Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Erster Teil/Drittes Kapitel
Im türkischen Reich besteht auf Grund der Verträge Religionsfreiheit. Nach dem Krimkriege versprach der Sultan Abdul Medschid feierlich, das Los seiner christlichen Unterthanen verbessern zu wollen und auf Grund des Hatti-Humajums vom 18. Februar 1856 wurde die Pforte in das Konzert der europäischen Großmächte aufgenommen. Um die allen Unterthanen versprochene Religionsfreiheit unter die Garantie der Mächte zu stellen, wurde folgender Erlaß der Hohen Pforte in den Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 aufgenommen: „Alle Formen der Religion sollen in meinen Landen offen und unbeeinträchtigt gestattet und soll kein Unterthan meines Reiches in der Ausübung seines Glaubens behindert werden. Niemand soll gezwungen werden, seinem Glauben zu entsagen.“
Die so gewährleistete Religionsfreiheit wurde im Artikel 62 des Berliner Vertrages durch die Bevollmächtigten des jetzt noch regierenden Sultan Abdul Hamid II. aufs neue bestätigt: „Da die Hohe Pforte ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen[WS 1] hat, den Grundsatz der religiösen Freiheit aufrecht zu erhalten und demselben die weiteste Ausdehnung zu geben, so nehmen die Vertragsmächte Kenntnis von dieser freiwilligen Erklärung. ... Alle sollen zugelassen werden ohne Unterschied der Religion, vor Gericht Zeugnis abzulegen, die äußerliche und öffentliche Ausübung aller Religionen soll gänzlich frei sein, und der hierarchischen Einrichtung der verschiedenen Religions-Genossenschaften oder ihren Beziehungen mit ihren geistlichen Oberhäuptern sollen keine Hindernisse bereitet werden. Geistliche, Pilger und Mönche aller Nationalitäten, die in der europäischen oder asiatischen Türkei reisen, sollen dieselben Rechte, Vorteile und Privilegien genießen. Das Recht offiziellen Schutzes wird den diplomatischen und konsularen Agenten der Mächte in der Türkei gewährt, nicht weniger in Beziehung auf die oben erwähnten Personen mit ihren religiösen und wohlthätigen Anstalten als auch andere in den heiligen Stätten und anderswo.“
Eine angesehene deutsche Tageszeitung, „Die Post“ schrieb im vorigen Jahre bei Gelegenheit der Erörterungen über das Massacre in Sassun: „In Ermangelung sonstiger Gründe für eine europäische Intervention hat für die englische und amerikanische Presse die christliche Religion der Armenier herhalten müssen. Ja Gladstone hat sich gelegentlich jener Komödie des Empfanges der Deputation von Sassun nicht gescheut, von den „um ihres Christenglaubens willen verfolgten Armeniern“ zu reden. Das ist eine handgreifliche Unwahrheit. Welchen Grund hätte wohl die Pforte haben können, eine Religionsverfolgung plötzlich ins Werk zu setzen, nachdem sie sich Jahrhunderte lang um die Religion der Armenier nicht gekümmert hatte? Ueberhaupt hat nie (!) eine eigentliche Christenverfolgung im türkischen Reiche stattgefunden. Es wäre auch das Unklügste, was die Pforte thun könnte, die mannigfachen Schwierigkeiten ihrer Lage durch eine Verfolgung des Christentums zu vergrößern. Jedem, der auch nur ein wenig die Geschichte der Türkei studiert hat. wird bekannt sein, daß von ihr im Prinzip – einzelne Uebergriffe kommen dafür nicht in Betracht – die weitestgehende religiöse Duldung geübt wird, was bei der Menge der Religionen, Konfessionen und Sekten in dem weiten Reich ein Gebot der Selbsterhaltung ist.“
