An W. (Eichendorff)
Steig’ aufwärts, Morgenstunde!
Zerreiß’ die Nacht, daß ich in meinem Wehe
Den Himmel wiedersehe,
Wo ew’ger Friede in dem blauen Grunde!
Mag auch der Schmerz in Thränen sich erfreuen.
Mein lieber Hertzensbruder!
Still war der Morgen – Ein Schiff trug uns beide,
Wie war die Welt voll Freude!
Uns beide treulich lenkend,
Auf froher Farth nur Einen Stern bedenkend.
Mich irrte manches Schöne,
Viel reizte mich und viel mußt’ ich vermißen.
Was so mein Hertz hinausgeströmt in Töne:
Es waren Widerspiele
Von Deines Busens ewigem Gefühle.
Der Himmel borst in Blitzen,
Daß neugestärkt sich Deutschland draus erhübe. –
Nun ist das Schiff zerschlagen,
Wie soll ich ohne Dich die Fluth ertragen! –
Vertheilen kühlerauschend sich zwei Quellen,
Die eigne Bahn zu schwellen.
Doch wie sie fern einander auch verloren:
Es treffen ächte Brüder
So wolle Gott Du flehen,
Daß Er mit meinem Blut und Leben schalte,
Die Seele nur erhalte,
Auf daß wir freudig einst uns wiedersehen,
So dort, wo Heimat, Licht und ew’ger Frieden.
Anmerkungen (Wikisource)
Abdruck in der ersten Ausgabe der Gedichte 1837 mit der Überschrift: An meinen Bruder 1813. Zahlreiche Abweichungen zwischen Druck und Handschrift. Die Druckfassung An meinen Bruder zum Abschied 1813 (nach Sämmtliche Werke, 2. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1864, S. 390f.) auf Commons.
Adressat ist der zwei Jahre ältere Wilhelm von Eichendorff. 1813 trennten sich die Wege der eng verbundenen Brüder.