Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Neuntes Kapitel

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9. Hungersnot.

Daß mit Ende vorigen Jahres und noch gegenwärtig in Armenien eine Hungersnot von den riesigsten Dimensionen herrscht und daß dort 500 000 Menschen, um nicht Hungers zu sterben, thatsächlich auf die Unterstützung der Christen des Abendlandes angewiesen sind, davon weiß man in Deutschland, dem Lande, das sich schon gerühmt hat, an der Spitze der Humanität zu marschieren, nichts.

Die hohe Politik gebietet, daß in Armenien weder Massacres stattgefunden haben, noch eine Hungersnot herrscht, und die gehorsame offiziöse Presse – und wer alles gehört in der orientalischen Frage nicht dazu? – verschweigt tapfer alles, was man über Armenien weiß und wissen kann; denn dem guten Freunde, dem Türken gegenüber, hat eine christliche Politik das Gebot des Katechismus zu befolgen: „sondern ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“

Wenn irgendwo in der Welt eine Feuersbrunst, eine Ueberschwemmung, eine Seuche zu berichten ist, und unsere gewissenhafte Presse läßt sich in der Beziehung keine Versäumnisse zu schulden kommen, werden Sammlungen für Notleidende veranstaltet, Wohlthätigkeitskonzerte und Vorstellungen gegeben, Bazare arrangiert, Kirchenkollekten ausgeschrieben; hohe und höchste Herrschaften stellen sich an die Spitze von Hilfskomitees und nichts wird unterlassen, bis das öffentliche Gewissen die Beruhigung hat, daß die Not behoben[WS 1] ist. Aber mit Armenien ist das etwas anderes. Da gebietet die hohe Politik dem Mitleid Schweigen, und ein politisch wohlerzogenes Publikum nebst allem was offiziell ist, Presse so gut wie Kirche, gehorcht. Der Hungersnot in Armenien zu steuern, überläßt man dem „perfiden“ England und den Antipoden im christlichen Amerika. In der That, hätte es nicht in England und Amerika ein großes christliches Publikum gegeben, das nicht nur dank seiner unabhängigen Presse politisches Urteil, sondern auch ein Herz für ein armes, zertretenes Volk besaß: – alles, was in Armenien aus den Massacres noch übrig geblieben war, Hunderttausende von Menschen, die jeder Habe, der Kleider, der Betten, der Häuser und des täglichen Brotes beraubt waren; Hunderttausende von Witwen und Waisen wären dem Hungertode erlegen.

Die Endabsicht der türkischen Vernichtungspolitik wäre erreicht, die armenische Frage aus der Welt geschafft und das europäische Konzert hätte nur noch die marcia funebre zu spielen. Aber Gott sei Dank, England und Amerika haben durch großartige Opferwilligkeit, die Millionen aufbrachte, das armenische Volk davor gerettet, daß nicht, was dem Schwert entronnen war, wie es die Hohe Pforte wünschte, dem Hungertod erlag.

Aber auch Deutschland hat etwas für Armenien gethan. In den sogenannten Pietistenkreisen Nord- und Süddeutschlands sind durch christliche Blätter, von denen die politische Presse ebenfalls nichts weiß, von kleinen Leuten 100 000 M. zusammengebracht worden. Die evangelische Allianz hat in christlichen Kreisen durch ihren Aufruf auch 60 000 M. gesammelt. Einige Tageszeitungen, wie der Reichsbote, haben sich daran beteiligt, und die Kreise der „Christlichen Welt“, durch die mannhafte Wahrheitsliebe ihres Herausgebers aufs beste über Armenien unterrichtet, haben hervorragend dazu beigetragen. Auch Kaiserswerth hat für armenische Waisenkinder etwa 80 000 M. erhalten. Das ist ungefähr alles, was Deutschland für Armenien gethan hat. Also nur in den Kreisen entschiedensten Christentums hat sich das Mitleid mit den Opfern der europäischen Politik durch eben diese Politik nicht zum Schweigen bringen lassen. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß Frankfurt a. M. nahezu die einzige Stadt in Deutschland gewesen ist, welche durch ihre politische und christliche Presse sich des armenischen Volkes wahrhaft angenommen hat. Es sei der Frankfurter Zeitung zur Ehre gesagt, daß sie die besten und unparteilichsten Berichte über Armenien gebracht hat und noch bringt. Unabhängig von ihr sind D. Rades „Christliche Welt“ und das in 90 000 Exemplaren verbreitete Erweckungs-Blättchen „Für Alle“ des Pfarrer Lohmann, beide schon seit Anfang des Jahres unentwegt für Armenien eingetreten. Pfarrer Lohmann hat allein etwa ½ aller in Deutschland aufgebrachten Beiträge für Armenien gesammelt. Neuerdings hat sich die „Deutsche Hilfsaktion zur Linderung des Notstandes in Armenien“ gebildet, mit einem Central-Komitee in Berlin und Zweig-Komitees in allen Teilen Deutschlands, und hat ein umfassendes Hilfswerk für den Notstand in Armenien organisirt.