Es verlohnt sich, diese prägnante Fassung einer weitverbreiteten, durch keine Sachkenntnis behinderten Anschauung wiederzugeben, da derselbe Faden ja noch täglich in unserer deutschen Presse gesponnen wird. Wir verzichten, darauf einzugehen, zu welchen Zuständen „die weitestgehende religiöse Duldung“ im türkischen Reich seit Jahrhunderten in Uebereinstimmung mit dem Religionsgesetz der Muhammedaner geführt hat, und wir überlassen es allen Kennern der Religions- und Missionsgeschichte des Orients, sowie der jetzigen religiösen Zustände in der Türkei ihre Kenntnisse und Erfahrungen mit den apodiktischen Behauptungen obiger Ausführungen in Einklang zu bringen. Wir beschränken uns auf Armenien, und da müssen wir in der That zustimmen, daß es das Unklügste nicht nur wäre, sondern war, was die Pforte thun konnte, als sie eine Verfolgung des Christentums in Szene setzte. Denn die christlichen Unterthanen Sr. Majestät des Sultans machen numerisch ein volles Drittel und, gewogen, nicht gezählt, an Intelligenz, Bildung, wirtschaftlicher Tüchtigkeit und moralischer Energie zwei Dritteile der Gesamtbevölkerung des türkischen Reiches aus. Es ist einem Publizisten, der die Bewegungen der Weltgeschichte nur in einem oberflächlichen Kausalnexus politischer Tagesereignisse zu sehen gewohnt ist, und die religiösen und sittlichen Mächte nicht nur als Imponderabilien, sondern als quantité négligeable zu behandeln gewohnt ist, nicht zu verargen, wenn er nichts davon weiß, daß die Zersetzung des osmanischen Reiches und die „mannigfachen Schwierigkeiten ihrer Lage“ auf allen Punkten auf den Gegensatz des Islam und des Christentums und auf die Thatsache zurückzuführen ist, daß das Religionsgesetz des Islam, welches in den letzten Jahrzehnten mehr denn je die Richtschnur der ottomanischen Politik war, eine bürgerliche Gleichberechtigung der muhammedanischen und christlichen Unterthanen nicht gestattet, und daß alle dahin gehenden Zugeständnisse der Pforte nur „im Prinzip“, d. h. auf dem Papier gewährt werden können. Vielleicht könnte das Studium der Schriften Moltkes in dieser Beziehung auch heute noch gute Dienste leisten.
Was sind denn die armenischen Massacres? Ein Rassenkampf? Nein. – Denn Jahrhunderte lang sind die Türken wohl oder übel mit ihren armenischen Unterthanen ausgekommen. Eine nationale Erhebung? Nein. – Denn das armenische Volk in Armenien weiß nichts und will nichts wissen von der politischen Propaganda einiger Schwärmer, die in London, Paris oder Konstantinopel revolutionäre Klubs bilden und politische Pamphlete herausgeben. Eine Christenverfolgung? Nicht ohne weiteres. – Denn es lag keine unmittelbare Veranlassung vor. Doch was sind die armenischen Greuel? Ohne Frage: ihrem Ursprunge nach ein rein politisches Ereignis; genauer gesagt eine administrative Maßregel. Aber die Thatsachen beweisen es, daß bei dem Charakter des muhammedanischen Volkes, der auch in den politischen Leidenschaften nur religiösen Motiven zugänglich ist, diese administrative Maßregel die Form einer Christenverfolgung von riesigem Maßstabe annehmen mußte und angenommen hat. Soll uns etwa wegen des politischen Ursprungs dieser Religionsverfolgung verboten sein, „von den um ihres Christenglaubens willen verfolgten Armeniern zu reden?“ Dann hat es nie in der Welt Religionsverfolgungen gegeben, denn alle ohne Ausnahme standen mit politischen Bewegungen in Wechselwirkung, und selbst der Tod Christi wäre nichts als ein politisches Ereignis, weil politische Motive bei seiner Verurteilung den Ausschlag gaben.
Vielleicht genügen aber die folgenden, von der deutschen Presse bisher überhaupt nicht gewürdigten Thatsachen, die ganze armenische Frage in ein anderes Licht zu rücken.
