Adolf Philippi (Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde)

Textdaten
Autor: Adolf Philippi
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Titel: Adolf Philippi (Selbstbiographie)
Untertitel:
aus: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 18. Jahrgang (1895), S. 156–176
Herausgeber: Iwan von Müller
Auflage:
Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: S. Calvary & Co.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[156]
Adolf Philippi.
(Selbstbiographie.)

Da jeder geringste von uns einmal seinen Nekrolog bekommt, so werde auch ich dem nicht entgehen. Ich halte es aber für richtiger, daß das jetzt geschehe, wo ich aufgehört habe, zu den Mitgliedern der Zunft zu zählen, als daß später, wenn ich buchstäblich zu den νεκροί gehöre, jemand noch Mühe davon habe. Als die Redaktion mir freundlich gestattete, diesem unbekannten Jemand die dann vielleicht noch weniger als jetzt gerechtfertigte Arbeit vorwegzunehmen, mag sie gedacht haben, daß, wenn auch niemand seit Thales’ Zeiten zu völliger Selbsterkenntnis durchgedrungen ist, doch ein einigermaßen verständiger Mensch immer noch etwas besseres über sich zu sagen wissen wird, als ein anderer später über ihn berichten könnte. –


Geboren bin ich am 11. Januar 1843 in Osterholz, einem nicht weit von Bremen zwischen Wald und Wiesen reizend gelegenen Marktflecken. Der Ort bot in hannoverschen Zeiten als Sitz mehrer Behörden, Garnison einer Husarenschwadron und Mittelpunkt eines kleinen Verkehrs umwohnender Leute verschiedener Interessen und Stellung mehr Leben und Anregung als manche viel größere altpreußische Stadt. Nach der Annexion im Jahre 1866 beschränkte die sparsamere preußische Verwaltung den menschenreichen Apparat. Auch die blauen Gardehusaren verschwanden. Es entstanden Fabriken, und eine Eisenbahn führte die Menschen, die früher durch den Ort kommen mußten, daran vorüber oder höchstens zu flüchtigem Aufenthalt oder eiligem Geschäfte heran, und verschwunden war das Idyll, und an seiner Stelle liegt jetzt eines der vielen schnell anwachsenden, stadtartigen, bäurischen Industriedörfer, von wo, wer nicht bleiben muß, bald und gern nach der wirklichen Stadt übersiedelt. Mein Vater war Rechtsanwalt und hatte sich eine hübsche, kleine eigene Besitzung geschaffen. Dort wuchs ich auf mit fünf Geschwistern in der glücklichen Mitte zwischen [157] dem Zuwenig und dem Zuviel, die zu der Frage nach der Verteilung der äußeren Güter mich zunächst in ein leidliches Verhältnis setzte. Ich lernte äußeres Gut als Quelle des Wohlseins hinlänglich schätzen, um es als Ziel mit auf die Bahn meines Strebens zu setzen, wenn ich auch nicht erfolgreich dabei war. Aber es hat mir dafür auch nie ungebührlich imponiert, wo es mir bei anderen entgegentrat, und so begann ich mit genügendem Idealismus meinen Lebensweg. Wenn ich an die weite Freiheit meiner ersten Jugend, an meine Beschäftigungen und meine Spiele und meine vielen Beziehungen zu Menschen und Tieren später zurückdachte, als ich unter das Joch der städtischen Kultur eingespannt war, glaubte ich immer in diesen reichen Erinnerungen viel vor anderen vorauszuhaben, und was mir und meinesgleichen fehlte, der Schliff der Stadtknaben, wurde, wenn auch unter unangenehmen Erfahrungen, schließlich doch auch uns zu teil.

Zu solchen Betrachtungen hätte ich nie Anlaß gehabt und äußerlich wäre mir und wahrscheinlich auch meinen Eltern das Leben leichter geworden, wenn wir in einer größeren Stadt gewohnt hätten. So aber kam ich im Alter von 13 Jahren zugleich mit meinem Bruder auf das Gymnasium zu Verden, in die Tertia. Dieser Übergang vom blöden Landfuchs, der den Briefträger in dem damals dort üblichen langen roten Rock für einen General hält, zum Abiturienten, der hinter seinen vornehmen städtischen Kameraden nun nicht mehr zurücksteht, bedeutet für die innere Entwickelung des Menschen unendlich viel mehr als das Griechisch und Latein, das er in den zurückgelegten fünf Jahren gelernt hat. Aber zunächst muß ich doch hiervon reden.

