Aus dem mexikanischen Gerichtsleben

Textdaten
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Titel: Aus dem mexikanischen Gerichtsleben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 566–568
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus dem mexikanischen Gerichtsleben.

Ein Gerichtshof in Mexiko ist selbst für einen verhältnißmäßig nur wenig betheiligten Zuschauer in jedem Lande ein imposanter Anblick. Es liegt eine so große ihrer selbst sich bewußte Würde und Wichtigkeit in den Gesichtern dieser mächtigen, ernsten und ehrwürdigen Herren, wenn sie einen Gefangenen bei seinem Eintritte in’s Auge fassen; ihre Miene ist so bedeutungsschwer, wenn sie ihre Köpfe zusammenstecken und mit leisem Tone zu berathen beginnen, ihre Aeußerung so furchtbar, wenn „wir“ nach reiflicher Ueberlegung zu einem Endurtheil gekommen sind! Die mexikanischen Justizbehörden machen von dieser allgemeinen Regel keine Ausnahme; ja sie scheinen im Verhältniß zu dem Elend und der Unwissenheit, womit sie beständig zu thun haben, stolzer und herrischer zu sein als gewöhnlich.

Ich schalte hier einige Begebenheiten ein, die zu meiner Kenntniß kamen, als ich einer Sitzung der „Administradores“ (Richter) in dem Accordada der Stadt Mexiko beiwohnte.

Ueber den Mittelpunkt der westlich von der Stadt gelegenen Gebirgskette führt ein Weg, der auf der einen Seite durch rauhe Klippen und auf der andern durch einer steilen aus zackigen Felsen bestehenden Abgrund begrenzt ist. Dieser Weg ist sehr einsam und gefährlich, besonders an einer Stelle, wo er für eine Strecke von ungefähr hundert Schritten über ein nur vier Fuß breites Felsenriff führt, wo selbst sicherfußende Maulthiere, wenn sie zu schwer beladen sind, oft genug ausgeglitten und in den Abgrund hinabgestürzt sind. Der Eindruck, welchen der wilde und öde Charakter der Gegend auf den Reisenden macht, wird durch nichts weiter gestört als durch eine Anzahl plumper Kreuze, die hier und da am Wege aufgerichtet sind – zum Andenken an arglose Wanderer, welche auf ihrer Gebirgsreise von räuberischen Ladrones angefallen und gemordet wurden.

Am Mittag eines trüben Tages wanderten auf diesem Wege zwei elend gekleidete Indianer – ein untersetzter kräftiger Mann und ein Jüngling von siebzehn Jahren. Beide waren aus demselben fernen Dorfe gebürtig, wo sie von Kindheit an ihren spärlichen Lebensunterhalt abwechselnd durch Betteln oder durch Feldarbeit erworben hätten. Während der letzten drei Monate hatten sie jedoch ungewöhnlich fleißig gearbeitet und einen Theil des verdienten Lohnes zu einer Reise nach der Hauptstadt bestimmt, um sich dort dem sorglosen Berufe der Lepero’s anzuschließen, in der Hoffnung dabei in Zukunft ohne Arbeit und Anstrengung behaglich leben zu können.

Als sie den Mittelpunkt des Gebirges erreicht hatten, wo der Reisende die Stadt zu erblicken hofft, nach welcher ihn sein Weg führt, war der Himmel trübe und umwölkt und es fielen einige Regentropfen herab; bald aber trat die Sonne hervor und beleuchtete mit ihren glänzenden Strahlen den Pfad der Reisenden, während sich über den Abgrund zu ihrer Rechten ein prächtiger Regenbogen spannte. In dem Gesichte des Jüngeren zeigte sich ein leiser Widerschein von dem Sonnenlichte, das ihn umgab, aber das Gesicht des Andern war finster wie die in der Ferne drohende Wolkenmasse, und während die beiden Wanderer neben einander hergingen, beobachtete der Jüngere mit halb furchtsamen halb neugierigen Blicken die mürrische Miene seines Gefährten.