Schon der Botschafter-Bericht konnte konstatieren, daß in etwa 20 Städten und Dörfern, darunter die großen Städte Bitlis, Charput, Eghin, Malatia, Cäsarea und Urfa, Massenübertritte der Christen zum Islam stattfanden, und daß überall die Androhung neuer Massacres der Beweggrund für diese Konversionen war. Der ungeheure Umfang aber der Zwangsbekehrungen, denen auf dem ganzen Gebiete der Massacres die Ueberlebenden in Hunderten von Städten und Dörfern unterlegen sind und noch täglich unterliegen, kann erst jetzt, nachdem wir aus allen Gebieten Berichte vor uns haben, annähernd festgestellt werden. Die Zahl derer, welche in den letzten zehn Monaten unter dem Terrorismus des muhammedanischen Pöbels, unter den Aufreizungen des moslemischen Klerus, unter der offenen oder versteckten Beihilfe der Regierungs-Behörden zwangsweise konvertiert worden sind, wird das erste Hunderttausend schon überschritten haben und wird das zweite Hunderttausend erreichen, wenn durch die ohnmächtige Politik der christlichen Großmächte der muhammedanische Fanatismus noch weiter so gezüchtet wird wie bisher. Uns liegen Listen vor mit 646 Dörfern, in denen die überlebenden Einwohner mit Feuer und Schwert zum Islam bekehrt wurden, mit 568 Kirchen und 77 Klöstern, die völlig ausgeplündert, demoliert oder dem Erdboden gleichgemacht wurden, mit 328 christlichen Kirchen, die in Moscheen verwandelt wurden, mit 21 protestantischen Predigern und 170 gregorianischen Priestern, die um ihrer Weigerung willen, den Islam anzunehmen, oft nach den unerhörtesten Torturen ermordet wurden. Wir wiederholen aber, daß diese Zahlen nur dem Umfang unserer Informationen, aber noch entfernt nicht dem Umfange der Thatsachen selbst entsprechen. Ist dies eine Christenverfolgung oder nicht? Oder will man noch mehr Beweise für „die weitestgehende religiöse Duldung im türkischen Reich?“
Große Zahlen werden eindrücklicher, wenn man sie in kleine zerlegt. In dem Vilajet Erzerum haben etwa 15 000 Christen unter Androhung des Todes den Islam angenommen. In dem Vilajet Charput wird die Zahl der Zwangsbekehrungen auf ca. 15 000, in dem Wan auf 10 000 berechnet. In den etwa 60 christlichen Dörfern des Bezirks von Charput dient keine christliche Kirche, keine Schule mehr ihrer Bestimmung, und von allen Priestern dieser Dörfer, die entweder Märtyrer oder Apostaten geworden, ist noch ein einziger übrig für die Seelsorge der Handvoll Christen, die noch in der Gegend zerstreut sein mögen.
In der ganzen Umgegend von Baiburt ist die Religion des Kreuzes völlig verschwunden, und in den abgelegenen Gebirgsdörfern obiger Distrikte geht das Bekehren unter gezückten Schwertern und schrecklichsten Drohungen neuer Massacres beständig fort. Mit feierlichen Massen-Beschneidungen coram publico findet diese schändliche Propaganda ihren unwiderruflichen Abschluß. Aus allen Vilajets wird von allen Seiten her berichtet: 20, 40, 60 Dörfer unter Androhung des Todes konvertiert, Kirchen und Klöster zerstört, Priester und Mönche ermordet. In allen noch stehen gebliebenen Kirchen thronen die Mollahs auf den Kanzeln und lehren die Neubekehrten die Vorschriften der muhammedanischen Religion. Von den Türmen sind die Glocken heruntergeschafft, und die Muezzin rufen die „Gläubigen“ zum Gebet. In den Provinzen Sivas, Bitlis, Wan und Diarbekir zählen die konvertierten Dörfer zu Hunderten: der Distrikt Eghin mit 40 Dörfern, der Paludistrikt mit 43 Dörfern, die Distrikte von Selivan, Bescherik, Zerigan und Paravan mit 105 Dörfern, der Distrikt von Diarbekir mit 106, der von Bitlis mit 119 und der Distrikt von Wan gar mit 176 Dörfern. „Islam oder Tod!“ war die Losung für alles, was die ersten Massacres überlebte. Im ganzen Vilajet Diarbekir dient nur noch eine christliche Kirche ihrer Bestimmung, die Sergius-Kirche in Diarbekir selbst. In den vier Städten Urfa, Biredjik, Severek und Adiaman allein sind nach den Ermittelungen des Vizekonsuls Fitzmaurice 5900 Christen zwangsweise konvertiert worden, in Biredjik, das 240 christliche Familien hatte, giebt es keinen Christen mehr.
