Textdaten
Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Anhang
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 174-190
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[174]
Anhang.

Damit es nicht scheine, daß ich meine Fabeltheorie nur aufgestellt habe, um mich von meinen Vorgängern zu unterscheiden; so will ich aus dem größten Theoristen aller Zeiten, dem Aristoteles darthun, daß die Seinige schwerlich eine andre hätte seyn können, wenn er diese Dichtungsart selbst zu behandeln werth gefunden hätte.


Er denkt an die äsopische Fabel in seiner Rhetorik o)[1] und man hat daraus geschlossen, daß er sie eigentlich nicht für Poesie halte; ein gewagter Schluß, der im griechischen Philosophen keinen Grund findet. In seiner Rhetorik konnte [175] er sie nur als ein rhetorisches Werkzeug betrachten; er behandelt sie also nur als ein Beispiel und begnügt sich daher, sie vom eigentlich-historischen Exempel blos sofern zu unterscheiden, als mit ihnen beiden in einer öffentlichen Berathschlagung Beweis geführt werden sollte. Hier mußte er nothwendig dem historischen Beispiel den Vorzug geben und zwar nur aus dem Grunde, daß es zur Beratschlagung brauchbarer sei, weil das Zukünftige in Vielem dem Vergangenen ähnlich befunden werde und man daher vorzüglich aus der Geschichte Beispiele brauchen müsse, wo dem Ueberredenden Beweisgründe fehlen. Vorsichtig giebt er also den Rath, daß wenn man Beweisgründe habe, man ihnen die Beispiele nicht vorsetzen dürfe, als ob man einen Beweis aus der Induction führen wolle; vielmehr müßten sie nur als Zeugnisse den Beweisen folgen. Der Fabel konnte er in diesem Felde durchaus keinen andern Platz anweisen, als daß man sie [176] brauche, wo Beispiele der Geschichte fehlen und setzt ihren Vorzug nur dahin, daß, weil man sie erfinden könne, sie uns auch dann nicht verlasse, wenn uns die Geschichte verläßt; ja da sie sich auf den gemeinen Glauben gründet, sie in solchem Fall auch, demegorisch d. i. zur Ueberredung des Volks brauchbar werde.


So spricht Aristoteles von der Fabel in seiner Rhetorik, und ich sehe nicht, wie er von ihr als einem Rednerbeweise anders sprechen konnte; um so sonderbarer ists aber, daß man entweder aus dieser Stelle das ganze Wesen der Fabel entwickeln zu können glaubte, oder dem Aristoteles Schuld gab, daß ers schlecht entwickelt habe. Er ist hier soweit davon entfernt, daß er die Fabel nicht einmal erklärt, indem er nur von einem einzigen, dazu außerwesentlichen Gebrauch derselben redet: denn für öffentliche Staatsreden in Griechenland ist sie doch gewiß nicht zuerst und [177] vorzüglich erfunden worden. Wenn man also den griechischen Philosophen auf der Einen Seite tadelt, daß er die Fabel zum blos historischen Beispiel erniedrige; und auf der andern ihm nachspricht, daß die äsopische Fabel nur Beispiel sei und als Beispiel wirke: so thut man ihm, wie mich dünkt, beidemal Unrecht. b)[2] Er spricht hier nur als Rhetoriker, nicht als Philosoph der Dichtung.


Zu seiner Poetik muß man gehen, wenn man seine Begriffe vom eigentlichen Wesen der Dichtkunst erfahren will; und ob er wohl in diesem uns mangelhaft zugekommenen Werk von der äsopischen Fabel selbst nicht redet: so redet er doch von der Dichtung (μυθος) überhaupt und von ihr in Ansehung des Trauerspiels sehr genau und ausführlich. Wir dürfen also nur alles, was der Tragödie eigenthümlich ist, weglassen: so wird [178] die Natur der Dichtung offenbar, worauf sich solche auch beziehen möge.