Warum aber weiß das offizielle Deutschland nichts von der Hungersnot in Armenien? Vielleicht findet die Thatsache, daß 100 000 Erschlagene etwa 400 000 Waisen und Witwen zurücklassen mußten, und daß ein völlig ausgeplündertes Volk, dem man sogar die Kleider vom Leibe gestohlen, die Betten geraubt, die Vorräte verbrannt und die Wohnstätten zerstört hat, in der täglichen Gefahr des Hungertodes schwebt, immer noch keinen Glauben. Aber man sollte denken, daß die Hilfskomitees, die dieses arme, nackte, obdachlose und hungernde Volk durch zehn Monate durchgefüttert haben, wissen müßten, wie es um dasselbe steht. Vielleicht wendet sich einmal ein eifriger Reporter unserer großen Tagesblätter, die doch sonst so gern alle Welt interviewen, an den Vorsitzenden des Internationalen Hilfskomitees, in dem nur Deutschland nicht vertreten ist, und bittet ihn um Auskunft darüber.

Inzwischen aber wollen wir mit einigen Zahlen aufwarten. Vor kurzem wurde in den zwanzig über Armenien verteilten europäischen Hilfsstationen Umfrage gehalten, wie viel Menschen Hungers sterben würden, wenn die Unterstützungen aufhören würden. Aus 8 Stationen waren die Nachrichten eingetroffen. Die Zahlen, die sie nach genauen Listen aller unterstützten Distrikte und Dörfer aufgestellt, ergaben zusammen 270 000 Menschen. Im ganzen betrügt die Zahl der Notleidenden, soweit wir bestimmtere Angaben haben, im

Vilajet Trapezunt    ca.  4 000 
  "     Erzerum       "  40 000 
  "     Bitlis           20 000
  "     Wan              97 000
  "     Charput         100 000
  "     Sivas           180 000
  "     Diarbekir        30 000
  "     Aleppo           50 000
  "     Adana            17 000
  "     Angora            8 000
                       ---------
                        540 000

Es giebt aber in allen Vilajets zahllose abgelegene Distrikte, in die noch kein Mensch gekommen ist, um Nachforschungen anzustellen.

Wir lassen, um einen persönlicheren Eindruck des entsetzlichen Elendes zu erwecken, einige beliebig herausgegriffene Berichte aus dem Notstandsgebiet folgen.

Charput. Wenige Armenier sind imstande gewesen die Frühlingssaat auszusäen; und die Bevölkerung ist ohne Ernte geblieben. Bei der Regierung ist sogar von den Lokalbehörden sofortige Hilfe nachgesucht worden, um eine allgemeine Hungersnot für den nächsten Winter abzuwenden.

In der Stadt Urfa allein sind 12 000 Notleidende, worunter 10 000 Witwen und Waisen, ihrer Ernährer beraubt, dem bittersten Mangel ausgesetzt sind.

Malatia. In den Tagen nach dem Massacre flohen alle Armenier aus ihren brennenden Häusern, nur um ihr Leben zu retten und behielten nichts, außer den oft ärmlichsten Kleidern, die sie anhatten, so daß viele die blutigen Kleider der Ermordeten anziehen mußten. Von 2000 geplünderten Familien mit 8000 Seelen giebt es nur 50 Familien, die nicht in der äußersten Verzweiflung sind. Zarte Frauen, deren Männer und erwachsene Söhne ermordet wurden, deren Häuser verbrannt, die aller Habe beraubt sind, leben in Hütten, dumpfen Kellern; früher Wohlhabende jetzt in Lumpen gekleidet, haben nicht Brot zu essen. Viele von ihnen gehen bettelnd von Thür zu Thür oder stehen Almosen heischend auf dem Markt. Da sitzen in ihren Läden, die welche sie zu Witwen gemacht und ihnen alle irdische Habe geraubt haben, werfen ihnen eine Handvoll Kupfermünzen hin und spotten der armen Frauen, daß sie wie die Hunde einige Brosamen zu erwischen suchen. 2750 Betten sind erforderlich, denn seit dem Massacre schlafen die armen Leute auf Stroh und Lumpen; ganze Familien schlafen der Wärme wegen auf einem Haufen, indem die älteren oft die kleineren als Kopfkissen gebrauchen; 2000 Kleidungsstücke sind erforderlich, wenn jede Familie nur eins erhalten soll, denn nur sehr wenige haben mehr als ein Kleidungsstück und von 7500 völlig mittellosen Personen braucht jeder 40 Para (18 Pfennig) allein täglich für Brot. Viele sterben vor Hunger und Kälte. Wenn diese Tausende von Witwen und Waisen in diesem Zustande gelassen werden, müssen sie im Jammer zu Grunde gehen und vor Verzweiflung sterben. Kein Brot, keine Kleidung, keine Betten, keine Arbeit, aber Krankheit fast in jeder Familie. Dieser Zustand ist schlimmer als der Tod.

Arabkir. Von mehr als 400 christlichen Häusern sind nur noch 30 Familien übrig, die keine Erschlagenen zu beklagen haben, aber alles leidet Hunger und Blässe. Es giebt kein Mittel, sich ein Stück Brot zu verschaffen. Die kleinen Kinder irren ganz nackt und ohne etwas zu essen zu haben herum und schreien: „Hatz, Hatz!“ „Brot, Brot!“

Sivas. Die Berichte aus den Dörfern sind ziemlich überall die gleichen. Ein großer Teil der Häuser sind verbrannt, alle Kleidungsstücke, Betten u. s. w. fortgetragen. die Ueberlebenden vergraben sich in Stroh, Kinder sterben vor Kälte und Hunger. Viele Leute verwundet und ohne Pflege.