Daß überall die Kirchen aufs schändlichste entweiht, die heiligen Geräte besudelt, die Bilder zerschnitten oder mit Kot bedeckt, das heilige Oel und Sakrament unter die Füße getreten, die Kreuze heruntergerissen, die Evangelienbücher und Bibeln angespieen, in tausend Stücke zerrissen, in den Straßenkot oder Abort geworfen wurden, ist nur die Staffage zu dem Schauspiel des Vandalismus.
Die bei den Zwangsbekehrungen angewandte Methode war überall die gleiche. Nur der Zeitpunkt war dem Belieben der führenden Männer, Beamten, Offiziere, türkischen Aghas und Effendis oder der Willkür des muhammedanischen Pöbels anheimgegeben. In einigen Städten und Dörfern wurde schon vor dem Ausbruch der Massacres die Wahl gestellt, durch Uebertritt zum Islam das drohende Verhängnis abzuwenden. So in Urfa, wo die Armenier im Falle der Bereitwilligkeit zum Uebertritt aufgefordert wurden, weiße Fahnen auf ihren Dächern aufzuhissen; so in anderen Orten, wo das aufheben des Armes oder eines Fingers als Zeichen der Unterwerfung unter den Islam angeboten wurde und vom Tode errettete. Oft genug waren auch solche Angebote eine Täuschung und wohlhabende und einflußreiche Armenier wurden auch im Falle der Bekehrung nicht geschont. In vielen Fällen fanden die Zwangs-Konversionen schon während der Massacres statt, in den meisten waren sie das unvermeidliche Nachspiel der Massenmorde.
Bei der Androhung nur des Todes hatte es selten sein Bewenden, die Bajonette wurden auf die Brust, die Schwerter an die Kehlen gesetzt: wo dies nichts half, wurden Torturen hinzugefügt. Insbesondere Priester und Prediger, welche sich weigerten, ihren Glauben abzuschwören, mußten die unausdenklichsten Folterqualen erdulden, ehe man ihnen den Gnadenstoß gab. Der Priester Der-Hagop von Charput wurde wahnsinnig, als er, bis aufs Hemd entkleidet, die Schwerter von fünfzig[WS 2] Soldaten auf sich gezückt sah. Was mit ihm machen? Da die Mollahs erklärten, daß der Uebertritt eines Verrückten zum Islam nicht gestattet sei, warf man ihn einstweilen wegen Renitenz ins Gefängnis.
Im Kloster zu Tadem wurden dem greisen Archimandriten Ohannes Papizian auf seine Weigerung, den Islam anzunehmen, zuerst die Hände, sodann die Arme bis zum Ellenbogen abgeschnitten. Als er noch nicht weich wurde, schnitt man ihm auf dem Pflaster der Kirche den Kopf ab. In Biredjik wurde ein Greis, der sich weigerte, seinen Glauben abzuschwören, niedergeworfen, glühende Kohlen auf seinen Leib gehäuft und als er sich in Qualen wand, hielten ihm die Unmenschen eine Bibel vors Gesicht und baten ihn höhnend, einige Verheißungen, auf die er sich verlassen, ihnen vorzulesen.
