Auf dem Londoner Straßen-Pflaster

Textdaten
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Autor: W. F. Brand
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Titel: Auf dem Londoner Straßen-Pflaster
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 179–182
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Auf dem Londoner Straßen-Pflaster.

Mit Illustrationen und Originalskizzen von H. Friedrich und Zeitbildern nach „The Illustrated London News“.

Ein englischer Volksredner.

Einer der schönsten Plätze Londons ist Trafalgar Square, welchen die Denksäule Nelson’s, des populärsten Helden Englands, überragt. Kirchen, Paläste und Theater begrenzen seine langen Fronten, fashionable Straßen nehmen hier ihren Anfang und laufen in langgestreckten Linien gegen Westen nach dem Hydepark. Hier ist der Mittelpunkt des Westend, der geldverzehrenden, tonangebenden Stadt mit den Palästen der Königin und des Adels, den Klubhäusern und öffentlichen Gebäuden; hier grünen prachtvolle Gärten in dem weiten steinernen Häusermeer; überall Reichthum und verschwenderischer Luxus.

In dieses vornehme Viertel zogen am 8. Februar Tausende beschäftigungsloser Arbeiter, um eine jener großen Volksversammlungen abzuhalten, wie sie nur in London zu schauen sind, und über die Verbesserung der Arbeiterlage zu berathen. Welchen Ausgang diese Demonstration genommen, ist allgemein bekannt. Feinde der Ordnung wußten die Gelegenheit zu benutzen, um auf dem Sockel der Nelsonsäule die rothe Fahne des Aufruhrs aufzupflanzen, und, angefeuert durch aufrührerische Reden, zogen Rotten professioneller Diebe und Einbrecher nach den benachbarten Straßen, um dort die Fenster einzuwerfen, Läden zu plündern, Vorübergehende ihrer Baarschaft zu berauben, überhaupt die gröbsten Excesse zu begehen. Stundenlang, von der überraschten Polizeimacht nicht gehindert, wogte im Westend die entfesselte Raublust, bis der angerichtete Schaden sich nach Millionen bezifferte und die Plünderer triumphirend nach dem Hydepark abzogen.

Hansom-Cab.

Für uns auf dem Kontinent ist die Möglichkeit derartiger Vorkommnisse fast unverständlich, aber London, mit dem sich keine Stadt der Welt messen darf, bildet eine Welt für sich, eine Welt von Gegensätzen, die den Wanderer auf Schritt und Tritt überrascht. Ein eigenartiges Leben fluthet in diesem ungeheueren Häusermeer; ich will versuchen, dem Leser Bilder vom Londoner Straßenpflaster zu schildern, wie man sie dort tagtäglich beobachten kann und in ihrer Gesammtheit schwerlich auf einem anderen Fleck der Erde finden dürfte.

Ich setze mich in ein „Hansom-Cab“, die modernste Droschke Londons, und rolle über das in den größeren Straßen überall eingeführte Holzpflaster nach dem Schauplatz der jüngsten Unruhen. [180] Es fährt sich gut und bequem in dem Hansom. Nur nach vorn hin offen oder wenigstens mit einem Schiebfenster versehen, besitzt es nur zwei Räder und auch nur zwei Sitze. Der Kutschersitz fehlt vorn ganz, ist dagegen in einer Art von Erker hinten an dem Dach des Wägelchens angebracht. So ist das Hansom sehr leicht gebaut und wird in Bezug auf Schnelligkeit der Beförderung von keinem andern Gefährt übertroffen, weil eben die englischen Droschkenpferde, wenngleich immer nur als Einspänner verwandt, von der Stelle zu kommen wissen. Diese Droschken sind auch sehr elegant eingerichtet und neuerdings meistens auch mit einem Aschenbecher und kleinen Spiegel versehen. Dagegen läßt sich von dem plumpen, geschlossenen, viereckigen und viersitzigen Fourwheeler (Vierräder) wenig rühmen. Es giebt mehr als 12 000 Droschken auf den Londoner Straßen. Und doch vermitteln sie sowohl wie die Tausende von Omnibussen und Pferdebahnwagen nur einen geringen Theil des Verkehrs. Die Eisenbahn hat ihnen längst den Rang abgelaufen, und ihr Netz wird täglich ausgedehnter und dichter zugleich. Unter den Straßen wie über den Häusern hin gehen ihre vollgepfropften Züge. In London selbst und seinen Vorstädten giebt es bereits mehr als 200 Eisenbahnstationen. Doch die beförderungsgierige Menge ist noch immer in außerordentlichem Zunehmen begriffen.