Die damalige alte Domschule zu Verden mit den Fenstern auf das stille Gartenviereck gegenüber dem gotischen Kreuzgange würde man nach heutigen Ansprüchen gewiß ein schlechtes Gymnasium genannt haben. Nicht nur nach dem äußeren Betriebe; – es waren wenig Klassenzimmer, keine geteilten Ober- und Unterklassen, sogar der Unterricht von je zwei ganzen Klassen noch für manche Fächer verbunden, und auch sonst wenig Regel, viel Willkür, – sondern auch vor allem, wenn man die Lehrkräfte ansah. Denn der Erfolg der Anstalt beruhte im Grunde auf zwei Persönlichkeiten, abgesehen von einzelnen vorübergehend wirkenden Männern. Solche Persönlichkeiten waren aber auch wiederum nur damals möglich, als man die preußischen Reglements noch nicht kannte. Der Direktor, H. G. Plaß, der Verfasser einer wunderlichen Geschichte Griechenlands und des heute noch nicht ganz vergessenen Buches über die griechische Tyrannis, war ein gelehrter Philolog aus der Schule Gottfried Hermanns. Er besaß eine selbständige Kenntnis der griechischen Litteratur und schrieb und sprach das Lateinische wie seine Muttersprache. Im griechischen Unterricht [158] wurde, außer, wenn es an die Erklärung der tragischen Chöre ging, von seiner Seite kaum ein Wort deutsch gesprochen. Daß dabei der Geist des griechischen Altertums nicht zum vollen Ausdrucke kam, brauche ich nicht hervorzuheben. Aber Kenntnisse im Griechischen und Lateinischen konnte man sich erwerben, wenn man wollte. Außer dem philologischen Unterrichte gab er in Prima Deutsch (Aufsätze und Literaturgeschichte, sogar neueste), Hebräisch und philosophische Propädeutik. In Sekunda hatte er sich einen Teil der griechischen Lektüre, außerdem Geographie und Englisch vorbehalten, in Tertia gab er stets eine Stunde deutsch-lateinische Übersetzung. Leider hatten wir nicht Geschichte bei ihm. Gelegentlich baten wir ihn um eine Extralektion, in der wir begierig auf jedes Wort horchten. Diesen Unterricht, zu dem er geeignet war wie kein anderer, wollte er dem, der sich für den eigentlichen Historiker hielt, nicht nehmen, so wenig Freude dieser auch uns und sich damit bereitete. Zu dieser einzigen Vielseitigkeit des Direktors kam seine feste, einfache, durch und durch originelle Persönlichkeit. Heute würde man wohl sagen, daß er uns Primaner mehr als Studenten, zu wenig als Schüler nahm. – Den völligen Gegensatz zu ihm stellte der Ordinarius der Sekunda, Dr. Gevers, dar. Ein kleiner, schmächtiger, überlebendiger Herr mit dünner Stimme und hastigen Bewegungen, vielleicht ohne das, was man Würde zu nennen pflegt, dafür aber Geist und Leben in jedem Worte, das er sprach, und in Gesellschaft von feinen, einnehmenden Manieren. Ihm war fast der ganze Unterricht des wichtigen Übergangsalters anvertraut, und er erfüllte diese Aufgabe so, daß meine Altersgenossen und ich, wenn wir später darauf zurückkamen, nur mit Bewunderung an diesen Mann denken konnten. Er hat kein Denkmal irgend einer Art erhalten, weil er auch niemals eine Abhandlung über eine der vielen wichtigen lateinischen oder griechischen Partikeln veröffentlicht hat, – hätte es aber verdient, und darum darf ich seiner wohl etwas ausführlicher gedenken. Er hatte unter Otfried Müller studiert, über Pseudo-Lysias’ Epitaphios promoviert, sonst aber nichts gelehrtes mehr geschrieben, und die vorgeschrittenen Autoritäten unter unseren Sekundanern hielten ihn nicht für einen „Philologen“, das wollte sagen: Lesarten, an denen unser Direktor gern unsern Scharfsinn übte, ließ er beiseite. Die Prosaiker Herodot und Cicero erklärte er kurz und, wie es schien, nach zufälligen Eindrücken. Er ließ viel lesen, auch Homer wurde nur kursorisch gelesen, 100 Verse mußten für die Stunde präpariert sein. Dagegen erklärte er eingehend, lebendig, manchmal geradezu hinreißend Horazens Oden und Vergils Eklogen und Theokrit. In der Prima behandelte er in derselben Weise Tacitus. Wir haben uns oft gestanden, daß wir für diese von Gevers behandelten Schriftsteller allein unter [159] allen Alten uns erwärmten, während die anderen uns innerlich fern blieben trotz mancher gelegentlich darin erworbener Kenntnisse. Von den Stunden, welche dem altsprachlichen Unterrichte bestimmt waren, verwendete er wöchentlich eine auf Realien, nämlich – je in einem Halbjahre – antike Geographie, griechische Mythologie, römische Altertümer und Metrik. Er trug einfach und fesselnd vor, ließ nachschreiben und verlangte genaue Repetition. Wir lernten dabei viel und mit Interesse. Neben dem altsprachlichen und dem französischen Unterrichte gab er in der Sekunda Deutsch, Aufsatz und Litteraturgeschichte, beides nach meinem Gefühl musterhaft. Man wendet ja jetzt viel gegen den Unterricht in der deutschen Litteraturgeschichte ein (auf den hannöverschen Gymnasien war er allgemein) und empfiehlt dafür sogenanntes Lesen und Erklären von Klassikern. Ich teile die Bedenken nicht. Man muß nur Lehrer haben, die gebildet genug sind, um jenen Unterricht geben zu können. Zur Erklärung eines Klassikers gehört viel weniger, es kommt aber auch nicht viel mehr als Langeweile dabei heraus, wie man von aufgeweckten ehemaligen Schülern erfahren kann. Wir verdankten dem Unterrichte in der deutschen Litteraturgeschichte sehr viel, aber fast noch mehr den Aufsatzstunden. Hier machte jeder, der auf sich einwirken lassen wollte, einen ersten Kursus seiner Erziehung zum gebildeten Menschen durch, und wie das gemacht wurde, hätte damals, wo es noch keine pädagogischen Seminare, aber auch noch nicht die Phrase gab, daß der deutsche Unterricht Träger der allgemeinen und nationalen Bildung sein müsse, – das hätte damals, sage ich, jemand in dem Unterrichte dieses unscheinbaren, kleinen Mannes verwirklicht sehen können. Die „Methode“ – man hörte damals das Wort noch nicht – die sich ein begabter und feingebildeter Einzelmensch, wahrscheinlich ohne viel Grübeln in gelehrten Büchern, selbst konstruiert hatte, war äußerst einfach. Es wurde viel geschrieben, alle vier Wochen ein „großer“ Aufsatz, d. h. eine Abhandlung, ein „kleiner“, eine Erzählung, und eine ausgeführte Disposition zu dem ersten, – alles auf einmal aufgegeben und ebenso abzuliefern. Ausführliche Korrektur fand nicht statt, dazu hätte des Mannes Zeit nicht gereicht, – nur Striche, Kreuze und am Schluß die Nummern! Die Hauptsache war das Zurückgeben; dies war geradezu einzig. Gelernt wurde durch Exempel, gutes und schlechtes, und ganz kurze Kritik, und auch nur so wurde bestraft und belohnt. Der Anfänger sah diesem Gericht seiner lachenden Kameraden mit Besorgnis entgegen. Wer sich besondere Mühe gab, erhielt wohl mal die Erlaubnis, dem Lehrer einen Aufsatz vorher im Konzept vorzulesen. Die meisten brachten es auf diese Weise mit den fortschreitenden Semestern zu entsprechend guten Leistungen, die begabteren kamen sich im letzten Halbjahre [160] mit ihrer steten No. 1 wie kleine Schriftsteller vor. Als ältere Primaner sahen wir auf den blumigen Stil unserer Sekundanerepoche mit kritischem Lächeln zurück. Aber umsonst entwickelt sich ja nicht der Knabe, und umsonst war unser alter, sarkastischer, verstandesscharfer Direktor nicht da, der dann in seinem Aufsatzunterricht den Ausdruck nachsichtslos in die ihm geeignet scheinenden, ruhigen Formen leitete. – Gevers gab noch griechische Grammatik durch das ganze Gymnasium, recht gut. Er war trotz seiner äußerlich nicht imponierenden Erscheinung ein Lehrer, der musterhaft Disziplin zu halten verstand, von zu großer Strenge vielleicht sogar in den unteren Klassen, allmählich nachlassend und schließlich wie ein hochgebildeter Freund zu den Schülern stehend. Das war überhaupt der maßgebende Eindruck, den er machte, auch in der Stadt unter einer recht anspruchsvollen, vornehmen, aus Beamten und Offizieren zusammengesetzten Gesellschaft. Er hatte eine feine Frau geheiratet, las sehr schön vor und durfte wohl für eine Art Autorität gelten in Sachen des guten litterarischen Geschmackes, der doch hie und da die Geselligkeit des Ortes berührte. Und das bringt mich auf eine andere Bemerkung.

