Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Arktische Reizbarkeit
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 206–208
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[206] Arktische Reizbarkeit. – Die Tropen erzeugen mit ihrer entnervenden Hitze unter bestimmten Bedingungen jenen Zustand, dessen Gesamterscheinungen man unter dem Namen „Tropenkoller“ zusammenfaßt, und der sich einmal in völligem Versagen des moralischen Verantwortlichkeitsgefühls, dann aber auch in einer oft lächerlichen Selbstüberschätzung äußert, Erscheinungen, die den Betreffenden völlig ungeeignet zu weiterer Verwendung in der heißen Zone machen.

Aber auch die Gebiete des ewigen Eises besitzen in der sogenannten „arktischen Reizbarkeit“ eine oft recht gefährliche [207] Gemütskrankheit. Fast sämtliche Nordpolfahrer berichten über diese furchtbare Geißel, die in dem eisstarrenden Halbdunkel der Polarländer nur zu leicht heraufbeschworen wird. Höchst wahrscheinlich sind die Zerwürfnisse auf der Südpolexpedition des Oberleutnants Filchner ebenfalls auf „arktische Reizbarkeit“ zurückzuführen.

Es handelt sich um einen Zustand krankhafter Erregbarkeit, der sich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, ja selbst bis zum Wahnsinn steigert. Als Ursachen der Erkrankung hat man hauptsächlich die völlig veränderte Lebensweise an Bord der Expeditionsschiffe und das Bedrückende des Polarlandschaftsbildes mit seiner schaurigen Stille und Eintönigkeit zu betrachten. Gegen diese „arktische Reizbarkeit“ gibt es nur ein Mittel: stete Arbeit und Zerstreuungen.

Man lese in Nansens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie verschiedenartige Mittel der kühne Forscher immer wieder den Geist seiner Gefährten zu beeinflussen, sie zu erheitern suchte, alles nur, um das Gespenst der nervösen Gereiztheit von Bord der „Fram“ zu bannen. Nansen glückte dies. Andere Leiter von Nordpolexpeditionen, die sich für den Seelenzustand ihrer Mannschaft weniger besorgt zeigten, wissen von wilden Schreckenszenen zu erzählen, die aus der nichtigsten Veranlassung entstanden.

So entwickelte sich im Mai des Jahres 1832 an Bord der vom Eise eingeschlossenen „Victory“, mit der der Engländer John Roß den magnetischen Nordpol entdeckte, eine Schlägerei zwischen den Expeditionsteilnehmern, bei der drei Leute den Tod fanden. Und die Ursache? Der Matrose Booth war auf Deck ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen und darob von seinen Kameraden ausgelacht worden. Wutschnaubend ergriff er eine Walfischharpune und stieß sie dem Nächststehenden in den Leib. Schnell bildeten sich zwei Parteien, und wenige Minuten später gab es drei Tote an Bord.

Ähnliche Vorfälle haben sich bei allen Polarexpeditionen abgespielt. Am schrecklichsten aber erging es den Leuten des Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 sieben Monate lang an der grönländischen Küste im Eise lag. Das Schiff war reich verproviantiert, und die Mannschaft lebte herrlich und [208] in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte sich um nichts, sondern ließ jeden nach Belieben schalten und walten.

Durch die spätere Verhandlung vor dem Londoner Seegericht wurden nun die folgenden grauenhaften Vorgänge festgestellt. Am 4. Dezember 1897 brach in der Mannschaftskajüte beim Kartenspiel Streit aus, der jedoch durch den Steuermann beigelegt wurde. Trotzdem begab sich der anscheinend wieder völlig ruhig gewordene Matrose Perkins in seine Koje, holte sich einen Revolver und schoß den Steuermann, den Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die beiden ersteren starben noch an demselben Tage, der Koch, der nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Krankenlager. Der Attentäter wurde in Eisen gelegt. Zwei Tage darauf schlug ein anderer Matrose dem Kapitän mit einer Eisenstange über den Kopf, weil er angeblich eine zu kleine Portion Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eiswüste hinein. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder aufgefunden. Am Weihnachtsabend beschuldigte der Bootsmann, ein Deutscher, einen Matrosen, absichtlich ein Licht seines kleinen, aus Besenreisern hergestellten Tannenbäumchens ausgelöscht zu haben. Der Matrose griff, ohne ein Wort zu sagen, zum Messer und stieß es dem Deutschen ins Herz.

Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eise freikam, brach bei dem inzwischen wiederhergestellten Schiffskoch der Wahnsinn aus: er versuchte das Fahrzeug in Brand zu stecken und mußte, da er in Tobsucht verfiel, in einer kleinen Kabine gefesselt mit nach der Heimat genommen werden. Als der Walfischfänger in London im Juni 1898 eintraf, führte er als Besatzung außer dem Kapitän nur noch drei gesunde Leute.

Das Seegericht nahm eine strenge Untersuchung vor. Die beiden Mörder wurden jedoch freigesprochen, da der Verteidiger geltend machte, die bisher unbestraften Angeklagten hätten im Wahnsinn die Verbrechen verübt: arktische Reizbarkeit. Dem Kapitän aber entzog man das Patent als Schiffsführer mit der Begründung, es sei seine Pflicht gewesen, sich auch um die seelische Verfassung seiner Leute zu bekümmern, und dies habe er in sträflichster Weise vernachlässigt.

W. K.