Ausgewählte Abhandlungen des Bischofs Aphraates/Abhandlung über den Tod und die letzten Zeiten

Textdaten
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Autor: Aphrahat
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Titel: Abhandlung über den Tod und die letzten Zeiten
Untertitel:
aus: Bibliothek der Kirchenväter, Band 38, S. 130–151.
Herausgeber:
Auflage: 1
Entstehungsdatum: 3./4. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Jos. Koesel’sche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Kempten
Übersetzer: Gustav Bickell
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[130]
Abhandlung über den Tod und die letzten Zeiten.




Die Geraden, Gerechten, Guten und Weisen fürchten sich nicht, noch zittern sie vor dem Tode, wegen der großen Hoffnung, welche vor ihnen liegt. Denn sie sind stets dessen eingedenk, daß der Tod einst seinen Raub zurückgeben muß, und daß die Menschen am letzten Tage wieder ins Leben geboren werden.[1] Sie wissen, daß der Tod durch das richterliche Urtheil Gewalt erhielt, weil Adam das Gebot übertreten hatte, wie der Apostel sagt:[2] „Der Tod hat geherrscht von Adam bis auf Moyses, auch über Diejenigen, welche nicht gesündigt hatten, so daß er auch über alle Menschen ergangen ist, gleichwie er über Adam ergangen war.“ Wie [131] aber hat der Tod geherrscht von Adam bis auf Moyses? Als Gott dem Adam das Gebot gab und ihn also warnte: „Am Tage, wo du essen wirst vom Baume der Erkenntniß des Guten und Bösen, wirst du des Todes sterben,“ dieser aber das Gebot übertrat und von dem Baume aß, herrschte der Tod über ihm und über allen seinen Kindern; auch über Diejenigen, welche nicht gesündigt hatten, herrschte der Tod wegen der Gebotsübertretung Adams. Warum aber sagt er: „Der Tod hat geherrscht von Adam bis Moyses?“ Daraus könnte ein Unverständiger schließen, der Tod habe nur von Adam bis Moyses Gewalt gehabt. Aber der richtige Sinn ergibt sich klar aus den Worten: „Er ist zu allen Menschen hindurchgedrungen.“ Der Tod ist also zu allen Menschen, auch von Moyses bis zum Ende der Welt, hindurchgedrungen. Moyses hat jedoch den Untergang seiner Herrschaft voraus verkündigt. Als nämlich wegen Adams Gebotsübertretung der Tod über dessen Kinder verhängt wurde, da glaubte der Tod, er habe nun alle Menschen unter seine Macht beschlossen und werde in Ewigkeit über sie herrschen. Als aber Moyses kam, verkündigte er die Auferstehung, und der Tod erfuhr, daß sein Reich dereinst aufhören werde. Denn Moyses sprach:[3] „Ruben lebe und sterbe nicht und werde zahlreich!“ Und als der Heilige dem Moyses aus dem Dornbusche zurief, sprach er also zu ihm: „Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“ Da der Tod diese Stimme hörte, gerieth er in Zittern, Furcht, Angst und Aufregung und erkannte, daß er nicht auf ewig König über die Menschen bleiben werde. Von der Zeit an, wo der Tod jenes Wort Gottes an Moyses gehört hatte: „Ich bin der Gott Abrahams. Isaaks und Jakobs“, schlug er verzweiflungsvoll die Hände zusammen; denn er wußte nun, daß Gott König über die Todten und die Lebenden ist, und daß die Menschen einst aus seiner Finsterniß herauskommen und in ihren Leibern auferstehen werden. Beachte [132] noch, daß auch Jesus, unser Erlöser, als er den mit ihm über die Auferstehung streitenden Sadducäern jenen Ausspruch wiederholte, ihn also erklärte:[4] „Gott ist nicht ein Gott der Todten; denn Alle leben ihm.“ Um zu bezeugen, daß die Herrschaft des Todes über alle auf Erden Lebende nicht ewig dauern werde, versetzte Gott den Henoch zu sich, da er ihm wohlgefällig war, und entzog ihn dem Tode. Ebenso ließ er den Elias zum Himmel auffahren, so daß der Tod keine Gewalt über ihn erhielt. Auch Anna sprach:[5] „Der Herr tödtet und belebt wieder, läßt zur Unterwelt herabsteigen und bringt wieder herauf.“ Ferner sagt Moyses im Namen Gottes:[6] „Ich mache todt, und ich mache wieder lebendig.“ Auch der Prophet Isajas[7] sagt: „Deine Todten werden leben, und ihre Leichname werden auferstehen; die im Staube Schlafenden sollen auferweckt werden und dich preisen.“ Als der Tod alles Dieses hörte, da ergriff ihn Staunen, und er saß traurig da. Als aber Jesus, der Tödter des Todes, selbst kam, bekleidet mit dem Leibe aus Adams Geschlecht, und an seinem Leibe gekreuzigt den Tod empfand, und als der Tod merkte, daß Jener zu ihm herabstieg, da wankte er von seiner Stätte hinweg und ward bestürzt, weil er Jesum sah, verschloß seine Thore und wollte Ihn nicht einlassen. Da zerbrach Jener seine Thore, trat bei ihm ein und begann all seinen Besitz zu erbeuten. Als aber die Todten das Licht in der Finsterniß erblickten, erhoben sie ihre Häupter aus der Gefangenschaft des Todes, schauten aus und erblickten den Glanz des Königs Christus. Da saßen die Mächte seiner Finsterniß in Trauer, weil die Herrschaft des Todes gestürzt war, und der Tod kostete das ihn tödtende Heilmittel. Seine Arme erschlafften, denn er erkannte, daß die Todten lebendig wurden und sich seiner Knechtschaft entzogen. Als der Tod so durch den Raub seines Besitzes beängstigt war, heulte und klagte er bitterlich, also sprechend: [133] „Verlasse meine Wohnstätte, tritt nicht in sie ein! Wer ist es denn, welcher meine Wohnstätte lebendig betreten kann?