Die übrigen Lehrer waren nicht hervorragend, zum Teil nicht einmal gut. Heute hat vielleicht jedes Gymnasium ein paar bessere Philologen, die irgendwelche Abhandlungen geschrieben haben. Höchstens unser Direktor durfte für einen selbständigen Gelehrten gelten. Aber diese Männer waren doch alle in ihrer Art selbständig gebildet, und das zeigte sich in äußerlichen Dingen, in dem großen Entgegenkommen, das sie in der Gesellschaft fanden, auch wenn einzelnen die Verhältnisse nicht gestatteten, teilzunehmen. Freilich hatten sie, wie ich mit Bestimmtheit sagen kann, auch nicht von Stipendien studiert und nicht die Töchter ihrer akademischen Quartierwirtinnen geehelicht, sondern sie besaßen feine Frauen aus guten, gebildeten Familien. Der Gymnasiallehrer stand also gesellschaftlich in den fünfziger Jahren in Hannover entschieden höher als später und anderwärts, z. B. in Preußen. Ich empfehle diese Aphorismen einstweilen dem Nachdenken aller, die es angeht. Für jetzt darf ich den mir zugestandenen Raum nicht weiter in Anspruch nehmen.

Was meine persönliche Entwickelung betrifft, so stehen die Verdener Schuljahre (1856–61) in meiner Erinnerung als recht erfreuliche, die zwei Primanerjahre vielleicht als die schönsten meines Lebens. Die freundliche Stadt bot angenehmen Aufenthalt, und das Leben brachte vielerlei Zerstreuungen mit sich, darunter auch unerlaubte, ferner Umgang und Freundschaften, von denen zwei – Fritz Hashagen in Rostock und Hans von Hammerstein in Metz – für das Leben dauerten. Mit dem einen bezog ich die Universität. Dem anderen [161] danke ich, daß ich in der einfachen Vornehmheit seines Elternhauses meine erste gesellschaftliche Erziehung erhielt. – In meine Schulzeit fiel noch der österreichisch-italienische Krieg von 1859, dessen jähe Entscheidung uns lebhaft ergriff. Und das nicht nur, weil die älteren Brüder unserer Kameraden in der österreichischen Armee dienten, sondern weil damals in Hannover überhaupt die bessergestellten meist großdeutsch empfanden. Das österreichische Heer, seine Uniformen, seine Führer waren populär. Das nahe Preußen, dessen Grenzen man auf einer Tour in den Harz oder ins Wesergebirge überschreiten konnte, war uns völlig fremd. Eine preußische Uniform habe ich, glaube ich, ehe ich 1864 nach Berlin kam, nicht gesehen. Obwohl wir einem unbedeutenden Staatswesen angehörten, so hatten wir doch schon in jenen Jahren mehr Teilnahme für Politik als jetzt die jungen Leute, die nach 1870 geboren sind. Wie beschäftigte sich schon unsere Kinderphantasie, unter den Anregungen der Neuruppiner Bilderbogen und der bunten Schreibbuchumschläge, mit den Ereignissen von 48 und 49 und dem Schleswig-Holsteiner Kriege in unserer Nähe!

