Aus amerikanischen Gerichtssälen/1. Der Vatermörder

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Titel: Aus amerikanischen Gerichtssälen - 1. Der Vatermörder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 582–586
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aus amerikanischen Gerichtssälen.
1. Der Vatermörder.


Das Gebäude, in welchem der „Oyer und Terminer“ Gerichtshof von New-York seine Sitzungen hält, war am 23. Juni dieses Jahres förmlich belagert. Nicht nur der Gerichtssaal selbst war zum Ersticken voll, auch die Corridors, die Treppen, ja den freien Platz vor dem Hause erfüllte die neugierige Volksmenge. Capitalverbrecher auf der Anklagebank zu sehen, ist in der Stadt New-York eben nichts Außergewöhnliches, und an Sensationsverbrechen jeder Art pflegt wahrlich auch kein Mangel zu sein; es mußte diesmal also wohl ein ganz besonders interessanter Fall vorkommen. So war es in der That. Eines von den Verbrechen, die zu allen Zeiten und unter allen Völkern als namenlos entsetzlich gebrandmarkt und mit ewigem Fluche belegt worden sind, war begangen worden – ein Vatermörder sollte gerichtet werden. Nur mit großer Anstrengung konnten die Gerichtsdiener einen Weg durch die dichtgedrängte Volksmasse bahnen, als Richter Davis erschien, um seinen Platz als Vorsitzender des Gerichtshofes einzunehmen. Es war zehn Uhr vorüber, als der Sheriff den Angeklagten brachte und ihn zu einem Sitze vor der Richterbank führte. Es war ein noch ganz junger Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, der hier, mit der erwiesenen von ihm selbst bekannten Schuld des gräßlichsten aller Verbrechen belastet, vor dem ernsten Richter saß. Aber diese Schuld schien ihn nicht niederzudrücken; im Gegentheil, er saß da, mit gleichgültiger, ja frecher Miene den Gerichtshof musternd, während ein höhnisches Lächeln sein blasses feingeschnittenes Gesicht zuweilen durchzuckte, ein Bild des heutigen aristokratischen sogenannten Jung-Amerika, das, auf sein Geld und seine Verbindungen pochend, Allem, was Recht und Sitte heißt, trotzen und hohnsprechen zu können wähnt. Kurz darauf erschienen die vier Anwälte, welche es übernommen hatten, ihre ganze Kunst aufzubieten, den Vatermörder der Strafe oder doch wenigstens dem Stricke des Henkers zu entreißen, an ihrer Spitze der gelehrteste und berühmteste Advocat New-Yorks, ja vielleicht der Union, Charles O’Connor. Sie schüttelten ihrem Clienten herzlich die Hand und setzten sich ihm zur Seite. Eine hohe Greisengestalt schritt jetzt auf den Angeklagten zu; es war sein Onkel, der alte Oberrichter Barbour; ohne ihn zu grüßen, reichte er ihm schweigend die Hand und nahm dann seinen Sitz neben dem Hauptvertheidiger ein. Als öffentliche Ankläger waren die Districtsanwälte Phelps und Rollins erschienen. Richter Davis erklärte die Sitzung für [583] eröffnet und ließ aus dreihundert zu dem Zwecke anwesenden Bürgern eine Jury wählen. Das Gericht hatte sich constituirt und war bereit, die Klage zu vernehmen. Da erhob sich Herr O’Connor und trug auf Vertagung an, indem die Vertheidigung noch nicht bereit sei und einer weiteren Consultation bedürfe. Das Gesuch wurde bewilligt; der Richter vertagte die Verhandlungen bis auf Mittwoch, den 25. Juni. Die neugierige Menge mußte unbefriedigt nach Hause gehen.

Frank Hardin Walworth, der Vatermörder, war der älteste Sohn von Mansfield Tracy Walworth, einem Novellenschriftsteller von einigem Rufe. Die Familie Walworth gehörte zu den besten und angesehensten im Lande. Der Vater des Ermordeten war Kanzler Walworth, einst der hochgeachtete, würdige Oberrichter des Staates New-York, gewesen, dessen Verbindungen und Stellung dem Sohne eine glänzende Laufbahn eröffneten, ohne daß jedoch derselbe bei seinem excentrischen Charakter von diesen Vortheilen, trotz seiner großen Talente, Gebrauch gemacht hätte. Der Kanzler hatte endlich bei seinem Tode den so ganz mißrathenen Sohn unter die Vormundschaft seines Bruders Clarence eines katholischen Priesters, gestellt, der sich seitdem als Haupt der Familie betrachtete und dadurch den ehrgeizigen Mansfield auf’s Tiefste kränkte. Dieser hatte im Jahre 1852 die Tochter des Generals Hardin, der während der Rebellion gefallen war, geheirathet, ein stolzes, grundsatzloses Weib, deren südliche Sympathien sie während des Krieges in hochverrätherische Verbindungen mit den Rebellen verwickelt hatten. Die Ehe war wie tausend andere in den sogenannten aristokratischen Kreisen Amerikas. Ohne gegenseitige Zuneigung, Achtung und Treue ging Mann und Frau, jeder Theil seinen eigenen Weg. Die Kinder waren selbstverständlich die unmittelbaren Opfer dieses zerrissenen, verrotteten Familienlebens. Bei der kalten herzlosen Mutter lebend, wurde ihnen von Kindesbeinen an Haß gegen den Vater gepredigt, der bei all’ seiner moralischen Verkommenheit und oft an Wahnsinn grenzenden Heftigkeit doch im Grunde weit mehr bessere Eigenschaften und Gefühle gehabt zu haben scheint als die ganze übrige saubere Familiensippschaft zusammengenommen.

