark. Als der Offizier schließlich in die Toilette ging, sah er in einem Spiegel, daß v. Meyerinck dem Lichtner einen vorwurfsvollen Blick zuwarf und mit dem Kopf schüttelte. Lichtner, der von Meyerinck zumeist als Baron v. Lichtner und als der Sohn eines österreichischen Großindustriellen vorgestellt wurde, der für seinen Vater in Linden bei Hannover eine große Samtfabrik verwalte, war in Wahrheit ein internationaler Hochstapler. Er hatte in Wien in einem Modewarenhandlungshause gelernt und auch eine Zeitlang als Kommis konditioniert. Er ist aber frühzeitig auf die Bahn des Verbrechens geraten. Er war vielfach wegen Veruntreuung, Hazardspiels, Wuchers und ähnlicher Straftaten mit langjährigem schwerem Kerker, verschärft mit Fasten, bestraft. Er war, gleich allen anderen Angeklagten, verhaftet. Es gelang ihm aber, aus dem Gefängnislazarett zu entfliehen. Erst nach langer Zeit wurde er in Preßburg verhaftet und da er österreichischer Untertan war, in seiner Vaterstadt Wien angeklagt. Ende April 1894 hatte er sich wegen der in Deutschland begangenen Straftaten vor dem kaiserlichen Landesgericht in Wien zu verantworten. Er wurde zu fünf Jahren schweren Kerkers, verschärft mit Fasten an einem Tage jeden Monats, und mit Zulässigkeit von Polizeiaufsicht bestraft. Stamer war ebenfalls entflohen; Freiherr v. Zedlitz war nicht aufzufinden.

Ein ebensolcher Hochstapler wie Lichtner war Fährle. Dieser gab auf Befragen des Vorsitzenden zu, daß er 17 Jahre lang in Österreich, Ungarn, Deutschland, Belgien, Holland, der Schweiz als Roulettebankhalter umhergezogen sei und sich dadurch ein Vermögen erworben habe. In Straßburg (Elsaß) wurde er wegen Diebstahls bestraft; er hatte in Baden-Baden beim Roulettespiel fünf Napoleondor entwendet. Obwohl der Mann, der in seiner Jugend auf den Straßen Zeitungen verkauft hat, vollständig falsch Deutsch sprach, hat er in den feinsten Badeorten mit hohen Offizieren, Rittergutsbesitzern und so weiter gespielt und stets große Summen gewonnen. Er soll eine ganz besondere Fingerfertigkeit besessen und vielfach mit gezeichneten Karten gespielt haben. Wo Fährle war, da war v. Meyerinck nicht weit. Dieser ser stellte Fährle als Kommerzienrat vor, damit war Fährle in die bessere Gesellschaft eingeführt. Im Wiener Café in Hannover ließ Fährle einmal zwei Karten, ein rotes Aß und ein Piquebube, verschwinden, der Oberkellner fand beide Karten in der Tasche des Fährle, er warf deshalb Fährle aus dem Café hinaus. Aber auch die anderen Angeklagten sollen mit gezeichneten Karten gespielt haben. Ein Offizier hat einmal vor dem Spiel die Bildseiten, aber nicht die Rückseiten der Karten untersucht. Ein junger Offizier traf eines Tages im Speisesaal des Hotels „Englischer Hof“ in Frankfurt a. M. den Freiherrn v. Zedlitz. Dieser stellte ihm v. Meyerinck vor. Plötzlich kam ein Herr in den Saal, die Herren begrüßten ihn und v. Zedlitz sagte: „Da ist ja Herr v. Lindner aus Berlin.“ v. Meyerinck versetzte: Den Herrn habe ich vor einiger Zeit in Helgoland kennen gelernt. v. Zedlitz sagte: Das ist ein sehr reicher Mann, mit dem können wir einmal ein Jeuchen wagen, der hat mindestens immer 50000 Mark bei sich, wir müssen aber dabei sehr vorsichtig zu Werke gehen. v. Meyerinck stimmte zu und die Herren näherten sich dem Herrn v. Lindner.

Vors.: Kam es Ihnen so vor, als sollte dieser Herr v. Lindner eingefangen werden?

Zeuge: Jawohl. Es wurde verabredet, in das Zimmer des Herrn v. Zedlitz zu gehen und dort Makao zu spielen. Ich wollte aber nur Ekarté spielen. Wir spielten ten etwa zehn Minuten Ekarté. Allsdann wurde gesagt: das Spiel ist doch gar zu langweilig, wir wollen lieber Makao spielen. Ich willigte ein und verlor 3000 Mark.

Vors.: Wer gewann denn?

Zeuge: Herr v. Lindner.

Vors.: Das war Lichtner.

Zeuge: Jawohl, ich hörte später, daß es Lichtner war.

Ein nicht minder gefährlicher Betrüger war Samuel Seemann, genannt „der olle ehrliche Seemann“. Dieser spielte nicht bloß mit gezeichneten Karten, er zog auch mit einer Roulette in der Welt umher. Seemann wohnte überall in den feinsten Hotels. Sobald in irgendeinem Ort die Offiziere erfuhren, Seemann sei mit seiner Roulette eingetroffen, da strömten sie in Scharen zu diesem Mann, um sich am Roulettespiel zu beteiligen. Ein Offizier von hohem Adel, als Zeuge vernommen, bemerkte: Ich sagte mir, ob ich nach Monaco gehe oder zu Seemann, das bleibt sich im Grunde genommen ziemlich gleich.

Ein anderer Offizier, bekundete als Zeuge: Er habe einige Male bei Seemann im Hotel de Russie in Hannover Roulette gespielt. Er habe den Eindruck gehabt, daß Seemann, der stets die Bank hielt, Betrügereien mache. Er hatte die Empfindung, daß zwei Kugeln in der Roulette waren. Wenn die richtige Kugel fiel, dann überschlug sie sich einige Male und fiel laut klappernd über die Felder. Wenn dagegen die falsche Kugel fiel, dann entstand ein dumpfes Geräusch und die Kugel fiel, ohne sich zu überschlagen oder zu klappern, auf die Felder.

Angeklagter Samuel Seemann: Ich habe eine zweite Kugel nicht gehabt. Ich bitte im übrigen, Herr Vorsitzender, alle Herren Offiziere nach meinem Renommee zu fragen. Obwohl ich leider schon seit vielen Jahren dies Geschäft betreibe, so hieß ich doch allgemein der olle ehrliche Seemann. (Allgemeine große Heiterkeit.)

Ein gefährlicher Spieler und Wucherer war auch der Angeklagte Abter. Auch dieser spielte mit falschen Karten und hat Offizieren innerhalb weniger Stunden 30 bis 40000 Mark „abgewonnen“.

Im Laufe der Verhandlung erschien als Zeuge Kaufmann Engelke (Schöneberg bei Berlin). Dieser bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Fährle habe in den letzten zwei Jahren mit Lichtner nicht verkehrt. Lichtner habe ihn einmal zum Zwecke einer Schuldregulierung zu Fährle gesandt. Fährle habe aber das Geschäft mit dem Bemerken abgelehnt, er wolle mit Lichtner nichts mehr zu tun haben. Vors.: Sagte Fährle etwa: Es komme ihm so vor, als sei Lichtner ein Falschspieler, der die Offiziere ausräubere?

Zeuge: Herr Vorsitzender, darüber spricht man in Spielerkreisen nicht. Einer weiß vom andern, was er in dieser Beziehung leisten kann, gesprochen wird aber darüber nicht. Es wurde in der Verhandlung außerdem festgestellt, daß vielfach in Eisenbahnkupees gespielt und dabei sehr beträchtliche Summen Offizieren „abgewonnen“ wurden.

In diesem Prozeß war Sachverständiger für Karten- und Roulettespiel Kriminalkommissar Freiherr v. Manteuffel und ein gewerbsmäßiger Spieler, namens Hingst (Berlin). Der bekannte Spieler Konrad Reuter (Berlin) erschien unter vielen anderen als Zeuge.

Die Anklagebehörde wurde vertreten von Staatsanwalt Wilhelm und Gerichtsassesor Seel. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Kius (Hannover), Justizrat Dr. Seckels (Göttingen), Justizrat Lenzberg (Hannover), Rechtsanwalt Dr. Fritz Friedmann, Rechtsanwalt Dr. Alfred Gotthelf und Rechtsanwalt Elsbach (Berlin), Rechtsanwalt Ascher (Hannover) und Rechtsanwalt Dr. Oppenheimer (Hamburg).

Es dürfte auch von Interesse sein, einen Blick auf die Anklagebank zu werfen. Der Rittmeister der Landwehr-Kavallerie, Sproß einer alten Adelsfamilie, Freiherr v. Meyerinck war ein stattlicher, großer Mann. Einen großen hellgrauen Mantel um die Schulter gehängt, betrat er gewöhnlich die Anklagebank.

v. Meyerinck saß zwischen Fährle und dem „ollen ehrlichen Seemann“, er wechselte aber mit seinen Mitangeklagten kein Wort. Er grüßte höchstens die Berichterstatter, denen er die Bitte aussprach, mit Rücksicht auf seine Kinder ihn „glimpflich“ zu behandeln. Sein schön gepflegter dunkelblonder, am Kinn ausrasierter Vollbart war bereits etwas grau meliert. Auch sein dunkelblondes, elegant frisiertes Haupthaar war etwas gelichtet und schon zum Teil ergraut. Seine Verteidigung war eine sehr geschickte. Nur Abter war ihm an Ruhe überlegen. Abter war noch ein junger Mann, mittelgroß. Er hatte volles, schwarzes Haupthaar, schwarzen, gepflegten Vollbart. Er trug eine goldene Brille. Sein nicht unschönes Gesicht verriet eine gewisse Verschmitztheit. Recht ehrwürdig sah Fährle aus; man konnte ihn für einen Kommerzienrat halten. Er war ein großer, starker, älterer Herr mit kahlem Kopf und grauem Vollbart. Er sprach wohl falsch Deutsch, dies machte jedoch nicht den Eindruck, als sei er ungebildet; seine Aussprache ließ vielmehr auf einen Ausländer schließen. Er war in Offenbach a. Main geboren, aber in Ungarn erzogen. Mit großer Unruhe schweiften seine lebhaften Augen im Saale umher; mit fieberhafter Aufregung verfolgte er die Aussagen der ihn belastenden Zeugen. „Es ist nicht wahr, was Sie da sagen, Herr Leutnant,“ rief er einige Male in den Saal hinein. Der Vorsitzende hatte alle Mühe, den Mann in den vorgeschriebenen nen Schranken zu halten. Selbst sein Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Fritz Friedmann, mußte ihm mehrfach den Mund verbieten. Eine echte Biedermann-Physiognomie hatte Samuel Seemann, der „olle ehrliche Seemann“. Er war ein ziemlich großer Mann mit vollem, grauem Haupthaar und ebensolchem Vollbart. Er besaß eine große Ruhe. Julius Rosenberg und Sußmann machten den Eindruck anständiger Kaufleute.

Nach zehntägiger Verhandlung wurden verurteilt: v. Meyerinck zu 4 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Fährle zu 4 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Samuel Seemann zu 2 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Abter zu 4 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Heß zu 2 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Julius Rosenberg wegen Lotterievergehens zu 750 Mark, Sußmann wegen desselben Vergehens zu 1000 Mark Geldstrafe. Max Rosenberg wurde freigesprochen.

v. Meyerinck hatte sich einige Tage nach dem Urteilsspruch in seiner Zelle erhängt. Samuel Seemann (der olle ehrliche Seemann) ist nach etwa dreiviertel Jahren im Gefängnis zu Hameln gestorben.

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Die Geheimnisse des Alexianer-Klosters Mariaberg

Bruder Heinrich

Von jeher haftete den Klöstern etwas Sagenhaftes an. Der Umstand, daß die Klöster mit einer hohen Mauer umgeben waren, daß kein Unbefugter Eintritt fand und die Klosterbewohner nur selten in die Außenwelt kamen, verlieh den Klöstern etwas Geheimnisvolles. Es war daher begreiflich, daß, als im Sommer 1895 vor der Strafkammer des Aachener Landgerichts in einem Beleidigungsprozeß die Geheimnisse eines Klosters aufgerollt wurden, die ganze Kulturwelt den Prozeß mit atemloser Spannung verfolgte. In einer Vorstadt Aachens erhob sich ein langgestreckter grauer Bau. Ein Kruzifix und das Muttergottesbild waren wohl der einzige Schmuck dieses dürftigen Gebäudes, das augenscheinlich schon viele Jahrhunderte überdauert hatte. Es war das Kloster Mariaberg, das den Alexianerbrüdern, einem katholischen Laienorden, zum Aufenthalt diente. Die Brüder beschäftigten sich mit Krankenpflege. In der Hauptsache fanden Epileptiker Aufnahme. Aber auch Geisteskranke wurden in dem Kloster verpflegt. Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts verlangte ein katholischer Geistlicher cher aus Schottland, namens Forbes, in das Kloster Mariaberg aufgenommen zu werden. Er kam auf Empfehlung des Bischofs von Schottland, da ihm der Bischof dies Kloster als gutes Sanatorium empfohlen hatte. Anfänglich gefiel es dem schottischen Geistlichen im Kloster Mariaberg. Es standen ihm zwei Zimmer zur Verfügung und er hatte über die Behandlung keine Klage zu führen. Eines Abends kam jedoch Forbes etwas spät nach Hause. Er hatte seinen Urlaub wesentlich überschritten und wohl auch ein paar Glas Bier mehr getrunken, als sich für einen Geistlichen geziemte. Er soll stark nach Alkohol gerochen und den Eindruck eines Betrunkenen gemacht haben. Aus diesem Anlaß wurde er von dem Pförtner sehr unwirsch empfangen. Da er, wie die Brüder behaupteten, torkelte und sehr aufgeregt war, wurde er in eine Zelle gesperrt. In dieser hat er ein Fenster eingeschlagen. Die Brüder riefen deshalb den Kreisphysikus und Aachener Polizeiarzt Geh. Medizinalrat Dr. Kribben herbei. Dieser erklärte den Geistlichen für gemeingefährlich geisteskrank. Pastor Forbes wurde deshalb zu den tobsüchtigen Geisteskranken gesperrt und von diesen erst wieder abgesondert, als er sich beruhigt hatte.

Im Jahre 1893 wurde ein Vikar, namens Rheindorf, der an einem Magen- und Nervenleiden erkrankt war, auf Verfügung des Kardinals und Erzbischofs Dr. Krementz zu Köln in der Demeritenanstalt Marienthal bei Hamm a.d. Sieg aufgenommen. Der Zustand des Vikars besserte sich aber nicht, er bat deshalb nach Verlauf von drei Monaten, ihm zu gestatten, die Anstalt zu verlassen und einen eigenen Haushalt gründen zu dürfen. Erzbischof Dr. Krementz verfügte jedoch, daß Vikar Rheindorf sich in das Aachener Alexianerkloster „Mariaberg“ zu begeben habe. In dem betreffenden Schreiben des Erzbischofs hieß es: „Gehen Sie mit Zuversicht nach Mariaberg, dort werden Sie eine so vorzügliche Pflege und Aufwartung erhalten, wie sie Ihnen in dem kostspieligsten eigenen Haushalte nicht gewährt werden kann.“ Vikar Rheindorf will nun in dieser Anstalt sehr inhuman behandelt worden sein. Er schrieb trotzdem an den Erzbischof, daß es ihm in Mariaberg sehr gut gefalle, die Klosterbrüder ließen ihm die beste Behandlung zuteil werden, er bitte jedoch, behufs Regelung eines Rechtsverhältnisses, ihm einen Tag Urlaub zu gewähren. Der Erzbischof willfahrte diesem Gesuche; Rheindorf hatte jedoch dies Schreiben nur an den Erzbischof gerichtet, um durch List aus dem Kloster zu entkommen. Er begab sich zu einem Freunde nach Iserlohn. Von letzterem wurde er einem Rechtskonsulenten und Schriftsteller, namens Heinrich Mellage, zugeführt. Dieser war bemüht, die vollständige Freilassung des Vikars aus „Mariaberg“ bei dem Erzbischof zu bewirken. Die Bemühungen Mellages hatten auch schließlich den Erfolg, daß der Vikar auf Verfügung des Erzbischofs in dem Mariahospital zu Rathingen bei Düsseldorf Aufnahme fand, und später wieder als Geistlicher in Köln angestellt wurde. Vikar Rheindorf erzählte außerdem dem Mellage: im Kloster Mariaberg herrschten heillose Zustände. Die Kranken würden von den Brüdern in furchtbarer Weise mißhandelt, das Essen sei miserabel. In dem Kloster befinde sich schon seit 39 Monaten ein schottischer Geistlicher. Dieser, der auf Befehl seines Bischofs nach dem Kloster „Mariaberg“ gesandt wurde, sei für geisteskrank erklärt worden, obwohl er vollständig geistig gesund sei. Beweis hierfür sei, daß er die Messe lese und Andachten abhalte. Dieser Geistliche, der ebenfalls von den Brüdern mißhandelt werde und dem jeder Verkehr mit der Außenwelt vollständig abgeschnitten sei, sei der deutschen Sprache nicht mächtig. Er (Rheindorf), der die englische Sprache beherrsche, sei der einzige Mensch in dem Kloster gewesen, der sich mit dem Schotten unterhalten konnte. Er habe letzteren in seinen Plan eingeweiht. Da habe der Mann gesagt: „Wenn du in Freiheit bist, lieber Bruder, dann gedenke deines Bruders, der hier seit 39 Monaten in schrecklichster Gefangenschaft schmachtet, obwohl ich nichts Unrechtes begangen habe. Vielleicht kannst du mich auch befreien.“ Mellage wandte sich daraufhin hin an die Staatsanwaltschaft in Aachen. Diese wies ihn an die Polizei. Mellage begab sich infolgedessen am 30. Mai 1894, in Begleitung des Aachener Polizeikommissars Lohe und des Aachener Hoteliers Ohse in das Kloster Mariaberg. Ohse war der englischen Sprache mächtig. Als diese drei Herren nach Mariaberg kamen, wurden sie von dem Subrektor Bruder Heinrich in folgender Weise empfangen: So, das ist ja recht hübsch, daß Sie uns besuche. Wollen wir nicht zuerst ein Fläschche Wein trinke?

Kommissar: Nein, dazu haben wir nicht Zeit, wir müssen bald wieder weg.

Bruder Heinrich: Wir han äber en ganz got Treppche.

Kommissar: Das glaube ich wohl, aber für diesmal muß ich darauf verzichten; wir haben schon so häufig freundschaftlich zusammen verkehrt, heute habe ich etwas Dienstliches hier zu verrichten.

Bruder Heinrich: Nun dann, loße mir uns wenigstens ersch ä Priesche nehme. (Der Subrektor holte aus seinem Habit eine Schnupftabaksdose hervor von dem ungefähren Kaliber, wie man sie vielfach mit den Goldbuchstaben: „Schnupfe wer will!“ sehen kann.) Diese zirkulierte, und alsdann ging’s zur Sache: Nu, Herr Kommissär, womit kann ich Uech diene?

Kommissar: Bruder Heinrich, führen Sie uns den Alexander Forbes vor, wir möchten den Herrn gern kennenlernen.

Bruder Heinrich: O, Häer, nee dat möcht Ehr net duhn, ne, ne, de Häer Forbes es su krank une so schwach; o, Jott ne, det jet nit, wat wullt Ehr denn mit dem Häer Forbes, dat is jo ne Kaplan us Schottland.

Kommissar: Das schadet nichts, wir wünschen ihn zu sehen, dieser Herr (auf Mellage deutend) hat ein großes Interesse daran.

Bruder Heinrich: Is dat dann ne Verwandte von de Häer Forbes?

Kommissar: Das weiß ich nicht, fragen Sie ihn selbst. Bruder Heinrich (zu Mellage gewandt). Häer, süed Ehr verwandt mit’m Häer Forbes?

Mellage: Nein, ich bin dem Herrn wildfremd.

Bruder Heinrich: Jo, dann könnt Ehr dat och net jut verlange, besonders wo de Häer so krank is (zum Kommissar gewandt), ick glöf, dat es ne Kriminalmann us 'ner jroßen Stadt!

Kommissar: Wer oder was der Herr ist, darauf kommt es einstweilen nicht an, holen Sie uns nur Herrn Forbes herbei.

Mellage: Sagen Sie, Bruder Heinrich, kann Herr Forbes noch die Messe lesen und Andacht abhalten?

Bruder Heinrich: Ja, Häer, dat jet noch so eebe met äm!

Mellage: Ist der Herr denn noch immer irrsinnig?

Bruder Heinrich: O, geweß dat, dä es sehr bös un tobsüchtig un schlät öm sich; dat macht äwwer sin Krankheit.

Mellage: Nun bringen Sie ihn einmal her, wir wollen ihn schon bändigen, wenn er wild werden sollte.

Bruder Heinrich: No wennt dann nit anders is, dann in Gottes Name, äwwer en paar Minütche mößt Ihr Uech gedolde, dä Häer es jedenfalls am Bete.

Nach längeren Verhandlungen mit Bruder Heinrich und dem Rektor der Anstalt, Bruder Overbeck, wurde Forbes ins Sprechzimmer geholt, und nachdem er rasiert worden war, auf das Aachener Polizeipräsidium gebracht. Dort wurde er wiederum dem Polizeiarzt, Kreisphysikus Geh. Medizinalrat Dr. Kribben vorgestellt. Dieser erklärte nach kurzer Untersuchung: Er halte den Mann nicht mehr für geisteskrank und habe gegen seine Entlassung aus dem Kloster nichts einzuwenden. Mellage nahm darauf Forbes zu sich nach Iserlohn. Die Staatsanwaltschaft leitete gegen die Vorsteher des Alexianerklosters Mariaberg ein Strafverfahren wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung ein. Dies Verfahren wurde jedoch nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Inzwischen hatte sich die Presse der Sache bemächtigt. Dadurch und infolge eines Aufrufs erhielt Mellage ein so großes Material, daß er im Verlage von Hermann Risel & Co. in Hagen unter dem Titel: „39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert! Erlebnisse des katholischen Geistlichen M. Forbes aus Schottland im Alexianerkloster Mariaberg in Aachen während der Zeit vom 18. Februar 1891 bis 30. Mai 1894“, eine Broschüre herausgab.

Die Vorsteher des Alexianerklosters, der dirigierende Anstaltsarzt, Sanitätsrat Dr. Capellmann, und der Aachener Regierungspräsident stellten deshalb Strafantrag wegen Verleumdung. Ende November 1894 wurde auf Beschluß des Landgerichts zu Hagen die vorläufige Beschlagnahme der Broschüre verfügt und alsdann gegen Mellage, den Inhaber der Verlagsfirma Hermann Risel & Co., Verlagsbuchhändler Warnatzsch in Hagen, und gegen den Redakteur des „Iserlohner Kreisanzeigers“, Max Scharre, auf Grund der §§ 185 und 186 des Strafgesetzbuches Anklage erhoben.

Mellage, Warnatzsch und Scharre hatten sich infolgedessen vor der ersten Strafkammer des Aachener Landgerichts zu verantworten. Vorsitzender des Gerichtshofs war Landgerichtsrat Dahmen. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Pult. Vertreter der Beleidigten, die sich der Anklage als Nebenkläger angeschlossen hatten, war Rechtsanwalt Oster (Aachen). Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Lenzmann (Lüdenscheid) und Rechtsanwalt Dr. Victor Niemeyer (Essen, Ruhr). Als Vertreter des Landesdirektors der Rheinprovinz wohnte Landesrat Brandts der Verhandlung handlung bei. Der Kaiser ließ sich von dem medizinischen Sachverständigen, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Finkelnburg (Bonn) täglich eingehend berichten.

Der dirigierende Arzt des Alexianerklosters Mariaberg, Sanitätsrat Dr. Capellmann, bekundete als Zeuge: Forbes wurde im Jahre 1890 als freiwilliger Pensionär aufgenommen. Er sagte: er sei von seinem Bischof zunächst in ein belgisches Kloster verwiesen worden. Dort habe es ihm nicht gefallen, er wünsche daher in das Alexianerkloster aufgenommen zu werden. Diesem Gesuche wurde entsprochen. Nach etwa einem Jahre wurde mir von den Brüdern gemeldet, daß Forbes stark dem Trunke ergeben sei. Sobald er betrunken nach Hause komme, beginne er zu toben. Es sei deshalb notwendig, ihn in eine Isolierzelle zu sperren. Ich sagte: das läßt sich nicht tun, der Mann ist freiwillig in das Kloster gekommen, ohne Genehmigung des Kreisphysikus dürfen wir ihn daher nicht in die Irrenstation bringen. Der Bezirksphysikus, Geh. Medizinalrat Dr. Kribben, untersuchte den Forbes, erklärte ihn für irrsinnig und befahl, ihn in die Irrenstation zu bringen.

Vors.: Haben Sie den Forbes untersucht?

Zeuge: Forbes ließ sich nicht untersuchen. Es wurde mir aber mitgeteilt, daß Forbes sehr häufig betrunken nach Hause kam, alsdann sehr erregt war und auch oftmals Geschäftshäuser besuchte und dort Damen ansprach. Er soll sich auf seinen Spaziergängen so benommen haben, daß es geraten schien, ihn nicht mehr ausgehen zu lassen, er wollte auch schließlich nicht mehr ausgehen. Staatsanw.: Hatte die Anstalt Mariaberg die Berechtigung, Pensionäre aufzunehmen?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanw.: In erster Reihe ist aber das Kloster eine Irrenanstalt?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanw.: Wieviel Kranke zählt wohl die Anstalt?

Zeuge: Augenblicklich zählt die Anstalt 600 Kranke, darunter 150 Idioten, die zumeist unheilbar sind. Die Epileptiker sind in den meisten Fällen von ihren Gemeinden im Interesse der öffentlichen Sicherheit der Anstalt überwiesen.

Vors.: Haben Sie täglich die Anstalt besucht?

Zeuge: Das war mir selbstverständlich nicht möglich.

Vors.: Es wird behauptet, daß dem Kreisphysikus Dr. Kribben, als er den Forbes auf seinen Geisteszustand untersuchen sollte, ein Strohmann vorgeführt wurde?

Zeuge: Darüber kann ich nichts sagen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Niemeyer: Sind denn die Pensionäre gesunde Leute?

Zeuge: Nein.

Vert.: Sie dürfen also gesunde Leute nicht aufnehmen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Und trotzdem nahmen Sie den Forbes auf?

Zeuge: Forbes sagte uns, daß er von seinem Bischofe geschickt sei. Wir fragten deshalb beim Bischof an und erhielten zur Antwort, daß F. dem Trunke ergeben sei.

Vert.: Der Brief des Bischofs ist in englischer Sprache geschrieben? Haben Sie den Brief gelesen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Sind Sie der englischen Sprache mächtig?

Zeuge: Nein.

Vert.: Haben Sie sich überzeugt, daß die Übersetzung des Briefes korrekt gewesen ist?

Zeuge: Ich habe auf den Übersetzer vertraut.

Vert.: Wer hat den Brief übersetzt?

Zeuge: Das weiß ich nicht mehr.

Vert.: Sie sagten vorhin, Forbes wollte sich von Ihnen nicht sprechen lassen, nun sprechen Sie aber nicht Englisch und Forbes nicht Deutsch. Wie dachten Sie sich die Unterhaltung?

Zeuge: Etwas Deutsch konnte Forbes wohl.

Vert.: Forbes kann heute noch nur sehr mangelhaft Deutsch. Wenn er aber schon damals etwas Deutsch verstand, weshalb ließ er sich denn nicht von Ihnen sprechen? Zeuge: Das weiß ich nicht, Forbes lief einfach fort.

Vert.: Haben Sie sich keine Gedanken darüber gemacht?

Zeuge: Nein.

Vert.: Machen Sie sich auch heute noch keine Gedanken darüber?

Zeuge: Nein.

Vert.: Rechtsanw. Lenzmann: Ist Ihnen bekannt, daß in der Anstalt Mariaberg als Strafmittel die Dusche angewandt wird?

Zeuge: Eine Dusche wird wohl bisweilen angewandt; ich kann aber nicht begreifen, weshalb sich die Kranken dagegen sträubten, da das Wasser der Dusche nicht einmal kalt war.

Vert.: War das Wasser erwärmt?

Zeuge: Jawohl, es waren etwa 20 Grad Wärme. Jedenfalls war die Dusche kein Strafmittel.

Vert: Es ist doch aber sehr eigentümlich, daß die Kranken sämtlich vor der Dusche eine heillose Angst hatten?

Zeuge: Darüber kann ich nichts sagen.

Vert.: Stieg Ihnen niemals der Gedanke auf, daß der Bischof von Schottland den Forbes nach Mariaberg geschickt habe, weil er sich renitent benommen habe?

Zeuge: Nein.

Vert.: Ist denn dem Zeugen bekannt, daß Geistliche gesetzlich nicht länger als drei Monate in einer Demeritenanstalt festgehalten werden dürfen?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vert.: Hat eine Besichtigung der Leichen in der Anstalt Mariaberg ärztlicherseits stattgefunden?

Zeuge: In der Regel nicht.

Vert.: Können Sie sich erinnern, ob in Ausnahmefällen Leichen ärztlicherseits besichtigt worden seien?

Zeuge: In einzelnen Ausnahmen ist das wohl geschehen.

Vert.: Rechtsanwalt Dr. Niemeyer: Sie geben zu, daß Zwangsmittel gegen Kranke angewandt wurden?

Zeuge: Es gibt Fälle, in denen die Zwangsmittel unentbehrlich sind.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß Zwangsmittel gegen Geisteskranke wissenschaftlich verpönt sind?

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt.

Vert.: Können Sie aus der medizinischen Literatur oder sonstwie einen namhaften Mediziner nennen, der auf Ihrem Standpunkt steht?

Zeuge: Ich bemerke, daß ich auch nicht auf dem Standpunkt der Anwendung von Zwangsmitteln stehe, ich bin jedoch der Meinung, daß ein vollständiger Ausschluß der Zwangsmittel nicht möglich ist. Es gibt unter den Irren und Epileptikern, ganz besonders, wenn die Geistesgestörtheit durch Trunkenheit entstanden standen ist, so viel nichts würdige Elemente, daß in gewissen Fällen Zwangsmittel durchaus geboten sind.

Vert.: Sind auch in der Anstalt Mariaberg Zwangsmaßregeln auf Ihre Veranlassung angewendet worden?

Zeuge: In einzelnen Fällen wohl.

Vert R.-A. Lenzmann: Ist Ihnen bekannt, daß es Vorsteher von Trinkerasylen, wie z.B. Pastor v. Bodelschwingh in Bielefeld, gibt, die die Trunksucht als eine Art Teufelsbesessenheit betrachten, und stehen Sie auch auf diesem Standpunkt?

Zeuge: Ich kenne wohl diese Ansicht, ich stehe aber gewiß nicht auf diesem Standpunkt.

Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Oster: Sind Sie der Meinung, daß die Anlegung der Zwangsjacke und anderer Zwangsmittel bisweilen im Interesse der eigenen Sicherheit und der der anderen Kranken geboten ist?

Zeuge: Allerdings. In der Anstalt Amelbüren in Westfalen ist vor kurzer Zeit ein Bruder von einem Irrsinnigen totgeschlagen worden.

Rechtsanwalt Oster: Werden nicht alle Kranken, die vom Kreisphysikus für geistesgestört erklärt worden sind, von Ihnen beobachtet?

Zeuge: Allerdings, alle diese Kranken werden von mir mehrere Monate beobachtet.

Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Haben Sie das auch bei Forbes getan?

Zeuge: Nein, dieser Mann war so störrig, daß eine Beobachtung kaum möglich war. Auch ist bei Deliranten eine Beobachtung kaum notwendig.

Vert.: Sie haben zugegeben, daß Strafmittel auch auf Ihre Veranlassung angewendet worden sind. In welchen Fällen wurden diese Zwangsmaßregeln angewendet?

Zeuge: Wenn der Kranke nicht anders zu bändigen war, oder wenn er Fluchtversuche machte oder unflätige Gespräche führte.

Vert.: Ist Ihnen der Spottkittel und die schmutzige Station bekannt?

Zeuge: Es wird allerdings Kranken, die sich selbst beschmutzen, ein sogenannter Kittel angelegt, damit sie sich nicht die Kleidung beschmutzen.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß auch andere Kranke zur Strafe in die schmutzige Station gebracht werden?

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß Forbes, ein gewisser Häuseler, ein Mann namens Hahn u.a. zur Strafe auf die schmutzige Station gebracht worden sind?

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt.

Polizeiarzt und Kreisphysikus Geh. Medizinalrat Dr. Kribben bekundete als Zeuge: Im Jahre 1891 wurde ich von den Alexianerbrüdern in das Kloster Mariaberg zu einem angeblich Tobsüchtigen gerufen. Es wurde mir ein katholischer Geistlicher aus Schottland, Mr. Forbes, vorgestellt, der furchtbar erregt war und stark nach Spirituosen roch. Der Mann führte wirre Redensarten, er schimpfte auf seinen Bischof, auf die Königin von England und sagte: er sei ein freier Engländer und lasse sich hier nicht einsperren. Da mir außerdem mitgeteilt wurde, daß der Mann schon seit vielen Jahren dem Trunke ergeben sei, so erklärte ich ihn für geistesgestört. Im Mai 1894 wurde mir der Mann nochmals auf dem Polizeipräsidium vorgestellt. Ich habe ihn wiederum untersucht und fand ihn sehr ruhig. Ich konnte den Mann nicht für gesund erklären, ich attestierte daher: ich kann den Mann nicht für vollsinnig erklären, gegen seine Entlassung aus der Irrenanstalt liegen aber keine Bedenken vor.

Vors.: Wissen Sie genau, daß der Mann, der Ihnen 1894 auf dem Polizeipräsidium vorgestellt wurde, derselbe Mann war, den Sie 1891 im Kloster Mariaberg untersucht haben?

Zeuge: Jawohl, ich habe ihn sofort wiedererkannt.

Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Wie lange haben Sie 1891 den Forbes beobachtet?

Zeuge: Etwa 15 Minuten.

Vert.: Sie sind also der Meinung, daß, wenn Sie einen Mann 15 Minuten beobachten, der eine Ihnen unverständliche Sprache spricht, nach Alkohol riecht und sehr erregt ist, dann sind Sie in der Lage, ihn für verrückt zu erklären?

Zeuge: Das war es nicht allein, es wurde mir außerdem mitgeteilt, daß sein Bischof geschrieben hatte: er sei schon seit vielen Jahren dem Trunke ergeben.

Vert.: Haben Sie den Brief des Bischofs gelesen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Von wem wurde Ihnen Mitteilung von dem Schreiben des Bischofs gemacht?

Zeuge: Von den Anstaltsbrüdern.

Vert.: Haben Sie bei Ihrer Untersuchung einen Arzt zu Rate gezogen?

Zeuge: Nein, bloß die Anstaltsbrüder.

Vert.: Also die bloße Mitteilung von Anstaltsbrüdern, ehemaligen Schneidern, Schustern und Maurergesellen lassen Sie sich als Grundlage dienen, um einen Mann für verrückt zu erklären?

Zeuge: Der Mann war aber total betrunken und tobte.

Vert.: Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß der Mann einen augenblicklichen starken Rausch haben kann, dessen Wirkungen am folgenden Tage beseitigt sein können?

Zeuge: Mein Gott, der Mann war ja tobsüchtig.

Vert.: Haben Sie denn noch niemals gehört, daß betrunkene Leute, die auf die Polizeiwache gebracht waren, aus ganz natürlichem Freiheitsdrange die Fenster ster einschlugen? Kam Ihnen nicht der Gedanke, daß nur ein akuter Rausch vorhanden sein kann?

Zeuge: Nach den Mitteilungen der Brüder konnte ich das nicht annehmen.

Vert.: Dann ist es doch möglich, wenn ich zufällig in berauschtem Zustande ins Alexianerkloster gebracht, dort eingesperrt werde und aus innerem Freiheitsdrange ein Fenster einschlage, Sie mich auch für verrückt erklären, wenn Ihnen nur ein ehemaliger Schuster- oder Schneidergeselle sagt: der Rechtsanwalt Lenzmann ist schon seit langer Zeit dem Trunke ergeben?

Zeuge: Diese Frage finde ich etwas komisch.

Vert.: Herr Geheimrat, ich bin weit entfernt, hier komische Fragen zu stellen, die Sache ist mir bitterer Ernst. Nach dem, was wir hier von Ihnen gehört haben, ist es zweifellos möglich, jeden beliebigen Menschen für geistesgestört zu erklären und ihn in ein Irrenhaus zu sperren.

Zeuge: Das kann ich nicht zugeben; ein Mann, der sich so gebärdet wie Forbes und schon seit Jahren dem Trunke ergeben ist, ist geistesgestört.

Vert.: Ich konstatiere, daß Sie lediglich auf Grund von Mitteilungen der Anstaltsbrüder angenommen haben, daß Forbes an chronischer Trunksucht leidet. Mußten Sie sich denn nicht sagen, daß Sie durch Ihr Zeugnis den Mann den Anstaltsbrüdern auf Gnade und Ungnade überlieferten?

Zeuge: Ich habe nur auf einen Tag die Internierung angeordnet.

Vert.: Forbes ist aber jahrelang interniert gewesen?

Zeuge: Wenn der Zustand sich nicht bessert, sind die Anstaltsleiter berechtigt, den Kranken auch länger zu internieren.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Niemeyer: Haben Sie den Forbes noch nach Ihrer einmaligen 15 Minuten langen Untersuchung beobachtet?

Zeuge: Dazu hatte ich keine Verpflichtung.

Vert.: Ich frage Sie ja doch bloß; beantworten Sie gefälligst meine Frage. Sie haben sich also niemals mehr um den Mann gekümmert?

Zeuge: Nein.

Vert.: Sind Sie mit Sanitätsrat Dr. Capellmann oftmals zusammengekommen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Haben Sie jemals mit Sanitätsrat Capellmann über Forbes gesprochen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Haben Ihnen nicht die Brüder auch erzählt, daß Forbes auf seinen Spaziergängen oftmals Urteile über die Schönheit junger Mädchen abgegeben hat?

Zeuge: Jawohl. Die Brüder ärgerten sich darüber und wollten deshalb nicht mehr mit ihm ausgehen.

Vert.: Diente Ihnen diese Urteilsabgabe auch als Grundlage zur Beurteilung des Geisteszustandes des Forbes?

Zeuge: Das gerade nicht, ich fand aber dies Benehmen für wenig passend.

Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Oster: Wurde Ihnen nicht mitgeteilt, daß Forbes sich sehr häufig jungen Damen gegenüber auffallend benommen hat?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Ich glaube, der Verteidiger Lenzmann befindet sich doch in einem kleinen Irrtum. Der Geheimrat hat den Forbes am Morgen untersucht, nachdem der Rausch doch schon verflogen war, es kann also dann von einer akuten Betrunkenheit nicht die Rede gewesen sein?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Sie erklärten aber vorhin, daß der Mann stark berauscht war und stark nach Spirituosen roch?

Zeuge: Es war das ein süßlicher Geruch, wie er bei Alkoholikern wahrzunehmen ist, deren Rausch schon halb verflogen ist.

Vert.: Dann wollen Sie Ihre vorherige Bekundung, daß der Mann Ihnen total betrunken vorkam, widerrufen?

Zeuge: Ich habe mich so bestimmt nicht ausgedrückt.

Vert.: Das haben Sie doch getan.

Pfarrer Rheindorf, der auf ausdrücklichen Befehl des Kardinal-Erzbischofs Dr. Krementz nach Mariaberg gekommen war, bekundete als Zeuge: Er sei in Mariaberg wie ein Gefangener und Verbrecher behandelt worden. Er sei im Dienste der Mission lange Zeit in Amerika gewesen, habe dort die Cholera und das Malariafieber durchgemacht, er sei infolgedessen furchtbar nervös gewesen. Er habe außerdem an einer Zahnkrankheit gelitten. Der Anstaltsarzt Dr. Chantraine habe ihm Myrrhentinktur verordnet. Da dies nichts half, habe er den Arzt gebeten, zu einem Spezialarzt gehen zu dürfen. Dr. Chantraine habe aber diese Bitte abgelehnt. Er habe Dr. Chantraine außerdem ersucht, mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand das Kloster verlassen zu dürfen. Dr. Chantraine habe ihm als Antwort den Rücken zugewendet und die Tür hinter ihm zugeschlagen. Er durfte auch das Kloster nicht zwecks Spazierengehens verlassen. Auf seine Beschwerde habe Sanitätsrat Dr. Capellmann gesagt: „Die bischöfliche Behörde will es nicht haben.“ Er (Pfarrer Rheindorf) habe nicht nur vollständig unzuträgliche Kost erhalten, sondern es seien während des Essens auch verschiedene Unsauberkeiten und ekelerregende Unappetitlichkeiten vorgekommen. Alle Briefe, sowohl die ankommenden als auch die hinausgehenden, gingen durch die Hände der Brüder. der.

Kaplan Schröder (Medebach im Sauerlande) bekundete als Zeuge: Er sei als Franziskanerpater viele Jahre in Amerika gewesen. Als er 1880 aus Amerika zurückgekehrt war, sei einmal ein fremder Herr zu ihm gekommen und habe ihn in einen Zustand versetzt, daß ihm seine Sinne vollständig schwanden. Als er aufwachte, habe er sich im Alexianerkloster Mariaberg befunden. Auf welche Weise er in das Kloster gekommen, wisse er nicht. Er habe sich nun krank gefühlt, obwohl er früher ganz gesund gewesen sei. Er habe einmal den Versuch gemacht, aus der Anstalt zu entfliehen und habe bei der Polizei Schutz gesucht. Die Polizei habe ihm aber keinen Schutz gewährt, sondern ihn in die Anstalt zurückgebracht, er sei deshalb zur Strafe auf acht Tage in die schmutzige Station gebracht worden. In dieser Station beschmutzen die Irren sich selbst und gebärden sich wie wilde Tiere. Er habe einmal das Essen verweigert. Es sei ihm deshalb zur Strafe die Zwangsjacke angezogen und er als dann von dem Bruder Wollenweber gepackt und in den Rücken gestoßen worden.

Sanitätsrat Dr. Capellmann bekundete, daß der Zeuge an Verfolgungswahnsinn gelitten und auf Beschluß des hiesigen Amtsgerichts entmündigt worden sei.