In Diarbekir wurde die große steinerne Kirche der syrischen Jakobiten, in die sich Massen von Flüchtlingen gerettet, von Kurden umzingelt, hineingeschossen, das Dach aufgebrochen, Brennmaterial und Brandfackeln hinabgeworfen, bis es endlich gelang, die Thür aufzubrechen. Unter dem Jubel des Pöbels wurden die Insassen in dichten Scharen ins Freie getrieben, wo sie ein Kugelregen empfing. Als man den Pastor Jinjis Khatherschian aus Aegypten, der gerade bei seinen Verwandten zu Besuch war, als Geistlichen erkannte, wurde er niedergerissen und bis zur Bewußtlosigkeit mit Knütteln geschlagen. Eins der umherliegenden heiligen Bücher wurde ihm in den Mund gestopft und er höhnend aufgefordert, eine Predigt zu halten. Brände flogen auf ihn nieder, und als der heftige Schmerz ihn aus seiner Ohnmacht weckte, und er wegzukriechen versuchte, faßte man ihn und schleuderte ihn ins lodernde Feuer, wo er verbrannte.
Erinnert es nicht an das Heldentum der Makkabäer, wenn in Urfa eine Mutter, als man ihre Söhne zum Uebertritt zwingen wollte, hinzueilte und sie anflehte: „Laßt euch töten, aber verleugnet den Herrn Jesum nicht!“ und die Standhaften sich mit dem Schwert erwürgen ließen. Frauen und Kinder sind den Männern im Märtyrertum gefolgt. In Bitlis wurden 100 Frauen, nachdem man ihre Männer erschlagen, von Soldaten auf einen Platz geführt. Was antworteten sie, als man ihnen sagte: „Gebt euren Jesus auf, und ihr sollt leben bleiben?“ „Nein, unsere Männer sind für ihn gestorben, und auch wir wollen es thun!“ und alle wurden ermordet.
In Cäsarea war beim Massacre am 30. November ein Protestant und dessen zwölfjährige Tochter allein im Haus, das die Mutter zuvor verlassen hatte. Ein Türke brach in das Zimmer ein, wo das Mädchen saß. „Mein Kind,“ sagte er, „dein Vater ist tot, weil er den Islam nicht annehmen wollte, jetzt muß ich dich zu einer Muhammedanerin machen, und dann will ich dich in mein Haus nehmen, und du sollst gehalten werden, wie meine Tochter. Willst du?“ „Ich glaube an Jesum,“ antwortete[WS 3] das Mädchen, „er ist mein Heiland, und ich liebe ihn! Ich kann nicht thun, was du willst, selbst wenn du mich tötest.“ Darauf fiel der Wüterich mit seinem Schwert über das Kind her und schnitt und stach sie an zwölf verschiedenen Stellen. Was darauf folgte, weiß man nicht; das Haus wurde geplündert und verbrannte mit dem Leichnam des Vaters. Aber an jenem Abend fuhr ein Karren in einem anderen Stadtteil vor dem Hause vor, in welchem die Mutter des Mädchens war. Ein Nachbar, ein ihr befreundeter Türke, kam hinein und sagte: „Ich habe dir den Leichnam deiner kleinen Tochter gebracht. Du bist meine Freundin, und ich konnte ihn nicht da liegen lassen. Es thut mir leid, daß dies geschehen.“ Die Mutter nahm den bewußtlosen Körper und entdeckte, daß noch Leben in ihm war. Ein Chirurg wurde gerufen. Er brachte das Kind zum Bewußtsein, und es ist jetzt wieder genesen. Es wurde später nach Konstantinopel und dann nach Deutschland gebracht und lebt gegenwärtig in Frankfurt a. M.
Ich könnte noch viele solche Geschichten erzählen, und es verlohnte sich, die Märtyrerakten der armenischen Kirche zu schreiben, die so viel Tausende der Zahl der Blutzeugen aller Zeiten hinzufügte.