Im Frühjahre 1871 erfolgte endlich eine legale Scheidung; Walworth lebte seitdem meist in New-York von schriftstellerischen Arbeiten; seine geschiedene Frau hielt in Saratoga, dem bekannten fashionablen Badeorte, ein Pensionat für junge Damen. Walworth hatte schon vor seiner Scheidung sich höchst gewaltthätige Scenen mit seiner Frau zu Schulden kommen lassen, so daß diese sich selbst einmal genöthigt gesehen hatte, ihren Sohn Frank zu ihrem persönlichen Schutze herbeizurufen. Trotzdem hatte sich Letzterer, nach Aussage der Mutter selbst, stets ruhig und höflich gegen den Vater benommen, trug indeß seit jenem Vorfalle beständig einen geladenen Revolver bei sich, um, wie er behauptete, sich und die Mutter zu schützen. Nach erfolgter Trennung schrieb Walworth häufig an seine Frau, in einer Weise, die nur zu deutlich den völlig krankhaften Seelenzustand des unglücklichen Mannes zeigte, welcher, von seiner ganzen Familie verstoßen, an Allem verzweifelnd, sich in seinen Briefen den Ausbrüchen der wildesten Leidenschaft überläßt und der dabei freilich häufig jede Grenze, die Anstand und Sitte gebieten, überspringt. Bald ist es glühende Liebe, bald tödtlicher Haß, die das zerrissene Gemüth mit der Gewalt des Wahnsinns erfassen und es wie ein steuerloses Wrack auf dem wilden wogenden Meere dem Alles verschlingenden Abgrunde entgegentreiben. Einige Stellen aus seinen letzten Briefen beweisen dies klar genug.

„Das verzehrende Fieber verläßt mich,“ schreibt er einmal, „und in wenigen Tagen werde ich ausgehen können. Ich werde bei meinen Kindern vorsprechen. Mein Herz sehnt sich nach deren Liebe. Ich werde die Kinder im Frieden sehen, wenn es möglich ist. Ich werde sie sehen, und sollte eine Tragödie davon die Folge sein. Papistische Grausamkeit (dies bezieht sich auf seinen ihm verhaßten Onkel, den Priester Clarence) muß sich vor der Liebe und Sehnsucht des Vaters beugen, oder der Name der Walworth wird in Blut untergehen. Halte Frank aus meinem Wege! Du hast ihm Haß gegen mich eingehaucht; seine Gegenwart ist mir lästig und würde nur zur Tragödie reizen. Ich will nur meine kleinen Mädchen sehen und Euch dann im Frieden verlassen. Ich muß meine Kinder sehen, und wehe Dir, wenn Du sie im Haß gegen den Vater erziehst! Gott ist mein Anwalt, nicht der brutale, unerbittliche Gott, den Du und der Priester, mein Bruder, verehrt, sondern der Gott, der die Liebe zu meinen Kindern in mein Herz pflanzte, und der dem seiner Jungen beraubten Tiger zuruft: ‚Tödte!‘ … Sollte ich von den unschuldigen Lippen meiner Kleinen hören, daß Du auch in ihre Herzen den tödtlichen Haß gegen ihren Vater gepflanzt hast, dann werden zwei Schüsse durch jenes Haus schallen; der eine wird Dich, der andere mich in die Ewigkeit senden.“

In einem andern Briefe flucht er seinem todten Vater, weil er ihn unter die Vormundschaft des Pfaffen gestellt, und droht mit blutiger Rache, wenn die Familie es versuchen werde, ihm sein Erbtheil gänzlich zu entziehen, in Ausdrücken, die so maßlos brutal sind, daß die Feder sich sträubt, sie wiederzugeben. „Ich werde die Knaben (Frank und Tracy) tödten, des im Grabe ruhenden Schurken Pläne kreuzen und seinen Namen vom Erdboden vertilgen,“ so schließt der Brief, dessen Inhalt auf die momentan sicher an Wahnsinn grenzende Erregtheit des mit Allem zerfallenen, moralisch banquerotten Schreibers schließen läßt. Da aber von seiner Seite niemals ein Versuch gemacht wurde, diese Drohungen zu verwirklichen, so darf wohl geschlossen werden, daß es dem Unglücklichen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, nicht so ernstlich damit gemeint war, oder daß er vielleicht gar nicht mehr Energie genug besaß, seine Worte wahr zu machen. Diese Briefe waren es vorzüglich, welche den ältesten Sohn Frank von Saratoga nach New-York trieben. Derselbe hatte mit seinem Onkel Clarence eine Reise nach Europa verabredet, fürchtete aber während seiner Abwesenheit Gewaltthätigkeiten des Vaters gegen die Mutter, und wollte nun, nach seiner Aussage wenigstens, eine Zusammenkunft mit dem Vater veranstalten, um diesem das Versprechen abzufordern, seine Frau in Zukunft weder durch Briefe, noch durch Besuche zu belästigen. –