Kaplan Forbes bekundete mit Hilfe eines Dolmetschers schers als Zeuge: Eines Abends sei er später nach Hause gekommen, als er versprochen hatte. Er hatte ein Glas Bier und einen Kognak getrunken, betrunken sei er jedoch nicht gewesen. Der Pförtner habe ihn gleich bei seinem Eintritt angegriffen und ihn vergewaltigt. Alsdann seien vier Brüder gekommen, hätten ihn gefesselt und ihn während der Nacht in diesem Zustande in eine Zelle gesperrt. Am folgenden Morgen habe er sich bei Herrn Dr. Chantraine und Herrn Geh. Rat Dr. Kribben, dessen Amtseigenschaft er allerdings nicht kannte, beschwert. Er habe den Herren gesagt: Es sei in höchstem Grade unwürdig, einen gebildeten Mann derartig zu behandeln. Geh. Rat Dr. Kribben sei ihm als ein Herr von nobler Gesinnung vorgekommen. Dieser habe auch zu ihm gesagt: Seien Sie nur ruhig, dann wird Ihnen nichts weiter passieren. Einige Zeit darauf habe er an seine Mutter einen Brief geschrieben. Seine Mutter sei aber eine Protestantin. Dies habe Bruder Overbeck erfahren und ihm deshalb verboten, an seine Mutter zu schreiben. Als er dagegen Verwahrung einlegte, habe ihn Bruder Overbeck an den Schultern gefaßt und ihn mißhandelt. Er (Forbes) sei darüber sehr aufgeregt gewesen, ganz besonders deshalb, weil ihm das als katholischer Priester passieren mußte. Einige Zeit später habe er verlangt, zu einem englischen Geistlichen beichten gehen zu dürfen. Er habe sich bereit erklärt, in Gemeinschaft mit einem Bruder zu dem englischen Geistlichen zu gehen. Der Rektor, Bruder Overbeck, habe jedoch diese seine Bitte abgeschlagen und ihm anbefohlen, zu einem Geistlichen namens Thiel beichten zu gehen. Da er sich weigerte, dies zu tun, sagte ihm Overbeck: Wenn Sie zu dem Priester Thiel nicht beichten gehen, dann stecken wir Sie unter die Tollen. Sehr bald darauf erschien in dem Kloster ein englischer Geistlicher, höchstwahrscheinlich ein Abgesandter des Bischofs Msgr. Donald von Aberdeen, und sagte den Brüdern, er (Forbes) sei ein gemeingefährlicher Mensch, dem jeder Verkehr mit der Außenwelt zu untersagen sei. Der englische Geistliche habe ihm selbst gesagt, daß er ein Abgesandter des Bischofs Msgr. Donald von Aberdeen sei und welchen Auftrag er den Brüdern überbracht habe. Er sei der Überzeugung, daß dieser englische Geistliche auch in das Kloster eingesperrt worden wäre, wenn er Geld gehabt hätte. Es sei ihm jeder Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Er habe sich darüber nicht beschwert, da er befürchtete, alsdann noch schlechter behandelt zu werden. Die Dusche sei gegen ihn nicht angewendet worden, er sei aber eines Abends in seinem Zimmer von den Brüdern mit Stricken gefesselt worden. Es sei ihm gelungen, diese Fesseln am Bettpfosten abzustreifen. Er habe nachher an seinen Bischof geschrieben, ihm diese Behandlung mitgeteilt und diesen gebeten, ihn zu befreien, da er sich nicht denken konnte, daß der Bischof mit dieser Behandlung einverstanden sei. Er habe jedoch vom Bischof keine Antwort erhalten; er vermute, daß die Brüder den Brief nicht abgeschickt haben. Bruder Heinrich habe ihm einmal gedroht, wenn er nicht artig sei, werde er alles, was er von ihm wisse, in der „Germania“ in Berlin veröffentlichen. Er sei einmal ohne Begleitung ausgegangen. Schon mittags, als er weggegangen sei, habe ihm der Bruder Leonhard ein sehr böses Gesicht gemacht, was ihm sehr bedenklich vorgekommen sei. Er sei in ein Wirtshaus gegangen und habe dort ein Glas Bier, einen Kognak und eine Tasse Kaffee getrunken. Ein Mann, den er sofort für einen „Spion“ der Anstalt hielt, sei ihm bei seinem Weggange aus der Anstalt auf dem Fuße gefolgt. Dieser Mann sei ihm auch ins Wirtshaus nachgekommen und habe ihn schließlich aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen. Da er sich dessen geweigert, habe der Mann eine Droschke geholt und ihn mit Hilfe eines hinzugekommenen Bruders in diese gezerrt und sei mit ihm nach dem Kloster Mariaberg gefahren. Dort angekommen, sei er von den Brüdern mißhandelt worden. Er sei seiner Stellung als Geistlicher entsetzt worden, da sein Patron, der Gutsbesitzer, sich bei seinem Bischof über ihn beschwert habe. Er habe sich in dem Streit zwischen den Gutsbesitzern und Pächtern auf Seite der letzteren gestellt. Er sei alsdann drei Jahre bei seinen Eltern gewesen, um sich dort zu erholen.

Kanonikus John Cameron Beauly in Schottland bekundete mittels Dolmetscher: Forbes sei Pfarrer in einem Nonnenkloster gewesen und habe dort die Nonnen gegen die Oberin aufgehetzt. Verteidiger Rechtsanwalt Lenzman: Ist dem Zeugen bekannt, daß die Oberin von Forbes etwas verlangte, was dieser als Geistlicher zurückweisen mußte?

Staatsanwalt: Das ist allerdings deutlich.

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Bruder Alexander, ehemaliger Bahnassistent Barth, machte als Zeuge folgende Aussage: Eines Abends im Mai 1890 sei er von dem Bruder Heinrich in das Zimmer des Forbes gerufen worden. Forbes sei stark angetrunken gewesen, und als er das Zimmer betrat, nahm Forbes ein Kruzifix von der Wand und wollte ihn schlagen. Dies sei ihm aber nicht gelungen. Er habe dem Forbes die Zwangsjacke angelegt und habe sich alsdann nicht weiter um die Sache gekümmert.

Vert. R.-A Dr. Niemeyer: Forbes war freiwilliger Pensionär?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Und trotzdem hielten Sie sich für berechtigt, dem Manne die Zwangsjacke anzulegen?

Zeuge: Ich war bloß Untergebener und handelte nur auf Befehl.

Vert.: Von wem erhielten Sie den Befehl?

Zeuge: Von dem Subrektor, Bruder Heinrich.

Staatsanw.: Hielten Sie den Forbes für betrunken oder für verrückt?

Zeuge: Für betrunken.

Staatsanw.: Einem Betrunkenen legt man doch nicht die Zwangsjacke an?

Zeuge: Ich hatte nur die Befehle meiner Vorgesetzten auszuführen.

Vors.: Haben Sie sonst eine besondere Wahrnehmung an Forbes gemacht?

Zeuge: Nein, ich wurde sehr bald nach jenem Vorfall nach England versetzt.

Vors.: Haben Sie außerdem einmal gesehen, daß an Kranken Strafmittel angewendet wurden?

Zeuge: Ich habe einmal gesehen, daß ein Kranker eine halbe Stunde knien mußte.

Vors.: Wurde ihm das befohlen?

Zeuge: Jawohl, von dem Wärter Krings.

Vert. R.-A. Lenzmann: Haben Sie einmal gesehen, daß gegen Kranke die Dusche angewendet wurde?

Zeuge: Ja, ich habe einmal gesehen, wie ein Kranker in der Dusche war.

Vert.: Wie lange wurde der Kranke in dieser Weise im Wasser gehalten?

Zeuge: Mehrere Minuten.

Vert.: Kannten Sie die schmutzige Station, in der sich Kranke befanden, die den Kot unter sich gehen lassen?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sind auch Kranke, die nicht den Kot unter sich gehen ließen, behufs Bestrafung in die schmutzige Station gebracht worden?

Zeuge: Jawohl, aus meiner Station ist einmal ein Mann namens Friedrich Hahn 2 Tage lang behufs Bestrafung in die schmutzige Station gebracht worden.

Vert.: Wer hatte die Überführung des Kranken in die schmutzige Station anbefohlen?

Zeuge: Der Rektor, Bruder Overbeck.

Der Rektor des Klosters Mariaberg, Bruder Paulus Overbeck, ein ehemaliger Schuhmacher, bekundete als Zeuge: Er sei früher in einem belgischen Kloster gewesen. Dort seien Strafmittel wie Dusche, Tauchbad und Zwangsjacke gesetzlich eingeführt. Als er nach Mariaberg kam, habe er diese Strafmittel auch dort eingeführt und gegen widerspenstige Geisteskranke und Epileptiker angewandt. Den Anstaltsärzten habe er weder von der Einführung noch von der Anwendung dieser Strafmittel Mitteilung gemacht. Er gebe zu, daß auch Epileptiker und Geisteskranke „in Notfällen“ geschlagen wurden. Auf Befragen der Verteidiger, ob das Briefgeheimnis in Mariaberg gewahrt worden sei, verweigerte Bruder Overbeck die Antwort. Er habe den Kaplan Forbes für anstaltsbedürftig dürftig gehalten, weil er sehr aufgeregt war. Er habe Forbes nur in Begleitung eines Bruders ausgehen lassen, weil ein Abgesandter des Bischofs von Schottland ihm sagte: man müsse auf Forbes achtgeben, er wolle ausreißen. Schließlich wollte aber kein Bruder mehr mit Forbes ausgehen, weil er sich gegen Damen unpassend benahm.

Vors.: Inwiefern geschah das?

Bruder Overbeck: Er lachte die ihm begegnenden jungen Damen an und äußerte seine Bewunderung über die schönen Nasen, die prächtigen Kußlippen, den stattlichen Wuchs der jungen Damen.

Der katholische Geistliche Goidzierk bekundete als Zeuge: Er sei eine Zeitlang Hausgeistlicher im Kloster Mariaberg gewesen. Er habe einmal an das erzbischöfliche Vikariat berichtet: Es sei eine öftere Revision des Klosters erforderlich, da die Kranken sich über die schlechte Kost und hartherzige Behandlung beklagen. Er habe außerdem veranlaßt, daß zwei junge Leute von 17 und 18 Jahren aus der Anstalt entlassen wurden, weil ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich sei. Er wurde deshalb von den Brüdern in die Ecke gestoßen. Die Beköstigung im Kloster Mariaberg sei ganz miserabel gewesen. Eines Abends war er im katholischen Gesellenverein und kam etwas spät nach Hause. Als ihm der Pförtner auf sein Klingeln öffnete und er eintreten wollte, habe ihn der Pförtner mit Gewalt zurückgestoßen und mit den Worten: Schlafen Sie heute draußen, die Pforte zugeschlagen.

Die Wirtschafterin des Pfarrers Rheindorf, Frau Fiesel, bekundete: Bruder Heinrich habe zu ihr einmal gesagt: Wer es hier gut haben will, der muß sich mit den Brüdern gut verhalten. Wer hier hereinkommt, der kommt ohne den Willen der Brüder nicht mehr hinaus. Hier hat weder der Generalvikar noch die „Döktersch“ etwas zu sagen, wir sind klüger als die „Döktersch“. Wer hier drin ist, der wird zahm gemacht. Wer hier herauskommt, der ist zahm.

Um so größer war die Spannung, als darauf der Subrektor Bruder Heinrich als Zeuge aufgerufen wurde. Ein kleines, altes Männchen von abschreckend häßlichem Aussehen betrat den Gerichtssaal. Er bekundete auf Befragen, daß er mit seinem bürgerlichen Namen Joseph Schoper heiße und früher Schneidergeselle war. Dem Kaplan Forbes sei einmal die Zwangsjacke angelegt worden, weil er betrunken und infolgedessen sehr aufgeregt gewesen sei. Die von der Fiesel bekundete Äußerung habe er nicht getan. Er blieb auch dabei, als ihm die Fiesel und Pfarrer Rheindorf die Aussage mit voller Bestimmtheit vorhielten und der Vorsitzende ihn darauf aufmerksam machte, daß er einen Eid geleistet habe.

Landwirtschaftsgehilfe Joseph Nelleser machte folgende Aussage: Ich war 11 Monate Wärter in Mariaberg. Ich habe in meiner Station niemals einen Anstaltsarzt gesehen. Ich sah einmal, wie ein Bruder einen Kranken zu Boden stieß, mit dem Fuße trat und in die Seite schlug. Ein anderes Mal sah ich, wie ein Kranker, der nicht schnell genug gehen konnte, von einem Bruder und einem Wärter die Treppe hinabgezerrt und alsdann über den Fußboden geschleift wurde. Ein weiteres Mal sah ich, wie ein Bruder einen Kranken mit einem Schlüsselbund auf den Hinterkopf schlug.

Vors.: Wieviel Schlüssel enthielt dieser Schlüsselbund?

Zeuge: 5-6 Schlüssel.

Vors.: Wie waren die Schlüssel beschaffen?

Zeuge: Es waren gewichtige Türschlüssel.

Vors.: Wie hieß der Bruder, der in dieser Weise mit dem Schlüsselbund schlug?

Zeuge: Bruder Cajus.

Vors.: Nun erzählen Sie einmal, wie es mit dem Bottich gehandhabt wurde?

Zeuge: Die Epileptiker Joseph Schäfer, Oprée und Louis Meyer erzählten mir, sie seien in folgender Weise bestraft worden: Sie wurden in den Bottichraum gebracht; es ist das ein leerer Raum, in dem eine Badewanne steht. Dort wurden die Kranken vollständig entkleidet, darauf gefesselt und alsdann in die mit eiskaltem Wasser gefüllte Wanne gesteckt, und zwar derartig, daß der Kopf unter Wasser kam. Wenn die Kranken zu ersticken drohten, dann wurde der Kopf aus dem Wasser herausgezogen, damit die Kranken einen Augenblick Luft schnappen konnten. Nach einigen Minuten ging diese Prozedur von neuem los und dauerte so etwa eine halbe Stunde.

Vors.: Wissen Sie, aus welcher Veranlassung dies geschah?

Zeuge: Zur Strafe.

Vors.: Was hatten die Kranken denn verbrochen?

Zeuge: Oprée soll einmal gelogen haben, Schäfer soll einige Wärter im Gesicht gekratzt haben.

Vors.: Haben die Kranken üble Folgen durch diese Prozedur davongetragen?

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Vors.: Stand denn diese Strafe Jemals im Verhältnis zu den begangenen Verbrechen?

Zeuge: Niemals, ich kann nur sagen, daß ich die ganze Prozedur als eine geradezu unerhörte, unmenschliche Strafe angesehen habe. Der Zeuge bekundete im weiteren, daß Kranke oftmals gefesselt in die Kirche geführt wurden. Die Kranken wurden auch oftmals von den Brüdern ohne jede Veranlassung blutig geschlagen. Ein Kranker wurde einmal von dem Bruder Ezechiel derartig mit einem Schlüssel auf den Kopf geschlagen, daß er ein großes Loch in den Kopf bekam. Als ein Wärter deshalb diesen Kranken zu Bett bringen wollte, sagte Bruder Rochus: Ich werde den Kerl die Treppe hinunterwerfen und ihm noch ein Loch in den Kopf schlagen. Ein Kranker sei durch die Mißhandlung eines Bruders gestorben. Er habe schließlich die Mißhandlungen nicht mehr mit ansehen können und habe deshalb gekündigt.

Ein buckliger, ganz kleiner, schwächlicher Zwerg bekundete: Er sei ein Jahr als Epileptiker in Mariaberg gewesen. Eines Tages, als er aus der Kirche kam, habe er den Bruder Ezechiel gebeten, ihm seine Zelle aufzuschließen. Als Antwort habe ihm Bruder Ezechiel ein paar heftige Ohrfeigen gegeben und ihn mit der Faust auf den Kopf und ins Kreuz geschlagen. Als er sich das verbat, habe ihn Bruder Ezechiel die Treppe hinuntergeworfen.

Barbier Meven machte folgende Bekundung: Er sei 30 Jahre in Mariaberg tätig gewesen. Als die Mellagesche Broschüre erschien, habe er sofort gesagt: der Verfasser ist gut unterrichtet. Das Schlagen mit dem Schlüsselbund auf den Kopf sei ihm nicht mehr aufgefallen, daran sei er schon gewöhnt gewesen. Er habe einmal gesehen, wie ein Kranker zwischen ein eisernes Gitter und einen glühenden eisernen Ofen gestellt wurde. Vors.: War der Kranke ein Epileptiker oder ein Verrückter?

Zeuge: Ich glaube, es war ein Verrückter.

Vors.: Hat man den Kranken gefesselt?

Zeuge: Nein.

Vors.: Dann lag doch die Gefahr nahe, daß er auf den glühenden eisernen Ofen fallen und jämmerlich verbrennen konnte?

Zeuge: Gewiß, diese Gefahr war vorhanden.

Vors.: Wissen Sie, weshalb diese Strafe vollstreckt wurde?

Zeuge: Nein.

Vors.: Blieb nun der Kranke auf einer Stelle stehen oder lief er um den Ofen herum.

Zeuge: Er lief unaufhörlich laut schreiend herum.

Vors.: Brannte der eiserne Ofen?

Zeuge: Jawohl, der Ofen brannte lichterloh. Er habe gesehen, daß Kranke die sogenannte Kübeldusche bekamen. Ein Kranker, der früher im Zuchthause zu Werden war, habe ihm einmal gesagt, das Essen im Zuchthause sei bedeutend besser als in Mariaberg, das sei kein Essen für Menschen, sondern fürs Vieh. Er (Zeuge) habe 1890 die Stellung in Mariaberg aufgegeben.

Schreiner Krämer: Er sei eine Zeitlang Wärter im Kloster Mariaberg gewesen. Bruder Thomas habe einmal einen Kranken mit einem großen Schlüsselbund heftig auf den Kopf geschlagen, ihn alsdann in eine Zelle schaffen und hilflos liegen lassen, am andern Morgen sei der Mann tot gewesen. Bruder Karl habe einmal einem Kranken eine Schlinge um den Hals geworfen und ihn damit gewürgt.

Bruder Irenäus: Der mit dem Schlüsselbund erschlagene Kranke ist am folgenden Abend gegen 6 Uhr gestorben.

Vert. R.-A. Lenzmann: Haben Sie zu dem Verstorbenen einen Arzt hinzugezogen?

Zeuge: Nein.

Vert.: Hielten Sie es nicht für Ihre Christenpflicht, dem armen Menschen ärztliche Hilfe zu bringen?

Zeuge: Der Mann machte auf mich den Eindruck eines Tobsüchtigen, in solchem Falle ist ärztliche Hilfe nicht notwendig.

Vert.: Sie sagten vorhin, Sie hätten nachmittags gegen 3 Uhr dem Sterbenden Speise und Trank gebracht?

Zeuge: Allerdings.

Vert.: Tobte er da noch?

Zeuge: Nein, da war er schon ruhiger.

Vert.: Sie hielten es aber nicht für notwendig, dem Mann ärztliche Hilfe zu bringen?

Zeuge: Nein.

Alsdann bemerkte Barbier Meven: Es sei einmal im Alexianerkloster die Frage gestellt worden: Worin besteht der Unterschied zwischen dem Himmel und dem Alexianerkloster? Bruder Leonhard bemerkte darauf: „In den Himmel ist schwer hinein –, aus dem Alexianerkloster ist schwer herauszukommen.“

Bäcker Kaspar Kleinschmidt machte folgende Bekundung: Er sei eines Tages auf Veranlassung seiner Frau, die ihn gern beiseite geschafft hätte, von der Polizei nach Mariaberg gebracht worden. Gefehlt habe ihm gar nichts, er sei damals ebenso gesund gewesen wie heute. Er sei zwei Monate in Mariaberg festgehalten worden. Als er Herrn Sanitätsrat Dr. Capellmann bat, ihn herauszulassen, habe dieser ihm geantwortet: Hier ist kein Gefängnis, sondern eine Irrenanstalt, da kommen Sie nicht ohne weiteres heraus. Er habe Mißhandlungen in Mariaberg nicht beobachtet. Das Essen sei allerdings miserabel gewesen. Es gab gewöhnlich des Mittags Gerstensuppe, ein Stückchen Leberwurst oder einen halben Hering.

Vert. R.-A. Lenzmann: Ich frage Herrn Sanitätsrat Dr. Capellmann, ob es wahr ist, daß er dem Zeugen auf seine Bitte, ihn freizulassen, geantwortet hat: Es ist hier kein Gefängnis, sondern eine Irrenanstalt, da können Sie nicht so ohne weiteres heraus? Dr. Capellmann: Das kann ich selbstverständlich nicht gesagt haben.

Vert. R.-A. Lenzmann: Herr Sanitätsrat, was gab Ihnen Veranlassung, den Zeugen in die Irrenanstalt aufzunehmen?

Dr. Capellmann: Der Mann litt an Verfolgungswahnsinn.

Vert.: Woraus entnehmen Sie das?

Dr. Capellmann: Aus den Milteilungen seiner Frau.

Vert.: Die Angaben seiner Frau genügten Ihnen, um den Mann in Ihrer Irrenanstalt zu internieren?

Dr. Capellmann: Ich hatte auch ein Attest des Kreisphysikus Dr. Baum.

Vert.: Ich bemerke Ihnen, daß Dr. Baum, dessen Amtseigenschaft auf dem Atteste nicht ausgedrückt ist, es ist bloß mit „Dr. Baum“ unterzeichnet, in dem Attest bemerkt: Er könne die Geisteskrankheit noch nicht feststellen. Haben Sie nun, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, von Herrn Dr. Baum wenigstens nachträglich ein motiviertes Zeugnis verlangt?

Sanitätsrat Dr. Capellmann: Nein.

Vert.: Haben Sie sich ferner um das Schicksal des Mannes bekümmert?

Zeuge: Nein.

Vert.: Also die Angaben der Frau des Mannes genügten Ihnen, um den Mann festzuhalten?

Dr. Capellmann: Die müssen mir vorläufig genügen.

Vert.: Herr Sanitätsrat, es wird schon seit Jahren in allen Zeitungen darüber Klage geführt, daß Privatirrenanstalten bequeme Stätten sind, in die böse Frauen ihre ihnen unbequemen Männer mit Leichtigkeit schaffen lassen können. Nun hat Ihnen doch der Zeuge gesagt: Seine Einlieferung in die Irrenanstalt sei auf Betreiben seiner Frau von dem hiesigen Polizeikommissar Zimmermann angeordnet worden; er (der Zeuge) hege den Verdacht, daß der Polizeikommissar mit seiner Frau ein unerlaubtes Verhältnis unterhalte. Hat Ihnen diese Angabe des Mannes nicht Veranlassung gegeben, eine Untersuchung über die Wahrheit dieser Angaben anzustellen?

Dr. Capellmann: Nein, wie konnte ich das auch feststellen?

Geschäftsreisender Joseph Junior, früher Aufseher im Kloster Mariaberg, berichtete über eine große Anzahl von den Brüdern an den Kranken begangenen Mißhandlungen. Bruder Heinrich habe einen Kranken mit einem Schlüsselbund in heftiger Weise in die Seite und mit einem Schuhabsatz auf den Kopf geschlagen. Bruder Ezechiel habe einen Kranken furchtbar geohrfeigt und mit dem Fuß zur Erde gestoßen. Bruder Gregor und Bruder Heinrich haben einmal einem Kranken, angeblich aus Scherz, beim Waschen eiskaltes Wasser in den Nacken gegossen.

Vors.: Was war das für ein Kranker.

Zeuge: Das weiß ich nicht, es war jedenfalls ein sehr armseliger Mensch. Bruder Cajus habe einmal in der schmutzigen Station einen Kranken von hinten mit aller Gewalt zu Boden gestoßen. Ein anderer Kranker, ein sehr alter Mann, sei von den Brüdern derartig mißhandelt worden, daß er einen Leistenbruch davongetragen habe. Dieser selbe Kranke habe ihm einmal einige Zähne gezeigt, die ihm die Brüder ausgeschlagen hatten.

Es wurden alsdann die Zwangsjacke, ein Fußriemen, ein Handriemen, ein Paar lederne Zwangshandschuhe und eine dicke kurze eiserne Kette, die an zwei eisernen Armfesseln befestigt waren, vorgelegt. Auf Auffordern des Vorsitzenden zog Bruder Provinzial Welter dem Bruder Overbeck die Zwangsjacke an. Bruder Overbeck machte dabei ein sehr bedenkliches Gesicht. Ein ehemaliger Wärter bemerkte: die Zwangsjacke wurde den Kranken derartig fest angelegt, daß sie kaum noch atmen konnten.

Der Hauptsachverständige, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Finkelnburg (Bonn), begutachtete: Forbes sei weder geisteskrank, noch leide er an Größenwahn. Sein ethisches Empfinden sei wohl bezüglich seiner alkoholischen Exzesse und deren Folgen etwas abgestumpft, wie dies bei allen Trunksüchtigen der Fall sei. Im übrigen sei Forbes vollständig geistig intakt, und eine Notwendigkeit, ihn zu internieren, habe durchaus nicht vorgelegen. Eine provisorische Internierung zum Zwecke ärztlicher Beobachtung wäre vielleicht zu empfehlen gewesen.

Auf Befragen des Verteidigers, Rechtsanwalts Dr. Niemeyer, bemerkte Geh. Rat Professor Dr. Finkelnburg burg: Ein verwöhnter Mann wie Forbes würde auch in einer guten Anstalt an seiner Gesundheit Schaden gelitten haben. Nachdem ich aus der Beweisaufnahme erfahren, welche Zustände in Mariaberg herrschen, muß ich nur meine Verwunderung aussprechen, daß Forbes nach so jahrelanger Internierung und nach solcher Behandlung, wie sie ihm in Mariaberg zuteil geworden, nicht geisteskrank geworden ist. Eine solche Gefahr lag zweifellos vor. Herr Forbes kann mithin Herrn Mellage mit vollem Recht als seinen Befreier und Erretter ansehen.

Die anderen medizinischen Sachverständigen schlossen sich dem Gutachten des Geh. Medizinalrats Prof. Dr. Finkelnburg fast vollständig an.

Noch eine ganze Anzahl Leute aller Altersklassen bekundeten zeugeneidlich: Sie seien, da sie an Epilepsie leiden, im Kloster Mariaberg gewesen und seien der geringfügigsten Vergehen wegen von den Brüdern „geduscht“ und aufs schwerste mißhandelt worden.

Der 55jährige Epileptiker Launer machte folgende Angaben. Er habe mit dem Bruder Basilius einmal wegen Gemüse Streit bekommen. Bruder Basilius habe ihn deshalb ins Gesicht geschlagen, zu Boden geworfen, furchtbar mit Füßen getreten, so daß er ganz mit Beulen bedeckt war, fünf Löcher in den Kopf bekam und ungeheure Schmerzen hatte. Alsdann wurde er 14 Tage lang fast täglich geduscht. Er wurde in einen leeren Raum gebracht, wo eine Badewanne stand. Er wurde zunächst gefesselt, alsdann kopfüber unter die Dusche gesteckt, so daß er keine Luft bekam. Diese Prozedur wurde zehnmal wiederholt. Vors.: Und das geschah täglich 14 Tage lang? Zeuge: Fast täglich. Eines Tages sei er nicht schnell genug die Treppe zur Kirche hinaufgegangen. Bruder Pankratius habe ihn zur Eile angetrieben, und da er sich deshalb verantwortete, habe ihn Bruder Pankratius die Treppe hinuntergeworfen, ihn furchtbar geschlagen, mit Füßen getreten, und nun sei er zur Strafe wieder 14 Tage lang geduscht worden. Dr. Chantraine: Der Mann sei sehr streitsüchtig und leide an Verfolgungswahnsinn. Er sei auch in der letzten Zeit schwachsinnig geworden. Er leide an eingebildeten Schmerzen und bilde sich ein, Verletzungen erhalten zu haben. Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Wodurch wissen Sie das? Dr. Chantraine: Das ist mir mitgeteilt worden. Vert.: Ich bitte Sie doch aber, auseinanderzuhalten, was Sie selbst gesehen haben und was Sie vom Hörensagen wissen. Selbstverständlich hat Ihnen dies ein Bruder mitgeteilt? Dr. Chantraine: Jawohl. Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Hat Ihnen auch der Mann selbst über Schmerzen geklagt? Dr. Chantraine: Jawohl. Vert.: Und Sie hielten das für Einbildung? Dr. Chantraine: Jawohl. Vert.: Woher entnahmen Sie das? Dr. Chantraine: Weil ich wußte, daß der Mann an Einbildung leidet. Vert.: Woraus entnahmen Sie das? Dr. Chantraine: Wenn mir der Mann ein Jahr lang über Rückenschmerzen klagt, dann muß man doch annehmen, daß er sich die Schmerzen einbildet. Vert.: Haben Sie jemals den Urin des Mannes untersucht? Dr. Chantraine: Ich glaube nicht. Vert.: Ich wünsche eine bestimmte Antwort von Ihnen. Dr. Chantraine: Bestimmt kann ich es nicht sagen. Vert.: Ich bin nicht Mediziner, bin aber der Meinung, wenn der Arzt den Schmerz nicht erkennen kann, dann nimmt er zunächst eine Harnuntersuchung vor. Dr. Chantraine schweigt. Vert. Rechtsanwalt Dr. Niemeyer: Herr Doktor, wenn jemand über Kopfschmerz klagt, ist alsdann der Kopfschmerz an einer äußeren Erscheinung zu erkennen? Dr. Chantraine: Bisweilen allerdings. Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Wir verzichten darauf, über dieses Thema die medizinischen Experten zu vernehmen. Wir trauen dem hohen Gerichtshof so viel medizinische Kenntnis zu, daß er sich über dieses Thema selbst ein Bild wird machen können.

Schreinermeister Sauren machte folgende Aussagen: Er habe mehrere Jahre in Mariaberg als Schreinermeister gearbeitet. Er habe einmal gesehen, daß Forbes, als er eines Abends gegen 7 Uhr nach Hause kam, von einer Anzahl Brüdern ergriffen, geschlagen, gestoßen und zur Treppe hinauf in eine Zelle gezerrt wurde. Forbes habe geschrien und gebeten, ihn loszulassen, er werde allein gehen, diesem Verlangen haben aber die Brüder nicht entsprochen. Er habe außerdem mehrfach gesehen, daß Kranke von Wärtern und Brüdern mißhandelt, gestoßen, geschlagen und getreten wurden. Einmal habe er gesehen, wie der Wärter Krings einem Kranken ein Bein stellte. Bruder Heinrich habe einen Kranken mit einem Schlüsselbund auf den Kopf geschlagen. Er selbst sei einmal von dem Bruder Florian heftig auf die Schulter geschlagen worden, weil er in die Küche gekommen sei. Er habe nicht gewußt, daß es verboten sei, in die Küche zu gehen. Er habe sich dagegen verwahrt und dem Bruder Florian gesagt: Sie haben kein Recht, mich zu schlagen, ich bin kein Kranker. Vert. Rechtsanwalt Lenzmann: Wurden die Kranken geschlagen? Zeuge: Allerdings, vielfach. Den Kranken wurde von den Brüdern oftmals mit den Worten gedroht: Nimm dich in acht, sonst kommst du nach dem Käuffchen. (Käuffchen ist der Wärter der schmutzigen Station.) Sauren bekundete noch: Es sei ihm einmal erzählt worden, daß vor acht Jahren in Mariaberg ein Kranker erschlagen worden sei.

Ein anderer Zeuge bekundete: Ein Kranker sei von dem Bruder Pankratius einmal ganz furchtbar geschlagen und alsdann mehrere Tage in eine Zelle gesperrt worden. Wärter Käuffchen habe mehrfach Kranke im Hofe des Klosters an einen Baum festgebunden. Vors.: Haben Sie das selbst gesehen? Zeuge: Jawohl, das habe ich mehrfach gesehen. Vors.: Wie lange mögen wohl diese Kranken am Baum festgebunden gewesen sein? Zeuge: Den ganzen Tag.

Vors.: Waren Brüder dabei? Zeuge: Jawohl, der Rektor Overbeck.

Vors.: Können Sie das beeiden? Zeuge: Jawohl, mit reinstem Gewissen.

Die medizinischen Sachverständigen wurden schließlich aufgefordert, ihr Endurteil über die Zustände in „Mariaberg“ abzugeben. Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Finkelnburg: Ich muß bemerken, daß ich vergeblich nach Worten suche, um für die Zustände in Mariaberg, wie sie uns durch die Beweisaufnahme hier vorgeführt worden sind, die richtige Bezeichnung zu finden. Mich haben diese hier bekundeten Vorgänge mit Entsetzen und Abscheu erfüllt. Derartige Dinge sollte man weder in Deutschland, noch in einem anderen zivilisierten Lande für möglich halten. Dr. Besser und Geh. Sanitätsrat Dr. Ripping erklären, daß sie sich diesem Gutachten vollständig anschließen können.

Medizinalrat Dr. Gerlach: Ich kann mich auch nur dem Gutachten des Herrn Geheimrats Finkelnburg anschließen. Ich will aber noch bemerken, daß nächst den Mißhandlungen es in hohem Grade zu verurteilen ist, daß den Kranken ärztliche Hilfe versagt und die gesamte Krankenpflege den Brüdern überlassen wurde. Die Kranken bedürfen schon der ärztlichen Behandlung im Interesse der Hygiene. In Mariaberg wurden die Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt. Ich bin der Ansicht, daß die Ärzte der Kranken wegen da sind und nicht die Kranken der Ärzte wegen. Es heißt doch alles auf den Kopf stellen, wenn Kranke, die den Arzt verlangen, sich bei diesem in seinem Zimmer melden müssen. In jeder anderen Krankenanstalt kommt der Arzt unaufgefordert zu dem Kranken. Auf Befragen des Staatsanwalts und des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalt Oster, erklären die medizinischen Sachverständigen wiederholt, daß die Psychiatrie alle Zucht- und Strafmittel gegen Kranke grundsätzlich verwirft. Zwangsmittel, die zur eigenen Sicherheit des Kranken geboten erscheinen, dürfen nur von einem Arzt angeordnet und auch nur in dessen Beisein angewendet werden.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Niemeyer: Wir könnten noch einige dreißig Zeugen vorführen, die über arge Mißhandlungen, die die Brüder in Mariaberg an Kranken vorgenommen haben, bekunden würden. Wir hatten außerdem die Absicht, den Antrag zu stellen, wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit auszuschließen und eine Reihe von Zeugen vorzuführen, die bekundet hätten, daß im Kloster ster Mariaberg im Beisein und zum Teil unter Teilnahme der Brüder widernatürliche Unzucht getrieben worden sei. Die Verteidigung hat jedoch nicht die Absicht, ohne daß eine dringende Notwendigkeit vorliegt, noch mehr Schmutz aufzuwirbeln. Die Verteidigung verzichtet deshalb auf jede weitere Beweisaufnahme, da die Zustände in Mariaberg hinreichend beleuchtet worden sind.

Staatsanwalt Pult, der am vorletzten Tage zur Begründung der Anklage das Wort nahm, führte u.a. aus: Die Anklage ist auch erhoben worden wegen einer Reihe von Behauptungen, daß im Alexianerkloster Mariaberg die Kranken in ärgster Weise mißhandelt worden seien. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bin ich genötigt, die Anklage nach dieser Richtung fallen zu lassen. Es ist in der Tat festgestellt, daß im Kloster Mariaberg Dinge vorgekommen sind, die die schwersten Strafen rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft wird diesen Dingen nähertreten und auf Grund der hier zutage getretenen Vorkommnisse und noch weiter anzustellender Erhebungen die strengste Ahndung vornehmen, darauf können Sie sich verlassen. Allein so sehr diese Vorkommnisse zu bedauern sind, so kann ich Herrn Mellage trotzdem den Vorwurf nicht ersparen, daß er sich auch in dieser Behauptung der Übertreibung schuldig gemacht hat. Ich bin nun der Meinung, daß ebensowenig nig wie dem Angeklagten Mellage auch den beiden anderen Angeklagten der § 193 des Strafgesetzbuches zur Seite steht. Was das Strafmaß anlangt, so wird zu berücksichtigen sein, daß der Angeklagte Mellage nicht aus niederen Motiven gehandelt hat. Im Gegenteil, ich muß ausdrücklich anerkennen, daß Mellage sich das Verdienst erworben hat, schwere Mißstande aufgedeckt zu haben. Dieses Moment wird bei Abmessung der Strafe zu berücksichtigen sein. Ich bedauere bloß, daß Mellage die Broschüre in so wenig sachlicher Weise geschrieben hat, daß er sich bei Abfassung der Broschüre zu argen Gehässigkeiten hat hinreißen lassen. Ich beantrage gegen Mellage wegen der drei Artikel im „Iserlohner Kreisanzeiger“ je 20 Mark, wegen der Broschüre 300 Mark, gegen den Angeklagten Scharre, der für alle vier Artikel im „Iserlohner Kreisanzeiger“ verantwortlich zu machen ist, zusammen 80 Mark und gegen den Verleger der Broschüre, den Buchhändler Warnatzsch, 200 Mark Geldstrafe. Im Unvermögensfalle beantrage ich für je 5 Mark einen Tag Gefängnis. Ich beantrage außerdem, auf Vernichtung der Broschüre und der inkriminierten Artikel des „Iserlohner Kreisanzeigers“ zu erkennen und endlich den Beleidigten, Sanitätsrat Dr. Capellmann, Bruder Provinzial Welter, Rektor Overbeck und dem hiesigen Regierungspräsidenten das Recht zuzusprechen, sechs Wochen nach Zustellung des Urteils den Tenor im hiesigen „Politischen Tagebl.“, im „Echo der Gegenw.“, in der „Köln. Ztg.“, in der „Köln. Volksztg.“ und im „Iserl. Kreisanz.“ zu veröffentlichen und den Angeklagten die Kosten des Verfahrens, auch die der Nebenkläger aufzuerlegen.

