Bühnen-Erinnerungen/3. Linden-Müller in New-York als Theaterdirector

Textdaten
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Autor: Arno Hempel
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Titel: Bühnen-Erinnerungen - 3. Linden-Müller in New-York als Theaterdirector
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 260–262
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bühnen-Erinnerungen.
3. Linden-Müller in New-York als Theaterdirector.

„Die Bühne kann viel zur Volksbildung und Volksveredelung beitragen.“ Dieser Satz war lange Zeit ein unumstößlicher. Für seine Wahrheit trat ein Lessing in die Schranken und bekämpfte siegreich, ein zweiter Achilles, die Gegner, in deren vordersten Reihen natürlich ein Hauptpastor stritt. Der moderne Staat scheint die Ueberzeugungen Lessing’s und unserer Besten für irrig zu halten. Als Gesetzgeber hat er durch sein Vorgehen bewiesen, daß er die Bühne nur als eine Art Vergnügungsinstitut – wenn auch vielleicht im höheren Sinne – hält. Der moderne Staat hat die Bühne „freigegeben“, er hat ihr den Stempel des Gewerbes aufgeprägt, und logischer Weise wird die Kunst mehr und mehr zerknetet und zerstampft in der Tretmühle des handwerksmäßigen Gewerbebetriebes.

Es ist doch nicht ganz uninteressant, darauf hinzuweisen, daß die sogenannte Theaterfreiheit eine Erfindung des zweiten französischen Kaiserreiches ist und Anfang der sechsziger Jahre von Louis Napoleon mit einem gewissen Pomp in der Presse verkündigt wurde. Nicht minder verdient Beachtung, daß der Imperator nicht lange darauf sich gezwungen sah, die bedeutenderen Pariser Theater durch ungewöhnlich große Zuschußgelder zu unterstützen. Die Extreme berührten sich auch hier. Und doch hat das Volk – und speciell das deutsche – ein tiefwurzelndes, instinctives Verständniß für den großen Gedanken, dem ein Lessing sein die Nacht durchblitzendes Schwert weihte. Die Liebhabertheater – und ihre Zahl ist Legion – sind unbewußt aus diesem Verständniß hervorgegangen.

Während meines Aufenthaltes in der Union waren sie für mich eine hochinteressante Erscheinung, diese deutschen Liebhabertheater. Vor ein, zwei Decennien waren die „legitimen“ deutschen Theaterverhältnisse in den Vereinigten Staaten von der traurigsten Art. Selbst New-York vermochte kaum ein einigermaßen genießbares deutsches „Stadttheater“ zu unterhalten. Brauchbare Kräfte von Beruf waren nur äußerst wenige vorhanden und die deutsche dramatische Kunst vermochte darum nur schwer sich etwas in Achtung zu bringen. Der reiche Deutsche wie der reiche Yankee konnten nur durch die magnetische Anziehungskraft einer Maretzek’schen italienischen Oper dem Theater zugänglich gemacht werden. Die Matadore der fünften Avenue schworen bei Edwin Booth, dem einzigen amerikanischen Schauspieler von kosmopolitischer Bedeutung. Dazu hatten sie auch volles Recht. Edwin Booth – der Bruder von Wilkes Booth, dem Mörder Lincoln’s – ist ein großer Künstler und verdient einen Ehrenplatz neben Garrick, Kemble, Kean und Ludwig Devrient. Wie bitter hat es Dawison bereut, neben ihm als Jago den Othello gespielt zu haben! Dawison soll geistig ungemein durch die Niederlage gelitten haben, welche ihm Booth beibrachte.

Die legitime, deutsche dramatische Kunst, d. h. die von Künstlern von Beruf ausgeübte, war also vor einigen Decennien [261] das Aschenbrödel der gebildeten Kreise in der Union. Aber sein Theater mußte der Deutsche haben und er schuf es sich in der Liebhaberbühne. Wie viel haben nicht die Deutschen in New-York, Chicago, Milwaukee, Cincinnati, Detroit u. s. w. für ihr Liebhabertheater gethan! Wie groß mußte die Liebe zur Sache sein, daß es Privatmitteln gelang, wahrhafte Kunsttempel zu errichten! –

Es waren deutsche Theater vorhanden, aber Kunsttempel waren es nicht. Es waren „Rauchtheater“, wie wir diese Segnung des Materialismus nun auch bei uns kennen zu lernen Gelegenheit haben. Das Rauchtheater ist eine aus dem eigensten Geiste des Yankeethums hervorgegangene Erfindung, und alle meine Nachforschungen über das erste Entstehen der Rauchtheater haben mich immer wieder nach der Union und auch den englischen Hafenstädten geführt. Daß unsere deutschen Landsleute drüben „über’m Wasser“ Recht hatten, sich selbst ihr Theater zu schaffen und den öffentlichen Schaustellungen dieser Art größtentheils den Rücken zu kehren, wird aus der nachfolgenden Schilderung hervorgehen.