Walworth, der Vater, wohnte seit zwei Jahren in dem Kosthause der Frau Sims; er stand bei seinen Bekannten im Rufe eines vollendeten Gentlemans, nüchtern, höflich und zuvorkommend; er war Mitglied des New-Yorker „Männerchors“ und liebte, trotz seiner meist trüben Stimmung, geselligen Umgang, namentlich mit Deutschen. Niemand hatte eine Ahnung von seinen unglücklichen Familienverhältnissen. – Am zweiten Juni Nachmittags erschien ein junger Mann im Hause der Frau Sims und fragte nach Walworth, welcher ausgegangen war. Der Besucher hinterließ deshalb eine Karte ohne Namensunterschrift, des Inhalts: „Ich wünsche einige Familienangelegenheiten zu ordnen. Besuche mich in zwei oder drei Stunden im Sturtevant-Haus[WS 1] und frage nach mir im Comptoir!“ Am Morgen des dritten früh um halb sechs Uhr begab sich Walworth, der Vater, nach dem bezeichneten Hôtel und gab seine Karte ab. Der Herr Sohn war noch nicht aufgestanden, so daß der Vater eine Zeitlang warten mußte, bis er vorgelassen wurde. Als er in das Zimmer seines Sohnes eintrat, saß dieser, völlig angekleidet, den Hut auf dem Kopfe, am Fenster. Er bot dem Vater einen Stuhl an und begann mit ihm über die bewußten Drohbriefe zu reden, indem er ihn aufforderte, feierlich zu versprechen, nie wieder die Mutter belästigen oder ein Glied der Familie bedrohen zu wollen. Der Vater erklärte sich hierzu bereit in einer Weise, die dem Sohne nicht genügend zu sein schien, ohne daß es indeß zwischen Beiden im Geringsten zu harten Worten gekommen wäre. Während des Gesprächs steckte der Vater die Hand in den Busen, als ob er eine Pistole habe herausziehen wollen, wie der noble Sohn im Verhör angab, und dies war für den ritterlichen Sproß der Hardin-Walworth hinreichender Grund, auf seinen nichts ahnenden Erzeuger vier Schüsse aus seinem Revolver in rascher Folge abzufeuern, deren letzter den Unglücklichen zu Boden streckte. Ohne die geringste menschliche Regung ließ der unnatürliche Sohn den in seinem Blute schwimmenden, mit dem Tode ringenden Vater liegen, und begab sich in’s Comptoir, wo er dem Buchhalter ganz kühl und gleichgültig bemerkte: „Ich habe soeben meinen Vater erschossen.“ „Was sagen Sie?“ rief der bestürzte Mann, „was haben Sie gethan?“ „Ich habe meinen Vater erschossen; ich habe ihn drei Mal getroffen. Holen Sie einen Polizisten!“ war die kaltblütige Antwort.

Während nach einem solchen geschickt wurde, dictirte der Vatermörder eine Depesche an seinen Onkel Clarence Walworth, den Priester in Albany: „Ich habe meinen Vater erschossen; sorge für die Mutter!“

[584] Als Sergeant Keet nach wenigen Minuten erschien, zog der Mörder einen fünfläufigen Colt-Revolver aus der Tasche mit den Worten: „Ich heiße Frank Hardin Walworth; dies ist der Revolver, mit welchem ich ihn erschoß, weil er drohte, mich und meine Mutter zu erschießen.“ Als die Beamten das Mordzimmer betraten, war Mansfield Walworth bereits eine Leiche. An seiner Person wurde keine Schießwaffe irgend welcher Art gefunden; er war offenbar in vollem Vertrauen auf die friedlichen Absichten seines Erstgeborenen erschienen, um von diesem ohne jegliche Provocation gemeuchelt zu werden. Der Mörder wurde nach dem Tombs-Gefängniß abgeführt, um seinen Proceß zu erwarten, dessen Eröffnung schon berichtet worden ist. –