So kam die Zeit des Abiturientenexamens heran, und die Frage: was werden? forderte ihre Antwort. Eine vorwiegende Neigung hatte ich nicht. Ich hätte ebensogut Offizier oder Kaufmann werden können, dachte auch an letzteres vorübergehend, aber es blieb bei einem akademischen Studium, entsprechend der gewohnten Vorstellung. Aber was? das war die schwere Frage, die mich lange Zeit meines Lebens beschäftigen sollte. An Philologie dachte ich am wenigsten. Als unklares Ziel meiner Wünsche für einen künftigen Beruf stand mir vor der Seele nicht etwas äußeres an Stellung oder Amt, sondern die Möglichkeit einer litterarischen Beschäftigung, für die ich aber bei meiner völligen Unkenntnis der Welt natürlich keine Form finden konnte. Von Hause aus und von meiner Mutter her, die eine Enkelin von Werthers Lotte war, hatte ich eine große Verehrung für Goethe. Außerdem hatte ich von Kind auf, ich weiß nicht woher, eine wohl noch größere Liebe zu allem, was bildende Kunst ist, so wenig mir auch in den engen Grenzen meiner Knabenzeit von dem entgegengetreten war, was wirklich diesen Namen verdient. Hiermit verbanden sich jetzt lebhafte Anregungen, welche uns außer einzelnen Teilen unseres Unterrichts eine Zusammenkunft gab, zu der wir, unser fünf Primaner, regelmäßig zwei Jahre hindurch jeden Sonnabendnachmittag uns zusammenfanden, deutsche Klassiker lasen, Aufsätze machten, Vorträge hielten und gegenseitig kritisierten. Das wirkte weiter. Hammerstein suchte mich zwar zu überreden, gleich ihm Jurist zu werden. Das hätte mir jedenfalls vieles Irren erspart. Ich aber bat meinen Vater, mich auf einer süddeutschen Universität ein Jahr lang studieren zu lassen und zwar versuchsweise allgemeine Wissenschaften, wie ich es nannte. Das erste [162] gab er vernünftigerweise zu, für das zweite substituierte seine Weisung – ob ebenso vernünftig, weiß ich nicht – das Studium der Theologie, und ich zog im Herbst 1861 mit Freund Hashagen nach Erlangen.

Hier erfuhren wir, als die ersten Eindrücke vorüber waren, eine große Enttäuschung. Von den erwarteten Schönheiten süddeutscher Landschaft sahen wir wenig, die Stadt mit ihren geraden Straßen war langweilig, öde, einförmig, genau wie der schnurgerade Kanal, an dessen Uferweg wir allnachmittäglich spazieren gingen und uns bald gestanden, wie viel schöner es doch in jeder Beziehung in Verden auf der Schule gewesen war. Der Winter kam. Auch das Leben der Menschen schien wenig mannigfaltig im Vergleich zu dem, was wir gewohnt waren. Das spezifisch Süddeutsche in Lebensweise und Dialekt interessierte eine Weile, aber dazu war man doch nicht auf die Hochschule geschickt. Meinem Freunde war leichter geholfen, er trennte sich von mir, trat in den Wingolf ein und wurde bald ein vortrefflicher Theologe. Ich stand mit meinen vielen Fragezeichen allein. Am liebsten hätte ich wieder aufgepackt, aber das ging nicht. Mein Vater war gegen alle Veränderungen, wozu er eine Übeles prophezeiende Neigung in mir verborgen meinte, und so blieb mir nichts übrig, als anderthalb Jahre zu studieren, freilich auf meine Weise. Ich hörte ohne Beständigkeit Vorlesungen, lebte übrigens studentischen Freuden, die mich wohl verübergehend über die Leere meines Lebens hinwegtäuschten, am Ende mir aber doch so wenig Befriedigung brachten wie das bißchen Kolleg. Das ganze Verbindungsleben in Erlangen muß damals etwas rüdes gehabt haben. Es war nicht mein Eindruck allein, daß wir uns geistig und auch sozial eine Stufe tiefer gestellt fühlten, als wir nach unserer Vergangenheit erwarten zu dürfen meinten. So zog ich denn weiter keinen Gewinn aus diesen traurigen drei Semestern, als daß ich früh süddeutsches Leben und einige süddeutsche Städte kennenlernte und daß ich in den Ferien den damals noch seltenen Genuß einer Reise durch Tirol und Oberitalien hatte. Nicht einmal süddeutsche Freunde erwarb mir die Zeit, denn den einzigen, der diesem Kreise angehörte, Otto Mayer in Straßburg, gewann ich erst 1866 in Berlin.

Mit zwei Norddeutschen, die ebenso enttäuscht waren wie ich, zog ich Ostern 1863 nordwärts. Gerne wäre ich mit ihnen nach Berlin gegangen. Aber mein Vater besorgte, ich möchte eine Art Journalist werden, und forderte von mir, ohne mich seiner Meinung nach zu einem bestimmten Berufe zu zwingen, ein Staatsexamen. Ich ging also auf unsere wohlbestellte Landesuniversität Göttingen mit dem Gefühl großer Leere, die durch Kenntnisse ausgefüllt werden mußte, und dem Entschluß, durch ein Examen meinen Vater zu befriedigen, dabei möglichst viel zu lernen, was mich auch übrigens interessierte, und mir so meine Bahn für später in irgend einer Weise frei zu machen. An [163] Theologie dachte ich längst nicht mehr. Entschiedene Neigung hatte ich für Geschichte. Aber meine Neigung kam hier nicht in Frage. Ich zwang mich möglichst viel zu lernen, was nützlich wäre, wie ich es auch immer einmal würde brauchen können. Unter diesem Zeichen begann ich mein erstes Göttinger Semester, und so blieb es bis ans Ende des dritten. Ich arbeitete unablässig, während des Semesters und in den Ferien, hörte viele Kollegien, philologische, geschichtliche, germanistische, und nach drei Semestern machte ich, was ich nie vorher gedacht hätte, ein recht gutes Oberlehrerexamen. Um dies Ergebnis auch nur mir selbst jetzt noch verständlich zu machen, habe ich mir längst folgendes gesagt. Ich hatte wohl manche Kenntnis mir erworben und auch, wie mein Zeugnis aussagte, die Fähigkeit, über Dinge, die mir weniger bekannt waren, mich zu orientieren und auszudrücken. Ich hatte ausgezeichnete Lehrer. Ernst Curtius und Sauppe bedürfen meines Lobes nicht. Sauppes Vorlesungen waren in einer Weise sauber und accurat, wie ich nichts ähnliches wieder gehört habe. Und was ich an Gesamtauffassung der antiken Welt nicht aus Büchern gelernt habe, verdanke ich großenteils Ernst Curtius. Aber ich hatte in ihnen auch vortreffliche Examinatoren, die nicht die Einzelleistung, sondern den ganzen Menschen mit seinem Willen und der Bemühung, die hinter ihm lag, ansahen und die Möglichkeit dessen ins Auge faßten, was ein solcher Mensch später, wenn er mehr gelernt haben würde, noch werden könnte, – und diese vortrefflichen Männer hatten eine Prüfungsordnung, die ihnen das gestattete. Wie wenig zudringlich waren damals die jetzt immer massiver auftretenden „Nebenfächer“ und die „Vorbildung“! Meinen philosophischen Examinator z. B. – Heinrich Ritter – hatte ich nie gehört, zufällig auch bis zum mündlichen Examen nicht einmal gesehen (ich hatte bei einem Extraordinarius gehört). Aber man soll nicht meinen, daß uns die „Bildung“ durch die Nebenfächer darum gefehlt hätte. Ich zweifle sogar, ob wer jetzt das Deutsche als Hauptfach gewählt hat, eine solche Belesenheit in den mittelhochdeutschen Dichtern besitzt, wie wir sie uns bei dem bescheidenen Wilh. Müller aneignen mußten und dann im Examen beweisen konnten. – Doch die Zeiten und die Prüfungsordnungen, vielleicht auch die Menschen sind anders geworden. –

