Textdaten
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Autor: Arno Hempel
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Titel: Bühnen-Erinnerungen - 2. Emil Devrient
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 184–186
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Bühnen-Erinnerungen.
2. Emil Devrient.


Emil Devrient! – Vor wenigen Monden hat man ihn, den letzten großen Vertreter des reinen Idealismus in der Schauspielkunst, zu Grabe getragen! – Er war der prädestinirte Verkörperer des Idealismus. Die schlanke und doch imponirende Figur, das durchgeistigte, edle, der Antike nachgeschnittene Antlitz mit seinem herrlichen Profil, das schöne, alle Tonschattirungen willig gebende, wie Musik tönende Organ, die vollständige Beherrschung der Individualität zum technischen Zwecke und die umfassendste Bildung sind der Nation noch in keinem Zweiten in diesem Maße nahe getreten. Seine frische, glückliche Jugend blühte im goldenen Nachsommer unserer neu erstandenen Literatur. An Goethe und Schiller labte sich die feurige Seele des Jünglings. Dem frischen, berauschenden Taumel des Schiller’schen kosmopolitischen Idealismus schlug sein jugendliches Herz entgegen, und wenn für Einen, so hatte dieser für ihn seinen Marquis Posa geschrieben!

Die weimar’sche Schule unserer Dichterheroen war damals maßgebend in Sachen der Menschendarstellung. Sie war logisch hervorgegangen aus der Sturm- und Drangperiode; die gesättigte Kraft wollte um jeden Preis zur Anmuth zurückkehren. Was Schiller die Griechheit nennt, dominirte; man lehnte sich also an die Antike und damit an das Ideale. Das Bedürfniß dazu war dringendst vorhanden; denn die rohe Kraft der Haupt- und Staatsactionen hatte Publicum und Darsteller corrumpirt. Mit der Laterne des Diogenes mußte man suchen, um einen Schauspieler zu finden, der im Stande war, Jamben zu sprechen. So lächerlich es heutzutage klingt, die Rollen in den Schiller’schen und Goethe’schen Jambentragödien durften nicht dem Versmaß entsprechend ausgeschrieben werden, da die Schauspieler der damaligen Zeit erklärten, das nicht lernen zu können. So mußte Schiller, um seine Reformation des Geschmackes zu ermöglichen, zugeben, daß die betreffenden Rollen in glatter Prosa ausgeschrieben wurden. Wie sehr berechtigt war also die Rückkehr zum Schönen um jeden Preis!

Freilich – man ging in vielen Beziehungen viel zu weit. Goethe besonders. Seine Ukase zu Gunsten des Schönen auf [185] Kosten des Wahren haben einen Schaden angerichtet, der theilweise noch heute zu bekämpfen ist. Eine Rückenstellung des Mimen zum Publicum galt ihm als Todsünde, wie überhaupt die im Tone eines Gebieters gegebenen Vorschriften zur Geltendmachung des absolut Schönen, die er dem Schauspieler machte, diesen in einen ungestraft nicht zu überschreitenden Zauberkreis von Regeln bannten. Man blieb nicht künstlerisch, man wurde künstlich. Verlangte Goethe doch sogar vom Schauspieler: er solle nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben bei der geringfügigsten Handlung ein plastisch schönes Bild seiner Geste oder Action zu gewinnen suchen. Diese Sucht, stets schön sein zu wollen, sündigt gegen die Natur, die Natur aber läßt nicht ungestraft gegen sich sündigen. Es genügt in der Kunst nicht, nur schön zu sein, auch die Natur und ihr liebstes Kind, die Wahrheit, gehört zu ihren Erfordernissen. Die Goethe’sche Schule führte also in letzter Consequenz zur Unnatur. Goethe bannte den Schauspieler auf der Bühne in einen abgezirkelten Regelzwang, der aller Ursprünglichkeit des Gefühls spottete, und für das Leben erzog er den Menschen im Schauspieler zur affectirten Komödianterie!