Am Mittwoch, den 25. Juni, begann die gerichtliche Verhandlung. Diesmal hatte sich die ganze Hardin-Walworth’sche Sippschaft eingefunden. Districtsanwalt Rollins leitete die Anklage mit einer anderthalbstündigen Rede ein, nach welcher das Vernehmen der zahlreichen Zeugen stattfand, aus dem sich der eben berichtete Thatbestand ergab. Der Mörder selbst hatte nichts geleugnet; im Gegentheil, er schien sich mit seiner That eher zu brüsten, als sei sie eine Heldenthat, die ihm, dem natürlichen Beschützer seiner Mutter, zur Pflicht geworden sei. Die Anklage beantragte daher mit Recht, auf Mord im ersten Grade zu erkennen; und hierin wurde sie vom Urtheil aller rechtlich Denkenden im Lande unbedingt unterstützt. Auch im Gerichtssaale waren wohl Wenige, die nicht das strengste Urtheil über einen Mörder gefällt zu sehen wünschten, dessen kaltblütige Ruchlosigkeit jedes Gefühl der Sympathie oder des Mitleids erstickte.

Andere Gedanken und Hoffnungen hatten freilich der Verbrecher und seine aristokratische Familie. Kalt und höhnisch hatten sie das Zeugenverhör vernommen, und als nun ihr berühmter Vertheidiger Charles O’Connor sich erhob, um die Vertheidigung einzuleiten, da verklärten sich ihre gleichgültigen Mienen zu einem triumphirenden Lächeln der Siegesgewißheit. Und Recht zu hoffen hatten sie allerdings. In New-York war seit Jahren kein reicher und angesehener Verbrecher zur gebührenden Strafe verurtheilt worden. Freisprechung, Begnadigung, heimlich begünstigte Flucht hatten noch jeden der Gerechtigkeit entzogen; dafür hatte man ja berühmte Criminalisten, corrupte Richter und weich- und feigherzige Gouverneure und vor Allem Geld, Geld, das die Riegel der Gefängnisse sprengte und den Strick der Henker verzehrte. Zwei dieser gewaltigen Factoren, das Recht zu beugen, hatten ja die Hardin-Walworths: Geld und den ersten Criminalisten des Landes.

Wir wollen die Leser nicht mit dem Detail der nun folgenden Verhandlungen ermüden; nur die Hauptpunkte der Vertheidigung mögen hier folgen.

Zunächst wurde natürlich Alles aufgeboten, den Charakter des älteren Walworth in’s schwärzeste Licht zu stellen, ihn als einen leibhaftigen Dämon auszumalen, die Mutter und Söhne aber als unschuldige Heilige, die durch die Verfolgung des unnatürlichen Gatten und Vaters zuletzt zur Verzweiflung getrieben worden seien. Der nächste Punkt war der bei allen solchen Fällen beliebte, nämlich zu beweisen, der Angeklagte sei unzurechnungsfähig gewesen, als er die That beging. Man erfand für diesen Fall einen „temporären epileptischen Wahnsinn“, an welchem der Sohn schon seit Jahren gelitten habe, dessen Existenz selbverständlich mehrere „berühmte“ Aerzte bereit waren auf ihre medicinische Ehre zu bezeugen. Der dritte Punkt war, zu beweisen, der Mörder, der bei der letzten Zusammenkunft mit seinem Vater einen solchen Anfall bekommen, habe geglaubt, als der Vater die Hand in den Busen steckte, derselbe wolle ihn erschießen; er habe also nur einen Act der Selbstvertheidigung begangen, als er den Vater niederschoß.

Drei und eine halbe Stunde lang plaidirte O’Connor nach Schluß des Verfahrens und bot seine ganze nicht geringe Kunst auf, die Jury günstig für seinen unwürdigen Clienten zu stimmen. Mit welcher Spitzfindigkeit dabei zu Werke gegangen wurde, mag folgende Stelle seiner Rede beweisen.

„Der Districtsanwalt ist gehalten zu beweisen,“ sagte der Criminalist, „daß die That absichtlich und bei vollem Bewußtsein begangen wurde. Er hat erwiesen, daß vier Schüsse abgefeuert wurden, während der Angeklagte sich nur dreier erinnert. Welcher der vier Schüsse ist nun der tödtliche gewesen? Das ist nicht bekannt; und wäre es nicht möglich, daß es gerade der war, welcher unbewußt abgefeuert wurde? Hat die Jury einen Zweifel darüber, so muß dieser dem Angeklagten zu Gute kommen. Dieser junge Mann wurde gekreuzigt, ehe er überführt worden war, durch das Wort ‚Parricida‘, das der Districtsanwalt gegen ihn schleuderte.“

Der Richter schloß die Sitzung und vertagte die Verhandlung bis zum folgenden Mittwoch. An diesem Tage, dem 2. Juli, entwickelte der Districtsanwalt Phelps in einem meisterhaften Plaidoyer die völlige Unhaltbarkeit der Vertheidigung, bewies aus den allseitig zugestandenen Thatsachen, sowie den eigenen Geständnissen des Angeklagten dessen völlige Zurechnungsfähigkeit sowohl, als die völlige Absichtlichkeit und zugleich Grundlosigkeit seiner Unthat und forderte schließlich die Jury in ergreifenden Worten auf, den feigen Meuchelmörder, der nicht einmal die geringste Reue über seine unnatürliche Schandthat zeige, die volle Strenge des Gesetzes fühlen zu lassen.