Ehe ich von Göttingen Abschied nehme, will ich noch eines Mannes gedenken, der bei Lebzeiten wenig gelobt worden und nach seinem Tode bald vergessen ist, weil er sich um mich ein besonderes Verdienst erwarb. Wie ich von Anfang an in Göttingen meine Neigungen und Abneigungen nicht gelten zu lassen beschlossen hatte, so belegte und hörte ich gleich eine Vorlesung bei E. von Leutsch, eigentlich nur, damit er mich im Seminar besser behandelte, dann aber auch, weil es mir unrecht schien, hier auch nur eine bezahlte Gottesgabe ungenossen zu lassen. Und das lohnte sich. Denn ich habe nicht [164] nur manches, wenn auch noch so entlegenes darunter, bei Leutsch gelernt, sondern er gab mir früher und später guten Rat, und vor allem gab er, der selbst einsame, wunderliche Mann, mir das Bild und Beispiel eines unendlich fleißigen, wenig erfolgreichen Gelehrten, eines Arbeiters, der ob seines kargen Lohnes für diese seine Arbeit, wenn sie auch noch so gering war, doch hier auf Gottes Erde und unter Gottes Sonne wohl noch finsterer hätte aussehen dürfen, ohne daß die leichtgeschürzten und schnell fertigen jungen Gesellen sich darüber hätten wundern müssen. Ein Bild, an das ich oft und immer zu meinem Heile mich erinnert habe, wenn es mir später einfiel, meinem Schöpfer einen Wechsel zu präsentieren über ein Mindestmaß von Glück, mit dem ich zufrieden sein zu wollen mich vermaß. – Doch ich vergesse den Anlaß zu dieser Betrachtung. Als ich zum ersten Male seine mit allen erdenkbaren Veranstaltungen zur Förderung gelehrten Fleißes ausgestatteten Arbeitsräume betrat, fragte er mich, ob ich mich schon mit einem Schriftsteller beschäftigt hätte, zu dem es Scholien gäbe. Ich wußte nur Juvenal zu nennen. „Die Scholien sind Schund,“ sagte er, „und wenn Sie nichts weiteres wissen, so fangen Sie nur gleich bei Homer an.“ Nun arbeitete ich Iliasscholien, ohne Neigung, aber mit dem festen Vorsatze, hier zu irgend einem Ziele zu kommen, eine Schulung wissenschaftlicher Askese, zu der ich mir, ehe sie begann, auch in den Stunden tiefster Ergebung nicht den Mut zugetraut hätte. Aber es lohnte sich auch das. Meine Dissertation, die aus diesen Arbeiten hervorging – Quaestionum Aristarchearum specimen primum – war wissenschaftlich wertlos.[1] Ein weiteres Spezimen erschien nicht, zum Homer kehrte ich mit gelehrten Absichten überhaupt nicht wieder zurück. Etwas später schrieb ich in Berlin auf E. Gerhards Wunsch eine ausführliche Besprechung von seines Freundes Blackie eben erschienener Iliasausgabe.[2] – Ich hatte den Wert des wissenschaftlichen Arbeitens an sich – der Tugend ohne die Lust – an mir erfahren und außerdem hier den Ausgangspunkt gefunden, von wo ich später fast die ganze griechische Scholien- und Lexikographenlitteratur bis auf wenige Rückstände durcharbeitete. Ich sagte mir dann wohl, das verdankte [165] ich dem alten Leutsch, der also für mich kein bloß lächerlicher Mann war, sondern nur ein anderer als die meisten Menschen. –