Schluß der Volksversammlung auf dem Trafalgar Square.
Nach der Zeitschrift: „The Illustrated London News“.

Auf der Fahrt nach meinem Ziel könnte ich meinem Begleiter noch mehr von dem Riesenvekehr Londons berichten, ihn an das alte Sprichwort erinnern, daß in London mehr Schotten wohnen als in Edinburg, mehr Irlander als in Dublin, mehr Juden als in Palästina und mehr römische Katholiken als in Rom. Ich könnte ihm auch erzählen von dem Riesenhunger dieser Stadt, den alljährlich 400 000 Ochsen und l½ Millionen Schafe stillen müssen, und von dem Falstaff-Durst derselben, den in 12 Monaten 180 Millionen Quart Porter und Ale und 31 Millionen Quart Wein kaum zu löschen vermögen, und von der Gourmandise, die hier alljährlich 1 200 000 Hummern und 500 Millionen Austern vertilgt – doch da sind wir bereits auf dem Trafalgar-Square angelangt, im Herzen des „Klublandes“, in dem jene Leckereien wohl den größten Absatz finden.

Die Plünderung der St. James-Straße.
Nach der Zeitschrift: „The Illustrated London News“.

Wir sind im Westend, und an den Fontainen des großen Trafalgar-Square vorüber wandern wir weiter. Da liegt das jüngst geplünderte Piccadilly vor uns; eine Reihe elegantester Läden schmückt die breite anderthalb Kilometer lange Straße, die der Hyde-Park-Corner, eins der neun Thore des Riesen-Parkes, nach Westen zu abschließt. Und dort weiter Pall-Mall, das eigentliche „Klubland“. Hier glänzen die Paläste der United Service- und Reform-Klubs; nicht weit davon liegt der Guards’-Klub, dem nur die Officiere der Leibgarde angehören dürfen, ferner Athenäum-, Army and Navy-Klub etc. Aehnlichen Bauten begegnen wir in der nahen St. James-Street, mit dem gleichnamigen Palast und Park, an dessen Eingang sich die 124 Fuß hohe Yorksäule erhebt. Von ihrem Kapitäl kann man das herrliche Westend überschauen, Waterloo Place, Pall-Mall, Oxford-Street und St. James-Square. Mir fiel es ein, daß ich über dieses Viertel vor Jahren die charakteristischen Worte las: „Um hier Bälle geben zu können und eine Lordstochter zu heirathen, plünderten schon Hunderte von zweiten Lordssöhnen und niedriger Geborene die Indier um so viel Schätze, daß jeder nach Rückkehr seine 10- bis 20 000 Pfund Renten genoß.“

Noch geblendet von all dem geschauten Reichthum, versunken in Betrachtungen über das herrliche Leben in den Klubhäusern,

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Straßen-Künstler.

wo das glückliche reiche Mitglied zu billigsten Preisen die vorzüglichsten Genüsse erlangen kann, bin ich in eine der seitwärts gelegenen Straßen gelangt und hätte beinahe auf eine Reihe von Bildern getreten, die dicht an der Mauer mit buntfarbiger Kreide zum Theil unmittelbar auf das Trottoir gezeichnet sind. „Pity the poor Artist!“ steht darunter. Und daneben liegt er selbst, der „Künstler“ von zerlumptem und verhungertem Aussehen. Der Hut ihm zur Seite mit einigen darin enthaltenen kleinen Münzen deutet uns an, welches die Zielscheibe unserer „Mildthätigkeit“ sein soll. Ach, man begegnet diesem „Bild von Bildern“ oftmals in den Londoner Straßen. Es herrscht schreckliche Armuth in dem reichen London! –