Deutschland ist nicht nur geographisch das Land der Mitte, es ist auch der geistige Mittel- und Angelpunkt der Welt, der wahre Culturträger der Menschheit. Weil wir nun in so vielen Dingen Vermittler sind und die Mitte zu halten haben, sagt dem Geiste der Deutschen die goldene Mittelstraße besonders zu. Dieser goldenen Mittelstraße folgend, bedauern wir es nicht, daß die neuere Schule der Menschendarstellung den Idealismus als Norm über Bord geworfen hat und sich bestrebt, nicht nur schön, sondern auch wahr zu sein!

Emil Devrient war der letzte Vertreter des Idealismus als Norm. Seine besten Rollen waren die hoch-idealen. Sein Posa, Sigismund (in „das Leben ein Traum“), Tasso waren die schönsten Blüthen seiner Kunst; dagegen lagen ihm Rollen, welche realistische Schärfen herauskehren, wie Tell, Lear, Narciß, völlig fern, und er verunglückte mit ihrer Darstellung selbst in dem ihn vergötternden Dresden. Darin war Dawison, so lange er in Dresden weilte, sein Ergänzungspartner. So diametral entgegengesetzte Charaktere und zugleich so bedeutende Künstler in ihrer Sphäre werden nicht leicht wieder an einer Bühne vereinigt sei. Ein großartiger Abend war es, als Devrient den Posa und Dawison den König Philipp spielten – schöner und besser sind diese Rollen wohl nie verkörpert worden.

Der jetzigen Generation stand Devrient bereits etwas fremd gegenüber, wobei ich indessen Dresden ausnehme, wo die Tradition auch bei den jüngeren Leuten ihm einen Cultus schuf. Aber anderwärts war es nicht in gleichem Maße der Fall. Gewiß war die Frische und Kraft, welche ihm bei der Hochzahl der Jahre noch zu Gebote stand, bewundernswerth, aber der einsichtsvolle, jüngere Beobachter, dem die wache Erinnerung an das früher von dem Künstler Gebotene nicht Pietät aufnöthigte, fühlte doch, daß die Zeit ihren Tribut forderte. Leider gehöre ich zu Denen, die es tief beklagen müssen, Emil Devrient nicht mehr in den Jahren der wahren Kraft gesehen zu haben. So wunderbar Schönes er noch gab, ich vermißte doch schmerzlich Eins an ihm, das Goethe’sche:

„– Wenn es nicht aus der Seele dringt,
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt – –

Man verstehe mich hier recht! Devrient war in so hohem Maße Herr seiner Individualität und aller technischen Anforderungen, daß er dem oberflächlichen Zuschauer wohl noch die volle Illusion gewähren konnte. So war z. B. der Monolog der zehnten Scene des dritten Actes in Calderon’s „Das Leben ein Traum“ ein Meisterstück der Rhetorik, und das Organ selbst war noch von schönster Fülle und Modulationsfähigkeit. Aber jetzt kommt etwas schwer Definirbares: man muß fühlen, im Innersten fühlen, daß das Herz des Darstellers und nicht nur sein Verstand en masque spricht! Was hätte ich bei seinem Posa, als ich ihn zuletzt sah, nicht für einen vollen, warmen, ehrlichen, nicht gemachten Herzton gegeben! Das ist es, worin die Jahre unerbittlich ihr Recht gefordert hatten: das Blut fließt langsamer in den Adern des Hochbetagten und ist der leidenschaftlichen, ursprünglich kräftigen Erregung nicht mehr fähig.

Schön war aber immer noch Alles, was er gab. Jede Bewegung war voll Adel und Plastik, und sein wogender Gang – so lächerlich bei einigen seiner Nachahmer – gab seiner Erscheinung etwas elastisch Jugendliches. Ich machte die Beobachtung, daß er soviel wie möglich seitliche Stellungen zum Publicum zu gewinnen suchte. Erklärlich war das; denn sein Profil war von einer bezaubernden Reinheit des Schnittes, und es wirkten darum Seitenstellungen ganz besonders. Die Wirkung des Profils unterstützte er gern durch einen vollen, kurzgehaltenen, braunen oder blonden Bart, ohne den er nur in wenigen Rollen, z. B. als Bolingbroke im „Glas Wasser“ erschien. Freilich bekam seine Erscheinung dadurch etwas Stereotypes.