Ein Offizier sagt, er habe Frauen gekannt, die nach einem türkischen Dorfe gegangen wären, um ein wenig Brot zu erbetteln und die vor Hunger und Kälte auf dem Wege gestorben wären.

In der Provinz Erzerum wird jetzt über 50 000 Personen Unterstützung gewährt. Es wird kein Versuch gemacht, die Armut zu beseitigen; der einzige Gedanke ist, die Leute am Leben zu erhalten.

Ein junger Mann, der 90 Meilen durch gefährliche Gegenden zu Fuß zurückgelegt hatte, bat um Unterstützung. Sein Bericht war wie folgt: Es sind 85 armenische Häuser in dem Dorfe, in das er gehört. Jedes Haus wurde geplündert, und viele Personen wurden getötet. Das Gemetzel fand statt, als das Korn auf den Feldern reif war. Niemand wagte es, aus dem Dorfe hinauszugehen, um es zu ernten. Die Kurden kamen, teilten die Felder unter sich, schnitten das Korn und trugen es fort. Das jetzige Elend ist unbeschreiblich. Mehrere Personen sind vor Hunger gestorben. Der Vater und Bruder des jungen Mannes wurden getötet, und er hat seine Frau und mehrere kleine Kinder im tiefsten Elend zurückgelassen, um zu kommen und von der Not seines Dorfes und dreier ebenso bedürftiger Dörfer zu berichten.

In der Provinz Charput wurden 60 000 Menschen in 300 Dörfern unterstützt. Wir geben aus einem Brief über den dortigen Notstand folgendes wieder:

Ich möchte einige Worte über die Lage sagen. Ich habe versucht, die Zukunft hoffnungsvoll anzusehen und zu glauben, daß die Leute sich wiederaufrichten würden; und ich habe die eingehendsten Berechnungen gemacht über die Hülfe, die notwendig sein wird, um das Volk vor Hungersnot zu schützen, aber ich sehe, daß die Frage wächst, je weiter wir kommen, und die Not nimmt eine immer schrecklichere Gestalt an.

Vor zwei Wochen besuchte ich einige der Dörfer mit Dr. Hubbell und Herrn Fontana, dem englischen Vice-Konsul.

Das erste Dorf war Sorseri, eine halbe Meile von Mezreh, einem vormals großen und wohlhabenden Dorfe. Von 160 Häusern sind 155 verbrannt worden, aber das Dorf liegt dem Regierungssitz so nah, daß hier weniger zu fürchten ist als an entfernteren Orten. Sie haben auch Bäume, und in vielen Höfen sahen wir Bauholz, was auf die Absicht schließen läßt, ihre Häuser wieder zu bauen. Dies freute uns, und wir kamen zu der Ueberzeugung, daß dieses Dorf sich mit wenig oder gar keiner Hülfe erholen würde. Wir gingen an Sorseri vorüber und an Bank, wo das Kloster, die Kirche und alle Häuser in Trümmer liegen, und kamen nach Tadem. Hier ritten wir auf einen hohen Hügel, der das Dorf beherrscht, und die ganze Verwüstung war uns sichtbar. Das Dorf enthielt früher 250 Häuser, von denen jetzt 200 schwarze Trümmerhaufen sind. Das einzige Bauholz, das wir sahen, lag neben den Häusern der Aghas, die mit Zwangsarbeit einen prachtvollen Konak bauten.

Nicht ein Christ hat versucht, ein Obdach für sich zu bauen. Sie leben in den Trümmern ihrer Häuser, und der Typhus hat beinah in jeder Familie ein Opfer gefordert.

Von da ritten wir nach Huelu. Dies war früher das größeste und reichste Dorf auf der Ebene von Charput. Hier bemerkten wir wieder die Mühe, die man sich gegeben hatte, die Häuser zu zertrümmern. Sie sind mit Lehm beworfen und haben Lehmdächer, so daß sie von außen nicht leicht anzuzünden sind; aber die Angreifer brachten Petroleum, womit sie die Häuser eins nach dem ändern von innen in Brand steckten. So gründlich wurde das Werk verrichtet, daß die Leute nur noch Ställe, Keller und Ecken ihrer verbrannten Häuser zum Bewohnen haben.

Wir suchten die Leute dazu zu bewegen, ihre Häuser wiederzubauen; aber sie antworteten uns mit dem Worte, das man mehr wie jedes andere im Lande hört: Furcht! „Furcht und Hoffnungslosigkeit“ bezeichnen die Lage. Sie sagen: „Wir fürchten uns, irgend etwas zu unternehmen, denn wir könnten wieder angegriffen werden.“ Ein türkischer Knabe hat zu den Christen gesagt: „Ich sagte euch vorigen Herbst, was geschehen würde, und ihr glaubtet mir nicht. Jetzt fangt ihr an, eure Felder zu bestellen, aber ich sage euch, eure Arbeit wird vergeblich sein.“