Da kommen sie angezogen – ein Mitleid erregender Trupp! Vater, Mutter und ein halbes Dutzend hohlwangiger lumpenbedeckter Kinder. Sie singen. Das Betteln ist ja verboten, aber Gelderwerb durch Gesang, ist das nicht eine ehrliche Profession? Nicht ebenso ehrlich wie die Kunst der „Malerei“? O über die Ironie gesetzgebender Weisheit, die den Mildthätigen nöthigt, für sein Almosen auch noch das ohren- und herzerschütternde Gesinge mit in den Kauf zu nehmen! Erst dadurch wird seine Handlungsweise gesetzmäßig! Doch jener andere singende Trupp – ist sein Anblick nicht noch peinlicher? Es ist ein Häuflein der „Erlösungs-Armee“. Da halten die „Truppen“ an der Ecke. Einer aus ihrer Mitte beginnt – zu predigen, ein ungebildeter, fanatischer Gesell. Ist es nicht Gotteslästerung viel mehr als Gottesdienst? Fort, nur fort von diesem phrasenhaften Geschwätz! Da tritt eine alte Person aus dem Haufen mit einem widerwärtigen Grinsen auf mich zu. Sie will mir ein „Trakt“ in die Hand drücken. Mir ist’s, als wäre es ein schmutziges Orgellied, und ich eile davon. Starr blickt sie mir nach. Es sollte wohl eine milde Wehmuth in diesem Blicke liegen, als wollte sie sagen: „Bist du denn so tief in des Satans Krallen, daß du vor einer bloßen Berührung mit uns Heiligen zurückbebst? – Ha, wie ihn das böse Gewissen jagt!“

Außer Dienst.

Ich wollte diesem Lärm entfliehen, bin aber dafür in den Bereich einer dröhnenden Drehorgel gekommen, deren Tänze selbst den Straßenlärm übertönen. Die ausübenden Künstler dieser Instrumente sind in London durchweg Italiener, während die eigentlichen Straßenmusikanten – „the German bands“ – hier fast ausschließlich vaterländische – Missethäter sind. Ihre englischen Kollegen huldigen, vor einer Schenke aufgestellt, lediglich dem seltsamen Trio, das mittelst Trompete, Harfe und Geige hervorgebracht wird, und thun auf diese Weise dar, daß auch „das Strenge mit dem Zarten gepaart“ nicht immer „einen guten Klang“ zu geben braucht.

So sollte man sich fast versucht fühlen, das Londoner Pflaster als die recht eigentlich heimische Stätte aller schönen Künste zu betrachten. Ach, sie allesammt, die ihnen hier obliegen, sind eine große Plage für das Londoner Leben. – Doch bin ich nicht selbst ausgezogen, heute den Stoff für diese Schilderung und somit mein Brot auf der Straße zu suchen? Wer es soweit gebracht, sollte der nicht gelernt haben, nachsichtiger über seine Umgebung zu urtheilen?

Ein seltsames Trio.

„Special Echo“, „Latest Edition: Globe“ schreit plötzlich ein zerlumpter Bube dicht an meiner Seite, der die Abendblätter feilbietet. Er fügt auch noch einige mysteriöse Andeutungen von einer entsetzlichen Mordthat, über die in den Blättern berichtet sein soll, hinzu, um für sein umfangreiches Bündel, das er unter dem Arme trägt, leichter Absatz zu finden. Hat er dann ein Blatt an den Mann gebracht, so macht er sich weislich aus dem Staube und überläßt es dem Leser, nach jener Schreckensthat in den Spalten der Zeitung sich umzusehen. Der kann aber meistens recht lange suchen!

Ein Jünger der Wissenschaft.