Noch vor meinem Examen hatte Sauppe die Güte, mir eine Lehrstelle in Preußen anzubieten. Ich nahm das als freundliches Vorurteil für den Ausfall des bevorstehenden Examens dankbar hin, hatte aber von meinem Vater das Versprechen, wenn ich das Examen gemacht hätte, nach Berlin gehen zu dürfen, und dahin machte ich mich im Herbst 1864 auf. Etwas verschiedenartigeres als mein Leben in meiner bisherigen Umgebung und die Welt, in die ich nun eintreten sollte, läßt sich kaum denken. Die Verpflanzung auf den neuen Boden forderte vor allem die innere Verarbeitung dieses Gegensatzes, und darin lag der Wert für meine Entwicklung in den nun folgenden Jahren. Wenige Tage nach meiner Ankunft sah ich auf dem Königsplatze die Parade der aus dem schleswig-holsteinischen Kriege zurückgekehrten Truppen, Bismarck in weißer Majorsuniform, das Berliner Publikum an diesen nun immer sich wiederholenden Feierlichkeiten bei dem Einzuge neuer Abteilungen in seiner lebhaften Art Anteil nehmend. Und so brachte jeder Tag neue Eindrücke dieses preußischen Wesens, an dem Deutschland noch einmal genesen sollte. Damals war das alles noch fremdartig. Ja, mir selbst begann es erst im Frühling 1866 zu dämmern, daß um eines großen Staates willen der Mensch doch wohl thue, viele kleine Vorteile aufzugeben, deren wir Hannoveraner uns nur zu sehr bewußt waren. Daß ich die ganze große Bewegung bis zum Kriege der siebziger Jahre in Berlin selbst mit erlebt habe, war ein bedeutender Gewinn dieser Zeit für mich. Und es entsprach ja der Erfolg insofern meinen Erwartungen, als ich von Berlin zunächst mehr eine Förderung meines ganzen Menschen hoffte als die Zurichtung für einen bestimmten Beruf, über dessen Wahl ich nichts weniger als einig mit mir war. Nun mußte aber doch auch hiermit angefangen werden. Früher war mein Gedanke gewesen, nach bestandenem Staatsexamen mich ganz der Geschichte zuzuwenden. Aber ich hatte in Göttingen die Philologie so lieb gewonnen, daß ich das Altertum nicht aufgeben mochte. Immerhin nahm ich meinen Kurs auf die alte Geschichte und alles, was damit zusammenhing. Daneben folgte ich meiner Neigung zur Beschäftigung mit der Kunst, in welcher Form sie sich mir bot. Sie hat mich auf meinem Lebenswege mehr gestört, als sie mir nützte, war mir aber, wenn ich mich prüfte, wohl das Liebste von allem. Sie ganz abzuwerfen, war mir unmöglich. Sie ganz zu wählen, in Form der Archäologie, die damals als Laufbahn die einzig mögliche gewesen wäre, hinderte mich verschiedenes, vor allem ein gewisser Kleinkram, der den wissenschaftlichen Betrieb mir zu beherrschen schien, ohne daß ich heute behaupten will, daß dieser Eindruck richtig war und mein Urteil gerecht. So ging ich, wissenschaftlich arbeitend, einigermaßen zwiespältig [166] meinen Weg. Ich hörte einige Vorlesungen, arbeitete im Museum und auf der Bibliothek und begann für verschiedene in Umrissen entworfene Aufgaben die griechische Litteratur nach einem bestimmten Plane durchzuarbeiten. Daneben nahm ich an Anregungen hin, was die damals noch nicht so unbequem große Stadt mir bot. Ich hatte Zutritt gefunden in den Häusern hochgebildeter Männer. Dankbar gedenke ich vor allem des ehrwürdigen Eduard Gerhard. Was er mir gewesen ist, war nach seinem für mich zu früh erfolgten Tode mir Bedürfnis, in einigen Worten der Erinnerung auszusprechen.[3] Seine edle Gattin blieb mir bis an ihren Tod 25 Jahre lang eine nahestehende Beraterin. Auch sonst mancherwärts, wie z. B. bei Lepsius und Pertz, durfte ich eine Zeit lang an feiner, anregender Geselligkeit teilnehmen. Mit dem frühverstorbenen, feinsinnigen Friederichs verband mich bald nahe Freundschaft. So wurde mir klar, daß ich Berlin fürs erste nicht verlassen durfte. Um meinem Leben äußere Regel, die Fessel bestimmter Arbeit und eine vorläufige materielle Grundlage zu geben, suchte ich Beschäftigung im Berliner Schuldienst und erlangte 1867 eine Stelle an dem damals unter Th. Kocks Leitung neu errichteten Louisenstädtischen Gymnasium. Obwohl ich dem verehrten Manne persönlich nie näher getreten bin, hatte ich doch hinreichend Gelegenheit, seine völlig einzige Kenntnis des Griechischen zu bewundern, und konnte unter seiner humanen, jeder berechtigten Freiheit günstigen Leitung mich in den Schuldienst einarbeiten. Nach der langen Zeit ausschließlich rezeptiver Arbeit that mir die Praxis und die Nötigung zu klarer Gedankenmitteilung wohl. Äußerlich änderte sich mein Leben wenig. Ich behielt nicht nur genug Zeit zu eigenen Arbeiten, sondern es kam mir – bei einer mir heute nicht mehr begreiflichen Ökonomie – vor, als hätte ich noch mehr Zeit. So sehr war durch das Gegengewicht praktischer Pflichtübung die Lust gewachsen.

Einer Anregung Sauppes folgend, hatte ich unter dem Gesichtspunkte eines ius Atticum die griechischen Redner durchgearbeitet und veröffentlichte einige Demosthenica.[4] Dann führte mich die mir unverständliche Überlieferung über die antiken Geschlechtsabteilungen an das Problem ihrer Bedeutung für den griechischen Staat. Während eines äußerlich recht bewegten Lebensabschnittes versenkte ich mich in diese mir immer lieber werdende Arbeit, und manche kleine Lösung oder was ich dafür hielt, blieb noch lange in meiner Erinnerung verbunden mit der zufälligen Stätte ihrer Entstehung, ob es nun eine Berliner [167] Straßenecke war oder ein einsamer Baumgang des damals noch nicht so belebten Tiergartens oder eines der Nordseebäder, in das ich im Sommer zu gehen pflegte. Denn überall hin folgen uns ja in den glücklichen Jahren unserer wissenschaftlichen Lehrzeit die Lieblinge unserer Gedanken. Nach einer kleinen Vorarbeit[5] gab ich Frühling 1870 meine „Beiträge zu einer Geschichte des attischen Bürgerrechts“ zum Druck. Das Buch hat die von Anfängern gern gewählte Form einer langsam fortschreitenden Untersuchung und fordert darum von dem Leser ein Maß von Geduld und Aufmerksamkeit, das er nur selten für die Arbeiten anderer haben wird. Das Hauptergebnis, daß die Grundlagen des athenischen Staates gentilizisch sind, hat sich bewährt. Im einzelnen ist manches, zum Teil unter diesen Anregungen selbst, anders gestaltet worden. Im ganzen darf ich wohl jetzt nach fast 25 Jahren noch sagen, daß der Fleiß jener Jahre nicht vergeblich gewesen ist.