Der Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Oster, führte aus: Ich kann, als Vertreter der Nebenkläger, die Anklage wegen der Behauptung, daß Kranke in Mariaberg mißhandelt worden, nicht fallen lassen. Ich halte den Beweis der Wahrheit bezüglich aller dieser Behauptungen nicht für erbracht. Man darf doch nicht außer acht lassen, daß die Zeugen hier sämtlich in großer Erregung aufgetreten seien und wohl kaum von einer Übertreibung freizusprechen sind. Man darf andererseits nicht außer acht lassen, daß in Irrenanstalten ohne Zwangsmittel überhaupt nicht auszukommen ist. Daß den Angeklagten der § 193 des Strafgesetzbuches nicht zur Seite steht, hat der Herr Staatsanwalt bereits hervorgehoben, ich will bloß noch hinzufügen, dem Angeklagten Mellage war bekannt, daß er sich arger Übertreibungen schuldig gemacht hat. Es ist im weiteren zu berücksichtigen, daß die ärgsten Vorwürfe und Beleidigungen erhoben worden sind gegen Klosterbrüder, die nicht materieller Vorteile wegen, sondern lediglich aus Liebe zu ihrem Gott und ihrer Kirche sich in den schweren, Tag und Nacht die härteste Arbeit erfordernden Dienst der Irren- und Krankenpflege stellen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Niemeyer (Essen): Hoher Gerichtshof! Die Ausführungen des Herrn Staatsanwalts haben mich in nicht geringes Staunen gesetzt. Ich bin mit Spannung der Rede des Herrn Staatsanwalts gefolgt, da ich erwartet habe, nach diesem Ergebnis der Beweisaufnahme werde er sich auf unseren Standpunkt stellen. Ich bin deshalb um so mehr enttäuscht und muß bekennen, ich hätte etwas mehr Objektivität von dem Herrn Staatsanwalt erwartet. Vors.: Herr Verteidiger, ich bin entfernt, Sie in Ihren Ausführungen irgendwie zu beschränken, ich muß Sie aber dringend ersuchen, sachlich zu bleiben. Es ist doch nicht gut angängig, dem Herrn Staatsanwalt Mangel an Objektivität vorzuwerfen. Vert.: Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich vielleicht etwas zuweit gegangen bin, allein ich bin förmlich aus dem siebenten Himmel gefallen, als ich die Rede des Herrn Staatsanwalts hörte. Denn ich sowohl als auch Herr Rechtsanwalt Lenzmann fühlen uns nicht als Verteidiger armer Sünder, sondern als Rechtsbeistände eines Mannes, dessen Handlungsweise die größte Anerkennung verdient, der dem Vaterlande, ja, der ganzen Menschheit, einen ganz unendlich großen Dienst geleistet hat, der ein Werk christlicher Nächstenliebe vollbracht hat, das für die Kultur und den menschlichen Fortschritt von höchster Bedeutung ist. Welche Bedeutung das große Publikum dem Werke des Herrn Mellage beilegt, hat der hier als Zeuge aufgetretene Major Löbbecke bekundet, indem er sagte: Obwohl ich ein politischer Gegner des Herrn Mellage bin, so bin ich doch stolz darauf, daß gerade ein engerer Landsmann von mir ein solch edles Befreiungswerk vollbracht hat. Und mit Recht wird Mellage als Menschenbefreier gefeiert. Ohne das Vorgehen des Herrn Mellage säße Herr Forbes noch heute hinter den Mauern des Klosters Mariaberg und wäre zweifellos dort gestorben. Das Charakteristische in dem ganzen Prozeß ist, daß der Subrektor, Bruder Heinrich, der am meisten Beleidigte, sich dem Strafantrage nicht angeschlossen hat, obwohl die Staatsanwaltschaft allen Brüdern dazu die beste Gelegenheit bot. Bruder Heinrich wird für die Unterlassung des Strafantrages seinen guten Grund gehabt haben. Ich behaupte, das Kloster Mariaberg ist eine Anstalt, die u.a. dazu dient, widerspenstige Geistliche unschädlich zu machen. Dies hat sowohl der Fall Forbes als auch der Fall Rheindorf zur Genüge dargetan. Rheindorf ging aus Anlaß des Kulturkampfes im Dienste der christlichen Mission nach Amerika. Als er nach Deutschland zurückkam, fiel er in Ungnade und wurde deshalb in die Demeritenanstalt nach Mariathal gesandt. Nach dem deutschen Reichsgesetz ist es nicht gestattet, länger als drei Monate Geistliche in einer Demeritenanstalt stalt gefangen zu halten. Rheindorf verlangte nach Ablauf der drei Monate, mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand in eine Privatpflege gehen zu dürfen, er wurde jedoch von dem Erzbischof nach Mariaberg mit den Worten befohlen, er werde dort eine Pflege erhalten, wie er sie in der kostspieligsten Privatpflege nicht bekommen könne. Und als Rheindorf sich durchaus weigerte, nach „Mariaberg“ zu gehen, wurde ihm bedeutet: wenn er sich nicht unverzüglich nach Mariaberg begebe, habe er noch strengere Maßregeln zu erwarten. Mein Kollege hat bereits hervorgehoben, daß hier eine Nötigung vorliegt. Ich will hierbei bemerken, daß dieser Prozeß sich nicht gegen den Ultramontanismus oder Katholizismus richtet, sondern lediglich in objektiver Weise Mißstände, schreiende Mißstände aufdeckt. Ich freue mich, daß selbst Zentrumsblätter dies eingesehen haben und über die Verhandlungen dieses Prozesses vollständig objektiv berichten. Ich fahre in der Beleuchtung des Falles Rheindorf fort und bemerke: Der erwähnte Befehl des Erzbischofs war sicherer wie eine militärische Eskorte, die einen Sträfling ins Zuchthaus schafft. Wir haben aus dem Munde des Pfarrers Rheindorf selbst gehört: Er wurde wie ein Gefangener und Verbrecher behandelt. Ist es nicht geradezu empörend, daß ehemalige Schuster, Schneider, Bäcker, Brauer, Fremdenführer usw. das Recht haben, katholische Priester, also akademisch gebildete Leute, wie Verbrecher zu behandeln und nach Belieben zu mißhandeln. Wir haben gehört, welch ungeheure Macht der ehemalige Schneidergeselle Bruder Heinrich nicht bloß über die Kranken, sondern auch über die Ärzte hat. Es ist hier von zwei Zeugen eidlich bekundet worden, daß Bruder Heinrich selbst nach dem Erzbischof und dem Generalvikar nicht fragt. Wer hier ist, der wird zahm gemacht, ohne unseren Willen kommt aus diesen Mauern niemand heraus. Hier hat weder der Erzbischof noch der Generalvikar, noch die ?Döktersch? etwas zu sagen, hier haben nur wir Brüder etwas zu sagen, wir Brüder sind klüger als die ?Döktersch?. Ist das nicht charakteristisch. Bruder Heinrich hat dies allerdings eidlich abgeleugnet. Er hat allerdings auch die eidliche Bekundung des Polizeikommissars Lohe in Abrede gestellt. Ich überlasse es dem hohen Gerichtshof, welches Zeugnis er für glaubwürdig hält. Wir haben gehört, wie es dem Rheindorf in Mariaberg erging. Ich erinnere nur an den einen Vorgang, als Rheindorf mit Tränen in den Augen Herrn Dr. Chantraine nachlief und diesen flehentlich bat, ihm doch zu gestatten, zum Zahnarzt gehen zu dürfen. Rheindorf hat schließlich sich durch List einen Urlaub erwirkt, wodurch es ihm gelungen ist, aus Mariaberg zu entkommen. Ich habe absichtlich mit dem Fall Rheindorf begonnen, weil dieser den Schlüssel zu dem Fall Forbes liefert. Rheindorf kam zu Herrn Mellage, und nachdem er ihm seine Erlebnisse mitgeteilt, sagte er zu ihm: Es sitzt noch ein schottischer Geistlicher in Mariaberg, dem es noch viel schlimmer ergeht, als es mir ergangen ist. Forbes ist ein streng auf katholischen Dogmen stehender Geistlicher. Aber er ist Engländer und hat das Unglück, eine etwas demokratische Natur zu haben. Dies machte ihn bei seinem Bischofe mißliebig. Wäre Forbes eine fügsame Natur gewesen, ich bin überzeugt, die excessio in bacho und noch weniger das bekannte Renkontre mit dem englischen Offizier hätten ihm geschadet. Aber da er eine selbständige Natur ist, so wird dies selbstverständlich gegen ihn verwertet. Forbes wurde, da er für die irischen Pächter eintrat und mit seiner Kirchenpatronesse in Konflikt geriet, seines Amtes entsetzt, aber dies genügte seinem Bischof nicht, er sollte unschädlich gemacht werden. In England ließ sich das nicht tun. Dort gilt noch die persönliche Freiheit. Er wurde deshalb nach Brügge in Belgien geschickt. Aber auch nach den belgischen Gesetzen ist eine Internierung auf Lebenszeit verboten. Deshalb verwies ihn sein Bischof nach Mariaberg in die Pflege des sanften Bruders Heinrich. Allein bei einem freiwilligen Pensionär war man doch nicht ganz sicher, ob er sich doch nicht einmal der liebevollen Umarmung des Bruders Heinrich entziehen konnte. Es wurde deshalb die erste beste Gelegenheit benutzt, um den Forbes für irrsinnig zu erklären und zeitlebens gewaltsam zu internieren. Ich kann Herrn Geheimrat Kribben den Vorwurf nicht ersparen, daß er sich in fahrlässiger Weise der Beihilfe widerrechtlicher Freiheitsberaubung schuldig gemacht hat. Herr Geheimrat Kribben hat Herrn Forbes für irrsinnig erklärt, weil er betrunken und erregt war und weil er nach Mitteilung seines Bischofs erblich belastet und auch schon früher dem Trunke ergeben war. Und als Herr Geheimrat Kribben gefragt wurde, wer ihm dies mitgeteilt hat, war die Antwort: Bruder Heinrich. Ja, wenn man alle Leute, die in der Trunkenheit erregt sind, für geistesgestört erklären wollte, dann hätte Herr Geheimrat Kribben, der ja der hiesige Polizeiarzt ist, Gelegenheit, täglich 10-12 Leute, die betrunken auf die Polizeiwache gebracht werden, für geistesgestört zu erklären, ein abgekürztes Verfahren für Schöffengerichte und Strafkammern. Im übrigen ist dem Forbes auch schon im Jahre 1890, als er noch freiwilliger Pensionär war, die Zwangsjacke angelegt worden. Ein Jahr später wurde auf Befehl des Bischofs von Aberdeen aus dem freiwilligen Pensionär ein unfreiwilliger Pensionär. Daß dies wahr ist, dafür spricht der Umstand, daß der Bischof von Aberdeen an den Generaloberen Bank wahrheitswidrig berichtete: Forbes ist ein Trunkenbold und erblich belastet, und daß der Bischof sich sofort bereit erklärte, wöchentlich 20 Mark Pension für Forbes zu zahlen. Im übrigen ist es nach den deutschen Gesetzen nur gestattet, gemeingefährliche Geisteskranke zu internieren, andernfalls macht man sich einer Freiheitsberaubung schuldig. Daß die Herren Forbes und Rheindorf nicht gemeingefährlich sind, das wird wohl dem Blödesten klar geworden sein. Ich behaupte aber, daß Forbes und Rheindorf auch keine Trinker sind. Bezüglich des Rheindorf hat lediglich ein Kutscher, um sich wegen eines nicht erhaltenen Trinkgeldes zu rächen, bekundet, er habe diesen betrunken gesehen. Und Forbes verkehrt bereits ein Jahr lang in der Wirtschaft des Herrn Mellage in Iserlohn; dort stehen ihm alle geistigen Getränke unentgeltlich zur freien Verfügung, er hat aber davon niemals Gebrauch gemacht. Ist es nicht geradezu ein ungeheuerliches Verbrechen, das mit Forbes angestellt wurde? Charakteristisch ist, daß, als Mellage und Genossen den Forbes zu sprechen wünschten, Bruder Heinrich sagte: Das geht nicht, der Mann ist so krank und so schwach und schlägt um sich, den kann niemand sprechen. Weshalb diese Lüge? Weshalb die Komödie, den Forbes von zwei Leuten ins Sprechzimmer führen zu lassen, damit man glauben solle, der Mann ist doch verrückt? Man befürchtete eben die Befreiung, denn einmal vollzog man den Befehl des Bischofs, einen aufsässigen Geistlichen unschädlich zu machen, und andererseits seits erhielt man dafür von dem Bischof eine angemessene Bezahlung. Es entsteht nun die Frage: Steht dem Angeklagten Mellage der Schutz des § 193 des St.-G.-B. zur Seite? Der Schutz dieses Paragraphen muß ihm zugestanden werden, da er gehandelt hat in Wahrnehmung des Interesse des Forbes, zweitens in seinem eigenen und drittens im Interesse der Allgemeinheit. Forbes hatte ein Recht, Anklage gegen die Leiter der Anstalt Mariaberg zu erheben, einmal, weil er Genugtuung zu fordern hatte für die ihm widerfahrene Behandlung und weil für ihn die Gefahr der Wiederholung vorlag. Allein Forbes ist der deutschen Sprache nicht mächtig, er konnte seine Rechte nicht wahrnehmen. Wer war mehr berufen als sein Anwalt aufzutreten als sein Retter und Befreier, und zwar Befreier nicht in Gänsefüßchen. Mellage handelte auch in Wahrnehmung seiner eigenen Interessen. Er war genötigt, die Angriffe, die gegen ihn hageldicht niederfielen, zurückzuweisen. Er handelte aber auch im Interesse der Menschheit, und auch dies Recht wird von dem höchsten Gerichtshofe anerkannt. Ja, ich behaupte: Mellage handelte im Interesse nicht bloß seines Vaterlandes, nein, im Interesse der Menschheit. War es nicht des Schweißes der Edlen wert, daß Mellage solche grauenhafte Mißstände aufgedeckt hat? Abscheu und Entsetzen hat es in der ganzen zivilisierten Welt erregt, daß in unserem deutschen Vaterlande in einer staatlich konzessionierten Irrenanstalt trotz staatsanwaltschaftlicher und Regierungsaufsicht derartige Schandtaten vorkommen konnten. Aber noch mehr war ich von der Behauptung des Herrn Staatsanwalts überrascht: Mellage habe sich Übertreibungen schuldig gemacht. Ich traute meinen Ohren kaum, als ich diese Bemerkung hörte. Jeder, der dieser achttägigen Verhandlung gefolgt ist, wird zugeben, daß nicht bloß der Inhalt der Broschüre, sondern noch bedeutend mehr erwiesen worden ist. Hätte Mellage gewußt, was in dieser Verhandlung zutage treten wird, dann wäre der Inhalt der Broschüre noch ein bedeutend reichhaltigerer gewesen. Mellage wußte noch nicht, als er die Broschüre schrieb, daß Kranke zwischen ein eisernes Gitter und einen brennenden eisernen Ofen gestellt wurden und in dieser Stellung, unaufhörlich schreiend, um den Ofen herumgelaufen sind. Herr Mellage wußte noch nicht, als er die Broschüre schrieb, daß Kranke an einem Baum festgebunden und den ganzen Tag in dieser Stellung behalten wurden. Herr Mellage wußte zur Zeit noch nicht, daß Epileptikern die Schlinge um den Hals geworfen wird und diese dem Ersticken nahe gebracht werden, er wußte noch nicht, daß es verschiedene Duschen in Mariaberg gibt, mit denen hilflose Kranke gezüchtigt werden. Herr Mellage wußte, als er die Broschüre schrieb, noch nicht, daß die Brüder sich nicht scheuten, ten, selbst den Kaplan Medebach in die Dusche zu bringen. Herr Mellage wußte auch nicht, daß man einem Kranken eine eiserne Stange zwischen die Beine gekettet habe. Ich erinnere an die übrigen Foltern und Mißhandlungen, die man in Mariaberg gegen die Kranken angewandt hat. Das Stoßen und Treten mit den Füßen, die Mißhandlung, die dem kleinen, buckligen Stubenkämper zuteil wurde, das ?scherzweise? erfolgte Wasserbegießen in den Nacken der Kranken, die eidlichen Bekundungen, wie das Schlagen mit dem Schlüsselbund auf den Kopf, war etwas Alltägliches, und daß ein Kranker, namens Krämer, infolge von Schlagen mit dem Schlüsselbund am anderen Morgen gestorben ist. Im Mosseschen Insertionskalender zeigen die Alexianerbrüder an, daß die Kranken in zweckentsprechender Weise in ihren Klöstern beschäftigt werden. Wie diese zweckentsprechende Beschäftigung ausgeübt wird, hat die Verhandlung bewiesen. In unseren Gefängnissen ist die Anwendung von Strafmitteln verboten, und in den Zuchthäusern darf die Prügelstrafe nur im äußersten Falle unter Genehmigung des Arztes und des Geistlichen angewendet und gesetzlich muß darüber in der genauesten Weise an die vorgesetzte Behörde berichtet werden. Und hier maßten sich Leute an, hiflose Kranke, die ihrer Sinne nicht mächtig sind, in einer aller Menschlichkeit hohnsprechenden Weise zu mißhandeln. handeln. Ist das nicht gottlos? Und wenn dies von Leuten geschieht, die die Krankenpflege im Namen Gottes, ausüben, so ist das scheinheilig. Der Wahrheitsbeweis ist Herrn Mellage in allen Dingen gelungen. Und auch die Behauptungen, die in der Broschüre gegen Herrn Sanitätsrat Dr. Capellmann enthalten, sind vollständig erwiesen. Denn ich muß sagen, wenn Herr Dr. Capellmann, der 30 Jahre Anstaltsarzt gewesen, von den unerhörten Vorgängen im Alexianerkloster wirklich keine Kenntnis gehabt hat, dann ist das ebenso schlimm, als wenn er sie geduldet hätte. Objektiv hat der Angeklagte Mellage in allen Beziehungen den vollen Beweis der Wahrheit erbracht. Wenn er in subjektiver Hinsicht vielleicht etwas zuweit gegangen sein sollte, so ist doch zu erwägen, daß er mit Recht über derartige aller Menschlichkeit Hohn sprechende Zustände in einer christlichen Krankenanstalt seiner Entrüstung Ausdruck gegeben hat. Ich kann mir nicht denken, daß der hohe Gerichtshof ein Urteil fällen wird, von dem man sagen könnte „summum jus summa injuria“. Ich halte es für unmöglich, daß der hohe Gerichtshof ein Urteil fällen wird, das dem Rechtsbewußtsein des ganzen deutschen Volkes widersprechen würde.

Verteidiger Rechtsanwalt Lenzmann: Ich bin in der Lage, mich kurz fassen zu können, da ich das Glück habe, einen so wackern jungen Kollegen zur Seite zu haben, der mir meine Arbeit wesentlich erleichtert hat. Ich will mich fern von jeder Leidenschaft halten und mich auf den streng sachlichen Standpunkt stellen, zumal ich mit Freuden konstatieren kann, daß die Verhandlung mit strengster Unparteilichkeit geleitet worden ist. Die Herren Richter haben sich durch die achttägige Verhandlung zweifellos ein klares Bild geschaffen, ich habe daher nicht mehr nötig, auf die Genesis des Prozesses einzugehen. Ich habe mit meinem Kollegen die Überzeugung, daß Sie nur zu einem freisprechenden Urteil kommen können. Sie können das, wenn Sie die Broschüre als Ganzes betrachten, wenn Sie das Gesamtbild auf sich wirken lassen und sich von aller Silbenstecherei fernhalten. Der Prozeß verdient, daß der Richter bei der Beurteilung nicht von kleinlichen Dingen ausgeht, sondern sich von großen allgemeinen Gesichtspunkten leiten läßt. Mein Kollege sprach von der vox populi. Ich liebe es sonst nicht, den fünf Richtern noch einen sechsten in Gestalt der öffentlichen Meinung beizugesellen, allein bei diesem Prozeß ist des Volkes Stimme tatsächlich Gottes Stimme. Durch das, was sich hier im Gerichtssaale abgespielt hat, ist das Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes in geradezu empörendster Weise verletzt, und das Volk würde es einfach nicht verstehen, wenn eine Verurteilung, und wäre es auch nur die niedrigste Geldstrafe, eintreten würde. Daß die drei Männer hier überhaupt auf der Anklagebank sitzen, liegt an unseren eigentümlichen Rechtsverhältnissen, ganz besonders an dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft. Es handelt sich hier erst in zweiter Reihe um die Angeklagten, in erster Reihe handelt es sich um einen Kampf der Neuzeit gegen das finstere Mittelalter, um den Kampf der Humanität gegen die mittelalterliche Folter, um den Kampf der Kultur und des Fortschrittes gegen mittelalterliche Traditionen. Diesen Kampf entfacht zu haben, ist das große Verdienst des Angeklagten Mellage. Dies erklärt auch die große Wut der Gegner, die in der Wahl der Mittel, der sie sich zur Bekämpfung und Verunglimpfung des Herrn Mellage bedienten, nicht wählerisch waren und sogar so weit gingen, es zu hintertreiben, daß ich für Mellage die Verteidigung führe. Es wird mir von den Gegnern das Zeugnis nicht versagt werden, daß ich niemals gegen die katholische Kirche aufgetreten bin. Aus diesem Grunde habe ich auch auf die Ladung eines Herrn hier verzichtet, dem es sehr unangenehm gewesen wäre, wenn er hier hätte bekunden müssen, weshalb dem hier als Zeuge erschienenen Pfarrer Godizart die „Cura animarum“ nur auf vier Wochen ausgestellt wurde, als man erfuhr, daß er hier gegen die Alexianer als Zeuge auftreten werde. Man hat noch verschiedene andere Zeugen zu beeinflussen gesucht, Zeugen, die hier vernommen werden sollten, weggeschickt. Ja, man hat sich sogar nicht gescheut, im Namen von Jesus, Maria und Joseph tatsächliche Unwahrheiten nach Deutschland zu berichten. Dieser eine Brief des Bischofs von Aberdeen an den Generaloberen Bank, in dem es heißt: „Im Namen Jesus, Maria, Joseph. Ich habe mir vergeblich die erdenklichste Mühe gegeben, ein Irrenattest für Forbes zu beschaffen,“ und in dem er gleichzeitig mitteilt: „Die Mutter des Forbes ist irrsinnig, die Schwester dem Irrsinn nahe,“ liefert er den unwiderleglichen Beweis, daß Forbes auf Befehl seines Bischofs als Irrsinniger zeitlebens interniert werden sollte, weil er dem Bischof unbequem war. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß die Behauptungen des Bischofs Lügen waren. Es ist festgestellt worden: Die Eltern des Forbes sind beide geistig und körperlich gesunde Leute gewesen, die ein hohes Alter erreicht haben, und die Schwester ist über den Verbleib ihres Bruders allerdings etwas erregt gewesen. Und übelnehmen kann man das der Schwester doch jedenfalls nicht, denn es ist nicht das erstemal, daß Geistliche auf Befehl ihres Bischofs verschwinden.

Wenn ich mich nun zur Sache selbst wende, so kann es sich bei Beurteilung des Falles nur um die Frage handeln: Sind die Strafantragsteller beleidigt? Mein Kollege hat bereits darauf hingewiesen, daß Bruder Heinrich nebst den verschiedenen anderen Brüdern von einem Strafantrag Abstand genommen haben. Den Strafantrag haben gestellt Bruder Provinzial Welter, Rektor Overbeck und Sanitätsrat Capellmann. Nun hat Bruder Welter, als er gefragt wurde, wodurch er sich beleidigt fühle, erklärt: Lediglich durch die Bemerkung in der Broschüre, daß dem Forbes Gelder vorenthalten worden seien. Der Beweis der Wahrheit für diese Behauptung ist vollständig erbracht worden. Wegen der anderen Dinge kann sich Bruder Welter auch kaum beleidigt fühlen, da er im Mutterhause der Alexianer und nicht in Mariaberg stationiert ist. Von Herrn Sanitätsrat Capellmann heißt es in der Broschüre: „Es kann ihm der Vorwurf nicht erspart werden, daß er die Gefangenschaft des Forbes in fahrlässiger Weise mitverschuldet hat.“ Hätte ich gewußt, was in der Hauptverhandlung zutage kommen wird, dann hätte ich Herrn Mellage geraten, diesen Satz etwas kräftiger zu schreiben. Mag es Herr Capellmann mit seinem Eide abmachen, daß es ihm während 3 1/4 Jahren nicht möglich war, sich auch nur ein einziges Mal um das Schicksal des Forbes zu bekümmern. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit ist der geringste, den man ihm machen kann. Ich nehme nicht Anstand, zu behaupten: es ist eine arge Pflichtvergessenheit eines Arztes, der 3200 Mark Tantieme von einer Anstalt bezieht, sich um die Patienten nicht zu kümmern. Das Attest des Geheimrats Kribben bezog sich bloß, wie dieser uns anfänglich sagte, auf einen Tag. Ich glaube es Herrn Dr. Capellmann einfach nicht, daß es ihm nicht möglich war, sich um das Schicksal des Forbes zu bekümmern. Er durfte als pflichttreuer Arzt die Patienten nicht Schustern, Schneidern und Kesselflickern überlassen. Er mußte sich sagen: es ist unmöglich, daß in einer Anstalt, die 660 Kranke birgt, zwei Ärzte im Nebenamt auf 1 2/1 Stunden täglich angestellt sind. Er mußte, nachdem die Anstalt von 30 auf 660 Patienten angewachsen war, darauf dringen, daß noch ein Assistenzarzt angestellt wurde. Anstatt dessen schreibt er noch im vorigen Jahre an die Provinzialverwaltung: „Ich glaube nicht, daß sich der Vorstand des Alexianerklosters Mariaberg bei der Eigenartigkeit seiner Einrichtungen dazu verstehen wird, noch einen Assistenzarzt anzustellen.“ Dieser Prozeß hat ja bereits das günstige Ergebnis gehabt, daß Sanitätsrat Capellmann eingesehen hat, daß es so doch nicht weiter geht und deshalb gestern seine Stellung als Anstaltsarzt in Mariaberg niedergelegt hat.

Dem Rektor Overbeck wird in der Broschüre zum Vorwurf gemacht, daß er im Verein mit den anderen Brüdern den Forbes widerrechtlich gefangen gehalten und in systematischer Weise seinen Tod herbeiführen wollte. Für diese Behauptung ist der Wahrheitsbeweis vollständig erbracht. Geh. Rat Finkelnburg hat erklärt: klärt: Es ist ein Wunder, daß Forbes durch die jahrelange Internierung nicht irrsinnig geworden ist. Eine längere Internierung hätte zweifellos zum Irrsinn geführt. Es kann für den, der der Verhandlung gefolgt ist, keinem Zweifel unterliegen, daß die Brüder sowohl in dem Falle Forbes als auch in dem Falle Rheindorf die Helfershelfer des Bischofs waren. Sie haben in bewußter Absicht den Forbes gefangen gehalten, denn wenn sie auch ungebildete Leute waren, so mußten sie sich doch als vernünftige Menschen sagen, wir sind genötigt, einen Arzt zu Rate zu ziehen, wir dürfen den Forbes ohne ärztliche Erlaubnis nicht länger gefangen halten. Anstatt dessen sagt sowohl Rektor Overbeck als auch der Subrektor Heinrich dem Mellage: Forbes ist vollständig irrsinnig, der tobt und schlägt um sich und kann von niemandem gesprochen werden. Daß die Einsperrung des Rheindorf eine unberechtigte war, kann absolut nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Daß die Brüder trotz ihrer Unbildung wußten, daß Forbes nicht verrückt ist, geht doch aufs deutlichste aus dem Umstande hervor, daß ihm das Lesen der heiligen Messe gestattet wurde. Soviel mir bekannt, ist in der katholischen Kirche kein Priester befugt, die Messe zu lesen, wenn er auch nur einen geistigen Defekt hat. Ich kann mir nicht denken, daß katholische Ordensbrüder einen Mann mit dem Lesen der heiligen Messe betrauen werden, wenn sie ihn in Wirklichkeit für verrückt halten. Die Brüder handelten also in dolo malo, wenn sie den Forbes trotzdem als Irrsinnigen gefangen hielten. Nun werden die Brüder in der Broschüre der Gottlosigkeit und Scheinheiligkeit bezichtigt. Ja, was ist es denn anderes als Gottlosigkeit, wenn man arme hilflose Kranke in der empörendsten Weise mißhandelt? Und ist es nicht die ärgste Scheinheiligkeit, wenn man, mit einem Priestergewand umkleidet, außerhalb des Klosters den frommen Mann spielt und innerhalb des Klosters die größten Schandtaten begeht? Und hierbei kann ich nicht umhin, Herrn Capellmann wiederum den Vorwurf ärgster Pflichtvergessenheit zu machen. 30 Jahre ist er Anstaltsarzt gewesen und will von all den rohen Strafmitteln, wie sie hier zutage getreten sind, keine Ahnung gehabt haben. Im März 1894 hat allerdings Dr. Chantraine davon erfahren, aber dieser hat es nicht für nötig gehalten, von diesen Ungeheuerlichkeiten seinem Kollegen Mitteilung zu machen. Auf eine Frage, weshalb dies Herr Dr. Chantraine unterlassen haben mag, antwortete Capellmann: dieser müsse es vergessen haben. Und was tat Herr Capellmann, als er von der Existenz der Dusche usw. erfuhr? Er legalisierte diese Einrichtungen und bezeichnete sie für gewisse Fälle als praktisch. Wenn man Herrn Mellage einen Vorwurf machen könnte, dann wäre es höchstens in dem Falle Enderlein. Aber abgesehen sehen davon, daß Herr Polizeisekretär Enderlein den Strafantrag zurückziehen würde, wenn es sich tun ließe – der Regierungspräsident hat bekanntlich den Strafantrag für ihn gestellt –, so hat Herr Enderlein erklärt, daß er sich nicht beleidigt fühle, da ihm in der Broschüre der Vorwurf der passiven Bestechung gar nicht gemacht worden sei. Daß Herrn Mellage der Schutz des § 193 des Strafgesetzbuches zur Seite steht, kann einem Zweifel nicht unterliegen. Er hatte einmal ein persönliches und zweitens das Interesse des Herrn Forbes wahrzunehmen. Wer anders als Herr Mellage war berufen, Herrn Forbes zu schützen? Mellage hatte außerdem aber auch ein Allgemeininteresse zu wahren. Wenn auch durch eine Reichsgerichtsentscheidung der Presse das Recht der Kritik sehr beschränkt worden ist, so ist ihr doch gestattet, öffentliche Mißstände zu kritisieren. Dafür ist eigens der § 193 geschaffen worden. Der § 193 des Strafgesetzbuches soll es ermöglichen, öffentliche Mißstände ungestraft rügen zu dürfen. Eine Überschreitung dieser Grenze ist nur vorhanden, wenn aus der Form oder den Umständen die Absicht der persönlichen Ehrenkränkung hervorgeht. Dies ist jedoch weder aus den inkriminierten Artikeln, noch aus der Broschüre zu entnehmen. Die Menschheit muß es Herrn Mellage danken, daß er Scheußlichkeiten aufgedeckt hat, wie man sie in unserem Vaterlande für unmöglich halten sollte. Ohne die Energie und das furchtlose Vorgehen des Herrn Mellage würden die hilflosen Kranken in Mariaberg wohl noch sehr lange in der hier vorgeführten Weise mißhandelt worden sein. Die Welt würde es daher nicht verstehen, wenn deshalb Herr Mellage und die beiden Herren, die ihn in seinem hochedlen Werke unterstützt haben, bestraft werden würden. Auch nur die geringste Geldstrafe würde die Gegenpartei als einen Sieg für sich bezeichnen. Ich hoffe, der hohe Gerichtshof wird den rocher de bronze bilden, an dem die Gegenpartei zerschellen wird. Wenn der hohe Gerichtshof aus Silbenstecherei zu einer Verurteilung käme, dann würde sich die Göttin Themis wie eine Puppe auf ihrem Postament ausnehmen. Sie haben auf Ihrer Eingangstür die Worte stehen: „Die Wahrheit zu finden, ist des Richters Handwerk“. Dieser Aufgabe haben Sie genügt, wenn Sie sich nicht in Einzelheiten verlieren, sondern die Broschüre in ihrer Gesamtheit auf sich wirken lassen. Meine Herren Richter: Sie sitzen hier im Namen des Königs, um Recht zu sprechen. Geben Sie ein königliches Urteil ab, und dies kann nicht anders lauten, als: die Angeklagten sind freigesprochen.

Nach etwa zweistündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Dahmen: Auf Grund der Beweisaufnahme ist bezüglich des ersten Artikels im „Iserlohner Kreisblatt“ der Beweis der Wahrheit als geführt erachtet worden. Bezüglich der drei anderen Artikel im „Iserlohner Kreisblatt“ ist ebenfalls angenommen worden, daß der Beweis der Wahrheit erbracht ist, resp. kommt den Angeklagten Scharre und Mellage der Schutz des § 193 des Strafgesetzbuchs zustatten. Das gleiche gilt hinsichtlich der Broschüre für die Angeklagten Mellage und Warnatzsch. Demgemäß hat der Gerichtshof im Namen des Königs für Recht erkannt: Die Angeklagten sind freizusprechen. Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last mit Ausnahme der den Nebenklägern erwachsenen Kosten. Ferner wird auf Aufhebung der Beschlagnahme der Broschüre erkannt.

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[Wilhelm Voigt, schon fertig]

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Der Judenflinten-Prozeß

Im Mai 1892 erschien im Verlage von Glöss in Dresden unter dem Titel „Neue Enthüllungen, Judenflinten“ eine Broschüre, die den antisemitischen Reichstagsabgeordneten Rektor a. D. Hermann Ahlwardt (Berlin) zum Verfasser hatte. In dieser Broschüre wurde u.a. behauptet, daß von der Berliner Gewehrfabrik Ludwig Löwe & Co., Aktien-Gesellschaft, schlechte, untaugliche Gewehre für die deutsche Armee geliefert werden. „Diese Gewehre,“ so hieß es in der Broschüre, sind nicht bloß geeignet, die deutsche Armee kriegsuntüchtig zu machen, da die Gewehre beim Schießen versagen, sie gefährden außerdem durch häufiges Platzen der Läufe Leben und Gesundheit der deutschen Soldaten. Die Löweschen Gewehre sind nicht dem Feinde, um so mehr aber den deutschen Soldaten gefährlich, denen sie behufs Schießübung im Frieden und zur Anwendung im Kriege übergeben worden sind. Diese von den Leitern der Ludwig Löweschen Fabrik betriebenen betrügerischen Manipulationen, den Herren Isidor Löwe und Oberstleutnant a.D. Kühn, alias Cohn, geschehen teils des größeren Geldgewinns halber, zumeist aber im Auftrage der „Alliance israelite universelle“, damit das Deutsche Reich im Falle eines Krieges geschlagen gen werde. Die „Alliance israelite universelle“ hat das größte Interesse, daß Deutschland im nächsten Kriege geschlagen werde, da sie nur auf den Trümmern des Deutschen Reiches die von ihr erstrebte jüdische Weltherrschaft aufbauen kann. Die mit der Abnahme, Untersuchung und Stempelung der Gewehre betrauten königlichen Büchsenmacher Klott, Roener und Holz und der königliche Oberbüchsenmacher Kirch haben von diesen betrügerischen, ja, hoch- und landesverräterischen Handlungen volle Kenntnis, sie schweigen aber, da sie große Summen dafür erhalten. Gleich zu Beginn der Fabrikation sind mindestens drei Gewehre, mit regelrechtem Paß versehen, ins Ausland gegangen. Jetzt beim Abschluß der Löweschen Lieferungen gehen Tausende von Gewehren, in Kisten verpackt, als ?Eisenteile mit Holz verbunden? nach Hamburg, wo sie jedenfalls nicht liegenbleiben. In Frankreich und Rußland weiß man sehr genau, was bei Löwe vorgegangen ist.

Die Broschüre wurde sehr bald nach ihrem Erscheinen gerichtlich beschlagnahmt. Von der Oberreichsanwaltschaft wurde sofort eine eingehende Untersuchung wegen des angeblich verübten Hoch- und Landesverrats angeordnet. Auch von der Militärbehörde und der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I wurden umfassende Untersuchungen angestellt. Die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren wurden jedoch doch sehr bald eingestellt, da für die Ahlwardtschen Behauptungen sich nicht die mindesten Anhaltspunkte ergaben. Daraufhin stellte die Militärbehörde für die drei genannten Büchsenmacher und den Oberbüchsenmacher Kirch Strafantrag wegen verleumderischer Beleidigung. Die Direktoren der Löweschen Fabrik, Geh. Kommerzienrat Isidor Löwe und Oberstleutnant a. D. Kühn, schlossen sich dem Strafantrag an und wurden auch vom Gericht als Nebenkläger zugelassen. Ahlwardt hatte sich deshalb im Dezember 1892 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen wiederholter verleumderischer Beleidigung zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Brausewetter, die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Drescher. Vertreter der Nebenkläger waren die Justizräte Gerth und Munckel. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Hertwig (Charlottenburg).

Sofort nach Eröffnung der Verhandlung erklärte der Oberstaatsanwalt: Wenn von den Beschuldigungen des Angeklagten auch nur ein ganz kleiner Teil wahr wäre, dann würde für mich die Notwendigkeit vorliegen, den Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit zu stellen. Allein, ohne der mündlichen Verhandlung vorzugreifen, bin ich in der Lage, mitzuteilen, daß nach den Ergebnissen der Voruntersuchung alle Behauptungen des Angeklagten auf Erfindung beruhen. hen. Es ist in der Voruntersuchung festgestellt worden, daß die von der Löweschen Fabrik für die deutsche Armee gelieferten Gewehre weder kriegsuntüchtig noch minderwertig waren, noch daß irgendeine hoch- oder landesverräterische Handlung von den Leitern der Löweschen Fabrik oder einem Beamten begangen worden ist. Ich begrüße es daher mit Freuden, daß ich keine Veranlassung habe, den Ausschluß der Öffentlichkeit zu beantragen, im Gegenteil, ich begrüße es als eine willkommene Gelegenheit, daß die Sache hier vor aller Öffentlichkeit klargestellt werden kann.

Ahlwardt hielt alle seine Behauptungen aufrecht und berief sich auf eine Reihe von ihm geladener Zeugen. Er bemerkte ferner: er habe zunächst Strafanzeige erstattet. Da er aber abschlägig beschieden worden sei, habe er die Broschüre geschrieben. Vor dem Erscheinen der Broschüre habe er sich aufs Polizeipräsidium begeben. Es sei ihm aber gesagt worden, der Polizeipräsident sei nicht zu sprechen, er solle sich an dessen Vertreter, den Geheimen Oberregierungsrat Friedheim wenden. Da er jedoch in Geheimrat Friedheim einen Juden, zum mindesten einen jüdischen Abkömmling, vermutete, habe er den Rittergutsbesitzer von Langen gebeten, beim Polizeipräsidenten v. Richthofen vorzusprechen. Herr v. Langen sei auch vom Polizeipräsidenten empfangen worden. Letzterer habe aber Herrn von Langen bedeutet: das sei nicht seine Sache, er solle sich an das Kriegsministerium wenden. Der Polizeipräsident habe, als er sich das Titelblatt der Broschüre ansah, gesagt: „Aha, von Ahlwardt. Was der schreibt, ist von vornherein unglaubwürdig.“ Er (Ahlwardt) habe auch versucht, den Kriegsminister zu sprechen, das sei ihm aber nicht gelungen.

Vors.: Hatte denn der Herr Kriegsminister keinen Vertreter? Ahlwardt: Mit dem Vertreter wollte ich nicht verhandeln, er war Jude.

Polizeipräsident v. Richthofen, als Zeuge vernommen, bestritt, daß er gesagt habe: Was Ahlwardt schreibt, ist von vornherein unglaubwürdig. Rittergutsbesitzer v. Langen hielt seine Bekundung aufrecht. Die von Ahlwardt vorgeschlagenen Zeugen, sämtlich ehemalige Arbeiter der Löweschen Fabrik, waren zum Teil wegen Urkundenfälschung, Betrugs und Diebstahls vorbestraft. Sie berichteten über erhebliche Unregelmäßgkeiten, Falschstempelungen, Verwendung minderwertigen Materials und bekundeten, daß die zur Abnahme der Gewehre kommandierten Offiziere arg betrogen würden. Sachverständiger Major Hannig vom Kriegsministerium bezeichnete diese Behauptungen als unwahr. Er sei von seiner vorgesetzten Behörde mit der Überwachung und Kontrolle der Löweschen Gewehrfabrikation betraut gewesen. wesen. Das in der Löweschen Fabrik verarbeitete Material sei das beste, zum mindesten ebenso gut wie in allen anderen Gewehrfabriken. Er habe die Gewehre selbst bei der Truppe gesehen und könne nur sagen, daß sie in jeder Beziehung den gestellten Anforderungen entsprochen haben. Er habe selbstverständlich die Fabrikation, die in Martinickenfelde, in der Gitschinerstraße und in der Hollmannstraße geschah, nicht allein übersehen können, es seien aber in den drei Fabriken stets Offiziere zu seiner Vertretung anwesend gewesen. Wenn ein Gewehr fertig war, dann sei es gebucht und gestempelt und alsdann zum Anschuß gebracht worden. Sobald es die Probe des Anschusses bestanden hatte, sei es nochmals gestempelt, mit einer laufenden Nummer und einem Buchstaben versehen und in das Schießbuch eingetragen worden. Die anderen militärischen Sachverständigen, Oberst Freiherr v. Brackel, Oberst v. Flotho und Oberstleutnant v. Gößnitz (sämtlich vom Kriegsministerium) schlossen sich den Bekundungen des Majors Hannig vollständig an. Hofbüchsenmacher Barella bekundete: er habe im Auftrage des Untersuchungsrichters Schießversuche mit Löweschen Gewehren vorgenommen. Von etwa 25000 Gewehren habe er eine Anzahl aus der Mitte herausgegriffen, mit diesen die verschiedensten Schießversuche gemacht, das Material in allen Teilen untersucht. Er könne mitteilen, daß die Gewehre vollständig ständig kriegsbrauchbar und vollwertig waren.

Geh. Kommerzienrat Löwe und Oberstleutnant a.D. Kühn gaben als möglich zu, daß einige Unregelmäßigkeiten vorgekommen seien, jedenfalls hatten sie das eifrigste Bestreben, sich die volle Zufriedenheit ihrer Abnehmer zu erwerben. Auch eine Anzahl fremde Regierungen gehörten zu ihren Abnehmern, sie haben von allen Seiten nur das höchste Lob erhalten. Kommerzienrat Löwe, dem vom Vorsitzenden gesagt wurde, er könne auf die folgende Frage die Antwort verweigern, bemerkte: Er zahle hin und wieder einen Beitrag an die Alliance israelite universelle und wisse nur, daß letztere wohltätige Zwecke verfolge; einen Auftrag, der deutschen Armee schlechte Gewehre zu liefern, habe er selbstverständlich niemals erhalten.

Am siebenten Verhandlungstage teilte der Verteidiger mit: Auf dem Korridor steht der als Zeuge geladene Kaufmann Karl Paasch. Dieser brennt vor Begierde, sich vernehmen zu lassen. Der Vorsitzende befahl, den Zeugen aufzurufen.

Verteidiger: Sind dem Herrn Zeugen die Grundsätze der Alliance israelite universelle bekannt? Zeuge: Ich habe mich sehr genau mit den Grundsätzen der Alliance beschäftigt und kann bekunden, daß die Alliance eine jüdische Versicherungsanstalt ist. Wenn z.B. Herr Löwe jährlich 10 Fr. Beitrag zahlt, dann hat er das Recht, jedes Verbrechen zu begehen, ohne eine himmlische Strafe befürchten zu müssen. Das ist auch der Grundsatz des Talmud. Wenn ich die Akten des österreichischen Reichsratsabgeordneten Schneider hier hätte, dann könnte ich Ihnen die betreffende Stelle im Talmud zeigen. Wieviel Herr Löwe in Wirklichkeit Beitrag an die Alliance gezahlt hat, wird er uns selbstverständlich nicht sagen. Ich bin aber überzeugt, wenn Oberrabiner Hildesheimer zu Herrn Löwe geht und von ihm 50000 Mark haben will, dann erhält er sie sofort.

Vors.: Es kommt hier nur darauf an, ob Sie den Nachweis führen können, daß die Alliance an Löwe und Kühn den Auftrag erteilt hat, kriegsunbrauchbare Gewehre zu liefern, damit das Deutsche Reich zertrümmert und die jüdische Weltherrschaft errichtet werden könne?

Paasch: Ein direkter Nachweis läßt sich ja darüber nicht führen. Ich bin aber überzeugt, daß sich das so verhält. Löwe liefert schlechte Gewehre, ein jüdischer Lieferant in Paris liefert schlechte Schuhe, ein jüdischer Lieferant in Metz liefert schlechte Konserven. Der Jude Dreyfuß in Paris liefert an Rußland schlechtes Getreide.

Vors.: Ich glaube, Herr Zeuge, das führt uns doch zuweit von der Sache ab.

Zeuge Paasch: Ich will bloß noch bemerken, daß die jüdischen Offiziere bemüht sind, alle Lieferungen ihren Glaubensgenossen zuzuwenden. In Paris gibt es z.B. 500 jüdische Offiziere, bei uns allerdings müssen sich die Juden, wenn sie Offizier werden wollen, taufen lassen, wir haben es aber mit der Rasse zu tun. Ich spreche deshalb von jüdischer Rasse, weil wir sogar viele Jahre einen jüdischen Kultusminister in Preußen hatten.

Verteidiger: Wer war dieser Kultusminister?

Zeuge: Herr v. Goßler.

Vors.: Diese Frage gehört doch durchaus nicht zur Sache. Im weiteren Verlauf erschien als Zeuge Professor Dr. Lazarus: Ich war 6 Jahre zweiter Vorsitzender des Berliner Zweigvereins der Alliance israelite universelle. Einen absoluten Gegensatz zwischen politischer und Wohltätigkeitstendenz kann ich bei der Alliance insofern nicht aufbauen, weil es auch ihre Aufgabe ist, durch Petitionen usw. dahin zu wirken, daß in Ländern auf niedriger Kulturstufe die Verfolgungen, denen die Juden dort ausgesetzt sind, aufhören. Im ganzen ist die Tendenz ausschließlich Wohltätigkeit, Unterstützung, intellektuelle und moralische Hebung der zurückgebliebenen Stände in kulturlosen Ländern. Zu diesem Zwecke werden Schulen gegründet und Unterstützungen gegeben. Die gesamte Tätigkeit der Alliance erstreckt sich in erster Reihe darauf, arme bedrückte, wegen ihres Glaubens leidende Menschen zu unterstützen.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß die Alliance israelite den Auftrag gegeben haben könnte, das Deutsche Reich zu vernichten, um die jüdische Weltherrschaft zu etablieren?

Professor Dr. Lazarus: Die Alliance hat die Tendenz, den Elenden zuliebe, aber niemandem etwas zuleide zu unternehmen. Der in der Frage enthaltene Gedanke könnte mir nur als die Ausgeburt einer extremen Phantasie erscheinen. Sollte ich mich aber hier nicht nur als Zeuge, sondern als psychologischer Sachverständiger äußern, so würde ich sagen: selbst das äußerste Maß der Verleumdungssucht und Bosheit würde nicht ausreichen, einen solchen Gedanken zu fassen, wenn nicht noch der Wahnwitz hinzukäme.