“ Als der Tod voll Aufregung also schrie, weil er sah, daß seine Finsterniß zu schwinden anfing, und einige der schlafenden Gerechten sich erhoben, um mit Jenem aufzufahren, und weil Er ihm ankündigte, Er werde bei Seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten alle Eingeschlossenen aus seiner Herrschaft befreien und zu Sich hinaufführen, um das Licht zu schauen, da drängte er Jesum, nachdem dieser sein Werk unter den Todten vollendet hatte, aus seiner Wohnstätte hinweg und ließ ihn nicht mehr daselbst verweilen: nicht behagte es ihm, Jesum gleich allen übrigen Verstorbenen zu verschlingen; nicht erhielt er Gewalt über den Heiligen, und nicht wurde dieser der Verwesung überlassen.[8]

Als nun Jesus dem Tode entgangen war und seine Stätte verlassen hatte, ließ Er bei ihm als Heilmittel die Verheissung des Lebens zurück, durch welche seine Herrschaft allmählich vernichtet werden sollte. Es erging dem Tode mit Jesu, wie einem Manne, welcher tödtliches Gift in der zur Lebenserhaltung bestimmten Speise eingenommen hat; sobald er bemerkt, daß er in der Speise Todesgift genommen hat, erbricht er zwar die mit Gift gemischte Nahrung; aber das Gift läßt doch seine Wirkung in den Gliedern zurück, so daß nach und nach das Gefüge seines Leibes aufgelöst und zerstört wird. So ist auch der getödtete Jesus, durch welchen das Leben verheissen ist und der Tod vernichtet wird, der Überwinder des Todes, wie gesagt ist:[9] „Tod, wo ist dein Sieg?“

All’ ihr Kinder Adams also, über die der Tod herrscht, gedenket des Todes und erinnert euch des Lebens und übertretet nicht das Gebot, wie euer Stammvater! O ihr kronengeschmückten Könige, gedenket des Todes, der die Kronen von eueren Häuptern hinwegnimmt und selbst König [134] über euch wird, bis zur Zeit, da ihr zum Gerichte auferstehen müsset! O ihr Vornehmen, Hochgestellten und Übermüthigen, gedenket an den Tod, der alles Hohe zerstört, die Glieder auflöst, das Zusammengefügte trennt, das Leibesgebilde der Verwesung anheimgibt, die Hochmüthigen demüthigt, die herben und harten Gebieter in seiner Finsterniß verbirgt und allen Übermuth hinwegnimmt, indem er die Stolzen verwesen und bis zum Gericht zu Staub werden läßt! O ihr Reichen, gedenket des Todes; denn wenn die Zeit genahet ist, wo ihr zu ihm kommen müsset, könnt ihr Reichthum und Besitz nicht länger genießen! Dort setzt man euch keine köstliche Speise vor und bereitet euch keinen erquickenden Trank. Dort verwesen die üppigen Leiber der Genußsüchtigen und entbehren der Genüsse, ohne ihrer zu gedenken. Die Made verzehrt daselbst ihre Leiber, und über ihren Prachtgewändern werden sie mit Finsterniß bekleidet. Sie denken gar nicht mehr an diese Welt; denn der Tod macht sie verwirrt, wenn sie zu ihm herabsteigen. Sie sitzen da in Trauer und Todesschatten und erinnern sich dieser Welt nicht mehr, bis das Ende kommt und sie zum Gerichte auferstehen. O ihr Räuber, Unterdrücker und Beschädiger des Nächsten, gedenket des Todes und setzet euere Sünden nicht fort! Denn an jenem Orte können die Sünder nicht mehr Buße thuen. Wer das Gut seines Nächsten geraubt hat, kann dort sogar sein eigenes nicht behalten, weil er an einen Ort geht, wo Reichthum Nichts mehr nützt. Daselbst bleibt er, bar und ledig seines Ansehens; aber seine Sünden werden aufbewahrt für den Tag des Gerichtes. O ihr, die ihr auf diese Welt vertrauet, möchte doch diese Welt in eueren Augen verächtlich erscheinen! Denn ihr seid ja nur Gäste und Fremdlinge in ihr und wisset nicht, an welchem Tage ihr aus derselben abgeführt werdet. Denn plötzlich kommt der Tod, trennt und führt hinweg die geliebten Kinder von ihren Eltern, und die Eltern von ihren lieben Kindern. Er holt die theueren einzigen Söhne zu sich ab, so daß die Eltern ihrer beraubt werden und der Geringschätzung anheimfallen. Er trennt werthe Freunde von einander, so daß die Überlebenden [135] über ihre verstorbenen Lieben bitterlich weinen. Er führt hinweg und schließt bei sich ein die Schöngestalteten, um ihre Gestalt zu entstellen und zu zerstören. Die Anmuthigen führt er hinweg und verwandelt sie in Staub bis zum Gericht. Er führt hinweg die Bräute von ihren Verlobten und schließt sie in seinem finsteren Gemache ein; er entreißt die Bräutigame den Jungfrauen, welche ihnen bestimmt und verlobt sind, so daß diese in bitterer Trauer um sie dasitzen. Er reißt an sich die schönen Jünglinge, welche den Tod erst im Greisenalter zu sehen erwarteten. Er versammelt bei sich die geliebten Kindlein, an denen sich die Eltern nicht satt sehen konnten. Er führt zu sich ab die übermüthigen Reichen, und ihre Besitzungen entschwinden ihnen gleich Meereswellen. Er führt hinweg zu sich die fleissigen Künstler, welche durch ihre staunenswerthen Werke die Welt ausschmücken, auch die Klugen und Weisen, und macht sie zu Thoren, welche Gutes und Böses nicht mehr zu unterscheiden wissen. Er führt zu sich ab die Begüterten dieser Welt, und es vergeht