Von allen Seiten kommen dieselben Berichte. Aus der Gegend von Palu hört man Gerüchte von neuem, wachsendem Schrecken. In den Dörfern von Aghun bedrohen die Türken wieder die Einwohner. Die Christen fühlen, daß es keine Sicherheit für sie giebt, und sie haben keinen Mut, die Hände ans Werk zu legen. Ich fragte: „Was werdet ihr im Winter anfangen, wenn ihr euch kein Obdach während des Sommers errichtet?“ Sie antworteten: „Wir werden sterben. Wir haben Alles verkauft, was uns geblieben war. Unsere Hilfsmittel sind erschöpft. Wenn uns nicht geholfen wird, werden wir sterben.“ Sogar in den Dörfern bei Charput, in Keserik, Morenik und andern wird nichts gebaut. Die Leute sagen: „Wenn uns keine Hilfe wird, so werden wir versuchen, aus dem Lande zu entfliehen.“

Wir suchen sie zum Bauen zu ermuntern, aber wir können ihnen kein Geld für Bauholz anbieten; wir dringen in sie, ihre Felder zu bestellen, aber wir können ihnen kein Vieh geben. Die Herbstsaaten gingen unbeachtet auf, und die Frühlingssaat ist nicht gesäet worden. Soweit Menschen sehen können, ist es wahrscheinlich, daß diejenigen, die im vorigen Winter dem Tode entronnen sind, im nächsten Winter sterben müssen, wenn ihnen keine dauernde Hülfe gebracht wird.

Unsere Unterstützungen haben einfach das Volk am Leben erhalten. Wie nah sie dem Verhungern gekommen sind, können Sie aus einem andern Dorf erfahren, was ich heute besucht habe, aus Korpey.

Es bestand früher aus 150 Häusern, von denen vielleicht 15 stehen geblieben sind; die andern sind gänzlich zerstört. Nur die Mauern zeigen, welch schönes Dorf es früher war. Die Leute gehen in Lumpen; es sind keine Betten da, außer in 12 Häusern. Den ganzen Winter haben sie ohne Decken auf dem Fußboden geschlafen. Die Spitzen aller Bäume um das Dorf sind abgehauen worden, so daß nur die bloßen Stämme geblieben sind. Die Dorfbewohner haben im Winter die Aeste abgehauen, um sie in der Stadt gegen Lebensmittel zu verhandeln. Weder Schafe, noch Vieh ist vorhanden, nur zwei Hunde sind noch da. In den Häusern fand ich weder Korn, noch andere Lebensmittel. In einigen Häusern war ein wenig Brod, in allen lagen kleine Bündel Gras, was jetzt ihre Hauptnahrung ist. Die Gesichter der Frauen und Kinder waren abgezehrt und gelb. Ich fragte einen kleinen Jungen, ob er heute Brod gegessen hätte, und er antwortete: „Nein“ – er hatte nur Gras gegessen. Andere Kinder sagten, sie hätten ein Stück Brod so groß wie meine Hand gegessen. Als wir uns auf den Erdboden setzten, von den meisten Dorfbewohnern umgeben, rauften einige Kinder fortwährend Gras aus, das sie samt den Wurzeln aufaßen. Soweit ich es beurteilen kann, liegen nur wenige Tage zwischen diesen Leuten und dem Hungertode. Ich hoffe ihnen noch vorher helfen zu können. Ich kaufe Korn, um es ihnen zu bringen. Aber was mich erschreckt, ist die Zukunft. Hier kann man sich einen Begriff von der Hoffnungslosigkeit machen. Sie sagen uns auch, daß die Beiträge geringer werden. Das scheint darauf hinzudeuten, daß dem Volk nichts bevorsteht, als ein langsamer Tod. Ich spare an den Gaben, trotz des beständig zunehmenden Druckes, und mache eine Liste der Dörfer, denen, im Sommer wenigstens, keine Unterstützung gewährt werden soll, ich verweigere Betten und Kleider, so sehr sie auch gebraucht werden – aber trotz allem wird unser Geld alle werden und was dann?

Können Sie uns keine Hoffnung geben? Die Leute sehen uns bittend an und fragen: „Ist keine Hoffnung für uns?“ Ich gebe diese Frage weiter. Vielleicht wird es licht werden; aber jetzt ist es sehr dunkel, außer wenn wir aufwärts blicken. … Die Bitten aus Arabkir, Palu und Peri sind dringend. Wir brauchen 100 000 Pfund für diese Gegend, haben aber nicht gewagt, darum zu bitten. Ja, wir selber können die Lage nicht vollständig übersehen. Nur wenn die furchtbare Not uns umlagert, so begreifen wir sie. Hören Sie nicht auf, zu suchen uns Hilfe zu schaffen.

Gestern besuchte ich noch ein anderes Dorf, Aschwan. Ich war 13 Stunden lang im Sattel, außer der Zeit, die ich brauchte, um in jedes einzelne Dorf zu gehen. Dieses Dorf hatte 75 Häuser, von denen die Hälfte verbrannt ist. Die besten Häuser sind verbrannt worden. Dies geschah durch benachbarte Türken und Kurden etwa acht Tage nach der Plünderung des Dorfes durch Kurden aus Dersim.

Die Leute haben noch mehr bewohnbare Zimmer als in Huelu oder Korpey. Es ist sehr schmerzlich, von Haus zu Haus zu gehen und keine Betten, keine Küchengeräte zu finden – an einer Stelle sah ich, daß eine alte Petroleumkanne zum Kochen gebraucht wurde – die Häuser waren leer. In Aschwan fand ich fast in jedem Hause ein wenig Speisevorrat, einige Handvoll Mehl oder Mais, aber nur so viel, um höchstens zwei Tage davon zu leben.