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß die Firma Löwe & Co. von der Alliance den Auftrag erhalten hat, unbrauchbare Gewehre zu liefern?

Professor Lazarus: Ich muß darauf antworten, daß ich seit 1879 nicht mehr im Vorstande der Alliance bin und mit der Führung der Geschäfte nichts zu tun habe. Ich halte es aber für unmöglich und erkläre, daß mir etwas Derartiges weder mittelbar noch unmittelbar, weder schriftlich noch mündlich jemals zu Ohren gekommen ist. Die Alliance ist eine Vereinigung von Juden aller Länder, die einen wohltätigen Zweck verfolgt.

Rechtsanwalt Hertwig: Wertvoll für mich aus der Bekundung des Zeugen ist, daß es den Juden aller Länder erlaubt ist, eine politische internationale Vereinigung zu bilden, die sonst nach dem Gesetze verboten ist.

Sanitätsrat Dr. Neumann: Von einer formalen innigen Verbindung zwischen dem Zentralkomitee der Alliance israelite und den Lokalkomitees der einzelnen Länder ist keine Rede. Dieser Verein ist im Jahre 1860 in Paris ins Leben gerufen, zu dem Zwecke, denjenigen Juden, welche sich in rückgeschrittener Stellung befinden, zu einem Fortschritte in moralischer und geistiger Beziehung zu verhelfen, jedem Juden, der in seiner Eigenschaft als Jude leidet, Beistand zu leisten und alle Schritte, welche dieses Streben fördern können, zu unterstützen. Der Sitz der Alliance ist Paris geworden, und es haben sich nur sehr langsam und sehr allmählich Teilnehmer gefunden. Die Lokalkomitees, welche nicht bloß in Europa, sondern auch in Amerika vorhanden sind, sind weiter nichts, als Kassenstellen dieses Zentralkomitees, dessen Mitglied ich seit 22 Jahren bin. Die Wirksamkeit der Alliance wird durch halbjährige Berichte so klargelegt, wie fast bei keinem Vereine. Sieben Achtel der Mittel werden für Schulen verwendet und die großartigen Erfolge der Alliance für Errichtung von Schulen im Orient ist bekannt. Was die behauptete Order der Alliance an Löwe zur Wehrlosmachung Deutschlands betrifft, so ist mir jede Beziehung des Herrn Isidor Löwe zur Alliance vollständig unbekannt; es werden nur von der Firma Ludwig Löwe jährlich 10 Francs als Beitrag erhoben. Isidor Löwe wird nicht einmal in den Listen der Alliance geführt. Daß der Talmud den Juden jedes Verbrechen gegen die Christen gestatte, ist eine Lüge.

Angekl.: An diesen Zeugen habe ich keine Frage zu richten, denn er ist Partei. Meine Zeugen hat man ja abgelehnt.

Vors.: Dann hätten Sie doch den Talmud mitbringen und die Stelle hier zeigen sollen.

Angekl.: Daß die Zeugen nichts gegen die Alliance sagen werden, ist doch selbstverständlich.

Vors.: Sie scheinen einen seltsamen Begriff von der Heiligkeit des Eides zu haben. Soweit heruntergekommen sind wir doch noch nicht, daß hier Zeugen Meineide schwören werden, um Sie tot zu machen. Sie scheinen das zu glauben. Leider scheint dieser wunderliche Glaube, nach den jämmerlichen Briefen, die wir erhalten haben, auch bei einem Teile Ihrer Parteigenossen vorhanden zu sein.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung überreichte der Angeklagte dem Ersten Staatsanwalt eine Anzahl Aktenstücke. Aus diesem Anlaß wurde auf einige Zeit „im Interesse der Staatssicherheit“ die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Am folgenden Tage teilte der Vorsitzende zende mit: Er könne mit: Genehmigung des Kriegsministers mitteilen: Aus den in der nichtöffentlichen Sitzung zur Verlesung gelangten Schriftstücken ging hervor, daß bei dem 57. Landwehrregiment in Wesel während einer zwölftägigen Übung von 939 Löweschen Gewehren 520 reparaturbedürftig geworden seien. Bei 69 Kammern waren die Einsätze abgesprungen, 21 Schloßteile waren teils defekt geworden, teils ganz gesprungen, 45 Abzugsfedern wurden defekt. Oberstleutnant v. Gössnitz: Die erwähnten Schäden seien durchaus normale. Er sei überzeugt, daß die so schadhaft gewordenen Gewehre bei sofortiger Verwendung mindestens 80% kriegsbrauchbar seien.

Der Vorsitzende und der Oberstaatsanwalt erhielten während der zehntägigen Verhandlung täglich anonyme Schreiben und Drohbriefe. In einem Briefe wurde gedroht, das Gerichtsgebäude mittels Dynamit in die Luft zu sprengen. Unterzeichnet war dies Schreiben: „Im Auftrage der Berliner Anarchisten. R. Rail, Linienstraße 111.“ In einem Schreiben wurde behauptet: „Der Oberstaatsanwalt, sämtliche Mitglieder des Gerichtshofes und die militärischen Sachverständigen sind von den Juden bestochen.“ Fast unaufhörlich kam es zwischen dem Vorsitzenden und dem Verteidiger, Rechtsanwalt Hertwig, zu heftigen Zusammenstößen. Der Vorsitzende bemerkte schließlich: Ich kann Ihnen mitteilen, Herr Verteidiger, daß alle Mitglieder des Gerichtshofes über Ihr Vorgehen geradezu entrüstet sind. Die Mitglieder des Gerichtshofes sind sich darüber einig, daß noch niemals ein Verteidiger in einer Hauptverhandlung derartig aufgetreten ist, wie Sie in diesem Verfahren.

Als der Vorsitzende im weiteren Verlauf mitteilte, daß der Gerichtshof eine Anzahl neu eingegangener Anträge des Verteidigers abgelehnt habe, bemerkte der Verteidiger in sehr erregter Weise: Ich erkläre hiermit, daß ich es ablehne, einen Mann noch ferner zu verteidigen, der nach dieser Ablehnungsbegründung schon verurteilt ist, noch ehe er ein Wort gesprochen hat. (Große allgemeine Bewegung.) Die Richter und der Oberstaatsanwalt erhoben sich entrüstet von ihren Sitzen. Der Vorsitzende erklärte, daß er dem Verteidiger das Wort entziehe, dieser rief jedoch dem Gerichtshofe zu: „Möge Ihr Urteil ausfallen wie es wolle, wir fürchten es nicht.“ Der Verteidiger versuchte noch weiter zu sprechen, er wurde jedoch durch den Oberstaatsanwalt und den Vorsitzenden übertönt, so daß seine letzten Worte nicht zu verstehen waren.

Oberstaatsanwalt Drescher: Ich beantrage wegen dieser unerhörten Beleidigung, die dem Gerichtshofe gesagt worden ist, Herrn Rechtsanwalt Hertwig zu der höchsten zulässigen Ungebührstrafe zu verurteilen.

Rechtsanwalt Hertwig hatte bereits seine Akten zusammengerollt sammengerollt und verließ in größter Erregung den Saal.

Der Vorsitzende ließ die Äußerung des Verteidigers protokollieren.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes wurde Rechtsanwalt Hertwig wegen Ungebühr zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt.

Der Erste Staatsanwalt bemerkte in der Schlußrede: Der Angeklagte hat durch seine Behauptungen das Vertrauen zu unserer Heeresverwaltung stark erschüttert, die Disziplin in unserem Heere untergraben, das Vertrauen des deutschen Soldaten zu seiner Waffe stark erschüttert. Ja, die Behauptungen des Angeklagten sind geeignet, das Ansehen der deutschen Armee im Auslande herabzusetzen. Der Angeklagte nimmt für sich den Schutz des § 193 (Handeln im berechtigten Interesse) in Anspruch, ich bin aber nicht in der Lage, ihm diesen Schutz zuzubilligen. Der Angeklagte ist eifriger Agitator einer Partei. Jeder Partei, auch der antisemitischen Partei, muß das Recht zugesprochen werden, öffentliche Mißstände zur Sprache zu bringen, zu kritisieren und zu tadeln, aber jede Parteibestrebung darf dabei nicht die eine Grundlage verlassen: die Grundlage der Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Mit gesetzlichen Mitteln und mit politischem Ernst muß gekämpft werden! Eine Parteibestrebung, die auf Übertreibung und Unwahrheiten heiten fußt, kann den Schutz des § 193 nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. Ohne auf den Angeklagten zu exemplifizieren, kann ich nur sagen: Politische Skandalmacher, denen nur darum zu tun ist, Aufsehen zu erregen, werden Ihrer Partei mehr schaden, als nutzen, und sie werden ein Krebsschaden der Partei werden. Von Interesse für mich war es, als ich neulich in einem antisemitischen Blatte las, daß der Angeklagte ein Krebsschaden für die antisemitische Partei sei. Zugunsten des Angeklagten spricht die Tatsache, daß im Löweschen Fabrikbetriebe wirklich verschiedene Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind und daß der Angeklagte die Tatsachen von Arbeitern empfangen hat, die ihn teilweise in der harmlosesten Weise angelogen haben. Das ist aber auch alles, was zu seinen Gunsten spricht. Die Überreichung der Schrift an den Polizeipräsidenten konnte nicht eine Strafanzeige im strafprozessualen Sinne darstellen, denn der Polizeipräsident mußte sofort sehen, daß es sich um eine Agitationsschrift ersten Ranges handelt. Es werden in der Broschüre die schwersten Vorwürfe gegen eine Reihe achtbarer Personen erhoben, gegen einen ehrenhaften Offizier, der mit Ehren aus der Armee geschieden ist, ferner gegen eine Reihe der achtbarsten Militärbeamten. Ich hebe hervor, daß der Angeklagte seine Vorwürfe erhoben hat, obwohl er sich sagen mußte, daß sie geeignet sind, Privatvermögen gen und öffentliches Vermögen in empfindlicher Weise zu schädigen. Er mußte sich sagen, daß er auch das öffentliche Interesse durch seine Handlungsweise arg schädigte. Der deutsche Handel hat gleichfalls durch die Broschüre schwere Schädigungen erlitten, denn die Broschüre ist bis in die fernsten Länder gedrungen und das Ansehen des deutschen Landes hat gelitten, bis die amtliche Erklärung die Unwahrheit dieser Anschuldigungen klarlegte. Die schwerste Schädigung aber ist die Schädigung des Ansehens unserer Heeresverwaltung und der militärischen Disziplin. Der eklatanteste Beweis dafür ist aber die Tatsache, daß eine Militärperson es gewagt hat, Urkunden zu stehlen und dem Angeklagten in die Hand zu spielen. Er hat dem Angeklagten den denkbar schlechtesten Dienst geleistet, denn er hat ihm nichts genutzt, absolut nichts bewiesen, aber gezeigt, wieweit die durch die Schandschrift des Angeklagten erzeugte Demoralisation schon gediehen ist. Am ersten Tage dieser Verhandlung habe ich es für eine willkommene Gelegenheit erklärt, durch öffentliche Verhandlung dem Vaterlande und dem Auslande zu zeigen, wie wenig wahr der Inhalt der Broschüre ist. Die öffentliche Verhandlung war von Nutzen, denn es hat sich herausgestellt, daß es ein Märchen, eine Unwahrheit ist, was der Angeklagte von der Kriegsbrauchbarkeit unserer Waffen gesagt hat. Klar liegt vor aller Augen: Unsere Waffe ist gut und wird sich auch im Kriege als gut bewähren, wenn es einmal darauf ankommen sollte. Wenn der Angeklagte in kleinlicher Furcht Gefahren und Niederlagen sieht, so antworte ich ihm im Gegenteil: Fester, als der Angeklagte es wähnt, steht das Gefüge unseres Reiches und das Haus unseres Herrschers! Ich beantrage gegen den Angeklagten 1 Jahr 6 Monate Gefängnis, Publikationsbefugnis für die Nebenkläger und die beleidigten Büchsenmacher. Der Angeklagte Ahlwardt bemerkte in einer mehrstündigen Verteidigungsrede: Durch das Zeugnis des Arbeiters Brettschneider sei festgestellt, daß die kleine Zahl von Revisoren, welche unter dem Büchsenmacher Kessel arbeitete, durchaus nicht zuverlässig vorgingen, daß Kessel selbst sich wenig darum kümmerte und die jungen Sekondeleutnants, deren Ankunft man auch schon vorher wußte, leicht getäuscht werden konnten. Erwiesen sei, daß bei der Herstellung des Laufes drei ganz unzulässige und gefährliche Dinge vorgenommen worden seien. Erwiesen sei ferner, daß die Büchsenmacher bestochen worden seien; das halte er auch heute noch aufrecht, und auch was bezüglich des Oberbüchsenmachers Kirch durch die Beweisaufnahme erbracht worden, klinge doch sehr verfänglich. Es sei ganz undenkbar, daß Löwe davon nichts gewußt haben sollte, da doch die Summen, welche an die Büchsenmacher gezahlt wurden, durch die Bücher gingen. Nach seiner Meinung habe die Beweisaufnahme alle in der Broschüre enthaltenen Tatsachen bestätigt, und nur die Schlußfolgerungen, welche er daran geknüpft, seien bisher nicht erwiesen. Bury und Stangenberg seien die Vertrauten des Oberstleutnants Kühn gewesen, Stangenberg habe sogar sein Gehalt noch weiter erhalten, trotzdem er von seinem Posten abberufen worden sei, und dies sei eine Hauptbestechung. Die Tatsachen seien alle erwiesen, und wo Übertreibungen vorliegen, da seien sie auf Rechnung der Arbeiter zurückzuführen, die er seinerzeit bei allen seinen Vernehmungen immer wieder zur penibelsten Wahrheit angehalten habe. Was die militärischen Sachverständigen betreffe, so müsse er zunächst bemerken, daß die kriegsministeriellen Zahlen sich nur auf die schwersten Fälle bezogen, in denen die Gewehre schadhaft geworden seien, alle anderen leichten Fälle seien wohl nicht in die Liste eingetragen. Die Logik, daß die Beschädigungen von antisemitisch gesinnten Landwehrleuten vorsätzlich begangen sein sollten, verstehe er nicht, es wäre doch mehr als wunderbar, wenn die Hammerschläge der verschiedenen Soldaten stets an derselben Stelle getroffen und dieselben Beschädigungen erzeugt haben sollten. Er bleibe dabei, daß er keineswegs übertrieben habe. Er habe auch dem Offizierkorps keinen Vorwurf machen wollen, es sei doch eher eine Ehre als eine Schande, wenn die Offiziere den Täuschungen der Büchsenmacher nicht gewachsen seien. Er hätte es gern gesehen, wenn der in Barth wohnhafte Zeuge, der die Unbrauchbarkeit der Gewehre der Zintgraffschen Expedition bekunden sollte, geladen worden wäre. Er sei, wie er bekenne, rücksichtsloser Antisemit und habe das, was er als wahr festgestellt hatte, zuerst in antisemitischem Interesse verwerten wollen. Dann sei ihm die ungeheure Tragweite klar geworden, er sei nach Leipzig gereist und habe in den letzten acht Tagen alle Schritte getan, um ein Zurückhalten der Broschüre noch zu ermöglichen. Also: verfaßt habe er das Buch ursprünglich zu antisemitischen Zwecken, habe nachher aber die nötigen Schritte getan, um ein amtliches Einschreiten zu veranlassen. Er habe das Vertrauen der Soldaten zu den Gewehren nicht erschüttern, sondern bewirken wollen, daß unbrauchbare Gewehre aus der Armee ausgestoßen würden. Er habe geglaubt, sich dadurch um das Vaterland verdient zu machen.

Nach 5 1/2 stündiger Beratung erkannte der Gerichtshof wegen dreier Beleidigungen auf fünf Monate Gefängnis. Der Vorsitzende bemerkte in der Urteilsbegründung: Die Brauchbarkeit der Löweschen Gewehre sei durch die vorgekommenen Unregelmäßigkeiten keineswegs beeinträchtigt worden; die Auskunft der Militärbehörden stelle vielmehr die glänzendsten zendsten Ergebnisse fest. Der Angeklagte habe offenbar die ganze Sache nicht verstanden. Schuldig befunden sei der Angeklagte der Beleidigung der Leiter der Fabrik sowie der Büchsenmacher wegen der Anschuldigung: 1500 Gewehre seien widerrechtlich gestempelt, ferner mehrfacher schwer kränkender Beleidigungen gegen die Privatkläger sowie schwerer Beleidigung des Büchsenmachers Kirch. Da kein Beweis erbracht, daß Ahlwardt die Unwahrheit der Behauptungen gekannt habe, sei gegen ihn der mildernde Paragraph angewendet worden. Eine Wahrnehmung berechtigter Interessen liege nicht vor. Löwe und Kühn haben ihr bestes daran gesetzt, dem Staat gute Gewehre zu liefern.

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Ein entmenschtes Weib. Die Engelmacherin Wiese

„Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben“. Als Schiller diese Worte niederschrieb, hat er jedenfalls nicht geahnt, daß eine Person in Gestalt eines Weibes sich dereinst vor einem Schwurgerichtshof im Herzen Deutschlands wegen der grausigsten Verbrechen wird verantworten müssen. Das Fehlen von Findelhaüsern in Deutschland hat schon so manchem kleinen Wesen das Leben gekostet. Die folgende Gerichtsverhandlung ergab, daß die „Engelmacherei“, wenn sie gewerbsmäßig betrieben wird, sogar sehr gewinnbringend ist. Vor einigen Jahren erschienen in Hamburger Zeitungen Anzeigen, in denen Dienstmädchen, Kinderfräuleins usw. ihre unehelich geborenen Kinder gegen Zahlung von Kostgeld zur Pflege anboten. Auf solche Anzeigen meldete sich vielfach eine Frau Wiese. Sie erbot sich, die Kinder gegen Zahlung von Kostgeld in Pflege zu nehmen. Sobald sie aber vermutete, die Mädchen befinden sich im Besitz von größeren Geldbeträgen, machte sie ihnen den Vorschlag, ihr eine einmalige größere Abfindungssumme zu zahlen. Sie werde nach London, Manchester, Wien, Berlin oder anderen Orten fahren, da sie in Erfahrung gebracht habe, daß dort eine Grafen- oder Fürstenfamilie ein Kind zu adoptieren wünsche. In mehreren Fällen erklärten sich die Mädchen, wenn auch mit schwerem Herzen, bereit, sich von ihren Lieblingen für immer zu trennen, zumal sie ja dann von der Bezahlung des Kostgeldes befreit waren. Nach einiger Zeit gewann jedoch die Mutterliebe wieder die Oberhand. Sie verlangten von der Wiese den Aufenthalt ihrer Kinder zu erfahren. Die Wiese gab den Mädchen die Versicherung, die Kinder werden in Seide gebettet. Sie befinden sich in einem gräflichen oder fürstlichen Schloß, es fehle ihnen nichts weiter als das Himmelreich, eine weitere Auskunft könne sie ihnen nicht geben. Die Mädchen gaben sich aber damit nicht zufrieden, um so weniger, als sie die Wiese im Verdacht hatten, es sei ihr nur um Erlangung der Abfindungssumme zu tun gewesen, und der ihr übergebenen Kinder habe sie sich in verbrecherischer Weise entledigt. Die Mädchen machten schließlich der Polizei Anzeige. Letztere schritt sofort ein, zumal der Wiese, aus Anlaß ihrer vielen Vorstrafen, von der Polizei untersagt war, Kostkinder in Pflege zu nehmen. Benachbarte Hausbewohner hegten schon längst Verdacht, daß Frau Wiese die „Engelmacherei“, d.h. den Kindermord gewerbsmäßig betreibe, ja, verschiedene Vorkommnisse führten zu der Vermutung, daß Frau Wiese die kleinen Wesen verbrenne. Sie soll bisweilen so stark geheizt haben, daß die Herdplatten zersprangen. Außerdem soll ein fürchterlicher Geruch wahrgenommen worden sein. Es wurde auch behauptet, Frau Wiese sei beobachtet worden, als sie am Spätabend mit einem schweren Paket noch einen Spaziergang nach den Ufern der Elbe gemacht habe und ohne Paket zurückgekehrt war. Ferner wurde ermittelt, daß bei Frau Wiese einmal eine schwindsüchtige Tänzerin gewohnt habe. Diese hatte sich auf Grund eines ärztlichen Rezepts von Frau Wiese Morphium besorgen lassen. Die Tänzerin ist nach einiger Zeit von Hamburg nach Berlin übergesiedelt und dort gestorben. Das Rezept soll aber im Besitz der Wiese geblieben sein, und darauf soll sie sich Morphium beschafft haben. Endlich meldeten sich Zeugen, die beobachtet haben wollten, daß Frau Wiese das uneheliche Kind ihrer Tochter sofort nach der Geburt getötet habe. Aus diesem Anlaß schritt schließlich die Polizei zur Verhaftung der Wiese.

Frau Wiese war einst die glückliche Gattin des Kesselschmieds Heinrich Wiese. In den letzten Jahren soll jedoch das eheliche Verhältnis eine arge Trübung erfahren haben. Der Ehemann Wiese hegte Verdacht, daß seine Gattin ihm nach dem Leben trachte. Er besaß ein kleines Vermögen. Frau Wiese hatte zu Nachbarsleuten geäußert: ihr Mann erfreue sich nicht der besten Gesundheit. Wenn er sterben sollte und sie den Witwenschleier anlegen müßte, dann würde sie das von ihrem Mann hinterlassene Vermögen, das ihr alsdann zufiele, über den herben Verlust sehr bald zu trösten vermögen. Dieser Herzenswunsch seiner liebenswürdigen Gattin war dem Mann zu Ohren gekommen. Von Stunde ab wurde er mißtrauisch, und zwar um so mehr, da verschiedene Speisen und Getränke, die ihm seine Gattin zubereitet hatte, ihm verdächtig erschienen. Es wurde ihm nämlich häufig nach dem Essen unwohl; er mußte sich erbrechen und bekam einen starken Hustenreiz, so daß ihm das Blut aus der Nase quoll. Einmal war der Kaffee in seiner Kaffeeflasche ganz bitter und hatte einen fauligen Geschmack. Als er nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: Ich glaube, du willst mich vergiften, ich werde den Kaffee untersuchen lassen. Frau Wiese riß dem Mann in voller Entrüstung die Kaffeeflasche aus der Hand und goß den Inhalt aus. Frau Wiese hatte auch wiederholt den Versuch unternommen, ihrem Mann des Nachts, während er schlief, mit einem Rasiermesser den Hals zu durchschneiden. Dies Verfahren wurde nur dadurch vereitelt, daß der Mann Verdacht schöpfte und die ganze Nacht wachgeblieben war. Frau Wiese hatte eine außerehelich geborene, sehr hübsche Tochter, namens Paula Berkefeld. Das Geschäft des Kindermordens mag wohl bisweilen gestockt haben, die Megäre war daher bemüht, ihre junge, bildschöne Tochter in die Arme des Lasters zu treiben, um sich auch dadurch eine Erwerbsquelle zu verschaffen. Sie erließ in verschiedenen Zeitungen Annoncen folgenden Inhalts: „Eine junge Dame bittet einen edeldenkenden Herrn um 30 Mark Unterstützung gegen dankbare Rückzahlung.“ Anfänglich wurde die volle Adresse, später nur die Chiffer hinzugefügt. Infolge dieser Annonce meldeten sich Herren, die sich unter gewissen Umständen bereit erklärten, die gewünschte Unterstützung zu zahlen. Frau Wiese stellte ihre Tochter als die hilfsbedürftige junge Dame vor. Letztere sträubte sich, sich dem Laster hinzugeben, Frau Wiese wußte aber durch furchtbare Schläge mit dem Pantoffel und anderen Gegenständen den Widerstand des Mädchens zu brechen. Wenn selbst das nichts half, dann riet die Megäre den Männern, gegen das Mädchen Gewalt anzuwenden. Das Sündengeld strich selbstverständlich die Wiese ein. Paula Berkefeld wurde auch durch Schläge und Hunger gezwungen, sich der Straßenprostitution zu ergeben. Brachte das Mädchen kein oder nicht genügend Geld nach Hause, dann wurde es von dem entmenschten Weibe mißhandelt. Dieses Leben bekam jedoch Paula Berkefeld schließlich satt. Sie entfernte sich eines Tages heimlich aus dem Mutterhause, entkam nach London und trat dort bei einer deutschen Herrschaft in Stellung.

Endlich wurde Frau Wiese vom Schicksal ereilt. Sie wurde, wie bereits erwähnt, in Untersuchungshaft genommen. Noch ehe dies aber geschah, suchte sie eine Frau Jürgens, die vorübergehend bei ihr gewohnt hatte, durch Versprechen von Geldgeschenken usw. zu bewegen, eventuell vor Gericht zu beschwören: sie habe gesehen, wie die verschwundenen Kinder von feinen Damen abgeholt wurden, „das Gegenteil könne ja niemand beweisen“. Denselben Versuch machte Frau Wiese bei einer Mitgefangenen, die sie im Untersuchungsgefängnis bei den gemeinsamen Spaziergängen kennengelernt hatte.

Die Behörde war jahrelang aufs eifrigste bemüht, durch Ausschreibung von hohen Belohnungen in den Zeitungen und Fachblättern des In- und Auslandes den Verbleib der verschwundenen Kinder zu ermitteln, es gelang aber nicht, auch nur eine Spur zu entdecken. Die ehemalige Hebamme Elisabeth Wiese hatte sich Anfang Oktober 1904 wegen fünf vollendeter, eines versuchten Mordes, schwerer Kuppelei und versuchter Verleitung zum Meineid in zwei Fällen vor dem Schwurgericht in Hamburg zu verantworten. Frau Wiese, 1850 geboren und katholischer Konfession, war bereits wegen Anstiftung zum Diebstahl, Hehlerei, Urkundenfälschung, Betruges, Betrugsversuchs und Kuppelei mit Gefängnis und Ehrverlust bestraft. Sie war eine mittelgroße, schlanke Frau. Sie hatte ein speckgelbes Gesicht, eingefallene Wangen, eine lange Habichtsnase und kleine stechende Augen. Sie machte ganz den Eindruck einer „Hexe“, mit der man Kinder graulich machen konnte. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landrichter Dr. Crasemann. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Hollender, die Verteidigung als Offizialverteidiger führte Rechtsanwalt Dr. Bleckwedel, Hamburg. Die Angeklagte, die sich mit großer Zungenfertigkeit verteidigte, bestritt alles. Die ihr übergebenen Kinder seien zum Teil zu sehr feinen Herrschaften ins Ausland gekommen, teils müßten sie von anderen Frauen, denen sie die Kinder übergeben habe, ermordet worden sein. Sie beschuldigte insbesondere eine Frau Miosga, zwei ihr übergebene Kinder ermordet zu haben. Sie habe eines Tages auf dem Boden der Miosga ein großes Paket gesehen, das nach Leichen roch. Auf ihre Frage habe Frau Miosga geantwortet: das Paket enthalte fauliges Schiffsfleisch, sie werde es abends in die Elbe werfen. Sie (Angeklagte) habe sich des Abends auf die Lauer gelegt und gesehen, daß die Miosga das Paket in die Elbe geworfen habe.

Die Verhandlung ergab, daß tatsächlich in dem Paket fauliges Schiffsfleisch, aber nicht menschliche Leichen enthalten war. Höchst dramatisch gestaltete sich die Vernehmung der Paula Berkefeld (unehelichen Tochter der Angeklagten) und auch des Gatten der Angeklagten, des Kesselschmiedes Heinrich Wiese. Paula Berkefeld, ein schlankes, auffallend blasses, sehr hübsches Mädchen von 22 Jahren, war zurzeit Dienstmädchen bei einem Dr. Goldschmidt in London. Sie würdigte die Mutter nicht eines Blickes und sagte immer: „Die Wiese“.

Vors.: Weshalb sagen Sie immer „Die Wiese“? Die Angeklagte ist doch Ihre Mutter?

Zeugin: Ich kann diese Frau nicht mehr als Mutter anerkennen. Die Angeklagte nannte darauf ihre Tochter „Die Person“. Paula Berkefeld, während deren Vernehmung zumeist wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde (die Vertreter der Presse durften im Saale bleiben), machte sehr belastende Aussagen. Sie ließ kaum einen Zweifel, daß ihre Mutter das von ihr (Zeugin) im Sommer 1902 geborene Kind sogleich nach der Geburt getötet habe. Paula Berkefeld bemerkte auf Befragen: Der Arzt habe ihr geraten, im Eppendorfer Krankenhause ihre Geburt abzuwarten. Sie habe aber eines Nachmittags, als sie sich gerade in der Schröderschen Wohnung befand, Geburtswehen bekommen. Die Wiese wurde von Schröder herbeigerufen. Die Wiese habe sie heftig geschlagen, so daß Schröder dazwischen trat. Alsdann habe ihr die Wiese Geburtshilfe geleistet. Die Wiese habe das Kind in einen Eimer mit Wasser fallen lassen und alsdann auf einen Sack gelegt. Sie habe gesehen, daß das Kind mit den Beinen zappelte, männlichen Geschlechts war und schwarze Haare hatte. Die Wiese sagte zu ihr: „Mache das Kind tot!“ Darauf habe sie geantwortet: Das kann und will ich nicht.

Sie sei alsdann in Ohnmacht gefallen und habe sich erst am folgenden Tage wieder erholt. Das Kind sei nicht mehr dagewesen.

Vors.: Sind Sie nicht einmal vorübergehend aus Ihrer Ohnmacht aufgewacht?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Machten Sie sich dabei keine Gedanken, wo Ihr Kind geblieben sei?

Zeugin: Ich nahm an, die Wiese würde das Kind in Obhut nehmen. Am folgenden Tage sagte mir die Wiese auf mein Befragen, wo das Kind sei: Das Kind ist tot. Ich habe es nach einem Marien- und Eckernförder-Straßenecke belegenen Beerdigungsinstitut gebracht und 20 Mark bezahlt, damit das Kind beerdigt werde.

Vors.: Was hat Ihnen die Wiese außerdem noch erzählt?

Zeugin: Sie sagte: wenn man ein neugeborenes Kind in einen Eimer mit Wasser stecke, dann sterbe es. Sie habe das Kind zunächst in einen Kasten legen wollen, sei aber durch die Anwesenheit eines Fräulein Reich daran verhindert worden. Alsdann habe sie das Kind auf dem Herd verbrennen wollen, das habe sich aber auch nicht ausführen lassen, da das Kind zu groß war.

Vors.: Weshalb mag die Wiese Sie geschlagen haben?

Zeugin: Weil ich nicht nach Hause gegangen war.

Vors.: Sie haben die Wiese, Ihre Mutter, sehr schwer belastet, ich frage Sie nochmals, ist das auch alles wahr, was Sie hier gesagt haben?

Zeugin: Ganz gewiß.

Vors.: Können Sie das mit gutem Gewissen vor Gott beschwören?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Nun, Angeklagte, was sagen Sie dazu?

Angekl. (sehr erregt): Was die Person hier gesagt hat, ist alles Lüge. Ich habe die Person nicht geschlagen, sie hat auch nicht in der Schröderschen Wohnung geboren. Die Person hat kein lebendes Kind geboren, sondern nur einen Umschlag gehabt.

Mehrere Zeugen bestätigten die Bekundungen der Paula Berkefeld, der auch von ihrer Dienstherrschaft in London das beste Zeugnis gegeben war.

Ein Fräulein Reich bekundete als Zeugin: Sie habe einige Monate bei der Angeklagten gewohnt. Paula Berkefeld habe im Sommer 1902 einige Tage bei dem Schuhmacher Schröder, einem 74 Jahre alten Manne, gewohnt, mit dem die Angeklagte ein intimes Liebesverhältnis verhältnis unterhalten hatte. Paula Berkefeld wollte bei Schröder ihre Niederkunft abwarten. Eines Morgens sei Schröder zu der Wiese gekommen und habe gesagt: „Es ist soweit.“ Die Wiese sei sofort zu Schröder gegangen. Nach einigen Stunden kam die Wiese wieder und sagte: ihre Tochter habe einen hübschen Jungen geboren, dieser sei aber tot; sie habe sogleich einen Sarg für 30 Mark gekauft. Einige Tage darauf habe sie in der Küche viele verbrannte Kohlen gesehen. Auf ihre Frage habe Frau Wiese gesagt: sie habe die Nachgeburt des von Paula Berkefeld geborenen Kindes verbrannt.

Vors.: Nun, Angeklagte, was sagen Sie dazu?

Angekl.: Das ist nicht wahr, ich habe nichts verbrannt.

Vors.: Die Angeklagte soll sehr abergläubisch gewesen sein?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Was wissen Sie darüber zu sagen?

Zeugin: Frau Wiese hat des Nachts die Fenster verhangen und in der Küche Licht brennen lassen. Sie sagte: Wenn sie alsdann betet, der liebe Gott solle sie einen Lotteriegewinn machen lassen, dann gehe das Gebet in Erfüllung.

Vors.: Sagte sie nicht auch, daß sie mit Geistern verkehre?

Zeugin: Jawohl, sie erzählte mir einmal, daß sie oftmals während der Mitternachtsstunde mit Geistern spreche. Sie halte sich auch das sechste und siebente Buch Mosis gekauft. In diesem las sie sehr eifrig, es standen alle möglichen Geistergeschichten darin. Ich mußte ihr auch einmal aus diesen Büchern ein Gebet abschreiben.

Vors.: Was hat noch in den Büchern gestanden?

Zeugin: Ich glaube, es hat auch etwas vom Kinderschlachten darin gestanden.

Vors.: Stand in den Büchern, daß das Schlachten kleiner Kinder Glück bringe?

Zeugin: Nein, aber Frau Wiese sagte einmal: Kinderblut und Blut von weißen Tauben ist gut, das bringt Glück.

Vors.: Hat die Wiese auch gesagt, daß das Verbrennen der Nachgeburt Glück bringe?

Zeugin: Ja, sie sagte, die Kohlenreste, die von dem Verbrennen einer Nachgeburt herrühren, bringen Glück.

Staatsanwalt: Haben Sie auch mit Paula Berkefeld über das von dieser geborene Kind gesprochen?

Zeugin: Jawohl, Paula sagte, es war ein hübsches Kind, es ist aber leider tot.

Staatsanwalt: Sagte Paula, daß das Kind gelebt hat?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Paula Berkefeld, nochmals als Zeugin vernommen, bekundete: Sie habe auf Veranlassung ihrer Mutter mehrfach Anzeigen folgenden Inhalts aufgeben müssen: „Eine junge Dame bittet einen edeldenkenden Herrn um eine Unterstützung von 30 Mark gegen dankbare Rückzahlung.“

Vors.: Weshalb gaben Sie die Anzeigen auf? Zeugin: Ich mußte ja.

Vors.: Weshalb mußten Sie? Zeugin: Wenn ich es nicht tat, wurde ich von der Wiese heftig geschlagen.

Vors.: Hat auch bisweilen die Wiese die Anzeigen aufgegeben? Zeugin: Jawohl.

Vors.: Es meldeten sich Herren auf diese Anzeigen? Zeugin: Jawohl.

Vors.: Haben Sie sich freiwillig hingegeben? Zeugin: Nein, ich habe mich zumeist gesträubt. Da zog die Wiese ihren Pantoffel aus und schlug mich heftig. Oftmals warf sie mich zu Boden, riß mich an den Haaren und trat mich mit den Füßen. Einmal flüchtete ich. Da verfolgte mich die Wiese mit einem Küchenmesser. Wenn das alles nichts half, sagte die Wiese den Herren: sie sollten mir Gewalt antun.

Vors.: Gaben die Herren alle Geld? Zeugin: Jawohl, das nahm stets die Wiese an sich.

Vors.: Kam es auch vor, daß Herren kein Geld gaben? Zeugin: Jawohl, in diesen Fällen machte die Wiese furchtbaren Skandal und schlug mich.

Auf weiteres Befragen bekundete die Zeugin: Die Wiese habe sie auch gezwungen, in Gemeinschaft mit einem jungen Mädchen, namens Fuß, sich der Straßenprostitution zu ergeben.

Vors.: Hat Ihnen die Wiese nicht auch angeraten, sich auf St. Pauli ein Absteigequartier zu mieten? Zeugin: Jawohl.

Die Angeklagte wiederholte auf Befragen des Vorsitzenden ihre Behauptung, daß ihr Mann das Kind Klotsche sittlich mißbraucht und es dabei erstickt habe. Als sie ihn deshalb zur Rede stellte, habe sie ihr Mann mit einem Kochtopf auf den Kopf geschlagen. Sie sei infolgedessen in Ohnmacht gefallen. Als sie wieder zu sich kam, sei ihr Mann mit dem Kind verschwunden gewesen.

Vors.: Angeklagte, ich habe schon viel gehört, daß aber ein erwachsener Mensch ein zwei Monate altes Kind sittlich mißbraucht, habe ich noch nicht gehört.

Angekl: Es ist aber wahr: mit mir hat er ja dieselben Unsittlichkeiten vornehmen wollen. Ich muß noch bemerken, daß mein Mann an jenem Tage besoffen war.

Vors.: Hat Ihr Mann auch das Kind geschlagen?

Angekl.: Das Kind wurde auch getroffen.

Es wurde alsdann Kesselschmied Heinrich Wiese, ein im besten Mannesalter stehender Mann mit blondem Vollbart, der einen sehr guten Eindruck machte, als Zeuge in den Saal gerufen. Der Vorsitzende bemerkte merkte dem Zeugen: Wenn er befürchte, durch Beantwortung einer Frage sich einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, so habe er das Recht, die Beantwortung dieser Frage zu verweigern. Der Vorsitzende hielt dem Zeugen alsdann die Behauptungen der Angeklagten vor. Wiese: Ich kann darauf nur erklären, daß das eine totale Lüge ist.

Vors.: Würden Sie das vor Gott und Ihrem Gewissen beschwören können?

Zeuge: Gewiß.

Vors.: Wie sind Sie denn überhaupt dazu gekommen, diese Frau zu heiraten?

Zeuge: Es war damals ein ganz manierlich aussehendes Mädchen und sehr geschickt in allen Arbeiten.

Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge: Ich habe in den ersten Jahren mit meiner Frau sehr friedlich gelebt. Nach einigen Jahren hat aber meine Frau 60 Mark, 80 Mark, 150 Mark usw. von meinen Ersparnissen aus der Sparkasse abgehoben. Seit dieser Zeit haben wir in Unfrieden gelebt. Meine Frau hat wider meinen Willen Kinder in Pflege genommen. Ich habe mich darum nicht weiter gekümmert.

Es wurde hierauf dem Zeugen das Dienstmädchen Klotsche, Mutter des verschwundenen kleinen Klotsche, vorgestellt. Der Zeuge erklärte: Er kenne die Klotsche nicht, er habe niemals eine Quittung geschrieben und auch niemals für ein Pflegekind Geld erhalten. Die Klotsche und einige andere Mädchen beklagten unter heftigem Weinen den Verlust ihrer Lieblinge.