ihr Besitz und bleibt nicht bestehen auf ewig. Er führt zu sich hinweg die mächtigen Helden, und ihre Gewalt wird gebrochen, schwindet und vergeht. Sie, welche sich sicher fühlten, daß ihre Macht nie geringer werden könnte, werden an ihrem Todestage von Solchen beigesetzt, die von ihnen geringgeschätzt wurden. Die, welche sicher erwarteten, einst ehrenvoll begraben zu werden, werden manchmal von den Hunden gefressen. Sie, welche fest darauf rechneten, in ihrer Heimath beerdigt zu werden, werden vielleicht nicht einmal in dem Lande ihrer Gefangenschaft schmachvoll verscharrt. Denjenigen, welche überzeugt waren, daß sie ihre Güter ihren Söhnen vererben würden, bleibt verborgen, daß diese einst von ihren Feinden geplündert werden. Der Tod führt zu sich hinweg die gewappneten Krieger, welche die weite Welt zu erobern gedachten, wie auch Diejenigen, welche sich schmückten mit jeglicher Zierde, und es kommt vor, daß sie wie ein Esel begraben werden.[10] [136] Der Tod herrscht auch über die Ungeborenen und schließt sie bei sich ein, noch ehe sie zur Welt kommen. Der Tod führt die Hochangesehenen aus ihrer Herrlichkeit hinweg, und sie werden zur Verachtung, wenn sie zu ihm hinabgestiegen sind an den Ort der Finsterniß, wo kein Licht ist. Er scheut sich nicht vor den kronentragenden Königen, weicht nicht schüchtern zurück vor den hochmüthigen und aufbrausenden Ländereroberern; er ist nicht parteiisch zu Gunsten der Angesehenen, nimmt keine Bestechung von den Reichen an, verachtet nicht die Armen und schätzt die Besitzlosen nicht gering. Er ehrt nicht Diejenigen, welche in hohen Würden stehen, macht keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen, erweist den Greisen nicht mehr Ehrerbietung als den Kindern und den Gelehrten nicht mehr als den Unwissenden. Diejenigen, welche um Erwerbung von Besitz sich ablaufen und abmühen, sind dort bei ihm von allen ihren Gütern entblößt. Er führt gleichmäßig ab die Sklaven und ihre Herren, ohne die Letzteren mehr zu ehren als die Ersteren. Geringe wie Große sind daselbst, und nicht hören sie die Stimme des Unterjochers. Der Sklave, welcher von seinem Herrn freigeworden ist, kümmert sich dort nicht mehr um seinen ehemaligen Gebieter.[11] Der Tod fesselt und schließt bei sich ein sowohl die Gefangenwärter als auch die in’s Gefängniß Geworfenen. Durch den Tod werden die Gefangenen losgelassen und brauchen sich nicht mehr vor ihren Vorgesetzten zu fürchten. Die Hochgestellten zittern vor dem Tode, aber die Bedrängten harren auf ihn, daß er sie bald wegführe. Alle Reichen beben vor dem Tode, aber die Armen verlangen nach ihm, um von ihren Mühsalen auszuruhen. Der Tod erschreckt die Kraftvollen, wenn sie Seiner gedenken, aber die Kranken warten auf ihn, um ihre Schmerzen zu vergessen. Ferner fürchten sich die jungen Leute vor dem Tode, weil sie, wenn er kommt, ihre Vergnügungen verlassen müssen; aber die hochbetagten Greise, welchen das tägliche [137] Brod mangelt, beten um ihn. Die Kinder des Friedens denken an den Tod, alsdann verzeihen sie und vergessen Zorn und Feindschaft. Wie Fremdlinge wohnen sie in dieser Welt und bereiten sich Reisevorrath für das vor ihnen liegende Jenseits. Sie sinnen und denken über das, was droben ist, aber die Dinge unter ihren Augen achten sie gering. Sie senden ihre Schätze voraus zu der Stätte, wo Nichts zu befürchten ist, wo weder Motten, noch Diebe sich finden. Sie wohnen in der Welt wie Fremdlinge, welche einem entfernten Lande entstammen,[12] und sie harren darauf, daß sie aus dieser Welt entlassen werden und zu der Stadt der Gerechten heimkehren dürfen. Sie tödten sich ab in dem Lande der Verbannung und lassen sich nicht aufhalten durch Sorgen in der Fremde. Alle Tage ist ihr Angesicht nach oben gerichtet, auf daß sie eingehen in die Ruhe ihrer Väter. Wie Gefangene sind sie in dieser Welt, und wie Geißeln werden sie für den König festgehalten. Sie fühlen sich durchaus nicht behaglich in dieser Welt, denn sie erwarten nicht, daß dieselbe auf ewig bestehen bleibe. Diejenigen, welche Schätze erwerben, können sich ihrer nicht erfreuen; die, welche Kinder erhalten, werden durch deren Tod betrübt; die, welche Städte bauen, können nicht darin bleiben; so handeln sie also in ihrem Rennen und Abmühen um Irdisches ganz wie Thoren. Wie unverständig ist doch der Mensch, welcher sein Vertrauen auf diese Welt setzt! Erinnere dich doch, mein Freund, erwäge und beobachte in deinem Geiste, ob irgend Jemand von den früheren Generationen auf dieser Welt zurückgeblieben ist, um daselbst ewig am Leben zu bleiben! Der Tod hat die früheren Geschlechter hinweggeführt, Helden, Mächtige und Weise. Welcher Reiche hat je beim Ausgang aus dem Leben seine Schätze mitnehmen können? Was von der Erde aufgesammelt ist, muß auch zu ihr zurückkehren, und entblößt verläßt [138] der Mensch seine Habe. Die Reichen, welche weise sind, schicken sich von ihrem Besitze voraus, wie Job sagt:[13] „Meine Zeugen sind im Himmel“ und: „Meine Brüder und Freunde sind bei Gott.“ Auch unser Herr befiehlt den Besitzenden, daß sie sich Freunde im Himmel verschaffen und ihre Schätze daselbst anlegen sollten.