Wir haben sie während des Winters am Leben erhalten. Wenn Sie uns keine Hilfe geschickt hätten, so müßten Tausende umgekommen sein. Aber was mich tiefer bewegt als die thatsächliche Not, ist die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, wenn keine dauernde Hilfe gebracht wird. Besonders ist Vieh nötig. Das Pflügen für die Herbstsaat muß jetzt vorgenommen werden, so lange noch Feuchtigkeit im Boden ist. Wenn der Boden ausgetrocknet und hart ist, können sie nicht pflügen. Wenn sie nicht pflügen, so werden sie im nächsten Jahr keine Ernte haben, und in vielen Dörfern wird das Land den Christen genommen werden. Im Dorfe Aschwan sah ich, daß Türken und Kurden aus den Nachbardörfern kamen und die Felder pflügten. Einige nahmen das Land mit Gewalt, andere haben es von den Besitzern, die es denjenigen überlassen, die Vieh haben, um es zu bebauen. Wenn die Christen ihre Güter verlieren, so ist es nur eine Frage der Zeit, wenn sie den Türken und Kurden auch ihre Häuser geben müssen, um in die Stadt zu ziehen, wo sie von Almosen leben, oder sterben müssen.

In dem Gebiet von Charsandjak werden die Christen in Scharen von den Landeigentümern ausgewiesen. Um Gottes willen bringen Sie das Komitee dazu, dies zu bedenken, und uns, wenn es möglich ist, Hülfe zu schicken!

Manchmal bin ich versucht, alles liegen zu lassen und nach Konstantinopel und von dort nach Europa zu gehen, um es den Leuten klar zu machen, wie verzweifelt die Lage ist. Ich habe acht Dörfer besucht, und die Augen sind mir geöffnet worden, aber wie können Leute das verstehen, die tausend Meilen von uns entfernt sind? Sollte man diese Sache nicht endlich ernstlich erwägen? Mein Herz ist schwer und ich kann den Druck des Mangels und des Elends, dem ich keine Abhilfe schaffen kann, kaum ertragen. Als ich neulich durch ein Dorf kam, kamen alle Einwohner auf die Straße, und riefen weinend: „Wir sind hungrig, hungrig, hungrig“, als wir weiterritten. Dieser Ruf verfolgt mich. Ich habe ihnen etwas Hilfe geschickt, um den Tag des Verhungerns weiter hinauszuschieben, aber ihre Felder liegen brach, ihre Häuser sind zertrümmert, und keine Hand ist ausgestreckt, um sie emporzuheben und aufzurichten. Was soll das Ende sein?

Heut Morgen kamen Dorfleute von Terjan, dem Mittelpunkt einer Gruppe von Dörfern, hierher, um Hilfe zu suchen. Ihr Aussehen war ein beredter Apell an das Mitleid. Sie hatten eine Entfernung von 18 Stunden zurückgelegt, über zwei schneebedeckte Bergrücken. Ein Mann, welcher wohlhabend genug gewesen war, um 18 oder 20 Gäste bequem in seinem Haus zu beherbergen, war jetzt in Lumpen gehüllt – und zwar so spärlich, daß sie kaum für den Sommer genug Schutz gewährt hätten. Einem andern, einem Riesen von Gestalt, waren beide Arme verkrüppelt durch die grausamen Hiebe der Soldaten. Die Dorfleute, von welchen diese Abgesandten kamen, hatten Mangel an allem, was ein menschliches Wesen gebraucht; kein Unterbett oder Decke war ihnen geblieben und während der Wintermonate haben sie alle in Stroh und Heu geschlafen. Auf folgende Weise haben sie sich für die Nacht eingerichtet; erst warfen sie Stroh auf die Erde und dann legten sich alle bis auf einen so nah als möglich nebeneinander; dieser deckte sie mit Heu zu und kroch dann selbst, so gut er konnte, unter das Heu. Einige dieser Dörfer wurden mit Unterbrechungen 40 Tage lang von den Kurden geplündert.

Aus einem Dorfe entflohen alle, welche dem Schwert entronnen waren, in die Berge, wo sie 3 Wochen blieben, ohne zu wagen, in ihre Häuser zurückzukehren. Während dieser Zeit hatten sie keine anderen Kleider als die, welche sie gerade anhatten, als der Ueberfall stattfand. Das Wetter war bitterkalt. 20 Kinder wurden diesen Dorfleuten in den Bergen geboren, aber nicht eins dieser Kinder überlebte diese Tage der Flucht. Von diesen Dörfern wurden 10 Mädchen geraubt, und nicht eine von ihnen ließ man zurückkehren. Die Türken und Kurden sind besonders hinter den Jungfrauen her. Bräute sind etwas weniger ihren Vergewaltigungen ausgesetzt; so machten sich die Dorfleute daran und verheirateten alle ihre Mädchen vom 8. Jahre ab – als ein Schutzmittel gegen die teuflischen Bestien. In den 32 Dörfern, welche die Terjan-Gruppe ausmachen, ist nicht ein unverheiratetes Mädchen älter als acht Jahre zu finden. – Wenn nur die Schreckenszeit ein Ende nehmen wollte, so würde dieses arme geduldige Volk den zerrissenen Faden wieder aufnehmen und das Leben von neuem beginnen; aber sie leben noch unter der Angst und dem Schrecken eines täglichen Todes. Sie legen sich niemals nieder mit der Gewißheit, bis zum Morgen sicher zu sein und stehen niemals auf mit der Zuversicht, daß sie die nächste Nacht sehen werden. Sie wagen nicht von einem Dorf in das andere zu gehen; ihre Frauen wagen kaum aus der Thür zu gehen; sie sind in der traurigsten Gefangenschaft. Trotz aller Bemühungen, ihre Frauen zu beschützen, wagt doch kein Mann, seine Frau sein eigen zu nennen oder seine Tochter zu beschützen, wenn die straflos ausgehenden Schurken von Soldaten kommen. Die Kurden und die regulären Soldaten Seiner Majestät kommen in ein Dorf und lassen sich dort tagelang nieder, sie verlangen, was sie nur wollen und es muß zur Stelle geschafft werden. So verarmen oft Dorfleute, welche nicht in der üblichen Weise ausgeplündert wurden.