Im Leben war Emil Devrient von einer gewissen zurückhaltenden Liebenswürdigkeit, d. h. im Verkehr mit Männern und Collegen. Den Damen gegenüber war war er gern und ganz Cavalier. Bei mir und vielen Anderen hätte er nichts verloren, wenn er es – seinen hohen Jahren entsprechend – weniger gewesen wäre. Es lag etwas forcirt Jugendliches darin, und die Person, der man eben gern alle Verehrung widmen möchte, gewinnt dadurch nicht. Ein leichter Nasalton gab seiner Sprache einen eigenthümlichen Reiz; doch konnte dieser Reiz bei einiger Verstärkung dieser Eigenthümlichkeit leicht in vornehmer Suffisance untergehen. Ganz im Geiste der Goethe’schen Schule wachte er, auch außerhalb der Bühne, ängstlich über Bewegung und Haltung, was mir im August 1863 beim Begräbnisse der preußischen Hofschauspielerin Ida Pellet am deutlichsten ward.

Ida Pellet stand in freundschaftlichen Beziehungen zu dem Meister, und ihre Carrière war, gewiß durch Devrient’s Gönnerschaft, eine schnelle und glänzende. Im August 1863 gastirte sie am Leipziger Stadttheater, wo ich damals engagirt war. Sie hatte bereits einige Male mit bedeutendem Beifalle gespielt, als wir die Schiller’sche „Jungfrau von Orleans“ probirten. Ich spielte damals den Liebhaber Johannens, Raimond, und als ich nach den Worten:

„– Ergreift den Augenblick! Die Straßen sind leer.
Gebt mir die Hand! Ich will Euch führen –“

sie beim Abgange begleitete, sagte sie plötzlich zu mir:

„Mir wird so eigenthümlich zu Muthe. Ich fürchte eine schwere Krankheit!“

Die Probe ward aufgehoben, und zwei Tage später war Ida Pellet eine Leiche. Wir Schauspieler begleiteten den Trauerzug. Am Grabe sah ich Emil Devrient zum ersten Male. Daß der Meister im tiefsten Innern schmerzlich bewegt war, bekundeten die durch die Thränen geröteten Augen – aber welche Beherrschung dennoch! Schön in Bewegung, Haltung und Geberde auch im tiefsten Schmerz – der große Schüler Goethe’s!

In demselben Jahre widmete Emil Devrient der Leipziger Bühne ein längeres Gastspiel. Ich hatte von jeher am stillen Beobachten meine Freude, und in diesem Falle war es mir als angehendem Jünger der dramatischen Kunst doppeltes Bedürfniß.

Ein kleiner Zwischenfall in diesem Devrient’schen Gastspielcyklus ist mir besonders im Gedächtniß geblieben. Calderon’s „Das Leben ein Traum“ ging in Scene und den ersten Kammerherrn spielte einer unserer besten Schauspieler. Wenn Sigismund (Emil Devrient) sagt:

„– Von meiner Hand sollst Du dafür nun sterben!“

tritt dieser Kammerherr mit einem begütigenden

          „Herr!“

dazwischen. Darauf Sigismund:

„Keiner hind’re mich! Gelingen
Wird es Euch Allen nicht, so wahr Gott lebt!
Ein Jeder, der mir tollkühn widerstrebt,
Soll flugs aus diesem Fenster springen!“

Nichts ist wohl natürlicher und psychologisch richtiger, als daß der vom Prinzen in dieser wenig Vergnügen verheißenden Weise angeredete Hofschranze vor Schreck unwillkürlich einen Schritt zurücktritt. Der betreffende Schauspieler tat dies auch.

„Ach! Bleiben Sie stehen!“ hauchte mit unnachahmlicher aristokratischer Suffisance, ohne den Schuldigen eines Blickes zu würdigen, der Meister. „Bleiben Sie stehen, machen Sie keine Bewegung! Sie ruiniren mir sonst das Bild.“

Der betreffende Schauspieler war ein schlagfertiger Humorist; auf seinem Antlitz wetterleuchtete eine Entgegnung, aber er bezwang sich. Nur eine sehr tiefe Verbeugung machte er dem Meister.