Allgemein also sagt er:c)[3] „der Geschichtschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht durchs Sylbenmaas, sondern dadurch von einander, daß der Geschichtschreiber erzählt, was geschehen sei, der Dichter, welcher Art Dinge geschehen mögen. Die Dichtkunst sei deßhalb philosophischer und lehrreicher als die Geschichte, weil sie mehr das Allgemeine (τα καθολου) vorträgt, da die Geschichte sich an das Einzelne halte. (τα καθ’ εκαστον.) Allgemein aber nennet er das, wenn anschaulich gemacht wird, wie einem Solchen ein Solches, d. i. einem Jeden das Seine zutreffe, oder wie man nach innerer Wahrscheinlichkeit oder der Nothwendigkeit handle. Dahin ziele die Poesie, auch wenn sie den Personen besondre Namen beilegt; mithin bestehet [179] der Unterschied des Dichters und des Geschichtschreibers darinn, daß dieser sagt was geschehen sei, jener wie es geschehen könne und möge, nach der Wahrscheinlichkeit oder der Nothwendigkeit selbst.“ Goldne Worte, die uns auf einmal auch bei der äsopischen Fabel nicht nur ihren Unterschied vom historischen Beispiel, sondern zugleich den reinen höchsten Zweck anzeigen, zu welchem eine Fabel gedichtet werden soll. Die innere Wahrscheinlichkeit oder die Nothwendigkeit selbst soll das Gewicht seyn, das bei der erdichteten Handlung zeigt, nicht blos Was, sondern auch Wie es geschehen möge. (οια γένοιτο.) Und eben deßwegen ist die Fabel philosophischer und lehrreicher als alle Beispiele der Geschichte. Sie geht auf das Veste und Allgemeine, daß wenn So etwas gegeben sei, wahrscheinlich oder nothwendig So etwas folge; das Beispiel der Geschichte schildert nur einen einzelnen Fall, dem nicht anders als nach [180] dem zweifelhaften Maas der Aehnlichkeit die Anwendung auf andere Fälle zustehet. Für meinen gegenwärtigen Fall aber ist durch die Fabel das οιον γενοιτο καθα το εικος η το αναγκαιον congruent gedichtet worden, so daß sich, wie in der Geometrie, die beiden Fälle decken, mithin gleich sind.


Aus diesem Hauptbegriff des Aristoteles von der Dichtung wird sich auch alles bestätigen, was ich von der Natur der Fabel entwickelt habe. „Nachahmung, sagt er, d)[4] ist ein dem Menschen eingepflanzter Trieb, der sich von Kindheit auf bei ihm zeiget: er unterscheidet sich eben dadurch von andern Thieren, daß er nachahmender ist als sie. Die ersten Begriffe erwirbt er sich durch Nachahmung und freuet sich, wenn er nachgeahmte Dinge siehet. Ein Zeichen hievon ist das Vergnügen, das wir bei Kunstwerken empfinden. [181] Dinge, deren Anblick uns in der Natur unangenehm ist, sehen wir in der genausten Kunstnachahmung mit Freuden. Dies zeigt, daß Lernen nicht für Philosophen allein das Süßeste ist, sondern auch für andre, obgleich nicht in demselben Maaße. Denn sie freuen sich deshalb, wenn sie Bilder anschauen, weil der Anschauende lernt und schließt, was Jedes sei? wie es so sei und nicht anders? Träfe es sich aber, daß er den vorgestellten Gegenstand vorher noch nicht gesehen hätte: so wird seine Freude nicht aus der Nachahmung desselben, sondern aus der Kunst des Werks, der Farbe oder aus einer ähnlichen Ursache entspringen.“


Auf diesen so oft mißverstandenen Begriff der Nachahmung d. i. der künstlichen Darstellung und der Uebung unsrer Vernunft in Anerkennung der Gegenstände, in freudiger Anschauung des Aehnlichen u. f. bauet der philosophische Grieche sein Gebäude der Dichtkunst; und könnte [182] der Ursprung aller menschlichen Dichtung, jener wirksame Trieb in uns, Analogieen zu schaffen, mit innerem Vergnügen sie anzuerkennen und jedesmal dadurch seine Begriffe zu erweitern, zu üben, zu stärken, in einer allgemeinern Quelle gesucht werden? Auch der äsopischen Fabel ist also Analogie die Mutter; nicht Abstraction, nicht eine leere Reduction vom Allgemeinen aufs Besondre. Fabeln, die auf dem letztern Wege erfunden wurden, sind meistens todte Fabeln; dagegen die Dichtungen der Analogie in jedem Gliede leben. Auch die Freude des Zuhörers bei dieser Dichtung, seine Freude beim Anerkennen des ähnlichen Falls und sein unvermerktes, williges Lernen der eingekleideten Lehre erklärt sich aus dem Aristotelischen Grundsatz vortreflich; dagegen die Abstraction und Reduction nichts erkläret. Der Mensch ist ein nachahmendes Thier: er freuet sich also über die Fabel nicht nur als über ein [183] nachgeahmtes Kunstwerk, sondern als über eine geheime Anleitung, durch welche er theoretisch oder praktisch selbst nachahmen lernet. Die Thiere haben ihn alles gelehrt; jetzt lernt er von ihnen auch Weisheit.