Nach beendeter Beweisaufnahme führte Staatsanwalt Dr. Hollender im Plädoyer aus: Man nahm zunächst an, daß es sich bloß um zwei betrügerische Kindesunterschiebungen handle. Allein sehr bald meldeten sich noch zwei Mütter, die ihre Kinder reklamierten. Ob sich sämtliche Mütter, die ihre Kinder der Angeklagten in Kostpflege gegeben, gemeldet haben, oder ob nicht mehrere Dienstmädchen aus falscher Scham die Anzeige vielleicht unterlassen haben, läßt sich selbstverständlich nicht feststellen. Jedenfalls hat die Beweisaufnahme ergeben, vier Kinder, die der Angeklagten gegen verhältnismäßig hohe Geldbeträge in Kostpflege gegeben waren, sind spurlos verschwunden. Die Angaben der Angeklagten über den Verbleib der Kinder haben sich als freche Lüge erwiesen. Der Ehemann der Angeklagten ist ein rechtschaffener, braver und sehr fleißiger Mann. Im Hause der Angeklagten herrschte aber ein unsittliches Treiben. Schnöden Geldgewinnes halber hat die Angeklagte Zeitungsannoncen erlassen, um ihre eigene Tochter der Unzucht in die Arme zu führen. Und da die Tochter sich sträubte, wurde sie von der Mutter in furchtbarster Weise gemißhandelt. Als die Tochter in der Wohnung des Schuhmachers Schröder einen Knaben ben geboren hatte, da ermordete die Angeklagte das eigene Enkelkind. Die Angaben der Berkefeld über diesen Mord werden von anderen Zeugen im wesentlichen bestätigt. Die Angeklagte sagte zu einer Frau: „Meine Tochter hat einen hübschen Jungen geboren, das Kind ist aber sofort gestorben. Es ist gut so, denn meine Tochter muß nach England wieder zurück, und ich kann ein Kind nicht gebrauchen.“ Da haben Sie den Beweggrund, m.H. Geschworenen. Die Berkefeld ist durchaus kein psychologisches Rätsel. Sie hat der Angeklagten allerdings von England aus zärtliche Briefe geschrieben. Aber nachdem sie gehört hatte, ihre Mutter habe schnöden Geldgewinnes halber vier Kostkinder getötet, da sagte sie: ich kann diese Frau nicht mehr als meine Mutter ansehen. Der Staatsanwalt suchte im weiteren Verlauf den Nachweis zu führen, daß die Angeklagte sich auch der schweren Kuppelei und des versuchten Mordes gegen ihren Ehemann schuldig gemacht habe. In diesen beiden Fällen handelte es sich aber um Personen, die sich immerhin wehren könnten. Die Angeklagte hat aber außerdem vier wehrlose Wesen ermordet. Sie befand sich immer in Geldverlegenheit. Um dieser abzuhelfen, beschloß sie, Kostkinder in Pflege zu nehmen. Sie meldete sich auf Zeitungsannoncen, die von Dienstmädchen erlassen wurden, um ihre unehelich geborenen Kinder in Pflege zu geben. Die Angeklagte machte den Mädchen chen sofort den Vorschlag, die Kinder für eine größere Abfindungssumme als eigen anzunehmen, bzw. zu einer feinen Herrschaft ins Ausland bringen zu wollen. Die Angeklagte war bemüht, noch mehrere Kinder gegen hohe Abfindungssummen als eigen anzunehmen, es ist ihr dies nur nicht gelungen. Die Beweisaufnahme hat aber keinen Zweifel gelassen, daß die Angeklagte die ihr übergebenen Kinder sämtlich getötet hat. Es entsteht nun die Frage: Sind die verschwundenen Kinder getötet oder hat die Angeklagte nur einen falschen Weg der Verteidigung eingeschlagen. Ich habe bereits bemerkt, daß man anfänglich glaubte, es handle sich um zwei betrügerische Kindesunterschiebungen. Einzig und allein deshalb wurde die Angeklagte aufs Stadthaus geladen. Zu der Jürgens sagte sie aber dann: Ich bin aufs Stadthaus geladen, weil ich ein Kind um die Ecke gebracht haben soll. Wie kam die Angeklagte dazu, eine solche Äußerung zu tun. Die Angeklagte gibt selbst zu: das Kind Klotsche ist tot, aber nicht ich, sondern mein Mann hat das Kind tot gemacht. Sie gibt auch schließlich zu, die Kinder Sommer und Schultheiß sind tot, diese habe die Miosga getötet. Wahr ist, daß die Miosga 24 Stunden lang den Knaben Schweppke in Pflege gehabt hat. Belastend für die Angeklagte spricht auch der Umstand, daß sie bemüht war, das Kind Schulz zurückzubekommen, da es doch sehr bald „krepieren“ werde. Sie wissen, m.H., daß ihr dies nicht gelungen ist und daß der Knabe Schulz heute noch lebt. Den Knaben Schweppke hat die Angeklagte augenscheinlich auch zu töten versucht, indem sie dem armen Wesen Schnupftabak in die Nase steckte. Einem Manne, der das Kind alsdann in Pflege nahm, hat die Angeklagte Schnupftabak mitgegeben, mit der Weisung, diesen dem Kind in die Nase zu stecken. Einen stummen Zeugen gegen die Angeklagte bildet das Zeug der kleinen Blank, das sie unaufgefordert dem Zeugen Klühs schenken wollte. Es ist ferner zu erwägen, die Angeklagte den Müttern stets den Vorschlag machte, die Kinder gegen eine einmalige größere Abfindungssumme als eigen annehmen zu wollen. Allein nur sehr wohlhabende Leute, denen der Kindersegen versagt ist, pflegen Kinder als eigen anzunehmen, nicht aber Leute vom Schlage der Angeklagten, die sich in steter Geldverlegenheit befunden hat. Die Beweisaufnahme hat zweifellos ergeben, daß die Angeklagte Morphium im Hause gehabt hat. Allein wozu bedurfte es eines solchen Mittels? Ein Handgriff, ein falsches Rücken des Kissens genügt, um solch kleine Wesen vom Leben zum Tode zu befördern. Aber auch der Umstand, daß trotz aller Bemühungen nicht die leiseste Spur von den verschwundenen Kindern zu entdecken war, spricht dafür, daß die Angeklagte die Kinder getötet hat. Man könnte einwenden: einige Kinder, die der Angeklagten übergeben waren, leben noch. Aber nicht der Angeklagten, sondern einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, daß diese kleinen Wesen noch am Leben sind. Es entsteht nun die Frage: Hat die Angeklagte mit Überlegung gehandelt? Wenn ein verschmähter Liebhaber seinen Nebenbuhler aus Eifersucht niedersticht, dann kann man vielleicht sagen, er hat ohne Überlegung gehandelt. Man wird aber nicht behaupten können, die Angeklagte habe die kleinen Wesen ohne Überlegung getötet. Als Frau Wülfing das Kind Blank der Angeklagten wiederbrachte, weil sie kein Kostgeld erhielt, da sagte die Angeklagte: Es ist gut, daß das Kind hier ist, morgen kommt es nach England. In diesem Augenblick hat die Angeklagte zweifellos den Entschluß gefaßt, das Kind zu töten. Es ist allerdings ein bloßer Indizienbeweis, der Ihnen vorgeführt worden ist, er hat aber die Schuld der Angeklagten in vollem Umfange unwiderleglich dargetan. Ich bin überzeugt, Sie werden es mit einer großen Befriedigung empfinden, daß es gelungen ist, die furchtbaren Verbrechen zu entdecken. Wenn Sie sich die Verzweiflung der Zeugin Schultheiß vergegenwärtigen, der keine Macht der Erde ihr Kind wiederzugeben vermag, dann werden Sie mit mir das Gefühl hoher Befriedigung teilen, daß es gelungen ist, solch verruchte Verbrechen zur Bestrafung zu bringen. An Ihnen ist es, der verletzten Rechtsordnung die erforderliche Sühne zu verschaffen, entsprechend dem alten Rechtsgrundsatz: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Bleckwedel gab der Meinung Ausdruck, daß die Angeklagte die Kinder zwecks Unterschiebung ins Ausland verkauft habe. Unterschiebungen zwecks Erbschafts- und Alimentenerlangung kommen keineswegs so sehr selten vor. Für meine Vermutung spricht auch der Umstand, daß sich die Angeklagte mit verhältnismäßig geringen Abfindungssummen begnügt hat. Dafür spricht weiter der Umstand, daß drei Kinder, die die Angeklagte in Pflege hatte, am Leben sind. Meine Herren Geschworenen! Wenn nur die entfernteste Möglichkeit vorliegt, daß die Kinder noch am Leben sind, und dies ist doch nicht ausgeschlossen, dann müssen Sie die Angeklagte wegen der vier Mordtaten freisprechen. Sollten Sie trotzdem zu einem Schuldigspruch kommen und das Urteil an der Angeklagten vollstreckt werden und später einmal eins der verschwundenen Kinder auftauchen, dann würde das ein lebendes Wahrzeichen Ihres Fehlspruchs sein. Vor einem solchen Fehlspruch möge Sie der allmächtige Gott bewahren.

Der Gerichtshof verurteilte die Angeklagte, entsprechend dem Wahrspruch der Geschworenen, wegen fünf vollendeter Morde fünfmal zum Tode und zu dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Wegen der schweren Kuppelei und der versuchten Verleitung zum Meineid wurde die Angeklagte zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Schuldfrage bezüglich des versuchten Mordes hatten die Geschworenen verneint. Die Angeklagte wurde, nachdem das Urteil Rechtskraft erlangt hatte, hingerichtet.

171 Bearbeiten

Die Ermordung zweier „Reisebegleiterinnen“ im Walde. Der Prozeß Erbe-Buntrock

Daß niedere Habsucht geeignet ist, jedes menschliche Empfinden zu töten und den Menschen zur Bestie werden zu lassen, dafür lieferten zwei Verbrechen, die so grausig waren, daß zu ihrer Wiedergabe sich Tinte und Feder sträuben, einen traurigen Beleg. Und hätte nicht der Spürsinn eines Hundes einen Fingerzeig gegeben, die entsetzlichen Verbrechen wären vielleicht für immer unentdeckt geblieben. Im Sommer 1890 wurden zwei junge Mädchen, die den besseren Gesellschaftskreisen angehörten, von ihren Angehörigen vermißt. Man wußte, daß sie sich infolge einer chiffrierten Zeitungsannonce als Reisebegleiterinnen gemeldet hatten, man konnte sich aber ihr Verschwinden trotz aller Bemühungen nicht enträtseln. Im November 1891 durchstreifte ein Waldwärter den in der Nähe von Magdeburg belegenen Neuhaldenslebener Wald. Plötzlich blieb der Hund des Waldwärters an einer Baumwurzel stehen. Das Tier beschnupperte mit lautem Gebell den Erdboden und war nicht von der Stelle zu bekommen. Der Waldwärter untersuchte die Stelle näher und entdeckte sehr bald einen vollständig nackten menschlichen Rumpf, dessen einzelne Teile bereits stark in Verwesung übergegangen waren. Der Hund beschnupperte laut bellend noch einige andere in der Nähe des ersten Fundes belegene Stellen. Der Waldwärter grub auch an diesen Stellen nach und entdeckte einen menschlichen Kopf sowie Arme und Beine. Der Waldwärter erstattete sofort von dem grausigen Fund Anzeige. Es wurde festgestellt, daß die gefundenen Körperteile von der dreißig Jahre alt gewesenen Wirtschafterin Emma Kasten aus Minden herrührten.

Diese junge Dame befand sich im Frühjahr 1890 bei Verwandten in Magdeburg. Eines Tages las sie eine Zeitungsannonce, in der von einer Grafenfamilie eine Reisebegleiterin bei hohem Gehalt und guter Verpflegung zu sofortigem Antritt gesucht wurde. Die Kasten schrieb sogleich unter angegebener Chriffre an die Expedition der betreffenden Zeitung. Nach wenigen Stunden wurde sie von einer Stellenvermittlerin nach einer Magdeburger Konditorei bestellt. Die Stellenvermittlerin sagte dem Mädchen: das Schloß der Grafenfamilie, die eine Reisebegleiterin suche, liege am Saum des Neuhaldenslebener Waldes. Noch am Spätabend des 21. Mai begab sich die Stellenvermittlerin mit dem jungen Mädchen nach dem Neuhaldenslebener Walde, um angeblich in das gräfliche Schloß zu gelangen. Die Nichte des Fräulein Kasten hatte von ihrer Tante herzlichen Abschied genommen, seit dieser Zeit war Fräulein Kasten spurlos verschwunden. Füchse hatten zweifellos den im Walde verscharrten Leichnam, nachdem er in Fäulnis übergegangen war, gewittert und ihn bloßgelegt, denn das Fleisch der einzelnen Körperteile war abgenagt. Einige Leute erinnerten sich der angeblichen Stellenvermittlerin, die eine Zeitlang in Magdeburg ihr Wesen trieb und oftmals in Gesellschaft eines Mannes gesehen worden ist. Schon nach kurzer Zeit gelang es der Magdeburger Polizei, festzustellen, daß die Stellenvermittlerin die 1856 zu Holzminden geborene Dora Buntrock war, die sich in Osnabrück als Lehrerin der Wäschezuschneidekunst niedergelassen hatte. Die Buntrock wurde sofort verhaftet. Sie leugnete anfänglich mit großer Entschiedenheit. Als man ihr aber nachwies, daß sie die Kleider der Ermordeten trage, gab sie schließlich zu, die Mörderin zu sein. Sie habe aber nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit dem 1855 geborenen Agenten Fritz Erbe gehandelt. Aus Briefen, die bei der Buntrock gefunden wurden, ging im übrigen die Täterschaft des Erbe mit voller Sicherheit hervor. Aus den Briefen war auch zu ersehen, daß Erbe sich im Evangelischen Vereinshause in Bielefeld aufhielt. Noch an demselben Abend reiste Kriminalkommissar Schmidt, Magdeburg, von Osnabrück nach Bielefeld und nahm Erbe fest. Dieser, ein ehemaliger Glaser, war verheiratet, aber seit einigen Jahren ren von seiner Frau geschieden. Er lebte schon seit längerer Zeit mit der Buntrock in wilder Ehe. Diesem Zusammenleben war auch ein Kind entsprossen. Erbe weigerte sich aber, das Kind als das seinige anzuerkennen; er behauptete, ein anderer Liebhaber der Buntrock, namens Karl Behrens, sei der Vater des Kindes. Dieser werde sich wohl auch an der Mordtat beteiligt haben, er sei vollständig unschuldig.

Ein zweiter Mord im Walde.

Als der Mord im Neuhaldenslebener Walde bekannt wurde, machte Hotelier Klages in Hameln der Polizei wiederholt die Anzeige, daß seine siebzehnjährige Tochter Dora im August 1890 von einer angeblichen Stellenvermittlerin in Hannover unter fast genau denselben Versprechungen verschleppt worden und seit dieser Zeit spurlos verschwunden sei. Die Buntrock, ins Verhör genommen, gestand, auch die Klages, in Gemeinschaft mit Erbe, im Walde bei Eschede ermordet und beraubt zu haben. Auf eine Zeitungsannonce in Hannover: „Eine Grafenfamilie sucht eine Reisebegleiterin“, hatten sich vier junge Damen gemeldet. Von diesen habe sie der Klages den Vorzug gegeben, da diese am elegantesten gekleidet war. Die Klages fuhr zunächst noch einmal nach Hameln, um von ihren Eltern Abschied zu nehmen. (Sie nahm für immer Abschied.) Als die Klages nach Hannover zurückgekehrt war, sei sie (die Buntrock) mit dem Mädchen nach Eschede gefahren. Erbe fuhr in demselben Zuge, aber nicht in demselben Kupee. In Eschede angelangt, habe sie sich mit dem jungen Mädchen in ein Gasthaus begeben, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Bald darauf sei auch Erbe in das Gasthaus gekommen. Er habe aber an einem anderen Tische Platz genommen und getan, als würde er sie nicht kennen. Nach etwa 20 Minuten habe sie mit dem jungen Mädchen den Weg nach dem Grafenschloß, das, wie sie vorgab, am Saum des Waldes belegen sei, angetreten. Sie hatten sich aber im Walde verirrt. Da habe sie zu dem jungen Mädchen gesagt, sie wollen sich ein bißchen ausruhen. Inzwischen werde wohl jemand kommen, der ihnen den Weg zeigen werde. Sehr bald darauf sei Erbe gekommen. „Dieser fremde Herr“ zeigte bereitwilligst den Weg zum Schloß und führte die Damen durch eine Schlucht. Plötzlich habe sie (Buntrock) der Klages einen Knebel in den Mund gesteckt. Da das Mädchen sich heftig sträubte, hielt Erbe ihr die Hände fest. Alsdann warf Erbe das Mädchen zu Boden. Er hatte sich vorher dem Mädchen als Arzt ausgegeben und ihm den Hals untersucht; er wollte wissen, wo die Schlagader sich befinde. Er habe das Mädchen zunächst vergewaltigt und ihm alsdann, während er auf ihr kniete, mit einem großen, scharfen Messer den Hals abgeschnitten. Erbe habe darauf mit einem Spaten, den er stets mit sich führte, ein Loch gegraben. Währenddessen habe sie (Buntrock) die Ermordete entkleidet und ihr die Finger- und Ohrringe abgenommen. Da die Ringe zu fest an den Fingern saßen, habe sie der Ermordeten die Finger abgeschnitten. Alsdann habe sie, in Gemeinschaft mit Erbe, die Leiche zerstückelt und stückweise im Walde verscharrt. In ganz ähnlicher Weise haben sie die Kasten im Neuhaldenslebener Walde ermordet.

Die Gerichtsverhandlung. Ende Juni 1892 hatten sich Erbe und Buntrock vor dem Magdeburger Schwurgericht zu verantworten. Erbe bestritt mit größter Entschiedenheit, von den Mordtaten etwas zu wissen. Die Buntrock, die jedenfalls mit ihrem anderen Liebhaber, einem Manne namens Carl Behrens, die Morde begangen, bezichtige ihn, weil sie sich an ihm rächen wolle. In der Verhandlung erschien ein junges Mädchen, Fräulein Gerecht (Wirtstochter aus Eschede) als Zeugin. Diese bekundete: Sie erinnere sich ganz genau, daß die Buntrock eines Vormittags im August 1890 mit einem jungen, bildhübschen Mädchen in der Gastwirtschaft ihres Vaters eingekehrt sei. Kurz darauf sei ein Mann in die Gaststube getreten und habe an einem anderen Tische Platz genommen. Die Buntrock und das junge Mädchen haben Kaffee, der Mann, in dem sie mit voller Bestimmtheit den Erbe wiedererkenne, ein Glas Bier getrunken. Erbe sei etwa zehn Minuten später als die Buntrock und das junge Mädchen aus dem Gasthause weggegangen. Sie (Zeugin) habe dem Erbe lange Zeit nachgeschaut, dabei sei ihr der eigentümliche Gang des Mannes aufgefallen. Auf Auffordern des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Polte, ahmt die Zeugin den Gang nach. Alsdann befahl der Vorsitzende dem Erbe, einige Male im Gerichtssaal auf und ab zu gehen. „Das ist der Mann, jeder Zweifel ist ausgeschlossen,“ versetzte das Mädchen.

Vors.: Was veranlaßte Sie, sich den Mann so genau anzusehen und seinen Gang zu beobachten? Zeugin: Der Mann und auch die Buntrock machten auf mich einen unheimlichen Eindruck. Mir schien es, als gehörten Erbe und Buntrock zusammen und ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß diese beiden das nette junge Mädchen im Walde ermorden und berauben wollten. (Große allgemeine Bewegung.)

Die Buntrock bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Die Kasten sei groß und stark gewesen, sie habe sich furchtbar gewehrt. Da konnte Erbe nicht lange nach der Schlagader suchen, sondern mußte schnell dem Mädchen den Hals abschneiden. Vors.: War denn die Kasten, nachdem ihr der Hals durchschnitten war, sofort tot? Buntrock: Nein, sie zappelte noch etwa zehn Minuten.

Vors.: Schrie sie denn nicht? Buntrock: Sie konnte ja nicht schreien, wir hatten ihr zunächst einen Knebel in den Mund gepreßt und sie alsdann zur Erde geworfen.

Vors.: Was taten Sie, als Erbe der Kasten den Hals durchschnitt? Buntrock: Ich habe der Ermordeten den Kopf festgehalten, sie suchte sich zu wehren.

Vors.: Sie müssen doch dabei beide stark mit Blut bespritzt gewesen sein? Buntrock: Jawohl.

Vors.: Das war im Mai 1890 und im August 1890 haben Sie in genau derselben Weise die siebzehnjährige Dora Klages im Escheder Walde geschlachtet? Buntrock: Jawohl.

Vors.: Sie hatten sich das Mädchenschlachten geradezu als Handwerk auserkoren, denn Ihr Verdienst ist es nicht, daß Sie nicht noch mehrere Mädchen ermordet haben? In Dortmund haben zwei Mädchen es abgelehnt, mit Ihnen durch den Wald zu gehen, weil Sie ihnen zu aufdringlich schienen. Ein anderes Mädchen ist der Ermordung entgangen, weil die Großmutter es nicht rechtzeitig geweckt hatte. Wenn noch mehrere Mädchen Ihre Vermittelung in Anspruch genommen hätten, dann würden Sie wohl noch mehrere Morde begangen haben? Buntrock: Das kann ich nicht sagen.

Vors.: Hat sich die Klages auch gewehrt? Buntrock: Jawohl, die Klages war aber bedeutend schwächer cher als die Kasten, wir konnten sie daher schneller überwältigen.

Vors.: Hat sie denn nicht geschrien? Buntrock: Sie versuchte es, obwohl ihr auch ein Knebel in den Mund gepreßt war, ich deckte aber, als sie zu schreien begann, meinen Mantel über ihr Gesicht. Vors.: Starb die Klages schnell? Buntrock: Die Klages hat noch sehr lange gezappelt, wir schnitten ihr deshalb die Beine ab. (Ausrufe des Entsetzens im Zuhörerraum.) Vors.: Der Kasten haben Sie, außer ihren Kleidern, goldene Uhr, Kette, die Ringe, die sie an den Fingern trug und 60 Mark bares Geld geraubt? Buntrock: Jawohl.

Vors.: Hatte die Klages auch Geld bei sich? Buntrock: Nicht einen Pfennig.

Vors.: Das war Ihnen vorher bekannt?

Buntrock: Ich fragte sie in Eschede, ob sie Geld habe, da antwortete sie: nicht einen Pfennig.

Vors.: Das Reisegeld von Hannover nach Eschede und den Kaffee in Eschede haben Sie für das Mädchen bezahlt? Buntrock: Jawohl.

Vors.: Sie wußten, daß die Klages kein Geld bei sich hatte, und trotzdem ermordeten Sie sie? Buntrock: Die Klages hatte aber sehr schöne Sachen.

Vors.: Der bloßen Sachen wegen haben Sie das Mädchen wie ein Stück Vieh geschlachtet? Buntrock: Sie hatte ein sehr hübsches Kleid.

Vors.: Ihre Wirtin in Osnabrück hat erzählt: Sie haben des Nachts häufig geweint? Buntrock: Das geschah wegen des vielen Totmachens.

Heftig weinend betrat Hotelier Klages aus Hameln als Zeuge den Gerichtssaal. Er bekundete mit tränenerstickter Stimme: Die Dora sei sein Liebling gewesen. Als sie von Hannover nach Hameln kam, um noch einmal Abschied zu nehmen, sei er nicht zu Hause gewesen, er habe mithin sein Kind nicht mehr sehen können. Seitdem seine herzensgute Dora verschwunden sei, habe er keine glückliche Stunde mehr.

Auch der Bruder der Buntrock, ein wohlhabender Tischlermeister, der eine große Möbelhandlung in Holzminden hatte, erschien als Leumundszeuge. Als die Buntrock des Bruders ansichtig wurde, fiel sie in einen heftigen Weinkrampf. Der Bruder der verruchten Mörderin weinte ebenfalls bitterlich. Auf Erbe machte all dies nicht den geringsten Eindruck. Er leugnete beharrlich, an den Mordtaten beteiligt zu sein, er sei der bestimmten Ansicht, daß der frühere Liebhaber der Buntrock, Carl Behrens, der vor einigen Monaten nach Amerika gegangen, der Mörder sei; der von Erbe angetretene Alibibeweis mißlang aber vollständig. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme blieb auch nicht der leiseste Zweifel, daß Erbe der Mittäter war, es konnte auch niemand bekunden, daß die Buntrock jemals einen anderen Liebhaber haber gehabt habe. Die Angeklagten wurden beide zum Tode verurteilt und hingerichtet.

178 Bearbeiten

Die Ermordung des Rittmeisters v. Krosigk in der Reitbahn der Dragonerkaserne zu Gumbinnen

In unserem fortgeschrittenen Zeitalter sollte man erwarten, daß eine Verminderung der Verbrechen erfolge, ganz besonders, daß Morde nur noch zu den Seltenheiten gehören. Daß in der sogenannten guten, alten Zeit weniger Verbrechen vorgekommen sind, kann allerdings nicht behauptet werden. In der vormärzlichen Zeit wurden Gerichtsverhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt. Das Zeitungswesen war so wenig entwickelt, daß die Öffentlichkeit von begangenen Mordtaten nur spärlich etwas erfuhr. Es gewinnt aber fast den Anschein, als ob der kulturelle Fortschritt der Zeit wenig zur Verminderung von Kapitalverbrechen beigetragen hat. Im Gegenteil, der Fortschritt der Kultur hat nur bewirkt, daß ein größeres Raffinement bei Ausübung der Kapitalverbrechen angewendet wird. Daß ein Rittmeister, während er die von ihm befehligte Schwadron in der Reitbahn aufreiten läßt, ermordet wird, ist ein so ungeheuerlicher Gedanke, daß man ein solches Vorkommnis für unmöglich halten sollte. Und dennoch ist das Unglaubliche geschehen. In der Nähe der russischen Grenze, im äußersten Osten der preußischen Monarchie, einige Stunden hinter Königsberg, liegt das freundliche Städtchen Gumbinnen. Die Stadt ist Sitz einer Regierung und einer Oberpostdirektion und hat, wie alle Grenzstädte, eine starke militärische Besatzung. Einige Industrie wird betrieben, in der Hauptsache beschäftigen sich aber die Bewohner Gumbinnens mit Vieh –, insbesondere mit Pferdehandel und Landwirtschaft. Eine idillysche Ruhe lagert im allgemeinen über dem Städtchen, das mit der Garnison etwa 15000 Einwohner zählt. Ruhig und friedlich leben hier die Bewohner. Eine geradezu ländliche Einsamkeit würde herrschen, wenn nicht die starke Garnison in das beschauliche Dasein der Gumbinner Bürgerschaft bisweilen etwas Leben brächte. Seit Menschengedenken war in dem Städtchen kein Kapitalverbrechen vorgekommen. Da, am 21. Januar 1901 ereignete sich ein Verbrechen, das in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen erregte und wohl kaum jemals aufgeklärt werden wird. Trübe und regnerisch war es am 21. Januar 1901. Naßkaltes Wetter herrschte im Städtchen. Ein rauher Nordwind jagte durch die Straßen. Weit draußen in der Vorstadt, am Ende der Tilsiter Straße liegt die Kavalleriekaserne, ein stattlicher, massiver Bau, in dem das 11. Pommerische Dragonerregiment v. Wedel untergebracht war. Hinter dem großen Erxerzier- und Reitplatz erhebt sich eine sehr geräumige, massig gebaute, vollständig gedeckte Reitbahn, in der die Reiter gegen die Unbilden des Wetters geschützt sind. Gegen vier Uhr nachmittags ertönten aus der Reitbahn Kommandorufe. Rittmeister Freiherr v. Krosigk nahm mit der von ihm befehligten vierten Schwadron abteilungsweise Reitübungen vor. Plötzlich, kurz nach 4 1/2 Uhr, der Rittmeister hatte soeben kommandiert: „Eskadron halt, Front,“ da ertönte ein Schuß. Der Rittmeister, der mit gezogenem Säbel, zu Fuß vor der Front der reitenden Abteilung stand, fiel mit dem Aufschrei: Ich bin geschossen zu Boden. Oberleutnant v. Hoffmann sowie alle in der Reitbahn anwesenden Offiziere und Unteroffiziere eilten schleunigst zu Hilfe. Sie trugen den anscheinend tödlich getroffenen Rittmeister auf ein frisch geschüttetes Strohlager, eine sogenannte Strohpuppe, und knöpften ihm den Uniformrock und den Hemdkragen auf. Oberleutnant v. Hoffmann erteilte sofort den Befehl, schleunigst einen Arzt herbeizurufen. Nach wenigen Minuten war auch ein Arzt in der Reitbahn eingetroffen, er vermochte aber keine Hilfe mehr zu bringen. Rittmeister v. Krosigk hatte dem Oberleutnant v. Hoffmann, als er ihm den Uniformrock aufknöpfte, zugerufen: Haben Sie geschossen? Fast in demselben Augenblick rief der Rittmeister in wehklagendem Tone: „Meine arme Frau, meine armen Kinder.“ Dies waren seine letzten Worte, dann verschied er. Der Arzt konnte nur noch den Tod des Rittmeisters feststellen. stellen. Eine Kugel hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Die Kunde von dem entsetzlichen Morde verbreitete sich naturgemäß mit Blitzeseile in den weiten Kasernenanlagen, in der Stadt Gumbinnen und wurde durch den Telegraph in alle Weltteile getragen. Oberleutnant v. Hoffmann ließ sofort die umfassendsten Nachforschungen nach dem oder den Mördern anstellen. Daß der Schuß nicht innerhalb der Reitbahn abgegeben war, lag außer Zweifel, es konnte nur von außen geschossen worden sein. Und richtig, hinter der Bandentür vor einem Guckloch, durch das man die ganze Reitbahn übersehen konnte, stand ein noch rauchender Karabiner.

Angestellte Versuche ergaben, daß mit diesem Karabiner bequem durch das Guckloch in die Reitbahn geschossen werden konnte. Der Rittmeister stand etwa 20 Schritt von dem Guckloch. Er ging unaufhörlich, die Abteilung kommandierend, auf und ab. Obwohl der Schuß aus ziemlicher Nähe erfolgt war, muß der Mörder ein guter Schütze gewesen sein. Rittmeister Freiherr v. Krosigk stand im 42. Lebensjahre. Er stand früher in Stendal in Garnison und war einige Jahre vor dem Morde nach Stallupönen versetzt worden. Einige Zeit darauf wurde die vierte Schwadron nach Gumbinnen kommandiert. Die Leiche des erschossenen Rittmeisters wurde in der Reitbahn aufgebahrt und sofort die ganze vierte Schwadron vor die Leiche geführt. Oberleutnant v. Hoffmann gab den Befehl: die dienstfreien Unteroffiziere und Mannschaften vom Nachmittag nehmen links von der Leiche, die im Dienst gewesenen Unteroffiziere und Mannschaften rechts von der Leiche Aufstellung. Mehrere Leute fielen dem Kommandeur des Regiments, Oberst v. Winterfeld, durch große Blässe auf. Es wurde außerdem bekundet, daß der Karabiner, mit dem der tödliche Schuß abgegeben worden, noch kurz vor der Mordtat auf dem Korridor der Kaserne auf seiner richtigen Stelle in einem Schaft gestanden hatte. Der Dragoner, dem der Karabiner gehörte, konnte als Täter nicht in Betracht kommen, da er, als der tödliche Schuß fiel, sich unter den reitenden Dragonern in der Reitbahn befand. Der Verdacht der Täterschaft fiel zunächst auf den Dragoner Skopeck. Dieser war an jenem Nachmittag dienstfrei, war kurz vor dem Morde an der Bandentür gesehen worden und hatte sich auch durch Redensarten verdächtig gemacht. Er wurde am Abend des 22. Januar verhaftet, sehr bald aber wieder freigelassen, da nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden waren. Dagegen wurde der 22jährige Unteroffizier Franz Marten und dessen Schwager, der 30jährige Sergeant und Quartiermeister Gustav Hickel verhaftet. Marten, Sohn des Wachtmeisters der dritten Schwadron, hatte sich verdächtig gemacht, daß er, obwohl er am fraglichen Nachmittag dienstfrei war, sich zu den Diensttuenden gestellt hatte, als die Schwadron in der Reitbahn vor der aufgebahrten Leiche Aufstellung nahm. Er war auch kurze Zeit vor dem Morde auf dem Korridor der Kaserne, etwa zwölf Schritt entfernt von dem Karabiner gesehen worden, mit dem der tödliche Schuß abgegeben war. Marten hat außerdem nicht genau angeben können, wo er sich zur Zeit des Mordes aufgehalten hat. Es fiel auch auf, daß, als er von dem Morde hörte, nicht, wie es allgemein geschah, in die Reitbahn gelaufen ist. Er gab vor, er war genötigt, zur Putzstunde zu gehen, es wurde ihm aber vorgehalten, daß er noch sieben Minuten Zeit hatte, um zur Putzstunde zu gehen. Auf die Frage, was er auf dem Korridor der Kaserne gemacht habe, da er eigentlich in der Reitbahn bei der Reitübung hätte zugegen sein müssen, erwiderte er: Er sei nicht in die Reitbahn gegangen, da es dem Rittmeister angenehm war, wenn er allein die einzelnen Abteilungen kommandieren könnte. Er sei den Korridor durchschritten, um „Drückeberger“ abzufangen. Einige Dragoner erzählten jedoch: Es sei ihnen so vorgekommen, als wollte sich Unteroffizier Marten ihren Blicken entziehen. Da dies dem Marten bei dem Dragoner Bartuleit nicht gelang, so fragte er diesen, ob seine Abteilung schon reite. Außerdem hatte Marten auf die an ihn von mehreren Seiten gerichteten Fragen, ob er schon wisse, daß Rittmeister meister v. Krosigk in der Reitbahn erschossen worden sei, geantwortet: „Halts Maul, du Dammelskopp.“ „Du bist wohl verrückt, Mensch.“ „Was ist denn eigentlich los?“ Zu einem Unteroffizier, der ihn fragte, ob ihm schon bekannt sei, daß Rittmeister v. Krosigk in der Reitbahn erschossen worden sei, sagte er: Ist es denn wirklich wahr? Es kam hinzu, daß Rittmeister v. Krosigk den alten Wachtmeister Marten so schlecht behandelt haben soll, daß dieser sich zur dritten Schwadron versetzen ließ und endlich, daß am Sonnabend vor dem Morde Marten ein junges Remontepferd nicht reiten konnte. Rittmeister v. Krosigk befahl deshalb dem Unteroffizier Marten, vom Pferde zu steigen und den Dragoner Stumbries das Remontepferd reiten zu lassen. Stumbries konnte das Pferd sehr gut reiten. Da dies vor versammelter Mannschaft geschah, geriet Marten in große Aufregung. Er hatte außerdem am Morgen des 21. Januar geäußert: „Heute muß der Hund noch rot sehen.“ Marten behauptete; er habe diese und eine ähnliche Äußerung mit Bezug auf das Remontepferd „Isidor“ getan, das sich so schwer reiten ließ. Das seien kavalleristische Redensarten. Dragoner Baranowski von der ersten Schwadron hatte bekundet: Er habe wenige Minuten vor dem Morde zwei Leute mit steifen Mützen und Mänteln in der Nähe der Bandentür am Guckloch stehen sehen. Er habe sich die Leute nicht näher angesehen, hen, da er sie für Vorgesetzte hielt, er wisse nur, daß einer einen schwarzen Schnurrbart hatte. Ähnliche Wahrnehmungen wollte der Dragoner Skopeck von der vierten Schwadron gemacht haben. Außer Hickel, der sein Alibi nicht genau nachweisen konnte, hatten nur noch zwei Unteroffiziere der vierten Schwadron schwarze Schnurrbärte. Diese kamen aber als Täter nicht in Betracht, da sie, als der Rittmeister erschossen wurde, im Dienst in der Reitbahn waren. Es wurde deshalb gegen Marten die Anklage wegen Mordes, gegen Hickel wegen Beihilfe und gegen den Unteroffizier Domnigk wegen Begünstigung erhoben. Ende Mai 1901 hatten sich diese drei vor dem Gericht der zweiten Division des ersten Armeekorps zu verantworten. Da sämtliche Angehörige der vierten Schwadron und viele Leute der anderen Schwadronen als Zeugen vernommen werden mußten und mehrfache Ortsbesichtigungen nötig waren, so wurde, in Ermangelung eines besseren Lokals, der in unmittelbarer Nähe der Kantine belegene Mannschaftsspeisesaal der Dragonerkaserne als Gerichtssaal hergerichtet und in diesem die Verhandlung abgehalten. Es wurden einige Tische, an denen sonst die Dragoner ihre Mahlzeiten verzehrten, zusammengestellt und grüne Decken darüber gebreitet. Nachdem so der Gerichtstisch sowie die Tische für den Vertreter der Anklage und die Verteidiger hergestellt waren, wurde ein Reiterbild bild Kaiser Wilhelms I. an die Wand gehängt. Trotzdem machte dieser „Gerichtssaal“, ein kleiner düsterer Raum, eher den Eindruck eines Stalles als eines Saales. Abends wurde das Zimmer durch Petroleumlampen erleuchtet. Ein gleichartiges, dicht neben der Kantine belegenes Vorzimmer diente als Zeugenzimmer. In diesem nahmen die als Zeugen geladenen Dragoner ungeniert ihre Mahlzeiten ein oder spielten Karten. Trotz dieser primitiven Einrichtung und des sehr beschränkten Raumes wurde den Vertretern der Presse, ganz besonders bei der zweiten Oberkriegsgerichtsverhandlung, mit einer Zuvorkommenheit begegnet, wie man sie bei bürgerlichen Gerichtshöfen nicht findet. Es ist bekannt, daß bei bürgerlichen Gerichtshöfen die Vertreter der Presse oftmals eine sehr schlechte Behandlung erfahren. Im allgemeinen finden die Berichterstatter bei Militärgerichten ein viel größeres Entgegenkommen als bei den bürgerlichen Gerichten.

Die Verhandlung vor dem Divisionsgericht fand nur zum Teil öffentlich statt. Sie endete mit der Freisprechung aller drei Angeklagten. Der Gerichtsherr legte gegen das freisprechende Urteil von Marten und Hickel Berufung ein. Aus diesem Anlaß hatte sich das Oberkriegsgericht des ersten Armeekorps vom 15. bis 20. August 1901 mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Das Oberkriegsgericht, das bekanntlich in Königsberg nigsberg i. Pr. seinen Sitz hatte, war aus denselben Gründen wie das in Insterburg domizilierte genötigt, in denselben Räumen zu verhandeln. Diese Verhandlung fand in voller Öffentlichkeit statt. Das Oberkriegsgericht gewann nach fünftägiger Verhandlung die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten Marten und verurteilte ihn zum Tode, zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und zur Ausstoßung aus dem Heere. Hickel wurde freigesprochen. Gegen die Verurteilung Martens legte dessen Verteidiger, gegen die Freisprechung Hickels der Gerichtsherr Revision ein. In beiden Revisionsschriften wurde in der Hauptsache die gesetzwidrige Zusammensetzung des Oberkriegsgerichts gerügt. Das Reichsmilitärgericht hatte diese Rügen für berechtigt anerkannt, deshalb beide Erkenntnisse aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung an das Oberkriegsgericht des ersten Armeekorps zurückverwiesen. Am 17. April 1902 gelangte daher die Mordtat nochmals in demselben Mannschaftsspeisesaale der Gumbinner Dragonerkaserne zur Verhandlung. Das Oberkriegsgericht bestand wohl, ebenso wie das erstemal aus dem Oberkriegsgerichtsrat Scheer als Verhandlungsführer und Kriegsgerichtsrat Dr. Rößler als richterlichen Beisitzenden. Die richtenlichen Offiziere waren jedoch sämtlich neu. Sie setzten sich zusammen aus Oberstleutnant Herhudt v. Rhoden vom Grenadierregiment „Kronprinz“ als Vorsitzenden, Major Dorn vom Infanterieregiment Nr. 43, Major v. Kräwel vom Grenadierregiment Nr. 3, Hauptmann Flechtner vom Feldartillerieregiment Nr. 16 und Oberleutnant Toop vom Grenadierregiment Nr. 3 (Beisitzende). Die öffentliche Anklage vertrat wiederum Oberkriegsgerichtsrat Meyer (Königsberg i. Pr.). Die Verteidigung führten wie bisher Rechtsanwalt Burchard (Insterburg) für Marten und Rechtsanwalt Paul Horn (Insterburg) für Hickel.

Die Angeklagten lehnten Oberkriegsgerichtsrat Scheer und Kriegsgerichtsrat Dr. Rößler wegen Besorgnis der Befangenheit ab, diese Ablehnungen wurden aber nicht für begründet erachtet. Es wurde zwölf Tage lang in voller Öffentlichkeit mit einer ganz seltenen Gründlichkeit verhandelt. Die richterlichen Offiziere, ganz besonders der Vorsitzende, Oberstleutnant Herhudt v. Rhoden, legten ein ganz außergewöhnliches Interesse für die Sache an den Tag. Dem Vorsitzenden war auch in der Hauptsache die große Zuvorkommenheit für die Vertreter der Presse zu danken. Es wurde in der Verhandlung, gegenüber den erwähnten verdächtigen Umständen, von Zeugen bekundet: Marten hatte keine Ursache, den Rittmeister zu erschießen. Der Rittmeister war mit Marten, der mit 18 Jahren freiwillig in die Schwadron eingetreten, sehr zufrieden. Er hatte dies auch dem alten Wachtmeister Marten mehrfach gesagt. Der Rittmeister hatte außerdem Marten, als dieser kaum 20 Jahre alt war, zum Unteroffizier befördert und ihm eine Rekrutenabteilung zur Ausbildung übergeben. Bei der ersten Vorstellung der Abteilung hat der Rittmeister dem Marten ein großes Lob erteilt. Er hat alsdann Marten auf die Telegraphenschule nach Berlin gesandt. In Berlin wurde Marten der Vorschlag gemacht: er solle bei dem zweiten Gardeulanenregiment in Berlin kapitulieren, er habe dies aber mit den Worten abgelehnt: Das kann ich meinem Rittmeister nicht antun.

Rittmeister v. Uckermann bekundete als Zeuge: Sein Bruder, der im Elsaß stehe, brauchte Kapitulanten, die dort schwer zu haben seien. Er habe deshalb den alten Marten gefragt, ob sein Sohn nach dem Elsaß gehen wolle, er würde dort sehr schnell zum Unteroffizier befördert werden. Wachtmeister Marten antwortete Meinem Sohn gefällt es beim Herrn Rittmeister v. Krosigk derartig, daß er sich schwerlich entschließen wird, nach dem Elsaß zu gehen, zumal ihm der Rittmeister versprochen hat, ihn zeitig zum Unteroffizier zu befördern.

Interessant war die Aussage des Wachtmeisters Marten. Dieser bekundete auf Befragen des Verhandlungsleiters: Er sei vom 12. Mai 1897 bis 3. Juli 1898 Wachtmeister der 4. Schwadron gewesen. Rittmeister v. Krosigk sei sehr streng, aber auch sehr gerecht recht gewesen. Der Rittmeister habe ihm bisweilen Vorhaltungen gemacht, wie das jeder Vorgesetzte tue, beschimpft habe er ihn aber niemals. Er habe sich hauptsächlich zur dritten Schwadron versetzen lassen, weil er an Rheumatismus gelitten habe und er den Anforderungen, die der Rittmeister an ihn stellte, nicht mehr ganz gewachsen war. Er habe eingesehen, daß der Rittmeister eine jüngere Kraft als Wachtmeister wünsche. Den Antrag auf Versetzung habe im übrigen seine Tochter gestellt, als er in Bad Teplitz war. Der Rittmeister habe ihn auch nach seiner Versetzung oftmals freundschaftlich angeredet und sich ganz besonders lobend über seinen (des Zeugen) Sohn ausgesprochen. Der Rittmeister habe Weihnachten 1900 zu ihm gesagt: Ich bin mit Ihrem Sohn sehr zufrieden, ich werde ihm auch deshalb einen längeren Urlaub geben. Sein Sohn habe auch niemals über den Rittmeister geklagt, sondern im Gegenteil oftmals gesagt: Der Rittmeister ist wohl sehr streng, aber sehr gerecht. Als ich aus Teplitz kam, so fährt der Zeuge fort, habe ich meinen Sohn, der damals auf der Telegraphenschule in Berlin war, besucht. Mir war von dem Leutnant v. Wohrenbruch der Vorschlag gemacht worden, meinem Sohn zuzureden, beim zweiten Gardeulanenregiment in Berlin zu kapitulieren, denn es sei doch bedeutend angenehmer in Berlin als in Gumbinnen zu stehen, mein Sohn sagte aber: „Das kann ich meinem Herrn Rittmeister, der mich zeitig zum Unteroffizier befördert und mich auf die Telegraphenschule geschickt hat, nicht antun.“

Verhandlungsführer: Haben Sie den Rittmeister nicht noch kurz vor dem Morde gesprochen?

Zeuge: Jawohl, etwa zwei Stunden vor dem Morde rief mich der Rittmeister in den Stall, zeigte mir ein Pferd und fragte mich über mein Urteil. Der Rittmeister hatte mir sogar 1898 vor der Front zum Geburtstag gratuliert.

Verh.-Führer: Ist Ihnen erinnerlich, daß in Stallupönen zweimal in die Wohnung des Rittmeisters geschossen wurde.