Nach einer kurzen Pause erhob sich Richter Davis, um die Jury zu instruiren. Seine Ansprache war ein überaus klares und eindringliches Resumé des ganzen Falles, frei von jeder Parteilichkeit, ein seltenes und darum um so ergreifenderes Beispiel strenger Gerechtigkeit, wie es auf den Bänken unserer Gerichte nicht oft gefunden wird.

Nach dreistündiger Berathung kehrten die Geschworenen zurück; sie waren einig und nahmen ihre Sitze ein. Der Gefangene, von Mutter, Oheim und Bruder begleitet, wurde vorgeführt. Der Obmann erhob sich, und auf die üblichen Fragen erfolgte der Spruch: „Schuldig des Mordes im zweiten Grade.“ Als ginge es ihn nichts an, hörte der Vatermörder den Wahrspruch an und verließ mit seiner ebenso gleichgültig scheinenden Familie den Gerichtssaal, um wieder nach den Tombs abgeführt zu werden.

Am Sonnabend den 5. Juli trat der Gerichtshof zum letzten Male zur Schlußscene dieses entsetzlichen Dramas zusammen. Richter Davis hatte diesen Tag bestimmt, das Urtheil zu verkündigen. Eine sehr erregte Menge füllte den Saal und dessen Umgebung; die öffentliche Meinung war heftig erbittert über den Wahrspruch der Geschworenen, durch welchen der Henker um dieses Opfer, für dessen Verbrechen einfacher Tod nur geringe Sühne zu sein schien, betrogen worden war. Der Volksunwille machte sich in den stärksten Ausdrücken gegen den elenden Mörder Luft; eine starke Polizeimacht war aufgeboten, um die Ruhe zu erhalten. Welch einen Contrast zu dieser gerechten Erbitterung des Volkes bildete die Haltung der Gesellschaft, die sich indeß im Vorzimmer des Gerichtshofes versammelt hatte! Im gleichgültigsten Tone und von den allergewöhnlichsten Dingen conversirten da, als befänden sie sich im behaglichen Salon ihres Hauses, die nächsten Verwandten des Vatermörders. Nicht einmal die Mutter zeigte die geringste Spur von Kummer oder Trauer über das Elend ihres blutbefleckten Hauses; ja, es schien diesem schamlosen aristokratischen Weibsbilde gar nicht erst zum Bewußtsein zu kommen, daß sie Alle, ohne Ausnahme, durch die Aufdeckung dieses bodenlosen Abgrundes moralischer Verworfenheit, in welchem die ganze Familie versunken dalag, an den Pranger gestellt und als Auswurf der Gesellschaft gebrandmarkt seien. Die ganze Rohheit und Frechheit dieser mit dem Firniß äußerer Cultur überstrichenen, im Grunde aber durchaus ungebildeten amerikanischen Pseudo-Aristokratie zeigte sich hier in einer wahrhaft empörenden Weise.

Unter den Flüchen und Verwünschungen des aufgebrachten Volkes wurde nach zehn Uhr der Vatermörder unter starker Bedeckung in’s Vorzimmer geführt; mit lächelnden Mienen begrüßte ihn die ganze Familie und setzte ihre schale Unterhaltung fort, an welcher er, völlig gleichgültig im Zimmer auf- und abgehend, bald ganz gemüthlich Theil nahm.

Der Districtsanwalt erhob sich und redete den Richter an: „Euer Ehren, der Proceß des Frank H. Walworth ist durch den Wahrspruch einer intelligenten und unparteiischen Jury beendet worden. Der Gefangene vor den Schranken des Gerichts ist demnach des Mordes im zweiten Grade schuldig, indem er am Morgen des dritten Juni Mansfield Tracy Walworth in verbrecherischer Absicht und unter dem Frieden des Volkes des Staates New-York vom Leben zum Tode brachte. Meine Pflicht als öffentlicher Ankläger erlischt in diesem Falle, indem ich hiermit auf die Urtheilsfällung nach dem Gesetze antrage.“

[585] „Haben Sie, Frank H. Walworth, etwas hiergegen einzuwenden?“ fragte der Gerichtsschreiber den Gefangenen.