Als der französische Krieg ausbrach, war ich 27 Jahre alt, und die Frage nach einer definitiven Gestaltung meines äußeren Lebensganges trat, zumal nach dem Tode meines Vaters, dringender an mich heran. Meine Gymnasialthätigkeit hatte ich nur als Vorbereitungsstadium angesehen. Die Entscheidung war mir nicht leicht. Meine alte Neigung, die Beschäftigung mit der Kunst, zog mich nach einer anderen Richtung, als die war, welche einen vorläufigen Abschluß in dem Buche über das Bürgerrecht gefunden hatte. Schon länger war ich dem Galeriedirektor Waagen näher getreten und hatte mehre Jahre hindurch in meinen Freistunden in den Kupferstichkabinetten in Berlin und Dresden gearbeitet. Ein freundlicher alter Herr von feinem Kunstsinn und Besitzer einer erlesenen kleinen Gemäldesammlung, Geheimrat Bartels, führte mich Sonntagmorgens in die Einzelheiten der Bilderkenntnis ein, und eine Anzahl jüngerer mit Kunstwissenschaft beschäftigter Männer, deren Führer Alfred Woltmann war, zog mich zur Teilnahme an allerlei Äußerungen dieses Interessenkreises heran. Damals entwickelte sich nach den Anregungen der großen Pariser Ausstellung aus bescheidenen Anfängen das nachmalige Kunstgewerbemuseum. An diesen Bestrebungen nahm ich lebhaften Anteil, mit Karl Grunow, dem späteren Direktor, verband mich bis an seinen Tod enge Freundschaft. Mancherlei leichte Schriftstellerei nahm von da ihren Ausgang, Artikel für Zeitungen und Kunstjournale; während eines Sommers besorgte ich das Kunstfeuilleton der „Nationalzeitung“. Zu eindringenden Spezialarbeiten auf einem dieser Gebiete kam es nicht und sollte es auch nicht kommen. Eine Untersuchung über schleswig-holsteinsche Holzskulptur und ihren Zusammenhang mit den graphischen Künsten, [168] bei der mich der Bildhauer Alexander Gilli unterstützte, blieb in den Anfängen stecken. Ich betrachtete alles dies als Nahrung für meine allgemeine Bildung, als Beschäftigung meiner Neigung, wofür andere anderes und nicht immer nützlicheres thäten. Aber so fest saß ich doch am Ende meiner Berliner Zeit mit meiner Neigung in diesen Dingen, daß sie mir bei meiner Entscheidung für einen Lebensberuf ein schweres Dilemma schufen: Kunst oder Altertum! Beides war mir gleich lieb. Friederichs meinte, es ließe sich als akademisches Lehrfach vereinen, wenn ich es richtig anfinge. Ich bezweifelte das und wollte die Entscheidung von einem Winteraufenthalte in Italien abhängen lassen, zu dem ich im Herbst 1870 aufbrach.

Zunächst blieben meine Beschäftigungen auch hier wieder ganz zwischen Altertum und Kunst geteilt. Aber bald schien es mir nötig, eines, damit es nicht länger das andere beeinträchtige, aufzugeben, und ich entschied mich für die Philologie. Nur während dieses Winters gönnte ich noch meiner Neigung die volle Freiheit, und was übrigens Italien mir gewesen ist, würde keinen interessieren zu vernehmen, jetzt, wo fast jeder mit Stipendium oder Rundreisebillet desselben Weges ziehen kann. Einen bleibenden Gewinn will ich aber erwähnen, die Freundschaft des edlen alten Henzen, der bis an seinen Tod meine Wege mit warmem Interesse verfolgte und meines Oskar Eisenmann, den ich damals kennen lernte.

Im Herbst 1871 habilitierte ich mich in Leipzig, und an dieser nach dem Ende des großen Krieges neu aufblühenden Universität inmitten einer reichen, lebendigen, vielfachen Interessen hingegebenen Stadt fand ich, ausgestattet mit nur einer einzigen Empfehlung meines Lehrers Ernst Curtius an seinen nun längst dahingeschiedenen Bruder Georg, soviel Förderung und Freundlichkeit nicht nur bei den nächsten Vertretern meines Faches, Ritschl, Curtius, Lange, Overbeck, sondern auch bei vielen anderen vortrefflichen Männern dieses und anderer Kreise, daß ich bei einem viel verheißenden Anfang meiner akademischen Thätigkeit wohl auf einen guten Fortgang hoffen durfte. Meine Vorlesungen erstreckten sich auf griechische Historiker und Redner, Altertümer und Kunstgeschichte. Ich fand Zuhörer in größerer Zahl, als ich sie später in Gießen hatte, darunter namentlich in meinen Übungen manche, die es längst weiter gebracht haben als der einstige Leipziger Privatdocent. Ich hatte fördernden Umgang, vielleicht nicht ganz so mannigfaltig wie in Berlin, aber doch manchen mir wirklich nahestehenden Menschen. Das Haus des vornehm-einfachen G. Curtius und seiner klugen, herzensguten Frau wurde mir zu einer Art Heimat. Sie leben nun alle nicht mehr. –