Wenn Tausende von Armeniern für ihren Glauben in den Tod gingen, wer will sich wundern, wenn andere Tausende unter entsetzlichen Drohungen, durch die Schrecken der Blutbäder zur Verzweiflung gebracht, durch einen Schein-Uebertritt zum Islam ihr und der Ihrigen Leben und Ehre zu retten suchten! Ja, verdienen nicht diese Unglücklichen, unter denen Witwen und Waisen die große Masse bilden, noch mehr unser Mitleid als all die Erschlagenen, die durch ihren Tod Gott preisen dursten? Man lese folgenden Brief eines höheren armenischen Geistlichen, der an seinen Freund schreibt: „Mit Dankbarkeit und Thränen lasen wir die tröstlichen Worte Ihres väterlichen Briefes. Doch haben wir augenblicklich alle den Islam angenommen aus Angst vor dem Tod durch Tortur. Auch ich, Ihr geringer Diener, im Alter von 70 Jahren, habe es gethan. Nachdem ich mehrfach wie durch Wunder dem Tode entgangen war und keinen Ausweg fand, fügte ich mich scheinbar und nahm ihren Glauben an, bat aber, daß man mir meines hohen Alters wegen die Beschneidung ersparen möge. Allein sie zwangen mich dazu unter der Drohung, mir im Falle der Weigerung den Kopf abzuschneiden. Sie bedrohten mich ferner mit den schrecklichsten Torturen, wenn ich zum Christentum zurückkehren würde; und wie mit mir, so handeln sie mit allen Christen. Ich kann Sie versichern, daß es hier kein Christentum mehr giebt, wenn nicht bald von irgend einer Seite Hilfe kommt.“
Ja, so ist es. Für all die Aermsten giebt es keine Möglichkeit der Rückkehr zu ihrem väterlichen Glauben. All die Zehntausende, die jetzt in ihren weiland christlichen Kirchen muhammedanischen Gottesdienst verrichten, all die Priester, die man zum Hohn ihres früheren Amtes gezwungen, als Mollahs oder Muezzins den Namen Muhammeds zu verkündigen, sie alle müssen es verlernen, im Namen Jesu ihre Kniee zu beugen. Nicht einmal ihre christlichen Namen durften sie behalten. Die Ohannes, Bedros, Mattheos wurden in Mustafa, Achmed, Abdallah verwandelt. Die schlauen Türken faßten wohl ins Auge, daß die Zwangsmuhammedaner in besseren Zeiten wieder abfallen könnten, und man sicherte sich klüglich gegen solchen Verrat an der heiligen Sache des Islam. Das prompteste Mittel fanden die Türken von Aivose, die den christlichen Priester, den sie gezwungen, auf das Minaret zu steigen und als Muezzin die Gläubigen zum Gebet zu rufen, sobald er herunterkam, erschossen. Und ebenso besorgt um das Seelenheil ihrer Konvertiten waren die Türken von Garmuri, die die zur Beschneidung niederknieenden Christen bei dem feierlichen Akte selbst umbrachten. Auch die Bewohner des Dorfes Plur (Distrikt Baiburt) wurden schleunigst ins Paradies befördert, nachdem sie den Islam angenommen. War es nicht barmherzig, sie zu erschießen, da, wie die Türken geltend machten, Gefahr vorhanden war, daß sie im Herzen Christen bleiben, später wieder abfallen und ihre Seligkeit einbüßen könnten?
Eine weniger radikale, aber um so scharfsinnigere Methode, den einmal erfolgten Uebertritt unwiderruflich zu machen, wird aus einer großen Zahl von Städten und Dörfern berichtet, wo man die Neophyten-Familien zwingt, mit ihren neuen Glaubensgenossen verwandtschaftliche Bande zu knüpfen. Christliche Priester braucht man nur mit zwei oder drei türkischen Frauen zu verheiraten, um sie ein für allemal für ihren früheren Beruf zu verpfuschen. Haben sie noch Grund zur Klage, wenn dafür die Mollahs die Freundlichkeit haben, die Frauen derselben von ihren Gatten zu scheiden und in ihren Harem aufzunehmen? Daß vonseiten ihrer Glaubensbrüder dafür gesorgt wurde, daß sie herdenweise mit Turbans bedeckt, in die Moscheen geführt und zu den Exerzitien des Namaz (Gebets) aufs Peinlichste gedrillt wurden, wer sollte das ihrem religiösen Eifer nicht zutrauen? Weh dem, der sich irgend eine Versäumnis seiner rituellen Pflichten zu Schulden kommen läßt! Man bedarf keines weiteren Vorwandes, um ihn als heimlichen Apostaten zum Tode zu befördern. Lässigen oder Verdächtigen werden Posten gestellt, die bei Tag und Nacht ihr Seelenheil zu überwachen haben.