Zeuge: Jawohl, einmal wurden auch dem Rittmeister die Wagenpolster zerschnitten. Ich war darüber sehr entrüstet und wollte in der 4. Schwadron Nachforschungen anstellen, der Rittmeister sagte aber: Unter den Leuten der 4. Schwadron brauchen Sie nicht zu suchen, meine Leute sind mir sämtlich treu ergeben. Ich will noch etwas anführen. Nach einem Zeitungsbericht soll Herr Oberst v. Winterfeld gesagt haben: Rittmeister v. Krosigk habe die 4. Schwadron als verloddert bezeichnet. Ich kann mir das absolut nicht denken. Als der Rittmeister nach Stallupönen kam, holte ich ihn vom Bahnhof ab. Da sagte der Rittmeister zu mir: Ich habe die 4. Schwadron schon sehr loben hören, man ist überall von der 4. Schwadron dron des Lobes voll, ich bin daher sehr neugierig auf die Schwadron. Der Rittmeister hat mir später mehrfach gesagt, daß das Lob, das er über die 4. Schwadron gehört, vollständig berechtigt sei.

Vors. Oberstleutnant Herhudt v. Rhoden: Sie sind ja ein alter Wachtmeister, ist es den Unteroffizieren gestattet, auch im Winter Pferde aus dem Stall zu nehmen und außer dem Dienst zu reiten? Zeuge: Jawohl, das ist wenigstens häufig vorgekommen. Rittmeister v. Krosigk wünschte ausdrücklich, daß schwierige Pferde auch außerdienstlich von den Unteroffizieren geritten werden.

Verhandlungsführer: Sind Ausdrücke wie: ich werde mein Pferd ordentlich spornieren, der Hund muß heute noch Farbe bekennen, üblich? Zeuge: Herr Oberkriegsgerichtsrat, solche Ausdrücke oder auch: „Der Hund muß heute noch Öl lassen oder Blut lassen,“ sind allgemein kavalleristische Ausdrücke.

Kriminalkommissar v. Bäckmann (Berlin), der die polizeilichen Ermittelungen leitete, gab auf Befragen der Verteidiger zu, daß er zu Domnigk gesagt habe: „Sie stehen schon mit einem Fuß im Grabe“ und ein anderes Mal: „Sie stehen da wie ein Ölgötze.“ Das seien polizeitechnische Ausdrücke.

Im Laufe der Verhandlung meldeten sich auch einige Frauen als Zeuginnen, die über allerhand Vorkommnisse, die mit dem Mord keinen Zusammenhang hatten, Aussagen machten.

Eines Tages eröffnete der Verhandlungsführer, Oberkriegsgerichtsrat Scheer, die Verhandlung mit der Mitteilung: Er habe einen anonymen Brief aus Berlin erhalten. In diesem heißt es: „Die Richter können bei jedem Zeugen genau feststellen, ob er die Wahrheit sagt. Wenn die Richter in die linke Hand ein warmes Gefühl bekommen, dann sagt der Zeuge die Wahrheit. Bekommen aber die Richter in die linke Hand ein kaltes Gefühl, dann sagt der Zeuge die Unwahrheit.“ (Allgemeine Heiterkeit.) Eines Abends bei Besichtigung der Reitbahn steckte sich Hickel einen dunkelbraunen Schnurrbart an. Baranowski und Skopeck, die davon nichts wußten, bezeichneten diesen angesteckten Schnurrbart auch als schwarz. Beide Zeugen vermochten nicht genau anzugeben, ob die Männer mit den steifen Militärmützen, die vor dem Guckloch gestanden haben, Schirme an den Mützen hatten. Sie könnten auch nicht genau angeben, ob die Männer Militärmäntel trugen.

Es wurde außerdem bekundet, daß oftmals Zivilpersonen an der Bandentür gestanden haben. Noch am Sonnabend vor dem Morde sollen Zivilpersonen die Eingangstür zur Reitbahn während der Reitübung geöffnet und dadurch den Unwillen des Rittmeisters hervorgerufen haben. Es sollen sich oftmals Zivilpersonen auf dem Kasernenhof aufgehalten haben.

Schließlich meldete sich in der zweiten Oberkriegsgerichtsverhandlung die Frau des Proviantamtsarbeiters Eckert und bekundete: Sie sei am 21. Januar 1901 nachmittags zwischen 4-5 Uhr mit ihrem zehnjährigen Sohn bei der Dragonerkaserne vorübergegangen. Plötzlich habe sie einen Schuß gehört. In demselben Augenblick habe sie zwei Männer, sie glaube bestimmt, es waren Zivilisten, aus dem Kasernentor die Dragonerstraße entlang in die Lazarettstraße hineinlaufen sehen. Die Zeugin, die anfänglich behauptete: es sei an einem Sonnabend gewesen, bemerkte alsdann auf wiederholtes Vorhalten des Verhandlungsführers mit ebensolcher Bestimmtheit, es war an einem Montag. Sie habe zwei Leute aus dem Kasernentor laufen sehen, da es mondhell war. Es wurde jedoch festgestellt, daß an jenem Abend der Mond bedeckt war. Die Zeugin, die in Gumbinnen wohnte, vermochte nicht zu erklären, weshalb sie ihre wichtigen Wahrnehmungen so spät gemeldet habe. Sie habe nicht gewußt, daß Marten und Hickel wegen Verdachts des Mordes verhaftet seien und auch nicht, daß Marten zum Tode verurteilt worden sei. Im Laufe der Verhandlung erschien auch ein Metzgermeister als Zeuge: Im Herbst 1900 sei Rittmeister v. Krosigk mit seiner Gattin über den Magazinplatz geritten. Ein vorübergehender Offizier grüßte den Rittmeister. Kaum war das geschehen, da versetzte der Rittmeister seiner Gattin mit einer Reitgerte zwei Schläge auf den Rücken. Ob dies willkürlich geschah, könne er (Zeuge) nicht sagen. Der Offizier, der dies beobachtete, sagte halblaut: „Lange wird er die Frau nicht mehr schlagen.“ Er (Zeuge) wisse nicht, ob der Offizier ein Kavallerie- oder ein Infanterieoffizier war.

Frau Rittmeister v. Krosigk geb. v. Saldern bestritt als Zeugin das Vorkommnis auf dem Magazinplatz und bekundete auf Befragen des Verhandlungsführers: Ihr Mann habe geklagt, daß die 4. Schwadron sehr verloddert sei. Ihr Mann sei im Dienst sehr streng gewesen, Wachtmeister Marten habe aber nicht den ersten Anforderungen der militärischen Disziplin entsprochen.

Verhandlungsführer: Inwiefern hat Wachtmeister Marten den Erfordernissen der militärischen Disziplin nicht entsprochen? Zeugin: Er hat z.B., wenn mein Mann mit ihm sprach, nicht stramm gestanden. Mein Mann hat aber auf solche Dinge sehr genau gesehen. Die Zeugin bekundete im weiteren: Ihr Mann hatte eine große Abneigung gegen die Familie Marten. Wenn Ihr Mann später mit Marten Wein getrunken, ihm zum Geburtstag gratuliert und ihn wegen eines Remontepferdes um Rat gefragt habe, so sei das daraus zu erklären, daß Marten nicht mehr bei der 4. Schwadron war. Ihr Mann sei eben nicht nachtragend gewesen. Sie sei aber der Meinung, daß sowohl die anonymen Briefe als auch das Schießen und das Zerschneiden der Wagenpolster in Stallupönen auf die Familie Marten zurückzuführen seien. Sie sei der Überzeugung: Der Täter in Stallupönen sei in der 4. Schwadron gewesen. Wachtmeister Marten habe allerdings äußerlich Nachforschungen angestellt, er hatte aber gar nicht die Absicht, den Täter zu ermitteln. Wenn er gewollt hätte, dann wäre es ihm gelungen, den Täter zu ermitteln. Wachtmeister Marten hatte das Bestreben, ihren Mann aus Stallupönen fortzubekommen.

Verhandlungsführer: Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihren Herrn Gemahl erschossen haben mag? Zeugin: Das kann ich nicht sagen, ich bin aber der Meinung, es war jemand von der 4. Schwadron.

Verhandlungsführer: Halten Sie es für ausgeschlossen, daß es eine Zivilperson war? Zeugin: Jawohl, das halte ich für ausgeschlossen. Ich bin der Meinung, es muß doch ein ganz verschlagener Mensch gewesen sein, der mit den Verhältnissen sehr genau Bescheid wußte. Eine Zivilperson hatte keine Veranlassung, meinen Mann zu erschießen. Ich glaube auch nicht, daß sich mein Mann einmal aus Furcht vor Zivilpersonen hat nach Hause begleiten lassen. Die Zeugin bekundete ferner auf Befragen: Mit dem Angeklagten Marten sei ihr Mann dienstlich zufrieden gewesen, er habe ihr aber gesagt: Der Mensch habe einen schlechten Charakter, er komme ihm unheimlich vor, er wollte ihn am liebsten möglichst weit los werden.

Verhandlungsführer: Ihr Herr Gemahl hat doch aber den Marten frühzeitig zum Unteroffizier befördert und ihn nach Berlin auf die Telegraphenschule geschickt?

Das hat mein Mann höchstwahrscheinlich getan, um den Menschen los zu werden.

Verteidiger R.-A. Burchard: Ich bin dieser Aussage gegenüber ja machtlos, ich erlaube mir aber die Frau Zeugin zu fragen: Haben Sie das, was Sie über Marten bekundet haben, von Ihrem Herrn Gemahl gehört oder ist das Ihre Ansicht? Zeugin: Das ist meine Ansicht.

Verteidiger: Ich muß bemerken, daß die Zeugin bei jeder Vernehmung mehr weiß, ich beantrage daher, Ihre früheren Aussagen zu verlesen.

Vertreter der Anklage: Ich schließe mich diesem Antrage an, da daraus hervorgehen wird, daß die Zeugin ganz konsequent in ihren Aussagen geblieben ist.

Zeugin: Wenn ich heute vielleicht etwas präziser war, dann ist das daraus zu erklären, daß ich in der ersten Zeit über den Verlust meines Mannes naturgemäß sehr aufgeregt und es mir auch peinlich war, vor einem Kriegsgericht als Zeugin zu erscheinen.

Der Gerichtshof beschloß, die früheren Aussagen zur Verlesung zu bringen.

Alsdann stellte der Verteidiger R.-A. Horn an die Zeugin die Frage, ob nicht auch schon in Stendal auf ihre Wohnung geschossen worden sei. Die Zeugin bestritt das mit voller Entschiedenheit.

Verteidiger: Sind nicht sogleich nach der Versetzung Ihres Mannes nach Stallupönen anonyme Briefe gekommen, also zu einer Zeit, in der Ihr Herr Gemahl in Stallupönen noch gar nicht bekannt war? Zeugin: Es sind allerdings in der ersten Zeit nach Stallupönen einige anonyme Briefe aus Stendal an meinen Mann gekommen. Diese kamen höchstwahrscheinlich von sozialdemokratischer Seite, da die Sozialdemokraten meinen Mann haßten. Diese Briefe hörten aber im Juli 1897 auf. Die späteren anonymen Briefe begannen im April 1898, hatten also mit den ersten nicht den geringsten Zusammenhang. Diese zweite Serie anonymer Briefe war augenscheinlich geschrieben, um meinen Mann aus Stallupönen fortzubekommen.

Verteidiger R.-A. Horn: Woraus entnahmen Sie, daß mit dieser zweiten Serie anonymer Briefe bezweckt wurde, Ihren Herrn Gemahl aus Stallupönen fortzubekommen? Zeugin: Das entnahm ich aus dem Inhalt der Briefe. In diesen stand u.a.: „Weshalb haben Sie denn den alten Wachtmeister Marten so schlecht behandelt? Ich rate Ihnen, schleunigst aus Stallupönen fortzumachen usw.“

Vert. R.-A. Horn: Sind diese Briefe noch vorhanden? Zeugin: Bruchstücke kann ich noch geben.

Vert.: Dann beantrage ich, diese Briefe, soweit sie noch vorhanden, zur Stelle zu schaffen.

Verhandlungsführer: Wie hat sich Ihr Mann über Hickel geäußert? Zeugin: Mein Mann hat es sehr ungern gesehen, daß Hickel in die Familie Marten hineinheiratete. Im übrigen sagte er: Hickel sei ein schlechter Quartiermeister, der ungemein nachlässig im Dienst sei. In einem Buch hat mein Mann am 21. Januar 1901 verzeichnet: Quartiermeister Sergeant Hickel ist weder am 19. noch am 20., wie befohlen, zum Dienst gewesen, er hat heute abend 8 Uhr bei mir anzutreten.

Der Verhandlungsführer ersuchte, dies Buch, wenn möglich, dem Gerichtshof einzureichen.

Wachtmeister a.D. Marten bemerkte darauf: Er müsse es als unwahr bezeichnen, daß er die ersten Erfordernisse der militärischen Disziplin außer acht gelassen habe. Er sei selbst sehr streng im Dienst gewesen und habe selbstverständlich auch seinen Vorgesetzten gegenüber die militärische Disziplin nie außer acht gelassen. Er müsse es auch als vollständig unwahr bezeichnen, daß die 4. Schwadron verloddert war. Er behaupte, Herr Rittmeister v. Krosigk sei entgegengesetzter Ansicht gewesen. Als ihm der Rittmeister ster zum Geburtstage gratulierte, sei er noch bei der 4. Schwadron gewesen.

Vizewachtmeister Bunkus und Sergeant Schiedat bekundeten: Hickel sei, als der Mord bekannt wurde, bereits zehn Minuten im Stall gewesen; eine Anzahl Dragoner bekundete dagegen, daß sie Hickel nicht im Stall gesehen haben. Weiter wurde bekundet: Der Rittmeister habe mehrfach geäußert: Hickel ist ein guter Quartiermeister, aber ein schlechter Reiter. Der Rittmeister habe Hickel des schlechten Reitens wegen bisweilen mit heftigen Worten getadelt.

Am zwölften Verhandlungstage fanden die Plädoyers statt. Der Vertreter der Anklage, Oberkriegsgerichtsrat Meyer, führte etwa folgendes aus: Meine Herren! Das Oberkriegsgericht beschäftigt sich zum zweiten Male mit einer Strafsache, die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus das größte Aufsehen erregt hat. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um die Straftat zweier Unteroffiziere, die sich angeblich verabredet haben, ihren eigenen Eskadronchef zu ermorden. Ich will Sie nicht lange durch einleitende Worte aufhalten. Wir sind alle von der furchtbaren Bedeutung der Untat, die auch in hohem Maße nach der disziplinarischen Seite ihre Strahlen wirft, durchdrungen. Ich will sofort auf die Sache selbst eingehen, und da drängt sich zunächst die Frage auf: Wer ist der Täter? Soviel ist allen Einsichtigen klar, die Tat muß von zwei Personen ausgeführt worden sein. Dafür sprechen alle Tatumstände und auch der Umstand, daß Skopeck stets mit voller Bestimmtheit behauptete, er habe zwei Personen an der Bandentür stehen sehen. Wenn beim Zivil ein ähnlicher Mord geschieht, ich denke an den Sekathschen und an den Konitzer Mord, dann stehen oftmals Polizei und Staatsanwaltschaft ratlos da. Beim Zivil ist es oft ungemein schwer, den Täter zu ermitteln. Anders ist es bei uns, beim Militär. Hier ist es bedeutend leichter, den Täter zu ermitteln, da der Kreis, in dem der Täter zu suchen ist, ein bedeutend engerer ist. Es ist ja versucht worden, den Verdacht auf einige Zivilpersonen zu lenken. Allein schon der Umstand, daß der Mord geschehen ist mit einem Karabiner, der noch mittags 12 Uhr auf dem 2. Korridor an seiner richtigen Stelle stand, spricht für die Unmöglichkeit, daß der Mord von einer Zivilperson geschehen ist. Es hat sich eine Frau Sablowski gemeldet, die einen Vorgang erzählt hat, der sich einige Tage vor dem Morde in ihrer Wohnung zugetragen hat. Es liegt jedoch nicht der geringste Anhalt vor, diesen Vorgang mit der Ermordung des Rittmeisters v. Krosigk in irgendwelche Verbindung zu bringen. Etwas mehr könnte ja die Aussage der Frau Eckert beweisen. Allein ich weise darauf hin, daß, als wir in der Dragonerstraße den Lokaltermin abhielten und die Frau wiederholt von dem Herrn Verhandlungsleiter gefragt wurde, ob sie genau wisse, was für ein Tag es war, an dem sie ihre Wahrnehmungen machte, die Frau konsequent mit großer Bestimmtheit sagte, es war an einem Sonnabend. Als die Frau nach einigen Tagen hier vernommen wurde, sagte sie mit derselben Bestimmtheit aus, es war Montags. Es kommt hinzu, daß, obwohl an diesem Tage der Mond erst um 7 Uhr 57 Minuten aufging, die Frau behauptete, sie habe zwei Zivilpersonen aus dem Kasernentor laufen sehen, denn es sei mondhell gewesen. Auf die Frage, weshalb sie sich erst jetzt gemeldet habe, sagte die Frau, sie habe nicht daran gedacht. Sie sagte ferner auf Befragen, sie habe nicht gewußt, daß Marten und Hickel des Mordes angeklagt seien, ja sie wußte selbst nicht, daß Marten vom Oberkriegsgericht zum Tode verurteilt war. Von einer Gumbinnerin ist das einfach nicht glaubhaft. Ich erinnere ferner daran, daß der Herr Verteidiger Burchard selbst den Antrag stellte, die Frau nicht zu vereidigen, und daß, als der Gerichtshof sich zur Beratung zurückziehen wollte, der eigene Ehemann der Zeugin von den Gerichtshof trat und sagte: Vereidigen Sie meine Frau nicht, denn sie scheint doch nicht in allen Dingen die Wahrheit zu sagen. Wenn der Gerichtshof trotzdem die Frau vereidigt hat, dann ist es geschehen, weil er der Ansicht war, daß die Frau, wenn auch nicht am Mordtage, die bekundeten Wahrnehmungen vielleicht doch gemacht hat. Also mit diesem Verdacht gegen Zivilpersonen, die den Mord begangen haben könnten, ist es nichts. Es kann daher nicht zweifelhaft sein, daß der Mord von Militärpersonen ausgeführt worden ist. Daß Angehörige des hiesigen Füsilierregiments oder des Feldartillerieregiments den Mord begangen haben können, dafür fehlt jeder Beweggrund. Aber auch dafür, daß Leute aus einer anderen Schwadron den Mord begangen haben können, fehlt jeder Anhalt und Beweggrund. Der Verdacht fällt auf die Unteroffiziere der 4. Schwadron. Andere hatten keinen Beweggrund, den Rittmeister aus dem Wege zu räumen. Nun ist aber von allen Unteroffizieren der Nachweis erbracht worden, wo sie zur Zeit des Mordes waren, so daß diese von der Täterschaft ausgeschlossen sind. Der Kreis wird also immer enger und bleibt mit großer Bestimmtheit auf den Angeklagten Marten und Hickel haften. Ich will mich zuerst mit der Person des Marten beschäftigen. Fest steht, daß Marten mit Hickel um 4 Uhr 28 aus der elterlichen Wohnung gekommen ist. Der tödliche Schuß ist gegen 4 Uhr 38 gefallen. Marten ist vorher auf seine Stube gegangen und hat sich unbegründeterweise vom Reiten gedrückt. Er sagte, er wollte Drückeberger abfangen. Er ist auf dem Korridor von Bartuleit und Weber gesehen worden, 12 Schritt von der Stelle, wo der Karabiner stand, mit dem der tödliche Schuß erfolgte. Marten sagte, er sei von seiner Stube deshalb in die elterliche Wohnung zurückgegangen, um sich sein Telegraphenbuch zu holen, damit er nachsehen könnte, ob inzwischen Änderungen vorgekommen seien. Diese Erzählung ist unglaubhaft, denn er hat in der Zeit das Telegraphenbuch nicht nachgesehen und war auch gar nicht so eifrig, um Glauben machen zu können, er wollte nachsehen, ob inzwischen Änderungen vorgekommen seien. Ich erinnere ferner daran, daß Oberst von Winterfeld vom Kasernement der 4. Schwadron bis zur Bandentür Fußspuren im Schnee beobachtet hat. Ich erinnere an das mißliche Verhältnis, das schon in Stallupönen zwischen dem Vater des Angeklagten, dem alten Wachtmeister Marten, und dem Rittmeister bestand. Ich erinnere weiter an die Vorgänge in der Reitbahn vom 19. und 21. Januar, wobei Marten, der überhaupt bei der geringsten Kleinigkeit in Wut geriet, sogar mit den Augen rollte. Es ist behauptet worden, Marten rolle mit den Augen, weil er an Nervenzuckungen leide. Allein, wenn Herr Oberst v. Winterfeld das Augenrollen derartig vorkam, daß er Marten verhaften lassen wollte, dann muß man annehmen, dieses Augenrollen war nicht die Folge von Nervenzuckungen. Es ist ja zunächst mit einem gewissen Recht der Verdacht auf Skopeck gelenkt worden. Allein ich habe bereits hervorgehoben, daß Skopeck aus der Schwadron dron ausgeschieden war, nur noch in der Schmiede arbeitete und nicht den mindesten Beweggrund hatte, den Rittmeister zu erschießen. Es wäre auch geradezu Wahnsinn gewesen, daß Skopeck, wenn er den Rittmeister hätte erschießen wollen, zunächst in den Krümperstall gegangen wäre. Nachdem der Mord geschehen war, traf Marten auf dem Korridor den Dragoner Stumbries. Letzterer fragte ihn, ob er schon wisse, daß der Rittmeister erschossen sei. Marten faßte ihn am Arm und sagte, wie Stumbries mit voller Bestimmtheit bekundet, mit lächelnder Miene: Mensch, du bist wohl verrückt.

Als Marten bald darauf in der Reitbahn den früheren Vizewachtmeister Schulz traf und dieser ihn fragte, ob er schon wisse, daß der Rittmeister erschossen sei, war Marten sehr aufgeregt und sagte: Ist es denn wahr? Als Marten darauf in den Stall kam und wiederum gefragt wurde, ob er denn wisse, was geschehen sei, versetzte er: Was ist denn eigentlich los? Als er nun bei seiner ersten Vernehmung von Herrn Kriegsgerichtsrat Lüdicke gefragt wurde, weshalb er denn so tat, als ob er von nichts wüßte, antwortete er: Ich wollte mich nicht als erster verdächtig machen. Ich erinnere weiter daran, daß Marten, der sonst niemals betrunken war, an jenem Nachmittage verschiedenen Zeugen angeheitert vorkam. Weiter ist die Flucht des Marten in Erwägung zu ziehen. Ich bin der Meinung, Marten ist nicht freiwillig zurückgekehrt. Er konnte in Uniform unmöglich über die Grenze kommen, Zivilkleider bekam er aber nicht. Ich behaupte, Marten kam nach Gumbinnen zurück, um von seinen Eltern Zivilkleider zu erhalten und vielleicht in anderer Weise zu flüchten. Ich behaupte also, Marten hat, nachdem die Dragoner Bartuleit und Weber vorüber waren, den Karabiner genommen, hat ihn unter seinen Mantel gesteckt, ist an die Bandentür gegangen und hat den Rittmeister erschossen. Es ist aber nicht möglich, daß er die Tat allein ausgeführt hat, er mußte notwendigerweise jemanden zur Deckung haben, denn er mußte sich sagen, es kann jeden Augenblick jemand kommen, so daß er, sobald er schoß, ergriffen werden konnte. Ich behaupte, dieser zweite Mann, der die Deckung gab, war Hickel. Dafür spricht einmal der Umstand, daß Hickel der Schwager Martens und der Schwiegersohn des alten Wachtmeisters Marten war. Ich gebe zu, daß Marten und Hickel sich vielleicht nicht besonders gut gestanden haben, aber alle Umstände sprechen doch dafür, daß die Feindschaft keine große war. Wir haben z.B. erfahren, daß, als beide von der Regimentskammer kamen, sie gemeinschaftlich in die elterliche Wohnung Kaffee trinken gingen. Daß zwei Leute an dem Morde beteiligt waren, dafür spricht die Wahrnehmung des Zeugen Skopeck, daß er zwei Leute mit steifen Mützen an der Bandentür stehen sah. Daß Hickel dieser zweite Mann war, dafür spricht der Umstand, daß der Dragoner Baranowski einen Unteroffizier mit schwarzem Schnurrbart gesehen hat. Es gab aber in der ganzen Schwadron nur drei Unteroffiziere mit schwarzen Schnurrbärten. Zwei waren zur Zeit des Mordes im Dienst, sie könnten daher unmöglich die Tat begangen haben. Hickel konnte aber über die Zeit seines Aufenthaltes keinen glaubwürdigen Nachweis führen. Er sagte, er sei in den Stall gegangen, um das Anzünden der Lampen zu besorgen. Abgesehen davon, daß Hickel sich seit seiner Verheiratung nicht mehr um das Anzünden der Lampen gekümmert hatte, so hat seine Behauptung, er habe, als er in den Stall kam, laut „Matzick“ gerufen und sich darauf zehn Minuten mit Dommning unterhalten, keine Bestätigung gefunden. Es ist doch nicht anzunehmen, daß Hickel den Matzick mit leiser Stimme rief, damit dieser Petroleum auf die Lampen gieße. Es ist auch nicht anzunehmen, daß Hickel sich mit Dommning in leisem Tone unterhalten hat. Ich erinnere daran, daß Dommning anfänglich gesagt hat, Hickel sei 1-3 Minuten im Stalle gewesen. Erst später, als er einsah, worum es sich handele, sagte er, Hickel sei 10-20 Minuten im Stall gewesen. Ich bin der Meinung, Hickel hat sich nach erfolgtem Schuß in den Stall geflüchtet und ist dort 1-3 Minuten gewesen. Hickel konnte ebensowenig nig wie Marten seinen Verbleib zur Zeit der Tat nachweisen. Es ist wohl klar, weshalb Marten am 21. Januar gesagt hat, der Hund muß heute noch Farbe bekennen. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß, als die Schwadron auf dem Korridor und später in der Reitbahn angetreten war und mit lauter Stimme aufgefordert wurde, die Dienstfreien und die im Dienst Gewesenen sollten sich gesondert aufstellen, Marten sich zu denen stellte, die im Dienst waren. Und als Oberleutnant v. Hofmann bei Marten Haussuchung hielt und zu ihm sagte: Marten, Sie kommen ja gar nicht in Betracht, Sie waren ja im Dienst, da sagte Marten: Jawohl, Herr Oberleutnant. Oberleutnant v. Hofmann nahm daher an, daß Marten im Dienst war. Es besteht für mich kein Zweifel, daß Marten und Hickel gemeinschaftlich den Rittmeister erschossen haben. Meine Herren, wir sind noch unter der alten Bestimmung aufgewachsen, wonach ein Angeklagter nicht verurteilt werden konnte, wenn ihm nicht durch zwei klassische Zeugen die Tat bewiesen wurde. Nach der neuen Bestimmung kann der Richter auf Grund der freien Beweiswürdigung urteilen. Wenn Sie also auf Grund der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt sind, die Angeklagten haben die Tat begangen, dann sind Sie verpflichtet, die Angeklagten zu verurteilen. Ich komme nun auf die rechtliche Seite der Frage und muß wiederholen, was ich in der vorigen Verhandlung vor dem Oberkriegsgericht gesagt habe. Angesichts des Grundsatzes in dubio pro reo muß man die niedere Strafart wählen. Ich bin das vorige Mal von der Presse vollständig mißverstanden worden. Es ist mir vorgeworfen worden, daß ich über die Schuld der Angeklagten meine Zweifel hatte. Da ich aber eine Sühne des Verbrechens auf alle Fälle herbeiführen wollte, hätte ich den Antrag wegen Totschlages gestellt.

Ich erkläre, daß ich weder damals noch jetzt den geringsten Zweifel an der Schuld der Angeklagten habe. Ich habe trotz eifrigsten Nachdenkens meine Ansicht nicht um ein Atom geändert und bin auch heute noch der Überzeugung, daß hier nicht Mord, sondern Totschlag vorliegt. Ich bin der Überzeugung, Marten hat den Entschluß gefaßt, den Rittmeister zu töten, als er den Stumbries traf. In diesem Augenblicke geriet er wieder in Wut, da ihn der Rittmeister am Sonnabend in der Reitbahn arg beleidigt hatte. Der Vertreter der Anklage berief sich auf Liszt, Berner und andere Rechtslehrer, die auch der Ansicht seien, daß, wenn jemand plötzlich in der Wut den Entschluß faßt, einen Menschen zu töten, sich eine Waffe holt und die Tötung begeht, nur Totschlag vorliegt. Dieselbe Ansicht ist auch in einem Artikel der Ärztlichen Rundschau zum Ausdruck gebracht worden. Auch der Totschläger kann sich seine Tat kurze Zeit überlegen, und, meine Herren, solange Sie nur den geringsten Zweifel haben, daß Marten nicht mit voller Überlegung gehandelt hat, dann ist es Ihre Pflicht, nicht auf Mord, sondern auf Totschlag zu erkennen. Ich bin nicht der Meinung, daß Hickel und Marten den Mord vor langer Zeit verabredet haben. Hickel hat sich meiner Meinung nach dadurch, daß er Wache stand, bzw. Marten deckte, der Beihilfe schuldig gemacht. Das Gesetz gestattet bei Totschlag mildernde Umstände. Allein angesichts der Ungeheuerlichkeit der Tat kann von mildernden Umständen keine Rede sein. Auch die Trunkenheit des Marten kann nicht mildernd in Betracht kommen. Die Angeklagten sind außerdem wegen Meuterei zu bestrafen. In idealer Konkurrenz mit § 212 des Bürgerlichen Strafgesetzbuches steht § 97 des Militärstrafgesetzbuchs, der Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren androht, wenn ein Soldat einen Vorgesetzten vorsätzlich mit der Waffe verletzt, so daß der Tod eintritt. Schon im Interesse der Disziplin ist eine schwere Strafe geboten. Ich beantrage gegen Marten, der bereits mit einem Jahr Gefängnis wegen Fahnenflucht bestraft ist, eine Zusatzstrafe von 12 Jahren 6 Monaten Zuchthaus, außerdem Ausstoßung aus dem Heere, Degradation, Versetzung in die 2. Soldatenklasse und 3 Jahre Ehrverlust. Der Umstand, daß Marten bereits zur Degradation verurteilt worden ist, kann hier nicht in Betracht kommen. Das Gesetz schreibt eben bei diesem Verbrechen die Degradation vor. Ich beantrage, den Angeklagten Hickel zu verurteilen wegen Beihilfe zum Totschlag zu 5 Jahren Zuchthaus, Ausstoßung aus dem Heere, Degradation, Versetzung in die 2. Klasse des Soldatenstandes und 3 Jahren Ehrverlust.

Verteidiger Rechtsanwalt Burchard (Insterburg) führte aus: Meine Herren, ich stimme dem Herrn Vertreter der Anklage bei, daß dieser Prozeß weit über die Grenzen Deutschlands das größte Aufsehen erregt hat. Viel wichtiger als dieses Interesse ist aber das Interesse, das der hohe Gerichtshof der Sache zuwendet. Ich erinnere daran, welche furchtbare Aufregung die Ermordung des Rittmeisters überall, ganz besonders aber in der 4. Schwadron hervorgerufen hat. Die Schwadron mußte sofort mehrere Tage lang antreten, und es wurde gesagt, die Tat ist ein Schandfleck für die 4. Schwadron, jeder einzelne hat die Pflicht, nach Kräften dazu beizutragen, daß der Täter so bald als möglich ermittelt wird. Es ist daher kein Wunder, wenn allerlei Vermutungen auftauchten und alle möglichen Gespräche geführt wurden. Jeder wollte etwas wissen, etwas gesehen oder gehört haben. Da trat Skopeck mit seiner Wahrnehmung hervor, die von Baranowski in gewissem Sinne unterstützt wurde. Die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen ist bereits mehrfach Gegenstand der Kritik gewesen. Das Kriegsgericht der 2. Division hat diesen Mann einstimmig für unglaubwürdig erachtet und ihn deshalb nicht vereidigt. Aber auch in der diesmaligen Verhandlung muß es jedem klar geworden sein, daß auf das Zeugnis dieses Menschen nicht ein Urteil über Leben und Tod herbeigeführt werden kann. Die diesmalige Verhandlung hat aber auch ergeben, daß die angeblichen Wahrnehmungen des Baranowski sehr zweifelhafter Natur sind. Wir haben von Herrn Rittmeister Ewers gehört, daß Baranowski ihm etwas anderes gesagt hat, als Herrn Gerichtsrat Lüdicke, so daß Herr Rittmeister Ewers bei der Vernehmung eingreifen mußte. Ich erinnere ferner daran, daß Baranowski, der mit vollster Bestimmtheit behauptete, er habe einen Mann mit schwarzem Schnurrbart gesehen, den dunkelbraunen Schnurrbart, den sich Hickel in der vergangenen Woche bei der Lokalbesichtigung angesteckt hatte, für einen schwarzen gehalten hat. Es ist sehr bedauerlich, daß über die ersten Vernehmungen kein Protokoll geführt wurde. Deshalb ist es nicht festzustellen, was von allen Zeugen damals gesagt worden ist. Ein Mangel in der Gesetzgebung ist es auch, daß der Kriegsgerichtsrat, der die erste Untersuchung vorzunehmen hat, die Anklage erhebt und sie in erster Instanz vertritt. Ich will nicht den leisesten Vorwurf gegen jemand erheben, ich bin aber der Meinung, auch ein Kriegsgerichtsrat ist nur ein Mensch, und auch ein solcher ist schwer von seiner einmal gefaßten Meinung abzubringen. Vom Richter, der den Angeklagten zu vernehmen hat, verlangt das Gesetz alle möglichen Kautelen. Er muß zwei Examina gemacht haben und auch in praktischer Hinsicht Befähigung zum Richteramt haben.

Er darf niemanden ohne Beisein des Protokollführers vernehmen. Anders ist es bei einem Polizeibeamten. Dieser vernimmt die Leute nach eigenem Ermessen, für ihn gibt es keine Vorschriften; er hat nicht notwendig, einen Protokollführer herbeizuziehen oder überhaupt ein Protokoll aufzunehmen. Daher erklären sich die Widersprüche der Zeugen, die von Kriminalkommissar v. Bäckmann vernommen wurden. Der Herr Vertreter der Anklage hat sich seine Aufgabe etwas leicht gemacht. Er zog den Kreis, wie in Goethes Faust, um die beiden Angeklagten und sagte, Zivilpersonen können es nicht gewesen sein, folglich bleibt der Verdacht auf der 4. Schwadron sitzen, und von dieser können nur Marten und Hickel in Betracht kommen. Allein es ist doch nicht außer acht zu lassen, daß der Rittmeister unter der Zivilbevölkerung viele Feinde hatte. Ich erinnere nur an die Vorgänge in Stallupönen. Als Wachtmeister Marten und Wachtmeister Philipp den Rittmeister fragten, ob sie in der 4. Schwadron suchen sollten, sagte der Rittmeister: In der 4. Schwadron brauchen Sie nicht zu suchen, meine Leute sind mir sämtlich treu ergeben, ich vermute, daß es Zivilpersonen waren. Und, meine Herren, wenn der Herr Rittmeister noch lebte, wäre es alsdann ausgeschlossen, daß er hier hinträte und sagte: Nein, meine Herren, Angehörige meiner Schwadron sind die Täter nicht gewesen. Nun sagt der Herr Vertreter der Anklage, Zivilpersonen können es nicht gewesen sein, denn Skopeck hat zwei Leute mit steifen Militärmützen an der Bandentür stehen sehen. Es ist aber doch auch nicht unmöglich, daß sich Zivilpersonen steife Militärmützen aufgesetzt haben. Daß ein so junger Mensch wie Marten sich zu einem solch furchtbaren Verbrechen entschlossen haben kann, weil mehrere Jahre vorher der Rittmeister mit seinem Vater Differenzen gehabt hat, ist doch nicht anzunehmen. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß Rittmeister v. Krosigk den Marten sehr frühzeitig zum Unteroffizier befördert, ihn nach Berlin auf die Telegraphenschule geschickt und, obwohl er der jüngste Unteroffizier war, ihm eine Rekrutenabteilung zur Ausbildung übergeben hat. Das spricht doch wahrlich dafür, daß der Rittmeister Marten sehr zugetan war und daß er mit ihm auch dienstlich sehr zufrieden war. Er hat dies auch mehrfach dem alten Wachtmeister Marten gegenüber zum Ausdruck gebracht. Rittmeister v. Krosigk, der mit Leib und Seele Soldat war, machte jedenfalls keinen Unterschied schied zwischen dem Soldaten und dem Menschen Marten, zumal er mit Marten außer Dienst nichts zu tun hatte. Aber auch Marten hat mehrfach bewiesen, daß er sich dem Rittmeister zu Danke verpflichtet fühlte. Ich erinnere an seine Äußerung in Berlin, als er aufgefordert wurde, bei den Gardeulanen zu kapitulieren. Der Vorgang in der Reitbahn vom 19. Januar ist, wie wir gehört haben, keineswegs ein außergewöhnlicher. An dem Vorgang vom 21. hatte der Rittmeister keine Schuld. Wir haben gehört, daß Oberst v. Winterfeld Marten den Befehl gab, vom Pferde zu steigen, und einem anderen Unteroffizier befahl, das Pferd vorzureiten. Daß Marten die Äußerung: „Der Hund muß heute noch Farbe bekennen“, nur auf sein Pferd bezogen hat, ist doch hinreichend erwiesen. Aber auch die Begegnung Martens mit Bartuleit und Weber auf dem Korridor kann ihn nicht in Verdacht bringen. Einmal wäre es Marten ein leichtes gewesen, sich zu verbergen, so daß er nicht gesehen werden konnte, andererseits ist noch gar nicht bewiesen, daß, als Marten dort getroffen wurde, der betreffende Karabiner noch auf dem Korridor gestanden hat. Wann der Karabiner von seinem Standort verschwunden ist, konnte nicht festgestellt werden. Im übrigen hätte Marten auch mit Leichtigkeit einen Karabiner auf viel bequemere Art erlangen können. Es standen ja Karabiner in der Kaserne in Hülle und Fülle. Nun wird gesagt, sagt, Marten habe sich verdächtig gemacht, weil er, obwohl er von dem Morde bereits Kenntnis hatte, mehrmals fragte, ob es denn wirklich wahr wäre, und weil er zu Stumbries mit lächelnder Miene sagte, als dieser ihm die Nachricht brachte: Mensch, du bist wohl verrückt. Stumbries, der einen sehr glaubhaften Eindruck macht, hat aber bekundet, daß das Lächeln des Marten nur der Ausdruck des Unglaubens dieser ungeheuerlichen Nachricht war. Wenn Marten zu dem Vizewachtmeister Schulz, als dieser ihm die Nachricht erzählte, gesagt hat: Ist es denn wahr? so hat er damit doch nicht ausgedrückt, daß er es noch nicht wußte, sondern nur, daß er noch immer nicht daran glauben wollte. Ein ähnliches Verhalten hat Marten Bunkus gegenüber beobachtet. Man macht Marten Vorwürfe, daß er, als er von der Ermordung des Rittmeisters gehört hat, nicht sofort in die Reitbahn gelaufen ist. Der Zeuge Bouillon hat nun bekundet, daß er zunächst in die Kantine und dann erst in die Reitbahn gelaufen ist. Auch Stumbries rief zunächst einen Befehl aus und lief erst dann in die Reitbahn. Ich habe die Überzeugung, das Material, das gegen Marten und Hickel hier zusammengetragen worden ist, hätte in noch viel größerem Maße gegen Bunkus und Schiedat zusammengetragen werden können. Ich erinnere Sie, meine Herren Richter, an die verschiedenen Prozesse, in denen der Angeklagte verurteilt wurde, während es sich später herausstellte, daß die Richter sich geirrt hatten und ein anderer der Schuldige war. Ich bin der Meinung, wo soviel Zweifel vorhanden sind, wie hier, wo soviel Spuren nach einer anderen Richtung führen, können Sie unmöglich einen bisher unbestraften anständigen Menschen auf Grund dieses Beweismaterials zum Tode verurteilen. Wenn Sie den Angeklagten freisprechen, dann sprechen Sie noch keineswegs aus, daß verschiedene Zeugen hier Meineide geschworen haben. Es kann alles, was die Zeugen hier gesagt haben, richtig sein, und dennoch kann der Täter ein anderer sein. Solange Sie den geringsten Zweifel in dieser Beziehung haben, dürfen Sie die Angeklagten nicht verurteilen. Ich bitte Sie dringend, meine Herren Richter, sprechen Sie die Angeklagten frei.

Verhandlungsführer: Marten, haben Sie noch etwas auszuführen? Sie haben das letzte Wort. Marten trat vor und sprach mit lauter und fester, aber weinender Stimme: Ich bedauere, daß der Herr Vertreter der Anklage beantragt hat, mich und meinen Schwager zu verurteilen, obwohl ich gänzlich unschuldig bin. Ich bekenne vor Gott und der ganzen deutschen Nation, daß mein Gewissen rein ist. Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich vollständig unschuldig bin. Ich wiederhole diesen Schwur, so wahr ein Gott im Himmel lebt. Von dem Herrn Untersuchungsrichter ist mir gesagt worden, ich solle ein offenes Geständnis ablegen, damit ich wenigstens der Gnade Sr. Majestät des Kaisers empfohlen werden könne. Hoher Gerichtshof, wie kann ich denn ein Geständnis ablegen, wenn ich nichts verbrochen habe. Gott ist mein Zeuge, daß ich den Herrn Rittmeister nicht erschossen habe. Ich würde mich schämen, die Gnade meines Kaisers Wilhelm anzurufen, wenn mein Gewissen nicht rein wäre. Ich bin ebenso wie mein Vater mit Leib und Seele Soldat. Ich habe mich stets anständig geführt und bin niemals auf den Gedanken gekommen, meinen Namen durch eine schlechte Handlung zu beflecken. Ich habe die Überzeugung, der hohe Gerichtshof wird einen Unschuldigen nicht verurteilen.