Wie sehr Devrient vor der Welt seine Jugendlichkeit zu [186] documentiren strebte, davon sollte ich während dieses Gastspiels einen ungesuchten Beweis erhalten. Er spielte den Rubens in dem Birch-Pfeiffer’schen „Rubens in Madrid“. Im Laufe des Stückes verkleidet sich Rubens in einen alten holländischen Maler, und Emil Devrient spielte diesen Theil der Rolle mit von der Last der Jahre gebeugtem Rücken, am Stock gehend, völlig greisenhaft. Ich und mehrere Collegen standen hinter dem Prospect, als er nach dieser Scene abging. Kaum hatte er die Thüre hinter sich, als er mit einem aus tiefster Brust geholten „Ah!“ sich hoch emporrichtete, den Umstehenden gewissermaßen andeutend, wie schwer ihm die gebeugte Greisenhaltung geworden sei. Gleich darauf ging er in seine Garderobe, welche an das Conversationszimmer stieß. Als ich kurz darauf in dieses letztere ging, warf ich unwillkürlich einen Blick in die halbgeöffnete Garderobe Devrient’s. Da lag der Mann, mit schwer arbeitender Brust, vollständig erschöpft im Stuhle. Diesmal war es kein Verbergen des natürlichen Zustandes, umsoweniger, als er sich unbeobachtet glaubte. Ich kann nicht leugnen, daß ich dem großen Meister die demonstrative Jugendlichkeit bei seinem Abgange gern erlassen hätte!

Im April 1864 kehrte er gelegentlich des Shakespeare-Jubiläums nochmals zu einem Gastspiele zurück. Er spielte den Hamlet. Rosencranz und Güldenstern waren durch mich und einen ähnlich in den Schuhen der Anfängerschaft steckenden Schauspieler vertreten. Mit Zittern und Zagen geht man als „blutiger“ Anfänger zur Probe, wenn man weiß: Du spielst heute mit Emil Devrient! Und unser verdienter Regisseur hatte mir gesagt:

„Nehmen Sie sich zusammen! Es ist schwer mit Emil zu spielen.“ Demnach bebte ich pflichtschuldigst. Ich ziehe zwar stets meinen Hut vor Shakespeare, aber in diesen Rosencranz und Güldenstern hat er – die Theatersprache sei mir erlaubt! – ein Paar sehr netter Jungen geschaffen. Derartige Rollen erfordern doppelte Aufmerksamkeit, wenn sie nicht das hochgeehrte Publicum unter gewissen Umständen zu mitleidigem Lächeln reizen sollen.

Die Probe ging ganz gut. Nur Eins hatte mir der Meister eingeschärft:

„Wenn Sie mir die Flöte überreichen, so thun Sie es in dieser Weise.“ Er zeigte es mir umständlich.

Abends war ich sehr befangen, und dieser verwünschten Befangenheit verdanke ich es wahrscheinlich, daß ich ihm die Flöte nicht so, wie er es wünschte, übergab. Noch ängstlicher wurde ich, und der Boden brannte mir unter den Füßen, als ich bemerke, daß diese Unterlassungssünde meinerseits den großen Meister ebenfalls vollständig aus dem Concept gebracht hatte. Eine ziemlich lange Pause entstand! Das Publicum harrte achtungsvoll und mit bekanntem Verständniß fand es wahrscheinlich innerlich diese große dramatische Pause ganz zweckentsprechend! Weiß der Himmel, wie es kam, daß der Humor sich mir selbst in dieser peinlichen Situation aufdrängte!

Niemals werde ich den vornehm-mitleidigen Blick vergessen, den der Meister mir beim Abgange zuwarf und den ich in meines Nichts durchbohrendem Gefühle demüthig hinnahm. Dieser Blick sprach mir alles Talent ab, obwohl ich hoffen durfte, daß er sich darin geirrt habe. Aber trotzalledem: ich verehrte ihn doch hoch und verehre ihn noch heute – den großen Emil Devrient!
Arno Hempel.