[14] Gedenke auch du, o weiser Schriftgelehrter, des Todes, auf daß dein Herz nicht hochmüthig werde und du an das Gericht zu denken vergessest! Denn der Tod verschont nicht die Weisen und ist nicht parteiisch zu Gunsten der Klugen. Er führt zu sich hinweg die weisen Schriftgelehrten, und sie vergessen, was sie gelernt haben bis zur Zeit der Auferstehung aller Gerechten. An jenem Orte vergißt man diese Welt; dort ist keine Bedürftigkeit mehr. Die Seligen lieben sich unter einander mit vollkommener Liebe. Ihre Körper sind nicht mehr schwerfällig, sondern sie fliegen leicht, wie Tauben zu ihren Höhlungen. Er kommt durchaus nichts Böses mehr in ihren Sinn, und nichts Unreines regt sich in ihrem Herzen. An dieser Stätte ist die natürliche Begierde geschwunden, und weit sind alle Lüste von ihr entfernt. Nicht erhebt sich in den Herzen der Seligen Zorn oder Sinnlichkeit; alle Ursachen der Sünde sind von ihnen hinweggeräumt. In ihren Herzen glüht brüderliche Liebe, und keine Spur von Haß bleibt darin zurück. Dort brauchen sie keine Häuser zu bauen, denn sie weilen im Lichte, in den Wohnungen der Heiligen. Sie bedürfen keines gewebten Gewandes, denn sie sind mit Licht bekleidet auf ewig. Sie bedürfen keiner Speise, denn sie sitzen am Tische Gottes und werden da ewig genährt. Die Luft ist dort lieblich und wonnig, ihr Licht strahlend, schön und klar. Daselbst sind prachtvolle Bäume gepflanzt, welche stets Früchte tragen, und deren Blätter nicht abfallen. Ihr Laub ist herrlich, ihr Arom [139] süß, und ihren Geschmack wird man nie überdrüssig. Jene Stätte ist weit und schrankenlos, aber ihre Bewohner sehen das Entfernteste ebenso gut als das Nächste. Dort findet keine Erbtheilung statt, und Niemand sagt zu seinem Nächsten: Dieses gehört mir, und Jenes dir. Daselbst wird man nicht mehr durch Habgier gefesselt, nicht irrt man sich in der Erinnerung. Niemand liebt dort einen Anderen mit besonderer Bevorzugung, sondern Alle lieben sich unter einander vollkommen in gleicher Weise. Dort nimmt man keine Weiber und erhält keine Kinder; denn daselbst ist kein Unterschied zwischen Mann und Weib, und Alle sind Kinder des himmlischen Vaters, wie der Prophet[15] sagt: „Haben wir nicht Alle einen Vater, oder hat uns nicht ein Gott geschaffen?“ Was aber meine Behauptung betrifft, daß man dort keine Weiber nehme, und daß kein Unterschied zwischen Mann und Weib bleibe, so lehrt uns Dieß unser Herr und sein Apostel. Denn unser Herr sagt:[16] „Diejenigen, welche jener Welt und der Auferstehung von den Todten gewürdigt werden, freien nicht und lassen sich nicht freien; denn sie können nicht mehr sterben, sondern sind wie die Engel im Himmel und Kinder Gottes.“ Ebenso sagt der Apostel:[17] „Da ist weder Mann noch Weib, weder Knecht noch Freier, sondern ihr seid alle Eins in Jesu Christo.“ Denn um der Fortpflanzung willen hatte Gott die Eva von Adam getrennt, damit sie die Mutter alles Lebenden werde. Aber in jener Welt gibt es kein Weib, wie es auch im Himmel weder Weib noch Geburt noch Begierde gibt. An jener Stätte findet sich nichts Mangelhaftes, sondern Alles ist vollendet und vollkommen. Die Greise sterben nicht, und die Jünglinge altern nicht, so daß also die Jünglinge nicht nöthig haben, Weiber zu nehmen, um Nachkommen zu erhalten, aus Furcht, daß sie selbst altern und sterben möchten, damit dann nach dem Tode der Eltern die Kinder deren Stelle vertreten könnten. Denn Dieß alles geschieht nur in diesem Leben. An jener Stätte [140] aber findet sich nicht Bedürftigkeit und Mangel, Begierde und Geburt, Ende, Hinschwinden, Tod, Aufhören, Veralten, Haß, Zorn, Neid, Ermüdung, Arbeit, Finsterniß, Nacht und Lüge, kurzum in ihr ist gar keine Unvollkommenheit mehr vorhanden, sondern sie ist voll von Licht und Leben, Gnade, Fülle, Sättigung, Erneuung, Güte und allen seligen Verheissungen, welche aufgezeichnet und unverzeichnet sind. Denn daselbst findet sich, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gekommen ist, was nie ausgesprochen worden, und was kein Mensch zu beschreiben vermag, wie Paulus sagt,[18] was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. So viel die Menschen auch darüber reden mögen, sie können es nicht beschreiben; was kein Auge gesehen hat, können sie nicht schildern; was kein Ohr gehört hat, geziemt sich nicht, mit etwas Hörbarem oder Sichtbarem zu vergleichen; und wer dürfte wagen zu behaupten, daß Dasjenige, was in keines Menschen Herz gekommen ist, irgend einem erkennbaren Gegenstande gliche? Aber angemessen ist es, daß der Sprechende diese Stätte vergleichungsweise benenne als Wohnung Gottes, Stätte des Lebens, der Vollkommenheit, des Lichtes, der Herrlichkeit, als Sabbat Gottes, Tag der Ruhe, Ruhe der Gerechten, Erquickung der Rechtschaffenen, Wohnort und Heimath der Gerechten und Heiligen, Stätte unserer Hoffnung, Haus unserer festen Zuversicht, Haus unseres Schatzes, Stätte, wo unsere Mühsal ausgetilgt, unsere Noth aufgehoben und unser Seufzen gestillt wird. Mit diesen Namen dürfen wir jenen Ort vergleichen und benennen.