„Du bist plötzlich sehr ernst und schweigsam geworden, Sanchez,“ rief er endlich. „Ich für meinen Theil freue mich, daß wir der Hauptstadt näher kommen. Sie kann jetzt nicht mehr weit entfernt sein und ich sehe im Geiste schon ihre schönen Thürme und prächtigen Kirchen – ja selbst die Plätze und Ecken, wo wir unseren Platz einnehmen werden, um Almosen zu erbitten. O welch’ ein herrliches Leben! Welche Aussicht!“

„Ei ja – und die Spieltische und Branntweinladen und das Aguardiente und die Gefährten, die wir haben werden!“ sprach der Andere hastig. „Das wird ein ganz anderes Leben sein, als wir in dem alten Dorfe geführt haben. Aber ich wollte wir wären [567] endlich dort, denn ich kann meine Ungeduld kaum mehr bezähmen.“

„Denke an die mildthätigen alten Mönche, an die Damen und reichen Bürger!“ hob der Jüngere mit Begeisterung wieder an.

„Ja und an die Früchte, die zum Wegnehmen dastehen, und an das Gold, das auf dem Pflaster zu finden ist,“ fügte der Andere mit schlecht verhehltem Hohne hinzu.

„Wir müssen einander sehr häufig sehen, Sanchez; es wird gar zu hübsch sein, mit Jemand reden zu können, den man kennt – nicht wahr? O welche angenehme Aussichten!“

„Ei ja, sehr angenehm – für mich,“ entgegnete der Andere. „Aber was Dich anlangt –“

„Wie, Sanchez, habe ich weniger Hoffnung als Du? Ich kann mich auf verschiedene Weise nützlich machen.“

„Für mich sind die Aussichten gut, wollte ich sagen,“ wiederholte Sanchez, „und sie könnten es auch für Dich sein, Nazas, wenn nicht etwas wäre –“

„Und was ist das? O sage es mir – sage es mir schnell, damit ich es beseitigen kann.“

„Du würdest Dich wohl genug befinden, denke ich,“ hob Sanchez mit wildem Tone wieder an – „aber es giebt einen Grund dagegen – und der ist, weil Du nie dorthin kommen wirst.“

„Nie dorthin kommen!“ rief der arme Jüngling, mit Entsetzen seinen Gefährten anblickend, dessen Gesicht noch finsterer wurde.

„Du wirst nie dorthin kommen, sage ich Dir!“ rief der Elende, indem er bemerkte, daß sie jetzt den Mittelpunkt des bereits erwähnten schmalen Bergrückens erreicht hatten. „Nieder auf Deine Knie!“ fuhr er fort, seinen Gefährten an der Gurgel fassend. „Nieder auf Deine Knie. Gieb mir jeden Grano, der sich in deiner Tasche befindet, und schwöre mir bei allen Heiligen, daß Du sogleich nach dem Dorfe zurückkehren und niemand sagen willst, was zwischen uns vorgefallen ist – oder ich werfe Dich wie einen todten Hund über diesen Felsen. Schwöre – schwöre.“

„Ich schwöre!“ rief Nazas, erschrocken auf seine Knie fallend. „Ich schwöre bei allen Heiligen, bei der heiligen Jungfrau, beim heiligen Petrus und Lazarus – aber schone mein Leben! Ich schwöre!“

„Schwöre, daß Du nie irgend einem Menschen entdecken werdest, was Dir widerfahren ist, oder Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich Mittel finden werde, Dich selbst bis in das Dorf zu verfolgen.“

„Ich schwöre beim heiligen Paulus und Mathias, bei der heiligen Clara und Barbara –“

„So, nun gieb mir Dein Geld – jeden Grano muß ich haben – oder ich werfe Dich in diesen Abgrund. Ist dies alles? Hast Du nicht mehr? Ich muß selber nachsuchen. So! Nun danke dem Himmel, daß Du so leichten Kaufs davon gekommen bist – und nimm Dich in Acht.“

Seine getäuschten Hoffnungen beklagend und aufrichtig bedauernd, mit einem solchen Gefährten seine Heimath verlassen zu haben, trat der arme ausgeplünderte Jüngling entmuthigten Herzens den Rückweg an.