Weiter will ich mich nicht ins Einzelne einlassen, und was Aristoteles von der Handlung, den Sitten, dem Ausdruck, den Meinungen der dramatischen Dichtung sagt, e)[5] auf die Dichtung überhaupt und auf einen kleinen Bezirk derselben die äsopische Fabel anwenden. Auch bei dieser müssen die Begebenheiten verknüpft, die Charaktere der Handelnden beobachtet, die Meinungen, die sie äußern, ihrer Natur gemäß und in den Umständen der Handlung gegründet, der Ausdruck der Fabel ihrem Zweck angemessen seyn u. f. Gleichergestalt hat die Handlung [184] der äsopischen Fabel ihre Größe, ihr Ganzes, ihre Schönheit; auf die Zeichnung derselben kommt mehr an, als auf jeden andern Schmuck in Worten, in Beschreibungen, selbst in Ausmahlung des Charakters der Thiere; geschweige in jenen fehlerhaften Episoden, die uns von der Sache selbst abführen und nicht diese allein, sondern jede andre anschaubare Dichtung verunzieren. Kurz, was Aristoteles von seiner höchsten, d. i. der dramatischen Dichtung sagt, gilt, seinem allgemeinen Geist nach, Zug vor Zug auch von der niedrigsten regelmäßigen Dichtung; welches eben die beneidenswürdige Genauigkeit seiner Theorie zeiget.


In Ansehung des Sylbenmaaßes bin ich ebenfalls von Aristoteles Meinung. f)[6] Das Sylbenmaas allein macht kein Gedicht, sondern die Nachahmung, ob er wohl auch jenes sowohl seinem [185] Ursprunge, als seiner Wirkung nach sehr glücklich erklärt hat. Auch in ungebundener Rede (λογοις ψιλοις) läßt er selbst eine Epopee gelten und erkennet die Minen des Sophrons und Xenarchus, die Fabeln des Sokrates (Σοκρατικους λογους) und alle übrige Nachahmungen vor Gedichte, die jemand z. B. in jambische, elegische und andere Versarten bringen könnte. Das Sylbenmaas allein entscheidet ihm nicht; er ist aber dafür, daß man mit dem Dichten (ποιειν) geschickte Metra verbinde, und redet von den heroischen und jambischen Versen sehr richtig. Die griechische Muse hatte diese Regel gleichfalls in sich. Man kam bald darauf, auch der äsopischen Fabel den Schmuck eines Sylbenmaaßes zu geben, der ihre Wirkung nicht schwächete, sondern erhübe. Das älteste dieser Art war, wie wir aus Hesiodus sehen, das heroische; es hat einen abgemessenen, simpeln, rastlosen Schritt, und daß mehrere Fabeln [186] Aesops von einem Griechen selbst in diese Versart eingekleidet gewesen, sehen wir aus Fragmenten beim Svidas. Noch besser aber schickte sich der Choliambe zur Fabel, weil er der ungeschmückten, simpeln Erzählung näher trat, und mit der größten Klarheit den schönsten Wohlklang verband. Reste von den Fabeln des sogenannten Babrius zeigen dies unwidersprechlich; g)[7] und hätten wir ihn ganz, wer würde die Prose unsrer griechischen Fabel lesen, die nicht Aesops sondern [187] der Grammatiker Prose ist, die größtentheils ungleich schönere versificirte Fabeln in sie aufgelöset haben. Der Glückliche, der uns den ächten Babrius fände, hätte der Litteratur ein trefliches Geschenk gemacht: denn die zwei oder drei ganze Fabeln, die man von ihm hat, z. B. die Nachtigall und Schwalbe, die Ameise und Cicada, das Gefäß worinn nichts als die Hofnung blieb, h)[8] und jedes kleine andre Fragment, [188] haben beim schönsten Wohlklange eine so süße Einfalt, daß der schöne, aber oft gezwungene Phädrus [189] ihnen kaum zur Seite treten dürfte. Schade, daß dies griechische Sylbenmaas der Fabel für die neueren Sprachen fast ganz unnachahmbar bleibet: seine zarte Abwechselung verliert sich bei uns Deutschen größtentheils in einförmige Jamben.