Walworth murmelte einige unverständliche Worte: seine Vertheidiger rührten sich nicht. Todtenstille lag auf dem weiten Saale, als nach einer kurzen Pause der Gerichtsschreiber ausrief: „Walworth, erheben Sie sich!“

Ohne auch nur den gewöhnlichsten Anstand, den der Ort und die Gelegenheit geboten, zu beobachten, erhob sich der elende Bursche langsam und nachlässig, steckte die Hände in seine Rocktaschen und blickte den Richter mit der frechen Miene eines ungezogenen, trotzigen Schulbuben an. Ja, es war deutlich zu bemerken, daß er kaum im Stande war, das Lachen zu unterdrücken und mehrere Male gezwungen war, sich auf die Lippen zu beißen. Eine solche teuflische Ruchlosigkeit mag als ein psychologisches Räthsel erscheinen, die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger wahr. Wer freilich die heranwachsende Jugend New-Yorks sieht, begegnet diesem psychologischen Räthsel so oft, daß es kaum mehr als solches auffällt. Verachtung alles Guten, Edlen und Schönen, mit Füßentreten alles Anstandes und alles Rechtes ist nicht mehr Ausnahme, sondern Regel, und wir kennen mehr als Einen geldaristokratischen Sprossen, der dieselbe Frechheit zur Schau tragen würde, wenn über ihn ein ähnliches Urtheil gesprochen werden sollte, wie es jetzt Richter Davis über den Vatermörder aussprach.

„Walworth,“ begann der selbst tieferschütterte Richter, „ich habe in meinem ganzen Leben keine peinlichere Pflicht zu verrichten gehabt, als die mir jetzt obliegt. Nach einem Processe, in welchem Sie die Wohlthat eines Anwaltes hatten, der an Fähigkeit und Gelehrsamkeit nicht übertroffen wird, und einer Jury, die Sie im Wesentlichen selbst erkoren, sind Sie des Verbrechens des Mordes im zweiten Grade überführt worden. Die Strafe für dieses Verbrechen ist durch das Gesetz festgesetzt. Dem Gericht ist keine Wahl gelassen: Sie ist streng, aber, wie das Gericht in Ihrem Falle erachtet, nicht zu streng. Es trennt Sie von Ihren Freunden und von Ihrer Familie, und sendet Sie für Ihr Leben in’s Staatsgefängniß, das Sie wahrscheinlich nicht verlassen werden, außer vielleicht in künftiger Zeit durch die Gnade der Vollzugsgewalt. Die Beweise haben nach meinem Urtheile den gegen Sie gegebenen Wahrspruch vollkommen gerechtfertigt und ich habe schwere Zweifel, ob sie nicht den Wahrspruch ‚Mord im ersten Grade‘ gerechtfertigt hätten, denn ich kann nicht begreifen, welche Beweggründe Sie haben konnten, sich mit einer geladenen Pistole auszurüsten, nach New-York zu kommen, eine Zusammenkunft mit Ihrem Vater zu suchen und ihn fast unmittelbar darauf niederzuschießen, ohne daß ich annehme, daß Sie mit Ueberlegung beschlossen hatten, daß sein Leben durch Ihre Hand enden sollte. Die Pflicht, die ich zu üben habe, wird mir doppelt schmerzlich durch den Umstand, daß Sie einer in den Civil- und Militärannalen des Landes geehrten und ausgezeichneten Familie angehören. Ihr Großvater väterlicherseits war der oberste Richter dieses großen Staates und hinterließ einen reinen unbescholtenen Namen, während Ihr Großvater mütterlicherseits auf dem Schlachtfelde für das Vaterland fiel. Ihre arme Mutter hatte allerdings Ursache, ihre Beziehungen zu dem Vater zu bedauern, den Sie erschlugen; auch Sie hatten Ursache, nicht blos bekümmert, sondern beschämt und zornig zu sein über die lange Reihe von Beschimpfungen gegen sie und seine Familie; doch so schlecht er war, an Ihnen war es nicht, der Rächer dieses Unrechtes zu sein. Er hatte nichts gethan, um sein Leben selbst nach den Gesetzen des Landes zu verwirken, und am wenigsten hatte er etwas gethan, um sein Leben durch die Hand seines eigenen ältesten Sohnes zu verlieren. Wenn ich auf den Augenblick zurückblicke, wo Sie sich zu seinem Nachrichter machten und ihn in jenem Zimmer tödteten, wo Niemand außer Euch Beiden zugegen war, ist mir’s, als ob dieser Tod grauenhafter, als tausend Tode in anderer Form gewesen sein müsse. Von Ihnen zu einer Besprechung zu anscheinend friedlichen Zwecken eingeladen, um Familienzwiste zu schlichten – und fast unmittelbar der Todeswaffe in der Hand seines eigenen Sohnes gegenübergestellt – welche Gedanken müssen ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein, als er den bleiernen Todesboten von den Händen seines ältesten Knaben in seiner Brust empfing! Ich schaudere, wenn ich daran denke“ – bei diesen Worten verzog sich das Gesicht des Vatermörders zu einer höhnisch grinsenden Grimasse; der Richter, der es wohl bemerkte, unterbrach sich und rief, indem er einen durchbohrenden Blick auf den elenden Buben schleuderte: „der Gedanke an das Entsetzliche, das Sie vollbrachten, sollte Sie bis in’s Innerste erbeben lassen; ich schaudere, wenn ich daran denke, und fühle, daß Sie Ihr ganzes Leben einer Reue widmen sollten, wie sie Gott allein für eine so grauenhafte That annehmen kann. Der Spruch des Gerichts ist, daß Sie im Staatsgefängniß in Sing-Sing bei harter Arbeit für die volle Dauer Ihres Lebens eingesperrt werden.“