Der geehrte Leser gestatte mir, ihn in ein deutsches Rauchtheater zu führen, und notire sich freundlichst zu diesem Zwecke die Jahreszahl 1858. Dieses Rauchtheater hieß Odeon und sein Director oder Manager war Gustav Müller, genannt Linden-Müller! Wir treten demnach in das Büffetzimmer des in der Bowery gelegenen Etablissements; ich für meine Person – um Engagement zu suchen.

Es ist in den frühen Nachmittagsstunden, und nur wenige Gäste bevölkern den Raum. Ein alter, bärbeißiger Barkeeper (Schenkwirth) zieht meine Aufmerksamkeit zunächst auf sich.

„Mr. Linden-Müller zu sprechen?“

No! Was ist die Matter?“

„Ich suche Engagement.“

„Ah! Ein Zauberer!“

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben. „Sie mißverstehen mich. Ich bin Schauspieler und suche Engagement.“

All right – Zauberer!“ – beharrte der dickköpfige Alte.

Ich hätte mich jedenfalls mit echt deutscher Gründlichkeit längerer Reflexionen über den Zusammenhang der Schauspielkunst mit der Zauberei ergeben, wäre nicht der Mann meiner Wünsche eben durch eine Seitenthür in das Gastzimmer getreten. Ich stand vor Linden-Müller, auch Tinen-Müller genannt. Schon zwei Welttheile nannten seinen Namen – also eine immerhin interessante Begegnung.

Die eigenthümliche Persönlichkeit ist einer kurzen Beschreibung würdig: Eine mittelgroße, magere Gestalt, ein scharfkantiges Gesicht mit langem, mausblondem Spitzbarte, der bis zur Brust reichte, graue, stechende Augen, hoher, grauer Hut, der tief in den Nacken geschoben war, ziemlich salopp im Anzug, die Hände in den Taschen der Beinkleider – so stand er vor mir: Gustav Müller, der Linden-Müller der Berliner Märztage! Mit heiserer Stimme, einem abgenutzten Donnerbleche ähnelnd, frug er:

„Wat wollen Sie?“

„Engagement!“

Ein kurzer, scharf prüfender Blick streifte mich.

„Können Sie jenießen! Spielen Sie heute Abend eenen von die Freunde in ‚Dornen und Lorbeer‘. Wenn Sie mir jefallen, denn engagire ik Ihnen morjen!“

Die Audienz war zu Ende. – Um es kurz zu machen: ich spielte am selbigen Abende den Tebaldo in „Dornen und Lorbeer“ als erste Rolle. Bekleidet war ich mit feuerrothen Tricots, hellblauem Wamms und Mantel von höherem Möbelkattun. Am folgenden Morgen empfing mich mein neuer Director mit den Worten:

„Sie sind engagirt.“

„Und die Bedingungen?“

„Fünf Dollars die Woche und Krippe!“

Krippe?!

Er sah wohl meinem erstaunten Gesicht an, daß ich mir bezüglich dieses Wortes noch nicht ganz klar war.

„Nu ja – Krippe! Wer Abends jut zaubert, kann den annern Mittag bei mir – essen!“

Also fünf Dollars die Woche und „Krippe!“ Welch verlockender Beginn! Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir unter der Oberleitung Gustav Linden-Müller’s eine recht patriarchalische Komödie spielten. Den Vorstellungen wohnte er bei, soweit es seine Pflicht als Wirth erlaubte. Hatte Jemand von uns „Zauberern“ sich seines besonderen Beifalls würdig gezeigt, so ertönte noch nach der Vorstellung das gutgemeinte, aber sonderbare „Morgen um Zwölbe Krippe!“ Er liebte es, seine „Kunstbude selbst zu ironisiren. Wir gaben einmal ein Stück von Dumas dem Vater, „Der Thurm von Nesle“, ein Schauerdrama letzten Ranges. Der Uebersetzer heißt – bezeichnend genug – Theodor Dunkel. Seine That braucht auch die Finsterniß. In diesem Stücke kommt eine französische Prinzessin vor, leidenschaftlich und ausschweifend, aber bildschön, wie Margarete von Valois. Wir hatten für die Darstellung dieser combinirten Venus und Messalina nur eine Dame zu „versenden“, die ich eigentlich nicht näher schildern sollte. – Zunächst stimmte das Alter nicht, aber in auffälligster Weise. Nicht eine Hogarth’sche Linie war an der Figur zu finden, höchstens im Antlitz selbst machten sich tiefere geschlängelte Eindrücke bemerkbar. Die Toilette war äußerst krankhaft. Dieser Ausbund von Schönheit spielte also die besagte Prinzessin. Gustav Linden-Müller stand vorn im Parterre, Allen sichtbar.