Die Haltung der Behörden war nicht weniger menschenfreundlich, als die des Pöbels. Was wollten sie auch anders thun, da nur die Wahl blieb zwischen Tod und Islam, zu letzterem so eindringlich als möglich zu raten, noch dazu, wenn ihre tiefe politische Einsicht in die gegenwärtige Weltlage ihnen die Gewißheit gab, daß die Christen keinerlei Schutz von einer auswärtigen Macht zu gewärtigen hatten? „Verlaßt euch nicht auf die Christen!“ sagten die türkischen Beamten zu Zileh den armenischen Notablen, die man auf die Regierung entboten hatte, um sie zum Uebertritt zu drängen. „Verlaßt euch nicht auf die Christen in Europa! Die Engländer sind geflohen mit ihrer Flotte, und die Russen haben den Islam angenommen“ (freilich eine irrtümliche Auffassung der russisch-türkischen Entente). Hat nicht der Gouverneur von Aintab nur seine Pflicht gethan, wenn er den Christen sagen ließ: Die einzige Sicherheit für Leben und Eigentum sei jetzt, Muhammedaner zu werden? Und wer will die Regierungsbehörden von Arabkir noch verantwortlich machen für das achtzehnstündige Massacre, in dem 4000 Christen ermordet, 3700 Häuser und 500 Läden ausgegeplündert wurden? Hatten sie doch zwei Tage zuvor die armenischen Notablen auf die Regierung entboten und ihnen gesagt: „Wenn ihr am Leben bleiben wollt, müßt ihr euch zum Islam bekehren!“ Die Notablen befragten ihre christlichen Mitbürger, und diese erklärten: „Wir wollen nicht unsern Glauben wechseln, mag die Regierung mit uns machen, was sie will.“ Wenn am nächsten Tag das Massacre ausbrach, wer war anders schuld als die Armenier mit ihrer rebellischen Hartnäckigkeit in ihrer Religion! Man mag einige Zweifel hegen ob ein gewisser oben zitierter Passus des Pariser Vertrages: „Niemand soll gezwungen werden, seinem Glauben zu entsagen“, Provinzial-Behörden in der Türkei bekannt ist, da auch die Centralregierung in Konstantinopel sich desselben nicht mehr zu erinnern scheint. Aber soviel ist gewiß, sowohl die Beamten in den Provinzen als auch die Paschas in der Hauptstadt wissen ganz genau, daß die Botschafter christlicher Großmächte gewisse überflüssige Bücher besitzen, in denen man die Paragraphen gewisser überflüssiger Verträge nachschlagen kann. Um nun der Regierung Sr. Majestät des Sultans jede etwaige Verlegenheit zu ersparen – denn auch in der Provinz hat man eine feine Nase für die Wünsche des Palastes, – haben sich diese loyalen und weitblickenden Beamten schon längst von ihren konvertierten Glaubensgenossen Bescheinigungen mit Massenunterschriften ausstellen lassen, daß es bei den Konversionen ebenso rechtens hergegangen sei, wie bei der Unterschrift dieser Erklärungen, und daß die Christen alle mit einander freiwillig zum Islam übergetreten seien, weil sie die Vorzüge der muhammedanischen Religion erkannt hätten.
Was wollen nun noch die christlichen Großmächte mit ihren ewigen diplomatischen Noten? Und wer darf noch einen Zweifel hegen an der Vertragstreue der Hohen Pforte?