Verteidiger R.-A. Horn (für Hickel): Meine Herren Richter, ich kann sehr kurz sein, da ich auf Grund des hier vorgebrachten Beweismaterials eine Verurteilung für unmöglich halte. Die Zeitangaben, auf Grund deren gegen Hickel das Beweismaterial zusammengetragen worden ist, sind von sämtlichen Zeugen nur schätzungsweise angegeben worden. Wie leicht durch solche Zeitangaben Irrtümer entstehen können, ist allgemein bekannt. Im übrigen haben Bunkus und Schiedat mit vollster Bestimmtheit behauptet, daß Hickel 10 Minuten, ehe Gefreiter Bandilla die Nachricht von dem Morde in den Stall brachte, bei ihnen war. Damit ist wohl unwiderleglich der Beweis dafür erbracht, daß Hickel nicht an der Bandentür gestanden haben kann. Mein Herr Mitverteidiger hat bereits auf die unsichere Aussage des Baranowski hingewiesen. Ich betone nochmals, daß die Behauptung Baranowskis, der Mann an der Bandentür habe einen schwarzen Schnurrbart gehabt, durch das Experiment mit Hickel vollständig widerlegt ist. Es darf nun auch nicht außer acht gelassen werden, daß schon am Sonnabend vor dem Morde die Bandentür mehrfach von Unbefugten geöffnet worden war, und daß es dem Rittmeister, der darüber sehr aufgeregt war, nicht gelang, die Leute festzustellen. Für Hickel lag doch aber auch nicht der geringste Beweggrund zu einer solch furchtbaren Tat vor. Da der Beweis gegen Marten auf keinerlei Weise geführt ist, so kann doch der Umstand, daß Hickel der Schwager Martens ist, nicht als Beweggrund gelten. Der Umstand, daß Hickel ein paarmal vom Rittmeister getadelt worden ist, weil er ihn beim Reiten nicht angesehen habe, kann doch auch nicht als Beweggrund angeführt werden. Es ist absolut nicht anzunehmen, daß Hickel, der seit einigen Monaten in glücklichster Ehe lebte, dessen Frau sich im hochschwangeren Zustande befand, ein Mann, der 10 Jahre gedient und bereits Anspruch auf den Zivilversorgungsschein besaß, sich seinem Schwager zuliebe zu einer so furchtbaren Tat entschlossen haben soll. Angesichts des Umstandes, daß es durchaus nicht zu verkennen ist, daß Spuren von den Tätern nach einer ganz anderen Seite hinlaufen, erwarte ich mit voller Zuversicht, daß der hohe Gerichtshof den Hickel freisprechen wird.

Verhandlungsführer: Hickel, Sie haben das letzte Wort. Hickel: Ich kann nur noch einmal versichern, daß ich vollständig unschuldig bin und mit Sicherheit meine Freisprechung erwarte.

Verteidiger Rechtsanwalt Burchard bemerkte: Es sei nicht angängig, Hickel freizusprechen und Marten zu verurteilen. Wenn der Gerichtshof Hickel für schuldlos halte, dann müsse auch Marten freigesprochen werden, denn es sei alsdann nicht der leiseste Beweis erbracht, wer Marten Hilfe geleistet haben soll.

Der Gerichtshof beriet nur etwa 1 1/4 Stunden. Der Verhandlungsführer, Oberkriegsgerichtsrat Scheer verkündete folgendes Urteil: Der Gerichtshof hat die Berufung, die von dem Gerichtsherrn gegen das freisprechende Urteil des Kriegsgerichts der zweiten Division eingelegt worden ist, verworfen. Danach sind beide Angeklagte freigesprochen. Das Gericht ist der Ansicht, daß gegen die Angeklagten ein starker Verdacht vorliegt. Ganz besonders ist der Gerichtshof der Ansicht, daß das Beweismaterial gegen Marten ein erhebliches ist. So ist ganz besonders die Art, wie Marten ten von Bartuleit und Weber auf dem Korridor in der Nähe des Karabiners, aus dem der tödliche Schuß fiel, angetroffen wurde, sowie der Umstand, daß er seinen Verbleib zur Zeit des Mordes nicht nachweisen konnte, als belastend anzusehen. Hickel hat sich dadurch verdächtig gemacht, daß er kurze Zeit vor dem Morde mit Marten zusammen gewesen ist, und daß ihn die Dragoner, die sehr ausführlich vernommen worden sind, nicht im Stalle gesehen haben. Andererseits ist aber doch nachgewiesen, daß Hickel im Stalle war, nur über die Dauer seines Aufenthaltes besteht Zweifel. Sind aber die Angaben der Zeugen Bunkus und Schiedat wahr, dann kann Hickel nicht der Mann gewesen sein, der von Baranowski an der Bandentür gesehen wurde. Der Gerichtshof hat aber auch in Erwägung gezogen, daß der Groll, den die Familie Martens gegen den Rittmeister v. Krosigk haben konnte, bis in das Jahr 1898 zurückdatiert, und daß, wenn deshalb Marten und Hickel etwas gegen den Rittmeister hätten unternehmen wollen, sie das viel früher getan haben würden. Es ist andernteils erwogen worden, daß der Rittmeister mit Marten dienstlich sehr zufrieden war, daß er ihn zeitig zum Unteroffizier beförderte, ihn nach Berlin auf die Telegraphenschule schickte und ihm, obwohl er der jüngste Unteroffizier war, eine Rekrutenabteilung zur Ausbildung gab, mit der der Rittmeister so zufrieden war, daß er ihm den längsten Urlaub laub bewilligte. Auch Hickel war bei dem Rittmeister als tüchtiger Quartiermeister beliebt. Der Gerichtshof hat daher die Verdachtsgründe, die gegen die Angeklagten vorliegen, nicht für hinreichend erachtet, um zu einer Verurteilung zu kommen. Es ist deshalb, wie geschehen, erkannt worden.

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Das spiritistische Medium Anna Rothe

Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem die Naturwissenschaften ungeheure Fortschritte gemacht haben. Wenn man das Volksleben aber näher betrachtet, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß wir noch immer stark im Mittelalter stecken. Der Aberglaube ist noch in einem Maße in weiten Volkskreisen verbreitet, wie man es nicht für möglich halten sollte. In der deutschen Reichshauptstadt, in der „Metropole der Intelligenz“ herrscht selbst in gebildeten Kreisen ein Aberglaube, der lebhaft an das Mittelalter. erinnert. In fast allen größeren Gerichtsverhandlungen spielen „kluge Frauen“, die aus dem Eiweiß, dem Kaffeegrund, aus Spielkarten, Bilderkarten, Spiritusflammen und aus den Handlinien die Zukunft enthüllen, eine Rolle. Es gibt in Berlin eine Anzahl Kartenlegerinnen, die eine so große Kundschaft, selbst aus den besten Gesellschaftskreisen, haben, daß, wenn man überhaupt empfangen werden will, man sich am Tage vorher telephonisch oder schriftlich anmelden muß. In den elegantesten Equipagen und Automobilen kommen die feinsten Damen, zum Teil auch Herren bei diesen „Sybillen“ vorgefahren, um sich gegen Bezahlung die Zukunft enthüllen zu lassen. Und nicht minder ist der Spiritismus verbreitet. Vor etwa 20 Jahren machte sich im Dorfe Resau bei Werder, Kreis Potsdam, ein siebzehnjähriger Bauernbursche den Scherz, in der Abenddämmerung mit Kartoffeln, Bratpfannen, Tellern, Gläsern usw. zu werfen. Da der junge Mann diesen Scherz allabendlich wiederholte und die Wurfgeschosse in einer Weise geflogen kamen, daß eine Erklärung der Ursache nicht zu erkennen war, bemächtigte sich der Dorfbewohner ein furchtbarer Schrecken. Es stand bei ihnen fest, daß es Spukgeister waren, die allabendlich ihr Wesen trieben. Am dritten Abend wurde die allgemeine Angst so groß, daß man beschloß, den Herrn Pfarrer zu ersuchen, sich in das Spukhaus zu bemühen. Der Pfarrer erschien mit einem Gebetbuch. Der erwähnte Bauernbursche, Karl Wolter war sein Name, ließ sich aber durch die Anwesenheit des Pfarrers nicht beirren. Er gefiel sich anscheinend in der Rolle, die Dorfbewohner und noch mehr die Dorfbewohnerinnen durch seine Fertigkeit im Bratpfannen- und Kartoffelwerfen in Angst zu versetzen. Als der Pfarrer im Spukhause erschien, da schliefen anscheinend die Spukgeister noch. Sehr bald begannen sie aber zu arbeiten. Teller, Gläser, Kartoffeln kamen geflogen; es blieb rätselhaft, woher alle diese Gegenstände kamen. Da plötzlich sauste eine Bratpfanne durch die Lüfte und traf den Herrn Pfarrer in ziemlich heftiger Weise in den Rücken. Der Pfarrer wurde selbst ein wenig ängstlich: „Liebe Gemeinde, sagte der Geistliche, solchen Mächten gegenüber bleibt uns nichts weiter übrig als zu beten.“

Da der Pfarrer gegen den Spuk nichts auszurichten vermochte, so wandten sich die geängstigten Dorfbewohner an die Polizei, denn es hatte ganz den Anschein, als sei der Teufel in leibhaftiger Gestalt im Dorfe erschienen und treibe in den Abendstunden die schlimmsten Allotria. Da faßte die Gendarmerie im Spukhause Posto. Dieser realen Macht gelang es sehr bald, festzustellen, daß der fingerfertige Bauernjunge Karl Wolter die Wurfgeschosse entsende. Die Gendarmen nahmen den jungen Mann fest, und der Spuk hatte ein Ende. Karl Wolter hatte sich im Januar 1889 vor dem Schöffengericht in Werder wegen groben Unfugs zu verantworten. Er wurde von dem jetzigen Berliner Justizrat Dr. Bieber, der damals noch Referendar war, verteidigt und wegen groben Unfugs und vorsätzlicher Sachbeschädigung zu einigen Wochen Gefängnis verurteilt. Im März 1889 kam die Angelegenheit infolge eingelegter Berufung vor der Potsdamer Strafkammer zur nochmaligen Verhandlung. Als die Großmama des schalkhaften Bauernburschen, in deren Hause der Spuk vor sich gegangen war, in Potsdam vor den Zeugentisch trat, begann eine auf diesem liegende Bratpfanne, jedenfalls infolge einer Rüttelung des Tisches, sich zu bewegen. „Et spoikt, et spoikt,“ rief die alte Frau unter allgemeiner Heiterkeit im Gerichtssaal. Der Vorsitzende hatte alle Mühe, die alte Frau zu beruhigen. Die Strafkammer verwarf die Berufung und auch das Kammergericht die deshalb eingelegte Revision. Nach Beendigung dieser Prozedur wurde Karl Wolter von dem Kgl. Hofzauberkünstler Rösner engagiert. Rösner trat mit dem schalkhaften Bauernburschen im Berliner Wintergarten auf. Das Engagement Wolters bei Rösner war aber nur von kurzer Dauer. Wie man hörte, eignete sich Karl Wolter doch nicht zum Künstler.

Einige Jahre später wurde vom Schöffengericht des Amtsgerichts Berlin I Frau Valeska Töpffer, eins der „berühmtesten“ Medien wegen Betruges zu 1 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt. Die fünfte Straf- (Berufungs-) Kammer des Landgerichts Berlin I setzte die Strafe auf 6 Monate herab. Justizrat Wronker, der die Frau verteidigte, bemerkte: Wenn ich bei einem Taschenspieler drei Mark Entree zahle und dieser, obwohl er laut öffentlicher Ankündigung es versprochen, nichts Übernatürliches vorführt, so kann ich mich doch unmöglich im Sinne des § 263 des Strafgesetzbuches betrogen fühlen.

Im Jahre 1895 hatte sich eine Anzahl sehr angesehener Bürger von Düsseldorf, unter diesen mehrere höhere Offiziere a.D. zu spirististischen Sitzungen zusammengefunden. Es wurde proklamiert, daß sie unter Ehrenwort sitzen, d.h. sämtliche Anwesende hatten sich auf Ehrenwort verpflichtet, keinerlei Humbug zu treiben und nichts zu unternehmen, was als ein Vorgreifen der zu zitierenden Geister bezeichnet werden könnte. In diese Gesellschaft war auch ein junger Referendar, der jetzige Schriftsteller Dr. Hans Heinz Ewers eingeführt. Dieser praktizierte eines Abends seinem Nachbar die Blüte eines Tausendmarkscheins in die linke Rocktasche. Dies Manöver wurde entdeckt und der junge Referendar mit Beleidigungen überhäuft. Dr. Ewers forderte die Herren zum Zweikampf. Die Forderungen wurden sämtlich mit dem Bemerken abgelehnt: Dr. Ewers sei nicht satisfaktionsfähig, da er sein Ehrenwort gebrochen habe. Das Militär-Ehrengericht entschied jedoch, daß der Zweikampf stattfinden müsse. Die Mitglieder des militärischen Ehrengerichts wurden aus Anlaß ihrer Entscheidung beleidigt. Es kam infolgedessen Ende Oktober 1896 vor der Strafkammer in Düsseldorf zu einem ausgedehnten Strafprozeß wegen Beleidigung und Herausforderung zum Zweikampf.

Im Jahre 1901 wurde die Schöneberger und Berliner Polizei benachrichtigt: bei einer Frau Anna Rothe in Schöneberg werden spiritistische Sitzungen abgehalten, bei denen ein Eintrittsgeld von 2 und 3 Mark erhoben werde. Es würden in den Sitzungen Geistererscheinungen, Tischrücken, Blumenapporte und andere dere derartige Dinge in Szene gesetzt. Der Schöneberger Kriminalkommissar Leonhardt und der Berliner Kriminalkommissar v. Kracht verschafften sich mit der Polizeiagentin Fräulein Binswanger Zutritt zu den Sitzungen. Eines Abends, im Dezember 1901, gelang es den Kriminalkommissaren, das Medium zu entlarven und zur Haft zu bringen. Frau Rothe hatte sich im März 1903 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin II wegen Betruges zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Gartz. Die öffentliche Anklage vertrat Staatsanwalt Friedheim. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Schwindt und Rechtsanwalt Dr. Willy Thiele. Die Verhandlung, die eine volle Woche die ganze Kulturwelt in Spannung hielt, lieferte den Beweis, daß die Zahl der gläubigen Spiritisten eine sehr große ist und daß selbst Männer der Wissenschaft, die hohe Staatsstellungen bekleiden, zu ihnen gehören. Interessant war es, zu beobachten, mit welcher Überlegenheit, ja, mit welcher mitleidigen Verachtung die als Zeugen erschienenen Spiritisten auf die „Ungläubigen“, d.h. auf diejenigen Erdenbürger, die an die spiritistischen Wunderdinge nicht glauben, herabschauten. Die Anklage war wegen 61 vollendeter und 9 versuchter Betrugsfälle erhoben. Die angeklagte Frau Anna Rothe, geborene Johl, war 1850 in Altenburg geboren. Ihr Gatte war Kesselschmied. Sie war von ziemlich großer, schlanker Figur. Ihre großen Augen hatten ein unheimliches Feuer; ihre schmalen Lippen waren zusammengekniffen, ihre Finger bewegten sich in nervöser Unruhe auf der Einfriedigung des Anklageraumes. Im übrigen bot diese Frau ein Bild der Armseligkeit. Außer den unheimlich stechenden, außergewöhnlich großen Augen war nichts Interessantes an ihr zu beobachten. Sie bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Vor etwa 12 Jahren sei der Bräutigam ihrer Tochter gestorben. Nachdem dieser schon lange beerdigt war, habe sie ihn in der gewohnten Weise in ihrer Wohnung auf dem Sofa sitzen sehen; sie konnte sich auch mit ihm unterhalten. Schon als Mädchen von zehn Jahren sah sie Personen, die andere nicht sehen könnten. Als sie das Aussehen dieser Personen schilderte, wurde ihr gesagt, auf welche bereits verstorbenen Personen die Schilderung paßte. Sie sei infolgedessen von den Spiritisten als vorzügliches Medium erkannt worden. Sie habe auf Auffordern spiritistische Sitzungen abgehalten, diese aber niemals geschäftsmäßig betrieben. Seit etwa vier Jahren war ihr Impresario ein ehemaliger Volksschullehrer namens Jentsch. Mit diesem sei sie auf ausdrückliche Einladung in Paris, Zürich, Brüssel und vielen Orten Deutschlands gewesen und habe überall spiritistische Sitzungen abgehalten. Jentsch habe die große Korrespondenz erledigt und die Sitzungen vorbereitet. bereitet. Sie habe viele Jahre in Chemnitz gewohnt. Vor einigen Jahren sei sie von Chemnitz nach Schöneberg bei Berlin übergesiedelt.

Vors.: Wie kamen Sie darauf, Ihre Sitzungen mit Gebet zu eröffnen?

Angekl.: Das ganze Leben ist ja für mich ein Gebet.

Vors.: Woher hatten Sie die Gebete? Waren es freie Eingebungen oder hatten Sie sie auswendig gelernt?

Angekl.: Wenn ich bete, bete ich so, wie es mir einkommt. Meistens habe ich etwas aus dem Gesangbuch vorgelesen.

Vors.: Wann hörte in den Sitzungen Ihr Bewußtsein auf?

Angekl.: Sobald mir die Leute scharf ins Auge sahen, verfiel ich in den sogenannten Trancezustand.

Vors.: Wie erklären Sie sich das?

Angekl.: Das kann ich mir gar nicht erklären.

Vors.: Sie kamen schließlich wieder zum Bewußtsein, was geschah dann?

Angekl.: Ich habe alsdann gesprochen und bin darauf bald wieder in den Zustand der Bewußtlosigkeit verfallen.

Vors.: Bisweilen fanden im Anschluß an die Sitzungen auch gemeinschaftliche Essen statt?

Angekl.: Ja, bisweilen, ich habe mir das aber schließlich verbeten.

Vors.: Sie sollen auch während des Essens bisweilen das Bewußtsein verloren haben?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Im Trance sollen Sie Gespräche geführt haben. Durch Ihren Mund sollen die Geister Verstorbener gesprochen haben?

Angekl.: Das ist mir gesagt worden, ich weiß es nicht.

Vors.: Sie sollen Paul Flemming und Zwingli haben sprechen lassen, ganz besonders aber ein Kind, namens Friedchen?

Angekl.: Das wurde mir mitgeteilt.

Vors.: Hatten Sie gar kein Bewußtsein, daß Sie mit Friedchen in Verbindung gestanden haben?

Angekl.: Nein.

Vors.: Früher haben Sie angegeben, Sie hätten sich mit den Geistern Ihrer verstorbenen Kinder unterhalten?

Angekl.: Jawohl. Die Angeklagte beginnt zu weinen.

Vors.: Die erste Sitzung hat am 19. Oktober 1900 in Ihrer Wohnung in Schöneberg stattgefunden. Es sollen nur wenige Personen zugegen gewesen sein, die etwa insgesamt 130 Mark geopfert haben?

Angekl.: Ich habe mich darum nicht gekümmert.

Vors.: Die Sitzungen wurden schließlich sehr zahlreich reich besucht, es soll dabei ein erheblicher Betrag eingekommen sein?

Angekl.: Ich habe mich darum nicht gekümmert.

Als erster Zeuge wurde Kriminalkommissar Leonhardt vernommen: Am 19. November 1901 habe er zum ersten Male im dienstlichen Auftrage den Sitzungen der Angeklagten beigewohnt. Durch Vermittelung eines Bekannten habe er eine Einlaßkarte für drei Mark erhalten. Nach Betreten eines Vorraums, der etwas Auffälliges nicht bot, sei er in ein Nebenzimmer geführt worden, das fast vollständig ausgeräumt war. Nur ein mit einer Decke behangener ziemlich großer Tisch sei in der Stube gewesen. Um den Tisch standen Stühle, die bei seinem Eintritt fast sämtlich besetzt waren. Frau Rothe saß an einem Ende des Tisches in der Nähe des Fensters. Als weitere Gäste nicht erwartet wurden, begann die Sitzung, die von Jentsch mit einer geistlichen Ansprache eröffnet wurde. Alsdann wurde das Zimmer etwas dunkler. Während tiefe Stille herrschte, verfiel Frau Rothe in einen traumartigen Zustand, sie hielt dabei aber die Augen offen. Nach einer Weile kamen, anscheinend von der Decke, Blumen herabgeflogen. Er habe Frau Rothe scharf beobachtet und wahrgenommen, daß sie mit der linken Hand eine verdächtige Bewegung nach ihren Beinen machte. Einmal hatte sie auch eine Zitrone oder Apfelsine in der linken Hand. Er hatte bereits reits am ersten Abend die Überzeugung erlangt, daß Schwindel im Spiele war. Vors.: Erklärte nicht Jentsch, welche Intelligenzen aus Frau Rothe sprechen?

Zeuge: Jentsch sagte: Der Geist Paul Flemmings, Zwinglis und ganz besonders der Geist des Kindes Friedchen spreche aus Frau Rothe.

Das Friedchen sprach mit einer deutlichen Kinderstimme, aber – ebenso wie die Angeklagte selbst – mit einem ausgeprägten sächsischen Dialekt.

Vors.: Sächselten denn alle Geister, die aus der Angeklagten sprachen? Zeuge: Jawohl.

Auf Befragen der Verteidiger bemerkte der Zeuge: Er hatte die Überzeugung, daß die Angeklagte auch im Trancezustande bei vollem Bewußtsein war. Er beobachtete, daß die Angeklagte mit halb geöffneten Augen während ihres angeblichen Trancezustandes die Anwesenden genau musterte.

Vert.: R.-A. Dr. Thiele: Ist es dem Zeugen bekannt, daß auch hypnotisierte Personen, obwohl sie wirklich hypnotisiert sind, die Augen oftmals geöffnet halten? Zeuge: Ich war fest davon überzeugt, daß die Angeklagte genau die Zuschauer beobachtete.

Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Zu der Sitzung, in der wir die Entlarvung vornehmen wollten, hatten wir alle Mühe, Einlaß zu erhalten, es gelang aber schließlich doch. Die Sitzung fand im Zimmer mer des Jentsch statt. Ich suchte in die Nähe der Rothe zu kommen und setzte mich deshalb auf das Sofa. Ich hatte mich mit dem Kriminalkommissar v. Kracht verabredet, Frau Rothe zu entlarven, sobald sie Blumen produzieren sollte. Wir warteten deshalb den ersten Apport ab; es waren Blumen, die Frau Rothe einem uns gegenübersitzenden Berichterstatter überreichte. In diesem Augenblick sprang v. Kracht auf, rief „Halt“ und hielt der Angeklagten beide Hände fest. Ich eilte hinzu. Frau Rothe schien zunächst in Ohnmacht zu fallen, sie leistete aber schließlich ganz erheblichen Widerstand. Die Zuschauer nahmen zunächst für Frau Rothe Partei, sie mußten erst darauf hingewiesen werden, daß wir im Namen des Gesetzes handelten. Als die Männer aus dem Zimmer geschickt wurden und die Angeklagte von Fräulein Binswanger untersucht werden sollte, sträubte sie sich mit Händen und Füßen. Schließlich sah sie wohl ein, daß der Widerstand nutzlos sei, und nun wurden in ihrem Unterrock, den sie tütenartig um den Leib hatte, 157 Blumen, ferner Apfelsinen und Zitronen vorgefunden. Jentsch suchte uns vorzureden, daß die Blumen nicht bei der Rothe gewesen, sondern wahrscheinlich infolge des ungerechten Angriffs „materialisiert“ worden seien.

Vors.: Nun, Frau Rothe, was sagen Sie dazu?

Angekl.: Ich habe den Unterrock, den ich in Paris gekauft habe, so angezogen wie jeden anderen. Erst hieß es, ich habe eine Tasche im Unterrock, alsdann sollte er einen doppelten Boden gehabt haben. Man braucht doch nur den Rock anzusehen, um zu begreifen, daß es nicht möglich ist, so viele Blumen zu beherbergen.

Der nächste Zeuge, Kriminalkommissar v. Kracht, bestätigte die Bekundung des Vorzeugen und bemerkte: Bei der ersten Sitzung, der ich beiwohnte, hörte ich Klopftöne, durch welche angeblich die Geister ihre Annäherung ankündigen. Alsdann fiel die Rothe anscheinend in Trance. Sie gab zunächst eine allgemeine religiöse Darstellung, sprach von der Nächstenliebe und sagte: Die Menschen müßten sich von menschlichen Dingen abwenden und ihren Sinn auf überirdische Dinge richten. Um mich möglichst unverdächtig zu machen, gab ich selbst ein wirklich wahres Erlebnis zum besten. Ich erzählte, daß ich als Primaner eines Sonntags zum Gottesdienst im Dom war. Da war mir der Gedanke gekommen, welchen Eindruck es wohl machen würde, wenn jemand plötzlich eine Granate in die andächtige Menge werfen würde. Unmittelbar darauf fiel ein Schuß; ein junger Mann hatte auf den Geistlichen, der die Liturgie leitete, geschossen. Jentsch versetzte: „Das ist eine Willensübertragung.“ Alsdann hob sich ein paarmal der Tisch und Frau Rothe verfiel in Trance. Sie sagte plötzlich, sie sehe einen grünen Wald und darin einen alten Herrn mit graumeliertem Vollbart. Ich versetzte: mein verstorbener Vater hat einen graumelierten Vollbart getragen. Frau Rothe sagte weiter: Sie sehe etwas Blankes auf der Brust des Herrn, es scheinen drei Orden zu sein. Ich sagte: Mein Vater hat drei Ordensauszeichnungen besessen. Alsdann erschien plötzlich auf der rechten Seite der Rothe ein großer, schöner Tannenzweig, der eine ganz frische Bruchstelle hatte. Frau Rothe ging um den Tisch herum und sagte zu mir, indem sie mir den Zweig überreichte: „Ich danke dir, daß du dich in dieser feierlichen Stunde liebend mir genähert hast.“ Bald darauf holte sie Blumen anscheinend aus der Luft und sagte: Sie sehe die Figur eines Mannes, der sie segne. Kriminalkommissar v. Kracht bekundete im weiteren: ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß es höchste Zeit sei, dem Humbug ein Ende zu machen, um so mehr, da mir bekannt war, daß Frau Rothe schon einmal im Jahre 1884 entlarvt worden ist. Ich hatte als „Landwirt Naumann“ auch zur letzten Sitzung Zutritt erhalten. Als die Rothe plötzlich ein Büschel blühender Blumen zutage förderte und sie als Gruß eines verstorbenen Freundes dem anwesenden Berichterstatter Fließ überreichte, folgte die Katastrophe. Ich hielt der Frau Rothe beide Hände fest, damit nicht etwa eine günstige Gelegenheit benutzt werden konnte, um sämtliche Blumen auf einmal aus der vierten Dimension herauszuzaubern. Die Rothe fiel zunächst zu Boden, leistete aber alsdann mit erstaunlicher Kraft Widerstand. Das Publikum, insbesondere die anwesenden Damen, waren außer sich. Ich erhielt verschiedene Stöße und Püffe. Man fand bei der Rothe im Unterrock außer den 157 Blumen auch zwei außergewöhnlich große Apfelsinen. Jentsch rief mir mit dem Zeichen des Entsetzens zu: „Sie werden das Medium totschlagen, es befindet sich ja im Trance.“ Als alles nichts half, erinnerte sich die Rothe ihres in einer benachbarten Destillation sitzenden Ehemannes. Sie rief wiederholt „Vater, Vater!“ Als ich auf dem Polizeipräsidium zu Herrn Rothe sagte: Sie sehen doch, daß es sich um ganz gemeinen Schwindel handelt, versetzte er: „Ich bin sprachlos.“ Ich fragte: Wird denn Ihre Frau auch im Gefängnis Blumen apportieren? Warum nicht, erwiderte Herr Rothe. Sie hat aber keine Blumen apportiert, wohl nicht einmal ihren Verteidigern. Am folgenden Tage sagte Herr Rothe: Meine Frau hat sicher keine Blumen gehabt; es ist ihr ergangen wie einem geängstigten Tier, die Blumen sind ihr in der Todesangst herausgekommen. Als Frau Rothe auf dem Polizeipräsidium vernommen wurde, tat sie so als ob sie in Trancezustand verfallen würde. Neben mir stand ein Schutzmann, dessen Frau 10 Monate vorher verstorben war. Der Schutzmann trug einen Trauerflor um den Arm. Frau Rothe muß wohl den Trauring gesehen haben, denn sie sagte plötzlich: sie sehe eine weibliche Person. Als die Sitzung begann, in der Frau Rothe entlarvt wurde, fiel es mir auf, daß Frau Rothe einen auffallend dicken Leib hatte und sich recht vorsichtig niedersetzte. Ich sagte mir: Heute muß sie eine gehörige Portion Blumen bei sich haben.

Fräulein Biuswanger, die im Auftrage der Kriminalkommissare die Angeklagte untersuchte, bekundete: Als die Angeklagte festgehalten wurde, rief sie aus: „Faßt mich nicht an, laßt mich los, ich bin im Trance, es kann mein Tod sein.“ Die Angeklagte habe sich wie eine Wahnsinnige gewehrt; es habe wohl ein 20 Minuten währender Kampf mit ihr stattgefunden, bevor sie überwältigt war und ihres Oberkleides entledigt werden konnte. Die Angeklagte habe die Blumen durch den Schlitz ihres Kleides hervorgeholt.

Eine Frau Öhmichen bekundete als Zeugin: Die Angeklagte habe sie mit dem Geist ihres verstorbenen Ehemannes in Verbindung gebracht. Er habe ihr einen kleinen Tannenzweig überreicht. Sie sei überzeugt, daß der Zweig von ihrem Gatten war, denn Frau Rothe habe unmöglich wissen können, daß sie ihren Ehemann um einen Tannenzweig gebeten hatte. Ihr Ehemann habe ihr das auch bestätigt, als sie mit seinem Geiste in Verbindung trat. Er habe ihr auf ihre Frage geantwortet: „Die Naturgeister haben dir den Zweig gebracht, er ist von mir.“

Es erschienen darauf drei Blumenhändlerinnen, die auf dem Winterfeldplatz ihren Verkaufsstand hatten, als Zeuginnen. Die Angeklagte habe auch im Winter täglich Blumen und Tannenzweige gekauft. Sie war eine sehr gute Kundin. Sie habe einmal auf eine an sie gestellte Frage gesagt: Sie gebrauche die Blumen zur Grabesausschmückung.

Eine Frau Urban bekundete als Zeugin: Sie sei Spiritistin und bisweilen hellsehend. Frau Rothe habe Blumen mit sehr zarten Stielen aus der Luft gegriffen, ferner Zweige mit sehr dünnen Stielen, Apfelsinen und so weiter. Ihr (der Zeugin) Sohn, der schon seit seinem vierten Lebensjahre hellsehend sei, habe immer vorher angekündigt, wenn sich etwas entwickelte. Frau Rothe griff alsdann einfach in die Luft und hatte eine Blume in der Hand. Sie (Zeugin) sei auch bisweilen hellsehend, sie könne aber keine Blumen aus der Luft greifen.

Vors.: Welche Farben hatten denn die Blumen? Zeugin: Es waren weiße Rosen mit langen zarten Stielen, die unbedingt zerbrechen mußten, wenn man sie verbergen wollte. Frau Rothe gab mir einmal eine Blume in die Hand, und während ich diese meiner Nachbarin zeigte, wuchsen plötzlich noch zwei blaue Blümchen heraus. (Gelächter im Zuhörerraum.) Zeugin (zum Publikum): Sie brauchen darüber gar nicht zu lachen, es ist ganz gewiß wahr. Sachverständiger, Oberarzt Dr. Henneberg: Sind Sie überzeugt, daß bei Frau Rothe ein echter Trancezustand herrschte? Zeugin: Ganz gewiß. Frau Rothe könnte ohne Trance solch wunderbare Reden gar nicht halten, so großartig kann kein Pastor reden.

Gerichtsarzt Professor Dr. Puppe bekundete als Sachverständiger: Die Angeklagte sei eine hysterische Person. Es sei ihm (Sachv.) überraschend schnell gelungen, die Angeklagte zu hypnotisieren, er sei aber im Zweifel gewesen, ob es eine echte Hypnose war. Bei einer mit der Angeklagten abgehaltenen Sitzung habe sie auch Predigten gehalten, die sehr komisch wirkten. Sie sprach gewissermaßen vom hohen Kothurn herab, aber im sächsischen Dialekt und mit allen möglichen Sprachfehlern. Es sei ihm vollständig klar gewesen, daß es ein Opus der Frau Rothe und nicht eines höheren Geistes war. Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Thiele bemerkte der Sachverständige: Die Angeklagte sei nicht geisteskrank und sei sich höchstwahrscheinlich auch im Trancezustande ihres Handelns bewußt gewesen. Jedenfalls seien doch die Vorbereitungen zu den Sitzungen nicht im Trancezustande geschehen.

Im weiteren Verlaufe der Verhandlung wurde mitgeteilt, daß an den Sitzungen in der Wohnung der Frau Rothe teilgenommen haben: Fürstin Karatschka, eine Gräfin Moltke, Generalleutnant z.D.v. Zastrow und Hofprediger a.D. Stoecker.

Eine Anzahl Zeugen bekundeten, daß sie sofort die Überzeugung gewonnen, es handle sich um Humbug, so daß sie um das Eintrittsgeld betrogen wurden; eine sehr große Zahl Zeugen bekundeten dagegen: Sie seien der Überzeugung, daß Frau Rothe keinen Schwindel getrieben habe. Ein Zeuge, namens Groll, der vorgab, Medizin studiert zu haben, bekundete auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Die Blumen kamen von einer irdischen Existenz, aber woher kamen sie? Da kommt die Theorie von der Dematerialisation und Rematerialisation in Frage. Ich weiß bestimmt, daß Frau Rothe die Hände auf dem Tisch liegen hatte, und als sie sie öffnete, fiel ihr ein Strauß von Blumen mit Wurzeln aus den Händen. Dieses Experiment der Frau Rothe fand in einem Restaurant nach einer Sitzung statt. Das Lokal war beleuchtet, und Frau Rothe konnte absolut keine Vorbereitungen getroffen haben. Hofkapellmeister Tiedemann (Koburg) war Zeuge dieses Ereignisses.

Eine Frau Marie Müller bekundete: Nachdem der Trancezustand bei Frau Rothe eingetreten war, habe sie mit Hilfe ihres Schutzgeistes, des kleinen Friedchen, das sie auch bisweilen mit dem Kosenamen Medibumsel belegte, die Äußerungen der Geister wiedergegeben. In der Regel seien es in salbungsvollem Tone gesprochene religiöse Äußerungen gewesen. Beim Apport seien allerlei Nippsachen, Fingerhüte, Berloques und andere Dinge hervorgetreten. Frau Rothe habe gesagt: Das sind Muster, die aus dem Jenseits kommen.

Vors.: Haben Sie denn das geglaubt? Zeugin: Jawohl.

Vors.: Sie sind also der Meinung, daß im Jenseits auch Muster gemacht werden? Zeugin: Ich habe mich später überzeugt, daß man diese Sachen auch in Berlin für 50 Pfennig kaufen kann.

Ein anderer Zeuge sagte aus: die Rothe habe ihm seine Großmutter erscheinen lassen; er habe die Großmutter deutlich an der Statur erkannt. Eine Zeugin aus Breslau bekundete: In einer Sitzung seien 15 Geister in den verschiedensten Größen erschienen; sie seien sämtlich weiß gekleidet gewesen und haben geleuchtet; auch verbreiteten sie einen Phosphorgeruch. Die Gestalten seien aus einem Nebengemach gekommen, in welches weder die Rothe noch Jentsch jemals gekommen waren. Man hörte auch im Nebenzimmer sprechen. Eine Gestalt hatte ein Kind auf dem Arme; sie setzte sich nieder. In einer anderen Sitzung schwebte ein Geist über dem Haupte ihrer Schwester; der Geist war imstande, genaue Angaben über das Leben der Schwester zu machen. Dann sei in der Luft ein Myrtenzweig erschienen und habe sich ganz leise auf das Haupt der Schwester niedergesenkt. Nach dem Verschwinden der Geister habe sich ein Phosphorgeruch bemerkbar gemacht. Diesen Sitzungen haben hauptsächlich pensionierte Offiziere sowie Damen und Herren der Gesellschaft beigewohnt.

Rechtsanwalt und Notar Meyer (Lützen): Er habe die Rothe in Zwickau, wo sie wegen groben Unfugs verurteilt wurde, verteidigt. Er halte die Produktionen der Rothe für vollkommen echt. Er könne nicht begreifen, wie die materialistische Wissenschaft das Walten überirdischer Kräfte ableugnen könne.

Von großem Interesse war die Vernehmung des Präsidenten des Kassationsgerichts in Zürich, Georg Sulzer. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei zum Präsidenten des Kassationsgerichts gewählt und verwalte dies Amt seit sieben Jahren. 1899 sei die Rothe nach einem Vorort von Konstanz gekommen; er habe der dort abgehaltenen Sitzung als Gast beigewohnt. Frau Rothe sei von einem Damenkomiker untersucht worden. Schon bei der Ankunft der Rothe und des Jentsch sei deren Gepäck aufs genaueste untersucht worden. Er habe bei der Sitzung einen sehr günstigen Platz gehabt. Frau Rothe habe plötzlich eine Geisterstimme zu ihm sprechen lassen. Er habe deutlich erkannt, daß eine Verwandte von ihm etwas sagte, was ihn in Erstaunen setzen mußte, denn es traf wirklich zu. Es sei nämlich wahr, daß er sich längere Zeit vom christlichen Glauben abgewandt hatte und alsdann wieder zum Glauben zurückgekehrt war. Das konnte Frau Rothe unmöglich wissen. Der Geist, der aus ihr sprach, gab aber seiner Freude darüber Ausdruck. Alsdann sagte der Geist: du hast vor einiger Zeit für dienen Vater gebetet, das hat ihm wohlgetan. Er hatte tatsächlich für seinen Vater gebetet Hierauf habe sich ein Geist durch Klopfen angemeldet; die Klopftöne kamen mitten aus dem Tisch. Die Rothe sagte: Sie sehe einen Geist hinter mir stehen, so fuhr Präsident Sulzer fort. Durch Befragen wurde festgestellt, daß es der Geist meiner verstorbenen Frau war. Frau Rothe sagte: der Geist halte die rechte Hand auf seiner linken Schulter. Der Zeuge schildert alsdann die Apporte, die sehr zahlreich waren. Jeder Anwesende habe Blumen bekommen. Das Zimmer war ganz hell erleuchtet. Man konnte deutlich sehen, daß die Rothe die Blumen aus der Luft holte. Außer den Blumen kamen auch noch Bijouteriewaren. Etwa zwei Jahre später kamen die Rothe und Jentsch nach Zürich. Sie hielten auf meine Einladung mehrere Sitzungen in meiner Wohnung ab, denen auch Prof. A. Sellin beiwohnte. Frau Rothe sagte zwei anwesenden Damen, die sie absolut nicht kannte, daß sie ihre Kinder verloren hätten. Ja, sie kannte sogar die Namen der Kinder. Mein Sohn hatte eine vollständig frische Seerose, die bekanntlich sehr schnell verwelken, erhalten, die Frau Rothe aus der Luft gegriffen hatte. Eine Dame erhielt ein vollkommen taufrisches Blatt von Farrnkraut. Auch mehrere ganz frische Rosen wurden apportiert, und zwar Exemplare einer besonderen Art, deren Stil ganz und gar mit kleinen Dornen besetzt ist. Ich habe diese Rosen ganz genau betrachtet und festgestellt, daß auch nicht ein einziger Dorn verletzt war. Wenn die Rothe diese Blumen in ihren Kleidern verborgen gehabt hätte, dann wäre das unmöglich gewesen. Als ich später hörte, Frau Rothe habe die Blumen vorher in einem Blumenladen gekauft, da sagte ich mir: ich stehe vor einem Rätsel. Ich kann nur annehmen, daß Frau Rothe die Blumen in einem Doppelbewußtsein gekauft, sie zunächst dematerialisiert und alsdann rematerialisiert habe. In einer zweiten Sitzung hat meine verstorbene Frau durch den Mund der Frau Rothe zu meinem Sohn gesprochen. Meine Frau hieß Anna. Sie sagte: „Anna hieß ich, Anna hieß sie; sie ist nicht für dich bestimmt, schlage sie dir aus dem Kopf.“ Mein Sohn wurde bleich und gestand mir: er habe ein Verhältnis, das er sich aber nunmehr aus dem Kopf schlagen werde. Die Rothe und Jentsch wurden von dritten Personen wegen des Blumenkaufs zur Rede gestellt. Es wurde ihnen zur Antwort: Die Geister können nur den Astralleib der Rothe benutzen; sie könnten, da es sich nicht um Blumen handle, die auf der Wiese wachsen, diese doch nicht stehlen, sie müßten also gekauft und dematerialisiert werden.

Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Stammten die apportierten Seerosen nicht aus dem Züricher See? Zeuge: Nein, aber es ist festgestellt, daß sie aus einer Züricher Blumenhandlung stammten.

Dr. med. Langsdorf (Freiburg, Baden): Die Angeklagte hat einmal in meiner Privatwohnung in Gegenwart meiner erwachsenen Kinder eine Sitzung abgehalten. Als Frau Rothe sich im Trancezustand befand, hat sie genau das Aussehen meiner vor mehreren Jahren verstorbenen Tante beschrieben und genau all’ die kennzeichnenden Bewegungen nachgeahmt, die der Verstorbenen eigen waren. Alle Anwesenden waren aufs höchste überrascht. Meine Frau ließ durch das Medium an den Geist die Frage richten: Tante, kannst du mich nicht von meinem Rheumatismus befreien? Jawohl, antwortete der Geist durch den Mund des Mediums. Meine Frau hatte die Empfindung, als streiche ihr eine Hand mehrere Male von oben bis unten über den Arm. Der Schmerz war sofort beseitigt. Meine Frau sagte: Tante, hast du nicht ein kleines Andenken für mich. Der Geist erwiderte: Ja, das sollst du haben. In der blauen Hinterstube steht ein alter Nachttisch. In der rechten hinteren Ecke der obersten Schublade liegt eine alte goldene Kette, die sollst du haben. Die Kette, von deren Existenz niemand mand eine Ahnung hatte, ist an der bezeichneten Stelle tatsächlich gefunden worden. Ich habe an der Existenz unsterblicher Seelen nicht mehr zweifeln können. Der betagte Arzt sieht sich im Saale um und sagt: „Nun frage ich jeden Menschen in diesem Saale, wenn einem so etwas passiert, soll man dann noch nicht daran glauben? Ich habe das erhebende Gefühl in mir: Du bist unsterblich.“

Frau Blöhmel: Sie sei überzeugte Spiritistin. Sie habe „Schwester“ Rothe und „Bruder“ Jentsch veranlaßt, bei ihr eine Sitzung abzuhalten. Sie habe die Rothe in Tränen angetroffen. Frau Rothe habe gejammert: „Du lieber Gott, nimm mich doch bloß bald aus dieser Welt, die Welt will ja nichts mehr von der Wahrheit wissen.“ Die bei ihr abgehaltene Sitzung schilderte die Zeugin in den glänzendsten Farben.