Er hatte nur erst eine kleine Strecke zurückgelegt, als er sich unwillkürlich umdrehte, um noch einen letzten Blick nach der Richtung zu senden, wo die heißersehnte Hauptstadt lag – und indem er dies that, überfiel ihn plötzlich ein Schauder wie im Vorgefühle einer drohenden Gefahr. Er blickte zum Himmel empor – er war jetzt heiter und unbewölkt – und dann richtete sich sein Blick auf den Boden zu seinen Füßen. Er befand sich allerdings auf dem schmalen Felsenpasse, aber er schmiegte sich dicht an die Felsen und hatte daher, wie er glaubte, nichts zu fürchten. Aber in diesem Augenblicke drehte sich auch der Bösewicht Sanchez, sein zeitheriger Gefährte um und als dieser sah, daß sein Opfer zögerte und zurückblickte, erhob er mit drohender Bewegung seine Hand und kam schreiend einige Schritte zurück.

Diese Bewegung und die Besorgniß, die sie einflößte, waren für die Geistesgegenwart des jungen Indianers zu überwältigend; er verlief den sicheren Halt am Felsen, suchte dem vermeintlichen Verfolger zu entfliehen, glitt aus, stürzte in den Abgrund und war ein lebloser verstümmelter und zerschmetterter Körper, ehe er den Grund der Tiefe erreichte. Sein Gefährte kehrte nach der Stelle zurück, wo der Jüngling hinabgestürzt war, betrachtete einen Augenblick den in der Tiefe liegenden entseelten Körper, ohne eine Spur von Bewegung oder Reue zu verrathen, ging dann davon und erreichte bald nachher die Thore der Hauptstadt.

Aber Sanchez war – so wenig er es auch vermuthet hatte und so selten Entdeckungen dieser Art in diesem Lande vorkommen mögen – von dem Augenblicke an, wo er nach dem Felsen zurückgekehrt war, von einem Arriero beobachtet worden und wurde daher gleich nach seiner Ankunft in der Stadt ergriffen. Die hier mitgetheilten Einzelheiten gestand er in dem Verhöre vor den Administradores.

Der nächste Rechtsfall, der die Aufmerksamkeit der Richter beschäftigte, war ein Gegenstand sehr kläglicher Art. Der Gefangene war ein elender hinfälliger Mensch, der mit seinen buntscheckigen Lumpen kaum seine Blöße bedecken konnte und dessen eingefallenes Gesicht durch Hitze und Wetter fast geschwärzt war. Die gegen ihn erhobene Anklage war eine zweifache, er hatte sich als Fremder ohne Erlaubniß oder carta del seguridad in’s Land eingeschlichen und nachdem er mehrere Monate ziemlich schlecht von milden Gaben gelebt, endlich seinen Hunger unrechtmäßiger Weise auf Kosten anderer gestillt. Seine äußere Erscheinung und noch mehr die ängstliche zitternde Stimme, womit er die Einzelheiten seiner Vertheidigung vorbrachte, rührten mich.

„Ich bin aus Quito gebürtig,“ sprach er (ich gebe seine Erzählung in etwas zusammenhängenderer Form als er sie selber vortrug) „und wollte der Himmel ich wäre in diesem Augenblicke in meiner Heimath, denn ich liebe sie, so stürmisch und gefährlich sie auch ist. Dort verlebte ich meine Zeit in Freude; ich war glücklich und unabhängig; ich besaß meine einstöckige Hütte (dort sind alle Häuser niedrig und alle Gemächer befinden sich im Erdgeschosse) und sie war mit Bewohnern und Vorräthen versehen. Ich war gesund und besaß Freunde, [568] Familie, Felder, Obstgärten und Rinder. Aber ich darf nicht daran denken, mir möchte das Herz brechen.

„Meine Heimath liegt – wie Sie vielleicht wissen, Sennores – fast zehntausend Fuß über dem Meeresspiegel und ist den furchtbarsten Erdbeben und Stürmen ausgesetzt. Das Dorf in welchem ich wohnte, hatte schon mehrmals von diesen Naturereignissen zu leiden gehabt, schon oft war unsere Wohnung ihres Daches beraubt und zum Theil zerstört worden; schon manchmal waren unsere Obstbäume entwurzelt worden und selbst ganze Baumgruppen, ungeheure Felsen und ganze Häuser spurlos verschwunden. Es war jedoch seit dem letzten Ereignisse dieser Art lange Zeit vergangen und wir lebten ruhig und zufrieden, unbekümmert um das Unglück, das da kommen konnte.