Nicht nur der Mörder, sondern ebenso die Mutter und sämmtliche Verwandten hörten den erschütternden Worten des Richters mit einer so empörenden Kaltblütigkeit zu, daß es selbst den gewiß nicht zu feinnervigen Zuhörern zu viel wurde. Anzeichen eines Ausbruchs des öffentlichen Unwillens gaben sich deutlich kund; der Richter beschleunigte die nöthigen Formalitäten, so sehr er konnte, und befahl dann schnell die Räumung des Saales und die Entfernung des Mörders und seiner Familie. Lachend nahm die verrottete Gesellschaft im Vorzimmer Abschied von einander; die Familie, um in Saratoga dem Begräbniß des Gemordeten beizuwohnen und dadurch ihrem ganzen ekelerregenden Gebahren die heuchlerische Krone aufzusetzen, der Sohn, um wieder nach den Tombs und von da weiter nach Sing-Sing in’s Zuchthaus abgeführt zu werden. Unterwegs äußerte sich der Verurtheilte gegen den Sheriff:

„Ich bin froh, daß ich die lange Strafpredigt nicht auszuhalten hatte, die ich von Seiten des Richters befürchtete. Ich weiß selbst gut genug, woran ich bin, und bedarf deshalb durchaus keiner Belehrung. Ich verlange weiter nichts, als einige Frist, um meine Angelegenheiten zu ordnen, und dann werde ich mich mit der größten Gemüthsruhe in mein Schicksal finden.“

Frank Walworth ist seitdem nach Sing-Sing abgeführt worden, wo ihm bis jetzt wenigstens nicht die geringste Vergünstigung vor andern Gefangenen zu Theil geworden ist. Die Gemüthsruhe, mit der er so sehr prahlte, scheint auch schon feiger Verzweiflung Platz gegeben zu haben, indem er, wie es wenigstens heißt, versuchte, sich selbst zu Tode zu hungern. Doch möchte auch hierzu dem erbärmlichen Wichte die Energie fehlen, denn die Aussicht ist doch zu verlockend, vielleicht schon nach wenigen Jahren den Pardon eines gefälligen Gouverneurs zu erbetteln oder zu erkaufen, und dann als Löwe des Tages und gefeierter Held der gesammten Noblesse New-Yorks, trotz Vatermord und Zuchthausjacke, in den Salons der fünften Avenue umherzustolziren.

Der vorstehende Fall hat, wie schon bemerkt, selbst in diesem von den schändlichsten Verbrechen strotzenden Lande außergewöhnliche Sensation erregt; das Gefühl des besseren Theils des Volkes hat sich empört gegen solche Ruchlosigkeit eines neunzehnjährigen Buben sowohl, als auch gegen eine so elende Handhabung der Gerechtigkeit, wie sie in dem Wahrspruch der Jury erscheint. Man spricht hier von einem psychologischen Räthsel. Und doch ist dasselbe nicht so gar schwer zu lösen. Es ist nicht die Absicht dieses Artikels, auf die Ursachen solcher entsetzlicher Erscheinungen ausführlicher einzugehen, nur einige Bemerkungen mögen schließlich dem Schreiber erlaubt sein.