Nachstehende Dichtungen maßen sich keine Stelle unter Aesops Fabeln an; vielmehr verbergen sie sich unter dem bescheidnern Namen der Dichtungen aus Sagen. Denn aus Sagen oder aus der Geschichte alter morgenländischer Völker sind sie geschöpft; sie mußten also auch in ihrer neuen Gestalt den Sitten und der Vorstellungsart dieser Nationen treu bleiben, selbst wo diese von der unsern sich weit entfernen. Zum kindlichen Ton der Sage gehörte es auch, daß sie kein poetisches Sylbenmaas hätten und auf den Schmuck feinerer Völker überhaupt Verzicht [190] thäten. Sie stehen als kindliche Fremdlinge hier und erwarten die freundliche Willfährigkeit, die man Ausländern erweiset, daß man nämlich in ihre Denkart eingehe und sie nur nach ihren eignen Gesetzen richte.


  1. o)L. 2. c. 20.
  2. b) Jenes ist Leßings, dieses ist Bodmers Meinung.
  3. c) Poëtic c. 9.
  4. d) Poetic. c. 4.
  5. e)Poëtic. c. 6. 7. 8.
  6. f) Poëtic. c. 1.
  7. g) S. Tyrwhitt. diss. de Babrio. edit. Harles. Erlang. 1785. Ich glaube übrigens nicht, daß dieser schöne Versificator Babrius geheißen habe, welches kein Griechischer Name ist; wahrscheinlich ist sein Name Valerius gewesen, und die Fabeln haben Βαλεριου λογοι oder μυθοι geheißen. In einem Manuscript das Tyrwhitt anführt, (p. 86. edit. Harles.) steht auch dieser Name, und es ist Schade, daß man eben daselbst den wahrscheinlich lateinischen Vornamen dieses Valerius zu enträthseln nicht für werth geachtet hat. Gewiß brächte uns diese Spur um einen großen Schritt näher, wer dieser seynsollende Babrius gewesen?
  8. h) Tyrwhitt de Babr. p. 46. 48. 69. Da die Fabeln kurz sind, will ich für einige Leser zur angenehmen Probe zwei derselben hersetzen.

    Ζευς εν πιθω τα χρηστα παντα συλλεξας
    Εθηκεν αυτον πωμασας παρ’ ανθρωπω·
    Ο δ’ ακρατης ανθρωπος, ειδεναι σπευδων
    Τι ποτ’ ην εν αυτω, και το πωμα κινησας,
    Διηκ’ απελθειν αυτα προς θεων οικους,
    Κἀκει πετεσθαι, της δε γης ανω φευγειν.
    Μονη δ’ εμεινεν Ελπις, ἡν κατειληφε
    Τεθεν το πωμα. τοιγαρ Ελπις ανθρωποις
    [188] Μονη συνεστι, των πεφευγοτων ἡμας
    Αγαθων ἑκαστον εγγυωμενη δωσειν.


     Αηδων και Χελιδων.

    Αγρου Χελιδων μακραν εξεποτηθη,
    Ευρεν δ’ ερημοις εγκαθημενην ὑλαις
    Αηδον’ οξυφωνον· ἡδ’ απεθρηνει
    Τον Ιτυν αωρον εκπεσοντα της ωρης.
    Χ’ ἡ μεν Χελιδων φησι, φιλτατη, ζωοις.
    Πρωτον βλεπω σε σημερον μετα Θρακην.
    Αλλ’ ελθ’ ες αγρον και προς οικον ανθρωπων.
    Συσκηνος ἡμιν και φιλη κατοικησεις,
    Ὁπου γεωργοις κ’ ουχι θηριοις ασεις.
    Τηνδ’ αυτ’ Αηδων οξυφωνος ημειφθη.
    Εα με πετραις εμμενειν αοικητοις.
    Οικος δε μοι πας ἡ τε μιξις ανθρωπων
    Μνημην παλαιων συμφορων αναφλεξει.

    Eine der schönsten Fabeln, die ich in Einer Sprache der Welt kenne. Wahrscheinlich ist die Schwalbe Lessings (S. 104 seiner Fabeln) aus ihr entstanden.