„In einer Nacht aber brach der zerstörende Sturm plötzlich wieder los, ohne daß außer einer ungewöhnlichen Röthe am Himmel irgend eine Warnung vorausgegangen war. Der lauteste Donner, der je gehört wurde, der furchtbarste Blitz der je das Auge geblendet hat – nichts würde genügen, um sich einen Begriff von den Ereignissen dieser Nacht zu machen. Die Erde bebte und stöhnte und öffnete sich weit unter unseren Füßen und um uns her. Wälder von riesenhaften Bäumen wurden entwurzelt und hoch in die Luft emporgeschleudert, wo sie mit furchtbarer Gewalt gegen einander stießen und dann wieder herabstürzten. Felsen wurden gespalten und von gähnenden Abgründen verschlungen oder in kleine Stücke zermalmt und wie Hagel vom Sturme umhergetrieben. Prangende Kornfelder wurden zerrissen und durch den Blitz in Flammen gesetzt, während der Donner der Wolken in der bebenden Erde unter uns ein Echo zu finden schien. Thiere wurden emporgehoben und in Abgründe hinabgeschleudert oder von dem Sturme hinweggetrieben, bis sie weit entfernt im Meere ihren Tod fanden. Hütten und Gebäude wurden überall zerrissen und zerstreut oder unter zusammenstürzenden Felsen begraben und mit ihren Bewohnern in der allgemeinen Erschütterung zu Staub zermalmt. Menschen wurden in die Luft geschleudert und von Ort zu Ort gejagt, bis sie in einer bodenlosen Tiefe unter der Erde ein Grab fanden. Aus den Ecken und Kanten der zusammenstürzenden Felsen brachen blaue und gelbe Flammen hervor und aus schwefeligen Schluchten entsprangen heiße Quellen. Das Geschrei und Geheul von sterbenden Thieren, das an sich gräßlich genug war, wurde von dem allgemeinen Aufruhr übertäubt. Der Regen goß in Strömen herab und Himmel und Erde schienen durch Rauchsäulen verbunden zu sein. Nur auf Augenblicke herrschte tiefe Dunkelheit, da ein leuchtender Blitzstrahl nach dem anderen den Horizont und das ganze Schauspiel hell beleuchtete. O welch’ eine furchtbare Nacht war das! Heilige Jungfrau, welch’ eine grauenvolle Zeit!

„Mein eigenes Haus war eines von den ersten, die zerstört wurden; es wurde augenblicklich zerschmettert und seine Bewohner wurden entweder unter den Trümmern begraben, oder gegen die Felsen geschleudert. Mich selber riß der Sturm in einen gähnenden Schlund, wo ich besinnungslos liegen blieb; ich fühlte den Felsen furchtbar erzittern, als ich wieder erwachte, aber der Abgrund schloß sich zum Glücke nicht. Außer mir war niemand von meiner Familie der allgemeinen Vernichtung entgangen. Am Morgen des nächsten Tages als die Erde zu zittern aufgehört und der Sturm seine Macht erschöpft hatte, verließ ich meinen Zufluchtsort und wanderte mit gebrochenem Herzen zwischen den Trümmern und Leichen umher. Welche Gefühle überwältigten mich, als ich nirgend eine Spur von denjenigen entdeckte, die mir theuer gewesen waren – als ich sah, daß ich das einzige menschliche Wesen war, das der furchtbare Aufruhr der Natur verschont hatte.

„Seit der Zeit bin ich ein einsamer trauriger Wanderer. Ich beschloß zur Erleichterung meines Elends nach andern Ländern zu reisen und habe dieses Gelübde gehalten; ich bin unter Beschwerden und Entbehrungen mühsam immer weiter nordwärts bis zu dieser Stadt gewandert und hier, denke ich, werden meine Wanderungen wohl bald ihr Ende finden.“

Was der arme Wanderer weiter zu seiner Vertheidigung mittheilte – seine Erzählung von der Art, wie er die Thorbeamten der Stadt getäuscht hatte, und von dem Diebstahle, zu welchem ihn der bittere Mangel veranlaßt, habe ich nicht aufgezeichnet. Es sei nur noch erwähnt, daß bei seiner Erzählung die Thränen stromweise über seine Wangen rannen, so daß selbst die Richter sichtbar gerührt waren. Das Verhör schloß mit der Abführung des Gefangenen in das Accordada und er hatte, nach dem elenden unsicheren Leben, das er in der letzten Zeit geführt, wohl kaum Ursache, diese Wendung der Dinge zu beklagen.