Der Schlüssel solcher dunklen Thaten liegt hauptsächlich in der Weise, wie die amerikanische Jugend, namentlich diejenige von New-York, aufwächst, in der Erziehung oder richtiger Nicht-Erziehung derselben. In sehr vielen Familien, vorzüglich der sogenannten höheren Classen, das heißt derjenigen, welche mehr Geld als Andere haben und darum einen höheren Rang in der Gesellschaft beanspruchen, kann von vornherein von Kindererziehung keine Rede sein. Ist es einmal ausnahmsweise dem Kinde erlaubt worden, das Licht der Welt zu erblicken (denn Mord der Ungeborenen ist fast zur Regel geworden), dann beginnt trotz aller scheinbaren Sorge für dasselbe die lange Reihe von Vernachlässigungen und Versündigungen gegen dasselbe. Die Mutter ist viel zu träge oder zu vergnügungssüchtig, als daß sie sich die Last der Sorge für ihr Kind aufbürden könnte, und der Vater hat zu nichts Zeit, nur zum Geldmachen, er ist fast nie zu Hause. Amme, Gouvernante, Lehrer nehmen sich nach einander die Sorge für den Sprossen des edlen Hauses ab, während der Vater nach Geld und Courtisanen jagt und die Mutter vollauf mit Putzmacherinnen und galanten Freunden zu thun hat. Das Gefühl, Eltern zu haben, die es wahrhaft lieben, wird einem solchen Kinde nie in’s [586] Gemüth gepflanzt. Wie soll also Gegenliebe zu den Eltern entstehen? Von nichts als Hohlheit und Lüge umgeben, vom ersten Erwachen des Bewußtseins an Zeuge des zerrissenen Familienlebens, der gegenseitigen Untreue der Eltern, ihres Betrugs in Handel und Wandel, ihrer Verachtung aller moralischen Grundsätze, alles Rechts und Gesetzes, wenn nur ihre Habsucht und ihre Begierden befriedigt werden können – wie kann ein Kind in einer solchen verdorbenen Atmosphäre aufwachsen, ohne bis in’s innerste Wesen hinein angefressen zu werden und schließlich den Weg des Lasters und Verbrechens zu betreten? In solchen Familien hört das wahre natürliche Verhältniß zwischen Eltern und Kindern auf; die Gefühle kindlicher Liebe und Achtung können da nicht gedeihen, und fühlt das Kind sich erst selbstständig – was hier sehr früh der Fall zu sein pflegt –, dann steht es nur zu häufig den Eltern als Fremder gegenüber, und es bedarf oft nicht langer Zeit und nicht vieler Umstände, um die schwachen Fäden zu zerreißen, die beide noch, vermöge der leiblichen Abstammung, an einander ketten. Losgelöst von allen religiösen und moralischen Grundlagen, sinkt das Familienleben zu einem blos äußerlichen, sinnlichen Zusammensein herab, dem jede höhere sittliche Verbindung der einzelnen Glieder unter einander völlig fehlt. Ist der Nestling einmal flügge geworden, dann kennt er die Alten nicht mehr. Und was die Erziehung im Elternhause versäumt hat, holt die Erziehung in der Schule nicht nach. Niedere und höhere Bildungsanstalten geben in der Regel nichts als den oberflächlichsten Bildungsfirniß, ohne es im Geringsten auf wahre gründliche Entwickelung des Geistes oder gar des Gemüthes anzulegen.

So wächst der größte Theil der Jugend auf, und wenn die Zeit kommt, die nach unsern Begriffen für den Jüngling die Zeit des reinsten, edelsten Strebens sein soll, die goldene Zeit der Ideale, wo Begeisterung für alles Schöne und Gute die jugendliche Brust schwellt: da steht der arme junge Mann da, im besten Falle ein kalter Geschäftsmann, der nie ein jugendliches Gefühl empfunden hat, oder ein vollendeter Materialist, der im habgierigen Jagen nach dem Dollar oder im wüsten Rennen nach sinnlichem Genuß seine einzige Befriedigung sucht, im schlimmsten Fall aber ein total ruinirter Wüstling, für den es nichts mehr zu genießen giebt, oder ein verhärteter Bösewicht, der dem ergrauten Dieb und Mörder, der ihn in den Wegen des Verbrechens unterrichten will, lachend ein Schnippchen schlägt und sich ihm als Lehrmeister anbietet. Aus dem Sumpfe dieser unserer moralisch völlig verrotteten fashionablen Gesellschaft steigen dann nicht vereinzelt, sondern in erschreckend zunehmender Anzahl solche Ungeheuer auf, wie der neunzehnjährige Vatermörder Walworth. – Und wo ist der St. Georg, um diese Lindwürmer unschädlich zu machen und das Land von ihnen zu befreien? Wo ist die Gerechtigkeit, die mit Wage und Schwert dem Verbrechen entgegentreten soll? Was man hier Gerechtigkeit nennt, ist wohl auch eine blinde Göttin und ihre Diener sind’s meistens nicht minder; aber blind nur gegen den reichen und angesehenen Verbrecher, blind gegen klare Beweise und Thatsachen, wenn nur ein geschickter Advocat sein Netz von Intriguen und Sophismen darüber werfen kann, blind gegen Wahrheit und Recht. Aber das Gold, das der Millionär in der Hand hält, die Stellen und den Einfluß, die der Politiker, der Demagog zu vergeben hat, die sieht das scharfe Auge dieser Priester der Gerechtigkeit ganz vortrefflich; so geschieht es, daß in vielen Fällen der Arme schwer, ja gar nicht zu seinem guten Rechte kommt, während der reiche Verbrecher frei und triumphirend ausgeht. Ist es doch vielfach so weit gekommen, daß die Idee, einen reichen Mörder zur Strafe zu bringen, förmlich verlacht wird. Wie kann da Achtung vor dem Gesetz bestehen? Kein Wunder, wenn jede Schranke schließlich fällt und das Verbrechen, im Bewußtsein seiner Straflosigkeit, sich als Macht im Staate fühlt, die unter Umständen unantastbar ist.

Diese beiden Factoren: Mangel an wahrer Erziehung und Straflosigkeit des Verbrechens, erklären Erscheinungen, wie die in diesem Artikel geschilderte, und bis diesem doppelten Krebsschaden gesteuert ist, wird unsere Republik immer erschreckendere Beiträge zur Verbrecherchronik der Menschheit liefern.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sturvesant-Haus