Die Art, wie diese armen Leute einem ins Gesicht sehen und fragen, was wird noch aus uns werden, genügt, um ein Herz von Stein zu zerschmelzen. Das Flehen, welches sich in ihren Zügen malt, wenn sie einen anblicken, um einen geringsten Schatten von Hoffnung auf Hilfe zu entdecken, ist so ergreifend, daß man oft davonlaufen möchte, um seine Gefühle in Thränen zu erleichtern. Die Nervenanspannung beim Anhören der Erzählungen dieser armen Dorfleute ist oft so stark, daß man sich ganz erschöpft von solcher Unterredung zurückziehen muß. Es ist nur eins, was hilft diese Anspannung zu erleichtern, und das ist die offenbar aufrichtige Dankbarkeit dieser Leute für das geringste Mitleid. Der Segen Gottes komme auf alle, die auch nur einen Becher kalten Wassers zu ihrer Erquickung gaben.

Besuch in Gurun. Ich besuchte den Ort vor kurzem. Die Lage des Volkes dort ist nicht zu beschreiben. Da, wo zuvor ein entzückender und blühender Ort lag, ist jetzt, soweit das Auge reicht, nichts als eine wüste, tintenschwarze Masse zu sehen, ein Bild von dem, was ein furchtbares Kriegsfeuer ausrichten kann. Die umgestürzten Wände von 15–1600 Häusern, die zuvor mitten in wohlgepflegten Fruchtgärten traulich eingenistet waren, legen nur noch Zeugnis ab von vernichtetem Glück und Wohlstand. Als ich von einem zerstörten Haus ins andere ging, hörte ich nur den durchdringenden Schrei der Angst von den Lippen der Frauen oder der Mütter, welchen man alles genommen hatte. Das überlebende Volk war in Rudeln zusammengepfercht in vereinzelten Ställen, hie und da in einem einzelnen Raum, der von einem einst wohnlichen Haus übrig geblieben war. Das elende Volk war in Lumpen gekleidet, die nur mit einem Strick um die Lenden festgebunden waren, das war alle ihre Kleidung, kaum genug, ihre Blöße zu bedecken. Mütter baten mich um eine Hilfe zur Wiedererlangung ihrer gefangenen Töchter. Es ist, wenn man alles zusammennimmt, schwer, ein herzzerreißenderes Bild zu denken als das, was ich sah. Nach genauer Berechnung sind 5075 Personen in Gurun, die täglicher Unterstützung bedürfen, wenn sie nicht verhungern sollen. Seit 2½, Monat haben sie keine Unterstützung von der Regierung erhalten, nicht ein Weizenkorn, und was von Gurun gilt, gilt auch von vielen ändern Dörfern, wo überdies viel Krankheit und besonders Typhus herrschen soll.

Das Dorf Gighi bei Cäsarea hatte nur 35 Häuser und 250 Seelen. Als die Plünderer nahten, flohen die Leute und retteten auf diese Weise die Kleider, die sie anhatten. Als sie zurückkehrten, fanden sie kaum mehr als die leeren Wände wieder. Alles Tragbare war fortgeschafft worden, sogar die Webstühle. Ich ging in jedes Haus, öffnete Mehlkästen, und leuchtete mit einem Licht in alle dunkeln Ecken. Zwei Stunden genügten für diese Besichtigung. Die meisten Häuser bestanden aus nur zwei Zimmern. Das erste Zimmer wies nur vier Lehmwände und einen Lehmfußboden auf, in dessen Mitte ein Loch war. In diesem Loch war ein Feuer, um das sich fünf bis zehn Kinder oder Erwachsene gelagert hatten, die ihre Zeit damit zubrachten, sich zu wärmen. In vielen Häusern waren die Mehlkästen zerschmettert worden, und es gab nichts zu untersuchen. Wenn ich fragte, was sie morgen essen würden, antworteten sie: „Gott weiß es, wir haben heute geborgt, vielleicht können wir morgen wieder etwas borgen.“ Im ganzen Dorfe war nicht ein einziges Bett, kaum etwas, was man eine Decke hätte nennen können, nichts als kleine Haufen von Lumpen, die sie sorgfältig aufbewahrten, als das Einzige, womit sie sich Nachts bedecken konnten. Wir wollen ihnen Unterstützungen senden, um sie am Leben zu erhalten.

Aus der Gegend von Gemarck haben wir Boten, die von der beginnenden Hungersnot berichten, und wir müssen sofort das Korn verteilen, das wir hier gekauft haben.