Ferner führt der Tod zu sich ab die kronentragenden Könige, welche ganzen Ländern vorstehen und sich stark dünken in ihrer Hoheit, und verschont nicht die Beherrscher der Provinzen. Er führt gefangen ab die Gierigen, welche nicht satt werden konnten und nie sprachen: Es ist genug; und er zeigt gegen sie eine noch gefräßigere Gier, als die ihrige [141] war. Der Tod führt zu sich ab die Eroberer, welche sich nicht durch Mitleid von der Beraubung ihres Nächsten zurückhalten ließen; auch die Verfolger läßt er sterben und setzt so ihren Gottlosigkeiten ein Ziel. Der Tod führt zu sich ab die Gewaltthätigen, so daß die Bedrückten Ruhe erhalten, noch bevor auch sie zu ihm kommen; ferner die, welche ihre Mitmenschen verschlingen, so daß die Bedrängten und Verfolgten ein wenig aufathmen können, bis daß auch sie abgeführt werden und dorthin gelangen. Der Tod führt hinweg die viel Nachdenkenden, und Alles, was sie ausgesonnen haben, schwindet und vergeht. Die Menschen erdenken viele Dinge, aber der Tod kommt plötzlich über sie und treibt sie hinweg, so daß sie sich an Nichts mehr erinnern von dem, was sie überlegt hatten. Mancher ist vieler Sprachen kundig, aber das bleibt ihm verborgen, daß er morgen nicht mehr am Leben sein wird. Ein Anderer überhebt sich stolz über seinen Nächsten; da kommt der Tod über ihn und macht seinem Stolze ein Ende. Der Reiche sinnt darauf, wie er seine Schätze noch vermehre, bedenkt aber nicht, daß er nicht einmal das behalten kann, was er schon besitzt. Der Tod führt alle Menschen zu sich ab und schließt sie in seiner Behausung ein bis zum Gericht. Auch über Diejenigen, welche nicht gesündigt haben, herrscht er wegen des Strafurtheils, das Adam um seiner Sünde willen erhalten hat. Aber es kommt der Beleber, der Tödter des Todes, und nimmt ihm seine Gewalt über die Gerechten und über die Gottlosen. Die Todten werden auferstehen bei der gewaltigen Stimme, und der Tod wird seiner ganzen Gefangenschaft beraubt und entäussert werden. Dann werden alle Menschen zum Gericht versammelt, und ein Jeder geht zu dem ihm bestimmten Orte. Die Auferstehung der Gerechten führt zum Leben, aber die Auferstehung der Gottlosen wird dem Tode überliefert. Die Gerechten, welche die Gebote beobachtet haben, gehen am Auferstehungstage an dem Gerichte vorbei, ohne vor dasselbe gestellt zu werden, wie David[19] [142] bat: „Gehe nicht in’s Gericht mit deinem Knechte!“ Auch ihr Herr schreckt sie nicht an jenem Tage. Erinnere dich ferner, daß der Apostel[20] sagt: „Wir werden die Engel richten,“ sowie, daß unser Herr zu seinen Jüngern sprach:[21] „Ihr werdet aus zwölf Thronen sitzen und die zwölf Geschlechter Israels richten.“ Auch Ezechiel[22] sprach von den gerechten Männern, daß sie die Ohola und die Oholiba richten würden. Indem er sagt, daß die Gerechten über die Sünder richten würden, deutet er an, daß sie selbst nicht in das Gericht kommen werden. Höre auch, was ich dir über den Ausspruch des Apostels, daß wir die Engel richten würden, nachweisen will. Die Engel, welche von den Aposteln gerichtet werden, sind die Priester, die gegen das Gesetz gefrevelt haben, wie der Prophet[23] gesagt hat: „Die Lippen des Priesters sollen die Weisheit bewahren, und das Gesetz soll man aus seinem Munde verlangen; denn er ist ein Engel des Herrn der Heerschaaren.“ Aus dem Munde dieser Engel oder Priester wird das Gesetz verlangt, weil sie gegen das Gesetz gesündigt haben. Im letzten Gericht werden sie verurtheilt von den Aposteln und den Priestern, welche das Gesetz gehalten haben. Denn die Gottlosen werden nicht bestehen im Gericht, noch die Sünder in der Versammlung der Gerechten.[24] Und gleichwie die in guten Werken vollkommenen Gerechten nicht vor Gericht zu erscheinen brauchen, ebenso wird auch von den Gottlosen, deren Sünden zahlreich und deren Schuldmaß übervoll ist, nicht verlangt, daß sie vor Gericht treten, sondern, sobald sie auferstehen, kehren sie alsbald wieder in die Hölle zurück, wie David[25] sagt: „Die Gottlosen werden in die Hölle zurückkehren und alle Völker, die Gott vergessen haben.“ Auch Isaias[26] sagt: „Alle Völker sind wie ein Tropfen am Eimer und wie das Zünglein der Wage; die Inseln werden wie Staub zerstreut [143] werden, und alle Völker sind für Nichts gerechnet; zum Untergang und zur Vernichtung sind sie bestimmt.“ Lerne also und überzeuge dich, daß alle Völker, welche Gott, ihren Schöpfer, nicht kennen, bei Gott wie Nichts gerechnet werden und zu seinem Gericht nicht hinzutreten, sondern gleich nach der Auferstehung in die Hölle zurückkehren.

Alle übrigen Menschen aber, welche Sünder heissen, werden vor Gericht gestellt und zur Verantwortung gezogen. Diejenigen nun, welche wenige Fehler begangen haben, tadelt der Richter, verkündigt ihnen, daß sie gesündigt haben, und verleiht ihnen nach dem Gericht das ewige Leben zum Besitz. Erwäge auch, wie uns unser Herr im Evangelium[27] belehrt hat, daß ein Jeder seinen Lohn gemäß seiner Arbeit empfangen werde. Als Diejenigen, welche das Geld empfangen hatten, ihren Gewinn vorzeigten, da erhielt der, dessen Talent zehn andere gewonnen hatte, das vollkommene, in keiner Beziehung mangelhafte Leben. Derjenige aber, dessen Talent fünf andere erworben hatte, erhielt die Hälfte, indem ersterer Gewalt über zehn, letzterer über fünf Antheile bekam. Erkenne hieraus, daß der Lohn dessen, der fünf Talente erworben hatte, geringer war, als der Lohn dessen, der zehn Talente gewonnen hatte! Ebenso hatten auch diejenigen Arbeiter, welche ihren Lohn fordern durften, einen Vorzug vor denen, welche ihn schweigend empfingen. Diejenigen nämlich, welche den ganzen Tag hindurch gearbeitet hatten, empfingen den Lohn mit Zuversicht und verlangten vertrauensvoll, daß er ihnen noch vermehrt werde. Aber die, welche nur eine Stunde hindurch gearbeitet hatten, nahmen ihn schweigend in Empfang, da sie wußten, daß ihnen das ewige Leben nur aus Güte und Gnade zu Theil geworden war. Diejenigen Sünder jedoch, deren Sünden zahlreich sind, werden im Gerichte verurtheilt und gehen in die Qual; und von da an bis in Ewigkeit erhält das Gericht Gewalt über sie.