Frau Gleiße, die auf Befragen des Vorsitzenden bemerkt: Sie sei hellsehend, sehe manches, was andere nicht sehen können, bekundete auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Frau Exzellenz v. Moltke aus Potsdam habe fast jeder Sitzung bei Frau Rothe beigewohnt. Sie wurde von der Angeklagten geduzt, „Schwester Anna“ genannt und sowohl beim Empfang als auch beim Abschied, wie alle Damen, von Frau Rothe geküßt.

Vert.: Kann die Zeugin noch Personen aus der Aristokratie nennen, die den Sitzungen beiwohnten? Zeugin: Eine Prinzeß Karaschka, mit der die Gräfin Moltke in lebhaftem brieflichem Verkehr stand, General v. Zastrow, Baronin v. Grünhof, ein Pastor, dessen Namen ich nicht weiß, einmal auch Hofprediger Stoecker, Gräfin Wachtmeister und die Mutter der Gräfin Moltke.

Redakteur Gerling bekundete: die Rothe pflegte, wenn sie Blumen aus der Luft griff, die Aufmerksamkeit zunächst dadurch abzulenken, daß sie die Hand demonstrativ in die Luft hob. Wenn dann alles gespannt nach dieser Gegend sah, warf sie, wie ich genau gesehen habe, mit der anderen Hand die Blumen mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit in die Luft und fing sie mit ausgestreckter Hand wieder auf. Ich habe ihr von meinen Beobachtungen nichts gesagt, denn ich hatte gar nicht die Absicht, sie zu entlarven, sondern wollte mich nur selbst über den Zusammenhang der Dinge aufklären. Eine solche Entlarvung ist ja überhaupt sehr schwer und sehr undankbar, insbesondere in Berliner spiritistischen Kreisen, diese glauben alles. Jeder, der ihnen sagt, daß sie einem Schwindel zum Opfer gefallen sind, wird von ihnen selbst als Schwindler gebrandmarkt, und zwar nicht in den sanftesten Ausdrücken. Bei einer Sitzung passierte der Rothe das Malheur, daß aus ihren Röcken eine Apfelsine fiel und unter das Sofa rollte. Ein Herr wollte sich danach bücken. Da sprang aber Jentsch hinzu und sagte: „Um Gottes willen, lassen Sie das, das Medium darf nicht gestört werden.“ Einmal apportierte die Rothe die Glieder einer Kette, die angeblich aus den ägyptischen Königsgräbern stammte, es war aber eine Kette, die man in einem Basar in der Leipziger Straße für 50 Pfennig kaufen kann. Medien sind eitel. Die Rothe wollte nicht nur ein Blumen –, sondern auch ein Schreibmedium sein. Sie ließ einen Geist auf ein Blatt schreiben: „Lieber Bruder, kämpfe für uns,“ d.h. also, ich sollte für sie Reklame machen. Die Schrift zeigte deutlich, daß sie von der Rothe unter dem Tisch geschrieben war. Ich halte die Rothe nicht für ein echtes Medium. Ich bin der Ansicht, Jentsch hat sie hypnotisiert und sie hat in der Hypnose gesprochen. Jentsch war der eigentliche Macher, er ging in den Sitzungen wie ein Raubvogel umher.

Vert. R.-A. Dr. Thiele: Kann denn jemand in einen solchen hypnotischen Zustand versetzt werden, der nicht das geringste Mediumistische an sich hat? Zeuge: 60 bis 80% aller Menschen kann man hypnotisieren. Man kann dem Menschen durch die Hypnose Befehle erteilen, die erst nach Stunden ausgeführt werden.

Dr. Spatzier bezeichnete die Rothe nicht als einwandfreies Medium. Er müsse aber sagen, es sei erstaunlich gewesen, daß ein zwei Zentner schwerer Tisch mit vier Auszugplatten sich dreimal hoch in die Höhe hob, und zwar ganz geräuschlos wie eine Feder. Er habe alsdann versucht, den Tisch in die Höhe zu heben, es sei ihm aber nicht möglich gewesen.

Fabrikant Otto Reinicke bekannte sich als überzeugter Spiritist. Sein 15jähriger Neffe habe sich als ganz vorzügliches Medium erwiesen. Mit Hilfe dieses Mediums seien unglaubliche Dinge geschehen. Er habe gesehen, wie ein Tisch durch die ganze Stube passierte, alsdann umgeworfen wurde, so daß die Beine nach oben kamen. Ein anderes Mal sei durch irgendeine „Intelligenz“ plötzlich das Gas angezündet worden. Ein anderes Mal seien seinem Neffen die Arme auf den Rücken gebunden worden. Ein Geist hatte alsdann befohlen, ein Taschentuch auf die Erde zu legen, dies sei dann durch die Luft geflogen. Einmal haben die Geister seinen Neffen mit einer 60 Meter langen Waschleine umwickelt. Der junge Mann wurde gebunden wie ein Rollschinken, so daß er stöhnte. In demselben Augenblick stand er wieder vor den Geistern. Er habe sich hierauf die Rothe aus Chemnitz kommen lassen. Er wollte sich klar darüber werden, ob es etwas Übernatürliches gebe. Es habe oftmals bei ihm geklopft; die Tür sei von unsichtbarer Hand geöffnet worden und wieder zugegangen. Ein Briefträger, der hellsehend sei, habe ihm gesagt: er sehe jedesmal, sobald sich die Tür öffne, einen Matrosen trosen hereinkommen. Er habe einen Bruder, der seit 1885 verschollen sei. Er habe dem Briefträger die Photographie des Bruders gezeigt. Der Briefträger habe gesagt: So sieht der Matrose aus, den ich zur Tür hereinkommen sehe. Die Rothe habe er vom Bahnhof abgeholt und aufs genaueste überwacht; die Apporte gelangen vortrefflich.

Magnetiseur Rosen: Als ich das erstemal zu Frau Rothe kam, sagte sie: Kommt nicht noch der andere Herr herein? Auf meine Antwort, daß niemand bei mir sei, versetzte Frau Rothe: Ich sehe doch aber einen großen, breitschulterigen blonden Mann mit krausem Haar. Diese Beschreibung paßte auf einen meiner verstorbenen Bekannten. Im Verlaufe der Sitzung wurden mir Mitteilungen über diesen Herrn gemacht.

Frau Steinmann: Sie habe eine hellsehende Nichte und ein mediales Dienstmädchen. Die Nichte habe, nachdem sie ein halbes Jahr hellsehend gewesen, Trancereden gehalten. Nachdem das Mädchen zu ihrer verstorbenen Mutter gebetet hatte, sie davon zu befreien, hörte das Hellsehen auf. Man hörte nun sehr häufig Klopftöne, und es schnurrte sehr laut, so wie eine Katze schnurrt. Das Mädchen sagte, es sei ein Geist, sie solle 20 Vaterunser beten, dann werde das Schnurren aufhören. Wenn das Mädchen in der Nähe war, dann hörte man auch häufig ein Krachen an der Bettstelle. Sie habe das Vaterunser gebetet, dann hörte das Schnurren auf. Das Mädchen habe ihrem Bruder vorausgesagt, daß ihm die linke Hand abgenommen werden würde; einer Verwandten habe sie eine wirklich eingetretene Krankheit vorausgesagt.

Vert. R.-A. Dr. Thiele: Wie alt ist jetzt Ihre Adoptivtochter? Zeugin: 21 Jahre.

Vert: Dann möchte ich beantragen, das Mädchen zu laden.

Staatsanwalt: Was will der Verteidiger mit der Zeugin beweisen? Vert.: Ich will beweisen, daß es wirklich Leute gibt, die hellsehend sind. Wenn dies hier zeugeneidlich bekundet wird, dann liegt die Möglichkeit vor, daß auch Frau Rothe die Gabe der Hellseherei besitzt.

Ein Zeuge Welsche bekundet auf Befragen: Er sei hellsehend, er habe bei den Sitzungen der Rothe den Geist Zwinglis und auch den Geist des Friedchen gesehen.

Magnetiseur Geist: Jentsch sei bei der Auswahl der Teilnehmer an den Sitzungen sehr vorsichtig gewesen. Er wollte sogar einen Rechtsanwalt nicht zulassen. Jentsch und die Rothe haben sich einmal gerühmt, daß dem Hofprediger Stoecker ganze Pakete Blumen aus der Tasche gezogen worden seien. Die Rothe müsse ein sehr scharfsinniges psychologisches Gefühl besitzen, denn sie wußte Personen, die wirklich mißtrauisch waren, zu entfernen. Es sei ihm (Zeugen) ferner ner aufgefallen, daß die Angeklagte während der Sitzungen stets möglichst korpulente Leute neben sich hatte. Obertelegraphenassistent Kuhhaupt: Als die Angeklagte einmal in Trancezustand verfallen sei, habe sie zu einem ihr gegenübersitzenden Herrn gesagt: Ich sehe hinter Ihnen eine Frau, die einen eigentümlichen Kopfschmuck trägt, ähnlich wie eine Krankenschwester. Der Herr habe voller Staunen erwidert: Das ist meine verstorbene Mutter, diese trug einen derartigen Kopfschmuck. Der Zeuge erzählte alsdann: Frau Rothe hat einmal in meiner Wohnung eine Sitzung gegeben. Nachdem sie von meiner Frau und meiner Schwägerin untersucht worden, wurde sie in ein nur notdürftig erleuchtetes Zimmer geführt und in einen Sack gesteckt, der ihr bis an den Hals reichte. Der Sack, der aus neuer Leinwand hergestellt und mit doppelten Nähten versehen war, wurde am Halse zugeschnürt. Alsdann wurde der Sack mit einer starken Schnur viele Male umwickelt und die Nähte hinten und an den Seiten versiegelt. Dann ließ man Frau Rothe hinter dem Vorhang allein. Nach kurzer Zeit hörte man hinter dem Vorhang etwas zu Boden fallen. Genau nach sieben Minuten trat Frau Rothe, von jedem Anhängsel völlig befreit, hervor, der Sack wurde untersucht, er lag am Boden. Siegel, Nähte und Schnur waren unverletzt. Später apportierte Frau Rothe Blumen und Apfelsinen, die unmöglich zur Stelle geschafft sein konnten. In einer von Frau Rothe in ihrer Wohnung abgehaltenen Sitzung saß die ganze Gesellschaft um einen schweren Tisch. Als Frau Rothe in Trancezustand verfallen war, begann der Tisch sich zu heben; außerdem vernahm man ein eigentümliches Klopfen. Frau Rothe hat nicht unmittelbar am Tisch gesessen, auch ihre Hände waren mit dem Tisch nicht in Berührung gekommen. Frau Rothe sagte, als der Tisch sich hob, zu einer ihr gegenübersitzenden 60jährigen Dame: „Es ist der Geist Ihres Mannes, der sich vernehmen läßt.“ Der Tisch machte darauf wiederholt eine Bewegung nach der alten Dame zu. Letztere sagte nach einer Weile: „Gehe doch auch einmal zu meinem Sohn.“ Sofort änderte der Tisch seine Richtung und wackelte zu dem bezeichneten jungen Herrn. Die ganze Gesellschaft legte alsdann die Hände auf den Tisch, da erhob sich dieser vom Fußboden und schwebte frei in der Luft.

Eine Frau Richter aus Leipzig bekundete: Frau Rothe habe in ihrer (der Zeugin) Leipziger Wohnung eine Sitzung abgehalten. Sie habe Frau Rothe, die nur ein kleines Handtäschchen bei sich trug, vom Bahnhof abgeholt. Frau Rothe habe ganz unendlich viele taufrische Blumen apportiert. In einem Leipziger Café habe Frau Rothe plötzlich zahlreiche Blumen in den Schoß fallen lassen. Sie mußten sich schleunigst aus dem Café entfernen, um nicht gar zu großes Aufsehen zu erregen. Ein anderes Mal habe Frau Rothe unendlich viele prachtvolle Blumen über die Frauen gestreut. Es war eine ganz seltene Blumenpracht; man zählte etwa 130 Blumen. Es war dies zu einer Jahreszeit, in der Frau Rothe sehr viel Geld hätte ausgeben müssen, um solche Blumen zu kaufen. Die Zeugin bekundete im weiteren, daß Frau Rothe Wunderdinge im Hellsehen geleistet habe. Sie habe einmal von dem Tode einer Person Mitteilung gemacht, noch ehe die briefliche Anzeige von dem Tode eingetroffen war.

Bankkassierer Städing bekundete: die Apporte der Rothe waren tadellos. Ein Offizier hatte sich überzeugt, daß ein Buch, das Frau Rothe in die Hand nahm, unbeschrieben war. Nach kurzer Zeit waren etwa 20 Seiten mit verschiedenen Handschriften beschrieben. Einmal kamen soviel Blumen von oben herab, daß ein anwesender Arzt geradezu sprachlos war.

Der pensionierte Gymnasialprofessor Dr. Sellin erzählte alle möglichen Wunderdinge, die Frau Rothe verrichtet habe. Auch auf Fragen in englischer Sprache seien mit Hilfe der Klopftöne sehr genaue Antworten gegeben worden. Die Klopftöne, die er bei Frau Rothe wahrgenommen, waren stets die elektrischen Klopftöne. Was die Apporte anlange, so habe er sich von deren Echtheit vollständig überzeugt. Für ihn seien solche Apporte überhaupt nur das untere und oft unreine Ende der Stufenleiter von Phänomenen, die zur lichtesten Höhe führen. An der physikalischen Mediumschaft der Frau Rothe habe er nicht den geringsten Zweifel. Er habe einmal einen Apport in Gestalt eines Medaillons erhalten, das er aber nicht annehmen wollte. Er habe es auf den Tisch gelegt und „Friedchen“ gebeten, es wieder mitzunehmen. Friedchen habe aber gesagt: „Lieber Onkel, laß das, ich kann es nicht wieder mitnehmen.“ Der Zeuge erzählte noch eine große Reihe von Vorkommnissen wunderbarster Art, die ihm die Überzeugung beigebracht haben, daß von Schwindel gar keine Rede sein könne. Frau Rothe sei das kräftigste, interessanteste und reinste Medium, das ihm vorgekommen sei. Vors.: Wie stellen Sie sich zu der Tatsache, daß in der Entlarvungssitzung Blumen im Unterrock der Frau Rothe gefunden wurden? Zeuge: Wenn die Anklage auf Schwindel und Betrug erhoben werden soll, dann muß dieser doch ganz klar bewiesen werden.

Vors.: Vor Ihnen liegen doch die der Angeklagten abgenommenen Sachen, die den Schwindel beweisen? Zeuge: Da muß doch erst festgestellt werden, wo sind sie im Unterrock gefunden worden, wer ist der Zeuge dafür, wer hat sie gesehen?

Der Zeuge bemerkte im weiteren: Er habe durch den Mund der Rothe einmal mit seinem verstorbenen Freund, dem Rostocker Professor Baumgarten, mit dem er in Mecklenburg zehn Jahre lang für die Glaubensfreiheit gekämpft, ein Gespräch gehabt. Baumgarten habe zu ihm gesagt: „Mein lieber Freund, ich freue mich, daß ich einmal durch ein schwaches Weib zu dir sprechen kann. Ich will dir nur sagen, was ich in meinen Memoiren über dich geschrieben habe, ist unrecht. Ich habe dir unrecht getan, als ich mein Bedauern aussprach, dich unter den Spiritisten zu sehen; ich sehe jetzt ein, daß du recht gehabt hast.“ Sachverst. Oberarzt Dr. Henneberg: Ist bei Ihrem Zusammensein mit Frau Rothe jemals zu ungelegener Zeit, auf der Straße, der Eisenbahn, der Straßenbahn oder dergleichen jemals der Trancezustand eingetreten? Zeuge: Nein.

Vors.: Herr Sachverständiger, schließt der Trancezustand die freie Willensbestimmung aus? Sachv.: Es kommt ganz darauf an: Es gibt die verschiedensten Grade der Trance, ebenso wie bei der Hypnose und im Schlaf. Bei der Rothe schien in der Charité nur eine leichte Einschränkung des Bewußtseins bei dem Trancezustand vorzuliegen, so daß sie ganz genau sah, was um sie herum vorging. Andererseits ist sie zweifellos eine abnorm veranlagte, hysterische Person, die leicht in Antihypnose verfällt. Sie hat aber diesen Zustand vollständig in der Hand. Das geht schon daraus hervor, daß sie niemals Trancereden auf der Straße gehalten hat. Sie ist auch immer zur rechten Zeit wieder der aus dem Trancezustand herausgekommen. Es handelt sich also bei ihr nicht um tiefgreifende Anfälle von Bewußtseinstrübung, sondern nur um eine kleine Einschränkung des Bewußtseins. Ebenso wie es Leute gibt, die schlafen können, wann sie wollen, so kann sie auch nach Belieben in Trance verfallen. Es ist dabei zu erwägen, daß sie durch die vielen Vorstellungen eine gewisse Übung hatte. Ein abnormer Geisteszustand ist es aber trotzdem. Wenn wirklich echter Trancezustand vorläge, würde die Anwendbarkeit des § 51 des Str.-G.-B. gegeben sein.

Vors.: Wie stellen Sie sich zu der Frage des Hellsehens? Sachv.: Es handelt sich dabei um Gesichtshalluzinationen und wenn Klopftöne gehört werden, um solche akustischer Natur, wie sie beim Vorhandensein absonderlicher Stimmungen, namentlich aber bei solchen Zuständen der Gedankenkonzentration, in denen sich die Teilnehmer spiritistischer Sitzungen zu befinden pflegen, vorkommen. Zahlreiche abnorm veranlagte Personen haben Halluzinationen, ohne anstaltsbedürftig zu sein.

Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Wenn die Angeklagte nach der Ansicht des Sachverständigen in der Lage ist, nach Belieben in einen Trancezustand zu verfallen, so ist es doch wunderbar, warum sie nicht einmal dazu übergeht, dies hier ad oculus zu demonstrieren? Dr. Henneberg: Ebenso wie sie es in der Charité gekonnt, konnt, könnte sie es auch hier, wenn sie glaubte, daß es opportun wäre.

Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Nun, das wäre doch ganz sicher opportun; vielleicht ist der lange Aufenthalt im Gefängnis der Anfang eines Gesundungsprozesses? Vert. R.-A. Dr. Thiele: Hatte die Angeklagte im Trancezustand Visionen? Sachv.: Ja, das gehörte aber gewissermaßen zum Programm. Wieweit dabei ein krankhafter Zustand oder Simulation vorliegt, kann ich nicht sagen.

Vert.: Liegt bei solchen Visionen eine Einengung des Bewußtseins im Sinne des § 51 vor?

Sachv.: Nein.

Ungemein interessant war die Aussage des Kaufmanns Paul Krüger: In einer Sitzung, an der vornehme Damen, wie Frau Gräfin v. Moltke und Frau Generalin v. Moltke teilnahmen, hat die Angeklagte die herrlichsten Blumen apportiert. Bald darauf fand eine Sitzung in der Niederwallstraße statt. Ich kam so spät aus Chemnitz, daß ich erst erschien, als die Sitzung fast zu Ende war. Ich ging zu Frau Rothe ins Nebenzimmer und reichte ihr beide Hände zur Begrüßung. Frau Rothe reichte mir auch beide Hände und während wir uns gegenseitig festhielten, fiel plötzlich ein förmlicher Blumenregen auf uns hernieder. Es ist ausgeschlossen, daß Frau Rothe eine Hand hierbei gebrauchen konnte. Bald darauf griff Frau Rothe in die Luft und hatte eine Apfelsine in der Hand. Eine ganz besondere Geschichte passierte mir im November 1901. Ich hatte im Westen Berlins eine Anzahl Geschäftsbesuche erledigt und stattete alsdann der Frau Rothe einen Besuch ab. Beim Betreten der Wohnung bemerkte ich, daß ich meinen Regenschirm in einem der Läden habe stehen lassen. Ich wollte umkehren, Frau Rothe sagte jedoch: Lassen Sie nur den Schirm, der wird sich schon finden. Ich setzte mich neben Frau Rothe aufs Sofa: Frau Rothe stopfte Strümpfe. Da sah ich plötzlich ganz deutlich, wie Frau Rothe nach der Fensterecke griff und meinen Schirm hervorholte. Im nächsten Augenblick war die Vision verschwunden. Nach etwa zehn Minuten begab ich mich auf die Suche nach meinem Regenschirm. Schon im zweiten Laden sagte man mir: „Jawohl, hier ist Ihr Schirm.“ Von dem Ladeninhaber wurde mir mitgeteilt: Kurz nach meinem Weggang erschien plötzlich eine Frau, ergriff den Schirm und fragte: wem der Schirm gehöre. In demselben Augenblick war die Frau mit dem Schirm verschwunden. Nach wenigen Minuten flog der Schirm durchs Fenster an die Stelle, wo er gestanden hatte.

Staatsanwalt: Kam der Schirm durchs offene oder durch das geschlossene Fenster? Zeuge: Das Fenster war geschlossen.

Staatsanwalt: Und die Scheiben gingen nicht entzwei? zwei? Zeuge: Nein. Eines Abends hatten wir nach einer bei Frau Rothe abgehaltenen Sitzung noch ein Café am Belle-Allianceplatz besucht. Nachdem wir Platz genommen hatten, sagte ich: ich wundere mich, daß ich noch keinen Apport erhalten habe. Da griff Frau Rothe in die Höhe in eine Vase hinein, die auf dem Sims stand: Sie brachte einen Mohnkuchen zum Vorschein, brach ihn durch und es fiel ein kleines Kreuz heraus. Sie überreichte es mir mit den Worten: „Hier, lieber Bruder, hast du deines.“

Vors.: War das Kreuz von Blech? Zeuge: Jawohl, es war Blech. (Allgemeine Heiterkeit.) Einmal sagte Frau Rothe im Trance zu mir: „Über Eurem Haupte weht eine schwarze Fahne.“ Es ist auch später ein trauriges Familienereignis bei uns eingetreten.

Der nächste Zeuge, Schauspieler Max Berger, bekundete: Ich bin hellsehend. Als ich der ersten Sitzung bei Frau Rothe mit meiner Braut, jetzigen Frau, beiwohnte, hatte ich den Wunsch, einen Apport von verstorbenen Verwandten zu haben. Frau Rothe hielt eine herzerquickende Rede und überreichte mir schließlich von meinem Vater einen Myrtenstrauß, mit dem mein Vater mich und meine Braut segnete. Ich habe deutlich gesehen, wie sich an den Fingerspitzen der Frau Rothe ein Nebel bildete, aus dem der Myrtenstrauß entstand. Der Vater sagte dabei: „Hier, nimm diesen Myrtenstrauß.“ Bei einer anderen Sitzung zung sah ich meine Großmutter mit einer Apfelsine in der Hand, an welcher ein Stengel mit drei bis vier Blättern saß. Ich fragte die Gestalt: „Wer bist du?“ sie antwortete: Du hast mich ja schon geschaut, ich bin deine Großmutter. Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Sie machen doch aus dem Hellsehen kein Gewerbe? Zeuge: Keineswegs.

Vert.: Sie sind auch durch das Hellsehen nicht von der Religion abgewendet worden? Zeuge: Nein, im Gegenteil. Ich war früher freireligiös, durch den Spiritismus bin ich aber zum Glauben zurückgeführt worden. Der Glaube ist bei mir so felsenfest geworden, daß er mir über alle Schicksalsschläge hinweghilft. Sachv. Professor Dr. Dessoir: Aus vielfachen Erfahrungen wisse er, daß oft in der unbegreiflichsten Weise Tatsachen von Zuschauern entstellt werden, nicht aus bösem Willen, sondern infolge von Anregungen und Einwirkungen, die in der Umgebung der betreffenden Personen liegen. Ein Taschenspieler, der Liebhaber der Taschenspielerei war, habe einmal mediumistische Experimente nachgeahmt, ohne den Zuschauern etwas davon zu sagen, daß es sich nur um Nachahmungen handelte. Die Teilnehmer haben alsdann Berichte abgestattet über das, was sie gesehen haben. Die Berichte seien auch in spiritistischen Zeitschriften abgedruckt worden. Man konnte daraus ersehen, wie die einfachsten Taschenspielerkunststücke zu Phänomenen geworden waren. Zu einer genauen Beobachtung der Dinge seien auch gewisse technische Kenntnisse erforderlich. Er (Sachv.) habe mehreren Sitzungen bei Frau Rothe beigewohnt. Er könne nur sagen, daß das, was er gesehen, ein Schwindel war, und zwar ein in ganz kläglicher Weise ausgeführter Schwindel. Jeder Taschenspieler würde sich schämen, in so wenig ausreichender Weise zu arbeiten. Der Tisch war verhängt, der Stuhl, auf welchem Frau Rothe saß, war so gestellt, daß im Zimmer eine Art dunkles Dreieck entstand. Diese Dunkelkammer benutzte Frau Rothe, um von dort aus ihre Apporte zu bringen. Die Kleideruntersuchung war eine Farce, sie dauerte eine Minute. Zu einer vollkommenen Untersuchung gehörte, daß sich Frau Rothe splitternackt auszog; auch eine gynäkologische Untersuchung hätte vorgenommen werden müssen. Frau Rothe habe in recht plumper Weise die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf ihre rechte Hand gelenkt und mit der linken gearbeitet. Jede Pause benutzte sie, um in geschickter Weise das Kommende vorzubereiten. Ihre technischen Fertigkeiten seien gar nicht groß, aber sie habe die große Fertigkeit, die Aufmerksamkeit abzulenken und die Schwäche der Anwesenden auszunutzen. Es sei immerhin möglich, daß sie mit veränderten Bewußtseinszuständen, nicht mit reinem und ungetrübtem Bewußtsein ihrer betrügerischen Maßnahmen gehandelt, gewissermaßen einen „heiligen Betrug“ verübt habe in dem Glauben, eine höhere Mission zu erfüllen. Sie sei nicht durchaus und schlechtweg eine einfache Betrügerin; sie sei gewiß von ihren Fähigkeiten überzeugt. Außerdem habe sie die Gabe, großes Vertrauen zu erwecken.

Vors.: Würden Sie über einzelnes, was hier bekundet worden ist, Aufklärung geben können? Sachv.: Nein. Berichte einzelner Personen können nicht erklärt werden, denn ein einzelner Mensch kann vielerlei auf Täuschung beruhende Dinge als Tatsachen hinstellen. Ich erinnere an das bekannte Taschenspielerstückchen, in dem der Taschenspieler eine Apfelsine sechs- bis achtmal in immer höheren Abständen in die Luft wirft und jedesmal mit der Hand tiefer hinabgeht. Der letzte angebliche Wurf geht mit der ganz tief herabhängenden Hand vonstatten. Der Taschenspieler legt aber die Apfelsine auf seinen Schoß und tut nur so, als ob er sie in die Luft werfe. Alle Zuschauer sind aber überzeugt, daß sie in der Luft verschwunden ist. Das ist ein Beispiel, wie durch die Vorbereitung, durch Erregung der Erwartung Täuschungen hervorgerufen werden können. Staatsanwalt: Haben Sie eine Erklärung dafür, daß die Blumen unversehrt und „taufrisch“ zum Vorschein kommen? Sachv.: Es ist möglich, daß dies mit Hilfe eines nassen Wachsleinwandbeutels geschehen ist.

Oberarzt Dr. Henneberg: Die Blumen können auch durch Eis konserviert worden sein.

Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Herr Professor Dr. Dessoir! Können Sie das Hellsehen vom philosophischen Standpunkte aus erklären? Sachv.: Solche Täuschungen kommen auch bei ganz normalen Personen vor. In vielen Fällen handelt es sich nicht um Halluzinationen, sondern um Illusionen, indem man z.B. einen Vorhang für eine Gestalt ansieht.

R.-A. Dr. Schwindt: Sie nehmen alsdann wohl an, daß es reiner Zufall ist, wenn die Beschreibungen, die Frau Rothe von manchen Personen gegeben, richtig waren? Sachv.: Jawohl.

Vert.: Hat Ihre Wissenschaft sich schon mit dem Spiritismus beschäftigt? Sachv.: Jawohl.

Vert.: Dann ist es doch merkwürdig, daß diese Probleme und Apporte wissenschaftlich noch nicht widerlegt worden sind? Sachv.: Man müßte ja alsdann unsre ganze Jahrtausende alte wissenschaftliche Erfahrung, die ganze wissenschaftliche Feststellung von dem Wesen der Materie über den Haufen werfen. Die Beweislast liegt auf der anderen Seite. Es muß ein ganz strikter und objektiver Beweis geführt werden, der nicht von der Beobachtungsfähigkeit des einzelnen abhängig ist.

Vert.: Wie ist es aber wohl zu erklären, daß die Angeklagte so viele Blumen aus ihrem Kleide praktiziert ziert haben soll? Sachv.: Es gibt viele Möglichkeiten, ich weiß nicht, weshalb ich mir den Kopf über Möglichkeiten zerbrechen soll.

Sachv. Oberarzt Dr. Henneberg: Aus meinen mit der Angeklagten in der Charité gemachten Erfahrungen muß ich bemerken, daß die Angeklagte ganz diffuse Beschreibungen von Personen gab und daß alsdann unter der Mitwirkung der betreffenden Zuschauer selbst aus deren unbewußten Zwischenbemerkungen ihre Bemerkungen immer spezieller und eingehender wurden.

Vors.: Ist das, was wir von Hellseherei gehört haben, eine pathologische Erscheinung? Sachv.: Es ist eine pathologische Erscheinung, die aber nicht als Geisteskrankheit aufzufassen ist.

Zeuge Gerling: Impresario Jentsch habe es verstanden, Familienmitglieder auszuhorchen. Die von ihm ausgehorchten Dinge wurden dann später von Frau Rothe vorgebracht. In einer Sitzung habe man ihr eine Falle gestellt; sie sei direkt auf falsche Angaben hineingefallen.

Sachv. Prof. Dr. Puppe: Die Probleme der Apporte seien die durchsichtigsten, diesen stehe er skeptisch gegenüber. Im übrigen müsse er sagen, daß solche komplizierte Manipulationen, wie sie bei den Apporten gemacht werden mußten, nicht im Trance gemacht seien. Man müsse bei den Zeugen drei Gruppen unterscheiden: scheiden: 1. die Indifferenten, 2. die Betrogenen, 3. diejenigen, die auf Frau Rothe schwören. Letztere sind von den übersinnlichen Mächten fest überzeugt. Dabei muß man aber sich vergegenwärtigen, daß sie zu den Teilnehmern etwa in dem Verhältnis stand wie der Hypnotiseur zu den Hypnotisierten. Es ist wohl die Frage aufgeworfen worden: Weshalb ist Frau Rothe nicht Taschenspielerin geworden? Nun, als Taschenspielerin würde sie nach dem Zeugnis des Prof. Dr. Dessoir nicht recht reüssiert haben, denn ihre Triks sind plump und ihre Fähigkeit, das Publikum zu täuschen, zeigt sich nur in jenem eigentümlichen spiritistischen Milieu, wo die Sitzungen mit Gebet eröffnet werden, wo man sich „Bruder“ und „Schwester“ nannte und andere derartige Dinge vorkamen, die auf empfängliche Gemüter wirken. Der Trancezustand der Frau Rothe war nicht echt, da er schnell kam und sehr schnell wieder vorüberging. Was die medizinische Seite betrifft, so muß hervorgehoben werden, daß Frau Rothe, die sich seit März vorigen Jahres in Haft befindet, in dieser ganzen Zeit keinen abnormen Geisteszustand gezeigt hat. Ich komme zu dem Schluß: Es liegt bei der Angeklagten ein gewisses vermindertes Bewußtsein vor, aber nicht eine Aufhebung der freien Willensbestimmung.

Die Beweisaufnahme wurde alsdann geschlossen.

Staatsanwalt Friedheim: Es ist Sache der Theologen, gen, zu prüfen, was und wieviel von dem Spiritismus zu halten ist. Hier handelt es sich nur um die Frage, ab die Angeklagte strafbare Handlungen begangen hat und dafür verantwortlich zu machen ist. Die Angeklagte besitzt zweifellos ein großes Maß von Selbstbeherrschung. Dieser bedurfte sie, um ihre Rolle mit Erfolg durchzuführen. Sie hat nebenbei etwas Faszinierendes, sie hat etwas in ihren Augen, was Unbefangene beeinflussen kann. Sie hat auch in den sechs Verhandlungstagen große Selbstbeherrschung an den Tag gelegt. In selbstbewußter, kluger und sicherer Weise hat sie die Sitzungen mit Jentsch vorbereitet. Vorher wurde alles aufs sorgfältigste geprüft, Ärzte und Naturwissenschaftler wurden soviel als möglich von den Sitzungen ausgeschlossen. Abgesehen von dem Falle, in dem sie von der Polizei überführt wurde, ist sie auch in vielen anderen Fällen überführt worden. Ihre Trancereden bestanden zumeist aus religiösen Bemerkungen, die sich leicht auswendig lernen lassen. Sie benutzte dazu ein Gesangbuch aus dem Jahre 1839. Es ist auch nicht richtig, daß sie während der Trancereden bewußtlos war. Möge sie sich auch in einem Zustande von Halbtraum befunden haben, ihre Willenskraft war keineswegs ausgeschlossen. Sie hat mit vollem Bewußtsein den Zuhörern vorgespiegelt: ich kann euch Grüße von den Geistern in Form von Blumen, Apfelsinen und anderen Gegenständen bringen. Sie war derartig bei Bewußtsein, daß sie die Taschenspielerstückchen mit Geschick ausführen konnte. Die Angeklagte ist in 59 Fällen des Betruges überführt. Bei der Strafabmessung ist zu berücksichtigen, daß das Treiben der Angeklagten gemeingefährlich war. Sie hat mit ihrem Betriebe auf die heiligsten Gefühle der Menschen spekuliert. Sie verdient deshalb die schärfste Verurteilung, weil sie gehandelt hat, um materielle Vorteile zu erringen. Ihr Treiben ist auch deshalb gefährlich, weil sie Gemüter, die vielleicht schon ins Schwanken gekommen waren, noch mehr aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Ich beantrage 2 Jahre 6 Monate Gefängnis, unter Anrechnung von 6 Monaten auf die Untersuchungshaft, außerdem 500 Mark Geldstrafe, eventuell noch fünfzig Tage Gefängnis.

Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Ich erlaube mir zunächst daran zu erinnern, daß die Vorgängerin der Angeklagten, das frühere Medium Valeska Töpfer nur zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Weshalb die Angeklagte um soviel schärfer bestraft werden soll, ist nicht recht einzusehen. Der Gerichtshof wird nicht erwarten, daß ich mich mit den Problemen beschäftigen werde, die in sechstägiger Verhandlung erörtert worden sind. Ob der Glaube der Spiritisten ein berechtigter oder ein Köhlerglaube ist, kann dahingestellt bleiben. Diese Leute fühlen sich glücklich dabei, man soll ihnen deshalb ihren Glauben lassen. Ich habe aber Bedenken, ob in rechtlicher Beziehung Betrug vorliegt. Es kommt doch dabei auf Leistung und Gegenleistung an und auch, ob die Angeklagte sich in gutem Glauben befunden hat. Die Angeklagte hat nicht eine bestimmte Leistung, sondern für das Eintrittsgeld nur die Möglichkeit versprochen, einer Sitzung beizuwohnen. Sie hat niemals bestimmt in Aussicht gestellt, daß ihre Experimente gelingen werden. Man kann sich doch unmöglich auf den Standpunkt stellen, daß diese Kesselschmiedefrau mit ihren geistigen Fähigkeiten über dem Erkennungsvermögen der vielen hochgebildeten Leute stehen muß, die sie aufsuchten und mit ihr an überirdische, übersinnliche Dinge glaubten. Sie hat sicher nicht weniger geglaubt als alle anderen, sie ist eben eine unter vielen. Sie glaubte, ein gutes Werk zu tun, bis sie von Jentsch entdeckt wurde. Von diesem Zeitpunkt ab erhielt allerdings die Sache einen etwas geschäftlichen Charakter. Die Teilnehmer an den Sitzungen mögen über das Gesehene enttäuscht, in ihren inneren Empfindungen gekränkt gewesen sein, von einem Betruge in juristischem Sinne kann aber keine Rede sein. Wenn der Gerichtshof anderer Meinung ist, dann ist nicht abzusehen, weshalb der Staatsanwalt eine so außerordentlich hohe Strafe beantragt hat. Der eine Sachverständige hat die Angeklagte eine pathologische Betrügerin genannt; es ist das eigentlich ein Widerspruch. Jedenfalls ist die Angeklagte eine hysterische, leicht erregbare Person. Sie sitzt über Jahr und Tag in Untersuchungshaft. Wenn sie verurteilt werden sollte, dann würden sechs Monate, die auf die Untersuchungshaft anzurechnen wären, vollkommen genügen.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Thiele: Die Verhandlung sollte offenbar ein großer Schlag gegen den Spiritismus sein, das Verfahren ist aber zu einem Schlag ins Wasser geworden, es wird nicht dazu beitragen, den Spiritismus auszurotten. Im Gegenteil, die Verhandlung ist zur größten Reklame für den Spiritismus geworden. War es überhaupt notwendig, den Spiritismus zu bekämpfen? Soviel steht doch fest, der Spiritismus bietet nichts Unsittliches, nichts Strafbares, berührt aber andererseits eine Reihe der größten Probleme. Jeder Mensch hat wohl einmal Augenblicke gehabt, wo er über solche Probleme ernst nachgedacht hat, wo er im faustischen Drange an dem Vorhang rütteln möchte, der zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt gezogen ist. Der Spiritismus ist nicht mit juristischen Mitteln zu bekämpfen. Wenn man ihn bekämpfen will, dann tue man es auf dem Gebiete der Bildung und Aufklärung. Die Angeklagte, die sich um die Welt nicht viel bekümmerte, sondern ein in sich gekehrtes Leben führte, in bestimmten engen Grenzen verkehrte und nur in geschlossenen Zirkeln ihr zugetaner ner Menschen wirkte, ist der geschäftlichen Seite sicher ganz fern geblieben. Die Leute, die zu ihr kamen, haben sie besucht, wie man ein interessantes Theaterstück, ein Taschenspielerstückchen aufsucht, sie wollten „mit dabei sein“. Andere kamen wieder aus wissenschaftlichem Interesse. Sie alle haben ihre Gaben freiwillig hingegeben. Eine „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ liegt nicht vor. Es sind gar keine Tatsachen erzielt worden. Die Angeklagte überließ jedem, sich ein Urteil zu bilden. Nicht die Angeklagte hat die Personen getäuscht, sondern diese haben sich selbst getäuscht. Bezüglich der Apporte wird der Gerichtshof sich nicht darüber hinwegsetzen können, daß hier sehr viele kleine Leute mit praktischem Verstande und akademisch gebildete Leute aufgetreten sind, die die Apporte als echt hielten. Der Gerichtshof wird nur zu einem Non liquet kommen können und sagen müssen: Wir stehen vor Dingen, die wir nicht erklären können. Die Angeklagte ist eine kranke, hysterische Person. Wenn man von einem Opfer des Spiritismus reden kann, so ist die Angeklagte das bedauernswerteste.

Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Gartz, folgendes Urteil: Der Gerichtshof erachtet diejenigen, die zu der Angeklagten gegangen sind, um Vorführungen aus der Geisterwelt zu sehen und dafür Taschenspielerkunststücke erhalten haben, in ihrem Vermögen geschädigt. Sie haben nicht das erhalten, was sie vertraglich zu beanspruchen hatten. Was die Aussagen der Zeugen betrifft, die bekundet haben, daß sie übersinnliche Dinge wahrgenommen hatten, so steht der Gerichtshof auf dem Standpunkt der Sachverständigen, daß das, was Gemeingut der Wissenschaft heutzutage ist, was von der Mehrzahl der Gebildeten als das Richtige in der Wissenschaft anerkannt wird, hier Platz greifen muß. Hätte die Angeklagte gesagt, daß Naturkräfte in ihr wohnen, die sie sich nicht erklären kann, so konnte sie nicht verurteilt werden. Wenn sie aber von übernatürlichen Dingen spricht, so hat sie etwas gesprochen, was sie nicht leisten kann. Nach Ansicht des Gerichtshofes haben die Leute nicht sorgfältig beobachtet und sind getäuscht worden. Die Zeugen waren auch sehr geneigt, sich täuschen zu lassen, wie die Schlußfolgerungen, die Professor Sellin bei dem Vorgang in Zürich aus der Theorie des Astralleibes gezogen hat, beweisen. Wer so beobachtet, kann nicht als zuverlässiger Beobachter gelten. Auch bei anderen Personen liegt mangelhafte Beobachtung vor. Die Apporte stehen nach Ansicht des Gerichtshofs fast ausschließlich im engen Zusammenhange mit den Trancereden. Jedenfalls sind die Leute nicht zu der Angeklagten gegangen, um nur Trancereden zu hören. Diese Reden sind auch nicht in bewußtlosem Zustande gehalten worden. Der § 51 trifft daher nicht zu. Bei der Strafzumessung mußte berücksichtigt werden, daß die Angeklagte eine hysterische Person ist. Sie ist auf frischer Tat ertappt worden, sie hat ein umfangreiches Gewerbe betrieben, sich aber bei den einzelnen Betrugsfällen mit einem bescheidenen Gewinn begnügt. Mildernd muß auch in Betracht gezogen werden, daß die Leichtgläubigkeit der Spiritisten ihr zu Hilfe kam. Einzelne Personen hatten den Gottesglauben verloren, sie hat dazu beigetragen, daß diese Personen den Gottesglauben wiedergewonnen haben – freilich nur in der Form, daß sie eine äußere Verbindung vom Diesseits ins Jenseits fanden, während der kirchliche wahre Glaube ein wesentlich anderer ist. Wenn sie also auch geglaubt hat, ein gutes Werk zu tun, so fällt andererseits erschwerend ins Gewicht, daß sie mit der Religion ein frivoles Spiel getrieben hat und nach ihrer Entlarvung noch leugnete, was nicht mehr zu leugnen war. In Berücksichtigung alles dessen hat der Gerichtshof im Namen des Königs auf 1 Jahr 6 Monate Gefängnis erkannt und mit Rücksicht auf die lange Dauer der Untersuchungshaft acht Monate für verbüßt erachtet. Die Angeklagte hat außerdem die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Frau Rothe hatte auf Anraten ihrer Verteidiger auf das Rechtsmittel der Revision verzichtet und die gegen sie erkannte Strafe von zehn Monaten Gefängnis sogleich angetreten.