Knaben werden hier für viele Verrichtungen verwandt, die man in Deutschland Männern übertragen zu müssen glaubt. Leider müssen sie oftmals selbst dann schon an strenge Arbeit, wo sie sich offenbar noch in dem Alter befinden, in welchem ihnen die Schulbank viel mehr noth thäte, als das Straßenpflaster. Auf der andern Seite ist es aber auch nicht zu leugnen, daß eben diese frühzeitige Selbständigkeit, diese Schule des Lebens eine treffliche Lehrmeisterin abgiebt. Das kann man schon dem ganzen Auftreten der Burschen selbst ansehen. So sind sämmtliche Stiefelputzer an den Straßenecken ganz junge Burschen. Sie bilden eine eigene „Brigade“, die sich aus verwahrlosten Knaben immer wieder aufs Neue rekrutirt und über 400 „Shoeblacks“ zählt. Außer einem reinlichen Unterkommen erhalten dieselben Kost und als Uniform einen Flanellkittel, der, je nach der Abtheilung, zu welcher sie gehören, von besonderer Farbe ist, meistens roth oder blau. Dafür müssen sie eine gewisse Summe ihrer täglichen Einnahmen abgeben, die sich insgesammt auf nahezu 12 000 Pfund Sterling jährlich belaufen sollen. Andere Buben stellen sich an den Straßenübergängen auf, mit dem Besen in der Hand und fegen dann auch wohl einen kleinen Weg quer über die Straße. Es hat gewiß seine Annehmlichkeiten, wenn man bei schmutzigem Wetter auf die andere Seite der Straße zu gelangen hat und sich dann einer solchen gefegten Bahn bedienen kann. Rathsamer aber wäre es jedenfalls, die städtische Behörde ließe fegen. Die Thätigkeit der kleinen Crossing Sweepers, die auf eigene Hand den Besen führen, ist kaum etwas Anderes, als ein Deckmantel für Bettelei. Selbst die Telegraphenboten sind, wenn nicht geradezu Knaben, doch junge Burschen im Alter von vielleicht vierzehn bis siebzehn Jahren. Dagegen mag sich manches einwenden lassen; allein bei der Telegraphie ist doch eine schnelle Befördernng der Depeschen wohl die Hauptsache, und in dieser Beziehung dürften auserlesene junge Burschen in diesem Alter ausgedienten Soldaten nicht nachstehen.

Straßen-Kehrer.

Eine angenehme Erscheinung auf dem Londoner Pflaster ist mir allemal der Londoner

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Hyde-Park-Corner.

Schutzmann, ohne deßhalb mich mit meinem guten Gewissen hervorthun zu wollen. Jener ist in erster Instanz gleichsam ein lebendiger Wegweiser, an den man sich am besten um jedwede Auskunft wendet. Er ist stets artig, nie anmaßend. Dazu hat ihn zum Theil das Publikum selbst herangebildet. Denn wollte er es sich beikommen lassen, seine Autorität herauszubeißen, den Wichtigen zu spielen, das Publikum würde ihn dermaßen auslachen, daß er es gewiß nicht zum zweiten Male versuchte. Bis vor zwei Jahren durften die Schutzleute der eigentlichen City sich noch nicht einmal den Schnurrbart wachsen lassen. Ob das ein Mittel gegen Aufspielerei sein sollte? Doch auch heute, wo die Verordnung gegen das männerverschönernde Gewächs nicht mehr besteht, ist der „Bobby“ immer noch der Liebling des anständigen Publikums. Die unverzeihliche Lässigkeit bei den letzten Straßentumulten dürfte die Sympathie für unsern „Bobby“ allerdings stark erschüttert haben. – Zumeist an belebten Kreuzungspunkten der Straßen steht in London der Briefkasten, eine hohe, dicke, rothangestrichene eiserne Säule, einem Brunnenpfosten vergleichbar, aus der die Briefträger die Menge der Briefe in großen Säcken abholen.

Ich zaudere – was soll ich noch herausgreifen aus der Fülle der interessanten Typen des Londoner Straßenlebens? Jene Reihe von „Sandwichmen“ bietet noch ein heiteres Bild: ein jeder von ihnen trägt ein großes Plakat auf Brust und Rücken, und so ziehen sie gemeinsam durch die Straßen. Alle Plakate enthalten dieselbe Annonce. Ein „Sandwich“ ist bekanntlich ein belegtes Butterbrot. Daher haben die Leute ihren Namen! Sie selbst sind die Fleischeinlage, und die Plakate stellen die Brotschnitten dar. Der Name mag bezeichnend genug sein, aber die Idee von dem Butterbrot mit Menschenfleisch – –

Sandwichmen.

Apfelsinen-Händler.