[144] Höre ferner diese Worte des Apostels:[28] „Ein jeder Mensch wird gemäß seiner Arbeit Lohn empfangen.“ Wer wenig gearbeitet hat, wird empfangen, wie er sich bemüht hat, und wer einen guten Lauf vollendet hat, wird demgemäß belohnt werden. Auch Job[29] sagt: „Das sei ferne von Gott, daß er Unrecht thue, und ferne sei es von ihm, Sünde zu begehen, sondern er vergilt dem Menschen nach dessen Werken, und der Mann wird es finden nach seinen Wegen.“ Deßgleichen sagt der Apostel:[30] „Der eine Stern hat helleren Glanz als der andere; ebenso wird es auch bei der Auferstehung der Todten sein.“ Wisse also, daß auch unter denen, welche zum Leben eingehen, der Eine eine höhere Belohnung und Herrlichkeit, einen größeren Lohn, eine erhabenere Rangstufe, ein strahlenderes Licht erhält als der Andere. Die Sonne ist vorzüglicher als der Mond, und der Mond größer als die Sterne, welche mit ihm zugleich sichtbar sind. Siehe, wie Mond und Sterne unter der Herrschaft der Sonne stehen und ihr Licht durch den Glanz der Sonne verdunkelt wird! Die Sonne herrscht nicht zu gleicher Zeit mit dem Mond und den Sternen, damit nicht die Nacht aufhöre, welche vom Tage getrennt worden ist. Als die Sonne geschaffen wurde, erhielt sie den Namen eines Lichtes. Siehe nun, wie sie alle, Sonne, Mond und Sterne, Lichter genannt wurden; aber das eine Licht übertrifft das andere. Die Sonne verfinstert das Licht des Mondes, der Mond läßt das Licht der Sterne erbleichen, und der eine Stern strahlt heller als der andere. Bedenke ferner, wie auch in dieser Welt unter den Arbeitern und Lohndienern, welche mit ihren Gefährten arbeiten, manche für den Tag gemiethet sind, so daß sie den Lohn ihrer Arbeit für den Tag empfangen; andere sind für einen Monat gemiethet, so daß sie ihren Lohn berechnen und nach Ablauf der bestimmten Zeit einnehmen. Der Lohn für einen Monat ist aber verschieden von dem Lohne eines Tages, und noch höher ist der Lohn [145] eines Jahres. Dasselbe kannst du auch an der weltlichen Obrigkeit beobachten. Manche nämlich gefallen dem König wegen ihres Verhaltens und empfangen Ehre von den Gewalthabern. Der Eine erhält vom König eine Krone, indem er zum Statthalter einer Provinz ernannt wird; dem Anderen gibt der König Landgüter und zeichnet ihn durch Prachtgewänder vor den minder Angesehenen aus; wieder Andere empfangen Gaben und Geschenke. So ist die dem Einen erwiesene Ehre von der des Anderen verschieden. Dem Einen erweist der König die Ehre, daß er ihn zum Verwalter aller seiner Schätze macht; der Andere dient dem König gemäß seiner geringen Befähigung und hat nur für die Bereitung des täglichen Brodes zu sorgen.

Auch von der Strafe behaupte ich, daß sie nicht für Alle die gleiche sei. Wer viel gesündigt hat, wird heftig gequält; wer weniger gesündigt hat, wird gelinder gestraft. Manche gehen in die äusserste Finsterniß, wo Weinen und Zähneknirschen ist. Andere fallen, wie sie es verdienen, in’s Feuer, von welchem nicht geschrieben steht, daß in ihm Zähneknirschen oder Finsterniß sei. Manche werden an einen anderen Ort geworfen, wo ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht erlischt und sie allem Fleische zum Entsetzen werden. Anderen wird die Thüre vor dem Angesicht zugeschlossen und ihnen vom Richter zugerufen: Ich kenne euch nicht. Erkenne also, daß die Strafen ebenso wenig als die Belohnungen für Alle die gleichen sind! Die Menschen werden nicht auf eine einzige Weise gerichtet, sondern einem Jeden wird nach seinen Werken vergolten. Denn der Richter ist mit Gerechtigkeit bekleidet und unparteiisch. Und wie ich dir vorher gezeigt habe, daß die Könige und Fürsten dieser Welt ihren Untergebenen nicht die gleichen Ehren erweisen, und daß sie denen, die sie auszeichnen wollen, verschiedenartige Gaben schenken, ebenso will ich dir auch zeigen, daß sie verschiedene Arten von Kerkern, Ketten, Fesseln und Banden haben. Der Eine begeht ein schweres Verbrechen gegen den König und wird ohne Untersuchung dem Tode überliefert. Das Verbrechen des Anderen ist kein todeswürdiges, [146] deßhalb wird er gefesselt, bis daß er sein Strafurtheil abgebüßt hat, und alsdann verzeiht ihm der König sein Vergehen. Ein Anderer ist dem Herzen des Königs theuer und wird deßhalb ausserhalb des Kerkers, ohne Ketten und Banden, in Gewahrsam gehalten. Nun ist doch ein Unterschied zwischen Hinrichtung und Gefängniß, und der Eine wird, je nach Verdienst seines Verbrechens, härter als der Andere bestraft. Vernimm noch unseren Erlöser, welcher sagt:[31] „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“