Bericht aus Hulakesch: Die Leute fristen ihr Leben, indem sie die junge Saat ausreißen, um die Saatkörner zu nehmen, Gras essen u. s. w. Die Regierung gab ihnen etwas Getreide, das ihnen die Kurden wieder abnahmen.

Die schreckliche Plünderung des Distrikts Wan im Herbst – inzwischen hat eine zweite im Juni stattgefunden – hat die Bevölkerung von allem entblößt. Man sieht überall Leute, die ihre Blöße mit Krautbüscheln bedecken und von dem leben, was sie irgend auf den Feldern finden. Tausende von Ausgehungerten kommen in einem unbeschreiblichen Zustande täglich in die Stadt und bitten um Brot und Kleidungsstücke. Tausende von Frauen und Mädchen wandern in den schneebedeckten Straßen obdachlos und hungrig umher. Sie sind von ihren Räubern aller Kleidungsstücke bis auf ein Hemd beraubt worden, und mitunter ist ihnen nur ein Flick gelassen worden, um ihre Blöße zu verhüllen. Die Hilfskomitees sind weit nicht imstande, die Not zu lindern. Der Preis des Mehls ist fast doppelt so hoch, als früher und das Volk hat weder Samen noch Vieh, um die Landarbeit wieder aufzunehmen.

Eine der größten Schwierigkeiten bereitete von Anfang an die Sorge für die Kranken. Die Tausende, die infolge der Metzeleien und Plünderungen im Herbst aus den Dörfern in die Stadt flüchteten, fanden eine Art Unterkunft in den Häusern der Stadt, aber die benutzten Quartiere waren meistens Ställe, oder dunkle feuchte Vorratsräume, deren Fußboden die bloße Erde war. In solchen Wohnungen ist es sehr schwer, gesund zu bleiben, und der Zustand der Kranken ist im höchsten Grade elend. Den in solcher Lage befindlichen Kranken Arzneien zu verschaffen war einfach ein Hohn. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie gebraucht, oder richtig gebraucht werden würden, wäre sehr gering gewesen. Selbst dann aber auch, würden die richtig angewendeten Arzneien ohne Nahrung und ohne Pflege wenig ausrichten. Einige Besuche bei solchen Kranken überzeugten mich davon, daß ganz andere Verhältnisse geschafft werden müßten, besonders da diese Verhältnisse viel Typhus erzeugen, der weiter um sich greift.

Aleppo ist von Flüchtigen überschwemmt, die nichts, rein gar nichts mehr haben, als ihren siechen Körper voller Wunden und Verstümmelungen. In den Morddistrikten ist natürlich nichts gesäet und daher auch nichts zu ernten, die Not ist dort gräßlich. Was die türkischen Soldaten an Nahrungsmitteln u. s. w. fanden, nahmen sie mit, was sie nicht mitnehmen konnten, wurde der Zerstörung und dem Feuer überliefert, auch die Häuser. Das Land ist eine Einöde. Die Leichen liegen noch jetzt größtenteils unbeerdigt da und verbreiten pestilenzialischen Geruch, daß die Folge Epidemien sein müssen, die schon aufzutreten beginnen. Ein Wagen nach dem andern kommt mit blutigen Kleidungsstücken an, welche den Christen geraubt sind, Frauen und Kinder werden nackt ausgezogen, wenn man sie in die Gefangenschaft zu schleppen keine Lust hat, nicht das geringste Kleidungsstück wird ihnen belassen.

In Zeitun sind Typhus und schwarze Pocken ausgebrochen und drohen epidemisch zu werden.

In dem Kloster Mar Kriarkos, etwas links von der Straße die von Diarbekir nach Sert führt, brach die Cholera aus, so daß täglich 50 Todesfälle vorkamen. In dieses Kloster und den Ort hatten sich nämlich 1500 Familien aus der Umgegend geflüchtet, von denen 2–3000 Personen in den Klostergebäuden selbst eingepfercht waren. Auch in Sert brach die Cholera aus. Infolge der Verarmung der Gegend und der allgemeinen Unsicherheit fängt auch die arabische und kurdische Stadtbevölkerung, besonders die kleinen Handwerker und Arbeiter, an, Mangel zu leiden, da sie keine Beschäftigung finden.

Ein von 29 Witwen unterschriebener Brief, mit Bitten um Hilfe, ist aus einem Dorf bei A... erhalten worden. Diese Witwen sagen: „Unsere Männer waren vor den Metzeleien gestorben, und wir waren arm, aber wir hatten Arbeit, und unsere reichen Nachbarn halfen uns mitunter. Die Kurden kamen, sie achteten weder Reich noch Arm, und nahmen alles, was sie fanden. Jetzt ist uns nichts geblieben, und wir können weder Arbeit noch Almosen im Dorfe erhalten. Einige von uns haben erwachsene Söhne, aber auch diese haben weder Arbeit noch Handwerkszeug.“ Diese armen Frauen schließen ihren Brief mit Ausdrücken der Dankbarkeit für die geringe, ihnen gewährte Hilfe. Sie sagen: „Möge der Geber alles Guten Sie mit allen himmlischen Gaben erfüllen und Sie jetzt und ewig glücklich machen.“