Da gedenke ich lieber noch des im friedliebenden England so selten gesehenen Kriegers, der seine Herzallerliebste spazieren führt, statt des Säbels, der außer Dienst nicht getragen werden darf, das Spazierstöckchen in der Hand, auf dem Kopf das leichte, kleine Studentenkäppchen; während dort der junge Student ein Gehäuse auf dem Haupte trägt, das zwar ganz aus Zeug gefertigt, seiner Form nach aber, nach deutschen Begriffen, eher einen Ulanenkopf als den eines Jüngers der Wissenschaft zieren sollte!

Es ist inzwischen dunkel geworden.

„Tivoli Lager Beer!“„Vienna Lager Beer!“ Wie anheimelnd berühren uns diese halbdeutschen Worte mit der Bezeichnung von etwas so ganz Deutschem, das hier immer mehr Eingang findet. Da stand es groß angeschrieben. Ich befand mich vor einer deutschen Restauration – mit deutschem Bier. Ob ich hineinging? Darüber brauche ich wohl wirklich keine Rechenschaft abzulegen. Denn es hat mit dem „Londoner Straßen-Pflaster“ nichts zu schaffen. Aber als ich wieder herauskam, da schien das Aussehen der Straße wesentlich verändert. Ein leichter Nebel lagerte darüber – nichts Seltenes für London! Und so kam es, daß ich bald meinen Weg, der ohnehin ziellos war, verlor. Das kommt in London auch wohl vor! Ich wurde indeß bald inne, daß ich in eins der ärmeren Quartiere der Stadt gerathen war.

Plötzlich befand ich mich einem wild aussehenden Gesellen gegenüber, einem Irländer, der Apfelsinen auf einem neben ihm stehenden Tisch zum Kauf bot. Da ich ihm einige Aufmerksamkeit geschenkt, glaubte er offenbar, ich sei von Kauflust dazu veranlaßt, und ich hatte Mühe von ihm fortzukommen, ohne ein Geschäft mit ihm zu machen. In den ärmeren Stadttheilen werden viele Eßwaaren auf offner Straße feilgeboten, wie gebratene Kartoffeln und Kastanien, verschiedene Sorten von Schnecken und Austern, allerart Früchte u. dergl. –

Einen Penny die Tasse!

Nicht weit von dem Irländer stand eine kleine Bude, in welcher ein reinlich aussehender Alter in hochfeinem Cylinder Kaffee ausschenkte. Die Tasse kostete einen Penny, schien aber gleichwohl recht – warm zu sein, eine Eigenschaft, die selbst in Abwesenheit anderer Vorzüge den Kutschern und Arbeitern und anderen, die in den kalten Nächten und in der Frische des frühen Morgens auf der Straße zu thun haben, nicht gleichgültig sein kann. Dieses Geschäft blüht erst recht nach Mitternacht, wenn die Restaurationen geschlossen sind. Immer ärmlicher und trübseliger wurde Alles um mich her! Ich war in das Ostend von London gerathen, die unübertreffliche Heimstätte von Armuth, Schmutz und Verbrechen, eine Stätte, die nur von wenigen anständigen Menschen betreten, deren Vorhandensein schon von dem übrigen London nach Kräften ignorirt wird. Ich hielt es daher für angemessen, an den Heimweg zu denken, aber wie sollte ich nun nach Hause kommen? So spät gab es auf der unterirdischen Eisenbahn keine Züge mehr. Ich fragte einen des Weges kommenden Schutzmann nach der Entfernung bis zu meiner Wohnung. Nach kurzem Besinnen veranschlagte der höfliche „Bobby“ dieselbe auf etwa sieben Meilen. Ein netter Weg! Ich überlegte schon, ob ich einen Gasthof aufsuchen sollte – eine eigenthümliche Idee für jemand, der in derselben Stadt wohnt! – vertraute mich aber schließlich doch abermals einem Hansom an. Mit großer Schnelle steuerte diese „Londoner Gondel“ durch das unendliche Häusermeer der Weltstadt. Die sieben Meilen legte sie in weniger als drei Viertelstunden zurück. „Sieben?“ – „Zwölf!“ versicherte der Kutscher, als es ans Bezahlen ging. Was die Leute doch fahren! – W. F. Brand.