Da nahte die verhängnißvolle Scene, worin die hohe Dame es an der Zeit findet, den ihre Reize verhüllenden Schleier zu lüften, um durch die Wirkung ihres Antlitzes den vor ihr stehenden Hauptmann Büridan in die Kniee zu schmettern.

„So sieh, Unglücklicher!“ und mit Aufbietung aller Grazie längst verflossener Jahre warf sie den Schleier zurück und lächelte süß, die Holde! – Große Pause.

Da ertönte die wohlbekannte heisere Stimme Linden-Müller’s: „Dunnerwetter!“ Mit diesem einen Worte hatte er die Situation kräftigst gezeichnet, und das Haus erdröhnte vom „phrenetischen“ Beifall, wie unsere Theaterreporter sagen würden. So „zauberten“ wir fort – bis zur Katastrophe.

Die Weihnachtstage des Jahres 1858 rückten näher. Gustav that das Möglichste, seine Localitäten im brillantesten Feststile herzurichten. Ganze Tannenwälder wurden als Hauptdecoration in den verschiedenen Räumen aufgepflanzt. Wurde Feuer und Licht nicht mit ängstlicher Sorgfalt bewahrt, so war ein Unglück leicht möglich. Das Gebäude wäre sicher verloren gewesen, denn es bestand größtentheils aus Fachwerk. Es gingen auch ganz merkwürdige Gerüchte. Am 1. Januar habe Gustav mehrere Tausend Dollars auf das Haus zu bezahlen etc. In Amerika colportirt man so etwas ja sehr ungenirt.

Eines schönen Wintertags, kurz vor zwei Uhr Mittags, ertönte der Feuerruf. Wir saßen im Büffetzimmer und waren nicht allzu sehr überrascht. In einem oberen Stock war das Feuer entstanden, in einem Zimmer, in welchem Linden-Müller mit mehreren Gehülfen beschäftigt war, und die Flammen schlugen schon über dem Giebel zusammen. Ein Tannenzweig sei einer Gasflamme zu nahe gekommen, hieß es. Die Rettungsversuche begannen und blieben natürlich nutzlos. Als erster Rettender präsentirte sich Linden-Müller selbst. In Hemdärmeln, keuchend, schweißtriefend, mit heiserer Stimme nach Hülfe krächzend, schleifte er einige brennende Tannen durch das Büffetzimmer auf die Straße.

„Aber wo ist Fülling?“ – Fülling, unser bester College, fehlte. Er wohnte im Hause. Er hielt gewiß um die Zeit des beginnenden Brandes sein Mittagsschläfchen. Sollte er – es wäre entsetzlich! – Fülling war nicht sein wahrer Name. Es hieß, er sei von Adel und früher badischer Officier gewesen. Zum Volke übergetreten, habe er im Jahre 1850 flüchten müssen. Er selbst sprach nicht darüber. Ein braver, lieber Mensch – und dieses gräßliche Geschick! Am andern Morgen fand man unter den Brandruinen seine verkohlten Ueberreste.

Trotzdem verkündete uns Linden-Müller: „Ich eröffne heute mein neues Local einige Blocks weiter unten. Wer mitziehen will, komme!“ Er eröffnete selbigen Tages schon das neue Local. Die Fenster der oberen Stockwerke des Hauses verdeckte ein Riesengemälde: „Linden-Müller als Phönix aus den Flammen emporsteigend!“ Und wenige Tage später war Alles wieder in Ordnung, und es war wieder derselbe Zulauf und Alles vergessen. –

Ich sehnte mich fort und kehrte an Bord der „City of Manchester“ über Liverpool, Hull und Bremen in die Heimath zurück. Die deutschen Theaterverhältnisse Amerikas haben sich seit jener Zeit wesentlich gebessert. Unsere Größen haben nacheinander [262] die goldenen Dollars eingeheimst und selbst den Yankee die deutsche Kunst achten gelehrt. Jetzt thut es Pauline Lucca. Aber trotz der goldenen Ernte sehnt sie sich nach den Fleischtöpfen Aegyptens zurück. Vielleicht deshalb, weil die Unterhandlungen mit dem Häuptling der Chippeways, die Scalpirung eines deutschen Intendanten betreffend, nicht zum Ziele geführt haben? – Herzloser Chippeway!

Gustav Linden-Müller ist todt. Möge meinem ersten Director die friedlichste Ruhe nach dem bewegtesten Leben beschieden sein!

Arno Hempel.