Gott sei Dank hat, den Winter und Sommer über, durch das internationale Hilfskomitee ein großartiges Unterstützungswerk geschehen können. Das Komitee in Konstantinopel, unter dem Vorsitz des englischen Botschafters, hat die Gelder, die von England und den vereinigten Staaten und in geringem Maße von ändern Ländern kommen, auch beträchtliche Summen, die dem armenischen Patriarchen zur Verfügung gestellt werden, zur Organisation einer umfassenden Hilfeleistung verwendet. Die Verteilung geschieht durch die von den amerikanischen Missionen, im Verein mit den armenischen Bischöfen geleiteten 22 Centralstationen, die ein Netz von Hilfsstationen über ihre Distrikte ausgebreitet haben. Es werden überall Listen von den Allerbedürftigsten aufgestellt und sorgfältig durch Komitees von Protestanten und Gregorianern geprüft. Jede Person, von der man annimmt, daß sie fortkommen kann, ohne Hungers zu sterben, wird gestrichen. Das Geld wird mit der größten Sorgfalt verteilt und in kleinen Beträgen den einzelnen übergeben, nur gerade genug, um sie am Leben zu erhalten. Gegen 300 000 Menschen wurden bisher unterstützt und vom Hungertod gerettet.

Aber die Gaben aus England und Amerika haben im Laufe des Sommers in erschreckender Weise nachgelassen. Die Folgen der europäischen Politik, für die es eine Hungersnot in Armenien nicht geben darf, haben sich auch hier geltend gemacht. Obwohl die Hilfskomitees mit der allergrößten Sorge dem kommenden Winter entgegensehen – für die Verteilung von Kleidern und Betten hat bei der Größe der Hungersnot noch wenig, für den Aufbau der Hunderttausende von zerstörten Häusern nichts geschehen können – obwohl sie der ungeheuren Größe der Not ratlos und verzweifelnd gegenüberstehen, so erlahmt doch auch in dem christlichen England und Amerika die bisherige Opferfreudigkeit.

Es ist an der Zeit, daß das evangelische Deutschland seine Pflicht thut und in die Lücke einspringt. Die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen, daß die katholische Kirche und das katholische Volk in Frankreich, Italien, Oesterreich und auch Deutschland, dank der Haltung der katholischen Presse, es an Unterstützung der katholischen Armenier und der stark geschädigten katholischen Missionen in Armenien nicht hat fehlen lassen. Der Papst hat 50 000 Lira gespendet, in Frankreich hat der Generaldirektor des „Oeuvre d’Orient“ P. Felix Charmetant, schon im März des Jahres durch die Publikation „Martyrologe Armenien“ die französischen Katholiken aufgerufen. In Oesterreich haben die armenischen Mechitaristen-Brüder unter den Auspicien des Kaisers Franz Josef einen Aufruf erlassen. Auch die evangelischen Kirchen in andern Ländern, wie in Holland und der Schweiz haben sich gerührt. Die französische Schweiz wurde durch Professor Godet, Neuchâtel, die deutsche Schweiz durch ein Berner Komitee in Bewegung gesetzt. Vereinzelte Kirchen, wie die von Frankfurt und Basel haben ihre Gemeinden von der Kanzel an ihre Christenpflicht erinnern lassen. Wir fragen darum, und es ist schmerzlich, daß diese Frage ausgesprochen werden muß: Was haben die großen evangelischen Landeskirchen in Deutschland, was hat die Preußische Landeskirche gethan? Ist es ihnen infolge der Haltung der deutschen Presse unbekannt geblieben, daß es ein Land wie Armenien giebt? Wissen sie nichts davon, daß diese unsere Zeit eine der größten Christenverfolgungen aller Jahrhunderte erlebt? Oder sind nicht auch in ihre Hände christliche Blätter gekommen, die etwas davon zu erzählen wußten? Und wenn das, wie bringen es die Männer, die an der Spitze der evangelischen Kirchen Deutschlands stehen, übers Herz, die furchtbaren Leiden der Christenheit im Morgenlande mitanzusehen, ohne auch nur ein Wort des Erbarmens über die Lippen zu bringen? Gebietet auch ihnen die hohe Politik Schweigen? Und wissen sie nichts von der höheren Politik des Reiches Gottes, die über den selbstsüchtigen Interessen der Reiche dieser Welt stehen? Ohne Zweifel, die Kirchenbehörden erwarten, daß jeder Pfarrer im stande ist, mit bewegtem Herzen und eindrucksvoller Rede über die Christenverfolgungen in den ersten Jahrhunderten zu predigen. Soll der einzige Text, über den ihnen jetzt noch zusteht, zu predigen, der sein: „Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so wollten wir nicht teilhaftig sein mit ihnen an der Propheten Blut?“ Sollen sie auch nur der Propheten Gräber bauen und der Gerechten Gräber schmücken und nichts fragen nach dem, was in unsern Tagen geschieht? Nun wir glauben, daß Unkenntnis ihnen zur Entschuldigung dient und daß die evangelische Kirche, wenn auch spät, so doch endlich, sich aufmachen wird, um auch ihrerseits an der unter die Räuber gefallenen Christenheit des Morgenlandes ihre Pflicht zu thun. Die letzten Monate haben bewiesen, daß, nachdem die Wahrheit über Armenien an den Tag gekommen ist, die Evangelische Kirche in Deutschland einmütig für die Not des armenischen Volkes einzutreten gewillt ist. Vgl. die Kundgebungen im Anhang.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gehoben