Über das, was ich dir schreibe, mein Freund, streiten Menschen von geringer Einsicht und fragen: An welchem Orte empfangen die Gerechten ihre Belohnung, und an welchem Orte werden die Gottlosen zur Strafe ihrer Thaten gequält? O Mensch, der du so denkst, ich will dich fragen, sage mir: Ist nicht der Tod Dasjenige, was Tod genannt wird, und die Hölle Dasjenige, was Hölle genannt wird? Denn es steht geschrieben, daß, als Kore und seine Genossen sich gegen Moyses auflehnten, die Erde ihren Schlund öffnete und sie verschlang, so daß sie lebendig in die Hölle hinabstiegen. Der Schlund der Hölle ist also derjenige, welcher sich damals in der Wüste geöffnet hatte. Auch David sagt: „Die Gottlosen werden in die Hölle zurückkehren.“ Wir behaupten also, daß die Gottlosen in dieselbe Hölle zurückkehren werden, von welcher Kore und seine Genossen verschlungen worden sind. Gott könnte nach seinem Willen und Belieben das ewige Leben entweder im Himmel oder auf Erden verleihen. Jesus, unser Herr, sprach: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Und dem einen der mit ihm Gekreuzigten, welcher an ihn glaubte, versprach er mit einem Eidschwur: „Du wirst mit mir im Paradiese Eden sein.“ Auch der Apostel[32] sagt: „Wenn die Gerechten auferstehen, werden sie unserem Erlöser entgegen fliegen.“ Wir aber sagen also: Wahr ist das Wort unseres Erlösers, daß Himmel und Erde vergehen werden. Ebenso sagt der Apostel:[33] „Die Hoffnung auf etwas Sichtbares ist keine [147] Hoffnung,“ und der Prophet:[34] „Der Himmel wird wie Rauch vergehen und die Erde wie ein Gewand veralten, und ihren Bewohnern wird es ebenso ergeben.“ Auch Job[35] sagt von den Entschlafenen, sie würden nicht aufwachen und sich von ihrem Schlafe erheben, bis daß der Himmel veralte. Entnimm hieraus, daß diese Erde, in welche die Menschen eingesäet werden, und das Firmament über uns, welches zur Scheidung zwischen dem oberen Himmel und der Erde dieses Lebens geschaffen ist, dereinst vergehen, veralten und aufhören werden; Gott aber wird den Menschen ein Neues bereiten, und sie werden ihr Erbe im Himmelreich erhalten. Wenn er es ihnen auf Erden bereiten würde, so würde es dennoch Himmelreich heissen; und ebenso leicht fällt es ihm, es im Himmel zu bereiten. Denn wenn auch ein irdischer König seine bestimmte Residenzstadt hat, so wird doch jeder Ort, wohin er als Herrscher kommt, als sein Königshof bezeichnet. Die leuchtende Sonne ist am Firmamente befestigt, sendet aber ihre Strahlen überall hin, und ihre Herrschaft erstreckt sich über Land und Meer. Siehe, wie auch die Herrscher dieser Welt ihre Gelage und Festlichkeiten an jedem Orte und in jeder Stadt halten, wohin sie mit ihren Festgenossen ziehen, und wie sie umgekehrt an jedem ihnen beliebigen Ort Gefängnisse anlegen! Die Sonne vollendet in zwölf Stunden ihren Umlauf von Osten nach Westen. Wenn sie ihren Lauf vollendet hat, so wird ihr Licht durch die Nacht verdeckt, und die Nacht bleibt ungestört durch ihre Herrschaft. In den Stunden der Nacht aber setzt die Sonne ihren eiligen Lauf fort und beginnt dann wieder in der gewohnten Weise weiter zu ziehen. Du nun, o Weiser, weißt nicht einmal, wo die Sonne, die du doch von deiner Kindheit an bis zum Ende deines Greisenalters immer vor dir siehst in der Nacht wandelt und sich zu ihrem Aufgang zurückbewegt; und es drängt dich, unnütze Untersuchungen über Dinge, welche dir verborgen sind, anzustellen!

[148] [36]Diese Ermahnungen habe ich für unsere lieben Brüder, die Söhne der Kirche Gottes, geschrieben, damit die Leser meiner Schrift an allen Orten, wohin sie gelangt, auch meiner Wenigkeit in ihren Gebeten gedenken und erkennen mögen, daß ich zwar ein armseliger Sünder bin, aber doch diesen Glauben festhalte. Denn in den vorhergehenden Abhandlungen habe ich zuerst den Glauben beschrieben und als Fundament gelegt und auf den Glauben die ihm geziemenden Werke. Nach dem Glauben lehrte ich über das zwiefache Gebot der Liebe, nach der Liebe über die Heilsamkeit und die Ausübung des Fastens, nach dem Fasten über die Früchte und Werke des Gebets. Nach dem Gebet schrieb ich über den Krieg und die Weissagungen Daniels von den Weltmächten, nach dem Krieg über das Streben der Ordensleute nach Vollkommenheit. Nach den Ordensleuten über die Buße, nach der Buße über die Auferstehung, nach der Auferstehung über die Demuth, nach der Demuth über die Hirten und Lehrer, nach den Hirten über die Beschneidung, deren sich das jüdische Volk rühmt, nach der Beschneidung über das Pascha und den vierzehnten Nisan, nach dem Pascha über den Sabbath, auf den die Juden stolz sind. Nach dem Sabbath schrieb ich eine Ermahnung gegen die in unseren Tagen einreissende Streitsucht. Nach dieser Ermahnung schrieb ich über die von den Juden für unrein gehaltenen Speisen, nach den Speisen über die Heidenvölker, welche anstatt des vormaligen Volkes als Erben eingetreten sind. Nach den Heidenvölkern bewies ich, daß Gott einen Sohn hat. Nach der Abhandlung über den Sohn Gottes schrieb ich gegen die Juden, welche die Jungfräulichkeit lästern. Nach der Apologie für die Jungfräulichkeit schrieb ich abermals gegen die Juden, weil sie behaupten, es stehe ihnen bevor, einst wieder versammelt zu werden. Nach dieser Widerlegung [149] schrieb ich über die Almosen, nach den Almosen über die Verfolgungen, endlich nach den Verfolgungen über den Tod und die letzten Zeiten.

Diese zweiundzwanzig Abhandlungen beginnen mit den zweiundzwanzig Buchstaben des Alphabets. Die zehn ersten habe ich geschrieben im Jahre 648 des Reiches Alexanders, des Sohnes Philipps von Macedonien, wie am Schlusse derselben angemerkt ist, die zwölf letzten aber im Jahre 655 der Herrschaft der Griechen und Römer, nämlich des Reiches Alexanders, und im fünfunddreissigsten Jahre des persischen Königs.[37] Ich habe sie gemäß meiner Fassungskraft geschrieben.

Wenn nun Jemand diese Abhandlungen liest und darin etwas mit seiner Ansicht nicht Übereinstimmendes findet, so geziemt es sich nicht, daß er darüber spotte. Denn was in diesen Kapiteln steht, ist nicht nach dem Sinne eines einzigen Menschen, auch nicht nach der Ansicht eines einzigen Lesers geschrieben, sondern nach dem Sinne der ganzen Kirche und nach der Überzengung des ganzen Glaubens. Wenn sie Jemand liest, um daraus Ermahnung und Belehrung zu schöpfen, so thut er wohl daran; wer aber anders gesinnt ist, dem habe ich nur zu sagen, daß ich nicht für Spötter, sondern für Solche, die der Belehrung zugänglich sind, geschrieben habe. Wenn ferner ein Leser finden sollte, daß wir manche Gegenstände auf andere Art darstellen als vielleicht ein anderer Weiser, so möge er sich darüber nicht beunruhigen; denn ein Jeder redet zu seinen Hörern gemäß seiner Fassungskraft. So sage auch ich, wenn einige Ausdrücke in meinen Schriften nicht mit denen anderer Lehrer übereinstimmen sollten, daß jene Weisen zwar ganz richtig gesprochen haben, daß aber auch mir gut geschienen hat, in meiner eigenen Art zu reden. Wenn mich Jemand in Betreff [150] irgend eines Punktes eines Besseren belehren will, so nehme ich es ohne Widerrede von ihm an. Jeder, welcher gelehrigen Sinnes in den heiligen Schriften des alten und neuen Testamentes liest, lernt selbst daraus und kann Andere belehren. Wer aber über das, was er nicht versteht, streitet, dessen Geist nimmt die Lehre nicht in sich auf. Vielmehr möge Derjenige, welcher schwierige Ausdrücke findet und deren Bedeutung nicht verstehen kann, also bei sich denken: Was da geschrieben steht, ist an sich richtig, aber ich vermag es nicht zu verstehen. Wenn er aber wegen der Aussprüche, welche ihm zu schwer sind, einsichtsvolle, über die Lehre nachforschende Weise befragt und dann von zehn Weisen zehn verschiedene Auslegungen derselben Stelle erhält, so möge er die ihm richtig scheinende annehmen, aber wegen der von ihm mißbilligten die Weisen nicht verspotten. Denn das Wort Gottes gleicht einer Perle, welche auf allen Seiten, wie man sie auch wende, einen schönen Anblick bietet. Bedenke auch, o Lernender, was David[38] sagt: „Ich habe von allen meinen Meistern gelernt.“ Auch der Apostel[39] sagt: „Jede Schrift, die vom Geiste Gottes eingegeben ist, lies“ und: „Prüfe Alles, aber das Gute behalte und fliehe vor allem Bösen.“ Denn wenn ein Mensch auch so lange lebte, als die Welt von Adam bis zum Ende der Zeiten dauert, und sich fortwährend mit der Erforschung der heiligen Schriften beschäftigte, so würde er doch nie die ganze Kraft und Tiefe ihrer Worte erfassen können. Kein Mensch kann die Weisheit Gottes ergründen, wie ich schon in der zehnten Abhandlung gezeigt habe. Aber die Worte aller Lehrer, welche nicht aus dem großen Schatze schöpfen, sind verächtlich und nichtig, weil das Gepräge des Königs an allen Orten, wohin es kommt, angenommen, die falsche Münze aber verworfen und zurückgewiesen wird. Wenn nun Jemand sagen will, diese Abhandlungen seien von dem und dem Individuum verfaßt, so möge er nur selbst etwas [151] Besseres lehren, aber sich nicht damit abgeben, sich um den Verfasser zu bekümmern. Denn auch ich habe gemäß meiner Geringfügigkeit Dieß geschrieben als ein Mensch, abstammend von dem durch Gottes Hände gebildeten Adam, wer ich ein Schüler der heiligen Schriften bin. Denn unser Herr hat gesagt:[40] „Wer da bittet, wird empfangen; weil sucht, wird finden; wer anklopft, dem wird aufgethan.“ Und der Prophet[41] spricht: „In den letzten Tagen werde ich ausgießen meinen Geist über alles Fleisch, und sie werden weissagen.“ Wer Dieses also, als auf Antrieb von oben geschrieben, liest, der lese es gelehrigen Sinnes und bete für den Verfasser als für einen gemeinschaftlichen Bruder, auf daß ihm durch die Fürbitte der ganzen Kirche Gottes alle seine Sünden vergeben werden mögen. Der Leser bedenke, daß geschrieben steht:[42] „Wer das Wort hört, der theile dem, von welchem er es hört, allerlei Güter mit.“ Auch heißt es:[43] „Der Säende und der Erntende sollen sich gemeinschaftlich freuen; und ein Jeder soll nach seiner Arbeit Lohn empfangen; und es ist Nichts verborgen, was nicht einem Jeden offenbar gemacht werden wird.“




  1. Die jüngere Handschrift hat die Variante: „daß die Menschen am letzten Tage gerichtet werden.“
  2. Röm. 5, 14.
  3. Deuteron. 33, 6.
  4. Luk. 20, 38.
  5. I. Sam. 2, 6.
  6. Deuteron. 32, 39.
  7. Is. 26, 19.
  8. Vgl. Ps. 15, 10.
  9. I. Kor. 15, 55
  10. Alttestamentlicher Ausdruck für ein schmachvolles Begräbniß.
  11. Vgl. Job 3, 18–19.
  12. So nach Wright’s Conjectur. Der Text hat: „Wie geliebte Söhne eines Landes, welche in der Fremde leben.“
  13. Vgl. Job 16, 20–21; jedoch hat Aphraates den Sinn dieser Stelle verfehlt.
  14. Vgl. Luk. 16, 9; 12, 33; Matth. 6, 20.
  15. Malach. 2, 10.
  16. Luk. 20, 35.
  17. Galat. 3, 28.
  18. I. Kor. 2, 9.
  19. Ps. 142, 2.
  20. I. Kor. 6, 3.
  21. Matth. 19, 28.
  22. Ez. 23, 45.
  23. Malach. 2, 7.
  24. Ps. 1, 5.
  25. Ps. 9, 17.
  26. Is. 40, 15. 17
  27. In den Gleichnissen von den vertheilten Talenten und von den Arbeitern im Weinberg.
  28. I. Kor. 3, 8.
  29. Job 34, 10.
  30. I. Kor. 15, 41.
  31. Joh. 14, 1.
  32. I. Thessal. 4, 17.
  33. Röm. 8, 24.
  34. Is. 51, 6.
  35. Job 14, 12.
  36. Der folgende Schluß dieser Abhandlung beschließt zugleich sämmtliche zweiundzwanzig nach dem Alphabet geordneten Abhandlungen des Aphraates.
  37. Also sind die zweiundzwanzig alphabetischen Abhandlungen in den Jahren 337 und 344 n. Chr. geschrieben. Hierzu kommt dann noch der im Jahr 345 verfaßte Traktat über die Traube.
  38. Ps. 118, 99.
  39. II. Tim. 3, 16; I. Thessal. 5, 21–22.
  40. Matth. 7, 8.
  41. Joel 2, 28.
  42. Galat. 6, 6.
  43. Joh. 4, 36; I. Kor. 3, 8; Matth. 10, 26.