Zu meiner Habilitation brauchte ich nur einige Seiten drucken zu lassen: Symbolae ad doctrinam iuris Attici de syngraphis et de [169] οὐσίας notione 1871. Die Definition des φανερός und ἀφανές im athenischen Finanzwesen ergab gegenüber Boeckh einige neue Gesichtspunkte; irrtümliche Formulierungen der Lexikographen erkannte ich, habe sie aber erst später bei besserer Kenntnis dieser Litteratur auf ihre Quellen zurückführen können. – Eine ausführliche Rezension von Lugebils Buch über die Schlacht bei Marathon im Lit. Centralbl. 1872 n. 26 darf ich deswegen erwähnen, weil sie alles zur Widerlegung jener blendenden Hypothese Erforderliche giebt und der noch ausstehende inschriftliche Beweis, daß Miltiades’ Demos wirklich zur Oineis gehörte, später nachgebracht werden konnte („Miltiades Λακιάδης“ N. Jahrbb. 1877, 808). – Aus Italien hatte ich ferner außer Notizen und Entwürfen eine Arbeit ziemlich fertig mitgebracht, die bald durch Overbecks Vermittlung in den Abhandlungen der Sächsischen Gesellschaft erschien (VI, 3, 1872. „Über die römischen Triumphalreliefs und ihre Stellung in der Kunstgeschichte“). Unmittelbar unter lebhaften Eindrücken entstanden und schnell hingeworfen, berührte sie ein lange wenig beachtetes Gebiet. Sie beging den in Monographien häufig begegnenden Fehler, daß sie ihren Gegenstand schärfer sehen wollte, als er wahrnehmbar ist, das heißt in diesem Falle, daß sie für die Römer mehr in Anspruch nahm, als ihnen zukam, und hat dadurch nützliche Untersuchungen anderer über hellenistische Reliefskulptur und über das Wesen des griechischen Reliefs überhaupt veranlaßt. In ihren allgemeineren Teilen sollte sie mir einen vorläufigen Ersatz gewähren für Arbeiten, die ich liegen lassen mußte. Ich hatte mir einige Denkmälerreihen der toskanischen Skulptur des Quattrocento zurückgelegt und eine Untersuchung über den Vorrat gemeinsamer Typen bei den gleichzeitigen florentinischen Malern. Das Leben hat dafür gesorgt, daß aus beidem nichts wurde, und das war gut, wenn ich z. B. an W. Bodes spätere, glänzende Arbeiten denke, wenn es mir auch Überwindung kostete, die alten Entwürfe ganz liegen zu lassen. Je mehr ich philologischer Lehrer wurde, desto mehr mußten Nebenneigungen zurücktreten. Der Arbeit über die römischen Triumphalreliefs folgten nur noch zwei kleinere archäologische Abhandlungen[6]. Ihr Zweck war für mich erfüllt mit der Freude, die sie mir gemacht hatte, und nachträglich brachte sie mir noch manche kleine litterarische Zerstreuung[7]. [170] Demnächst folgten philologische Arbeiten über Rednerurkunden und ihr Verhältnis zu Inschriften und Lexikographen (Volksbeschluß von 409/8 Neue Jahrbb. 1872, 577. Amnestiegesetz Solons Rhein. Mus. 29, 11.) und mein Buch „Der Areopag und die Epheten“ 1874. – Daß die Epheten nicht von Drakon herrühren, ist ein Ergebnis, an dem ich festhalte, wie damals. Übrigens steht das Buch an Gedankenarbeit dem früheren über das Bürgerrecht nach, es hat sich aber als eine Art zuverlässigen Nachschlagebuches – soweit menschliche Werke zuverlässig sind – seither vielfach auch solchen nützlich erwiesen, die es aus Raumersparnis nicht zu nennen pflegen. Nicht zum Vorteil gereicht ihm die Mitte, die es innehält zwischen Untersuchung und Handbuch. Nicht zum Vorteil gereichte mir, daß ich mich der Ephetenetymologie Langes annahm, deren Unhaltbarkeit später Lipsius mit dem einen Worte ἐφετμή schlagend darlegte. Einmal wurde ich zu einem kurzen polemischen Nachtrage genötigt („Einige Bemerkungen über die athenischen Epheten“ Neue Jahrbb. 1875, 175). Sonst war es nicht meine Art, auf Gethanes zurückzugreifen, und Voltaires Wort: Faire et ensuite se taire ist mir aus der Seele geschrieben.

Im Sommer 1874 wurde ich als Nachfolger Lübberts, der mich auf der Leipziger Philologenversammlung kennen gelernt hatte, nach Gießen berufen. Ich war 31 Jahre alt und mit einem Male Ordinarius. Wer hätte die Selbstüberwindung gehabt diesen Ruf auszuschlagen, selbst um den Preis, den Fehler seines Lebens zu vermeiden? Daß ich diesen zu begehen im Begriff stand, davon hatte ich eine mehr als dunkle Ahnung. Aber wenn ich ihr nicht folgte, so gereicht zu meiner Entschuldigung, daß ich völlig ohne Verbindungen war, wie sie jetzt der strebsame Privatdocent schon als Student erfolgreich sich gesichert zu haben pflegt. Keiner meiner Schulfreunde hatte Philologie studiert, keiner meiner Universitätsfreunde war ein Philolog, der mir hätte nützen können. Ich hatte manchen Fachgenossen auf den Fuß getreten, und wenn mir etwa jemand wohlwollte, so reichte das doch [171] nicht soweit, daß ihm nicht andere noch näher gestanden hätten. Ich konnte also sicher sein, daß, wenn ich dieses Mal nicht in den Teich stiege, schwerlich ein Engel noch einmal das Wasser für mich rühren würde. Richtiger wäre es dennoch gewesen, als Extraordinarius in Leipzig zu bleiben und mich zu einem tüchtigen Spezialisten in den Fächern auszubilden, die ich allmählich beherrschen lernte. Mein Leben hätte sich anders gestaltet. Das sollte nicht sein, und es ist müßig, Hypothesen nachhängen, außer in der Wissenschaft, wo es eine Weile sehr vorteilhaft sein kann.

Wenn ich nun doch einmal eine volle philologische Lehrstelle ausfüllen sollte, was früher nicht mein Gedanke gewesen war, so traf es sich günstig, daß ich in Gießen als Spezialkollegen den vortrefflichen Clemm fand, der mir bis an seinen Tod ein treuester Freund war. Bei seinen mannigfaltigen Kenntnissen und seinem nie verdrossenen Eifer, jede Arbeit anzufassen, die ihm nahegebracht wurde, lag seine entscheidende Begabung, wenn ich sein ganzes Leben überschaue, doch auf einem anderen Gebiete, und wie wenige haben, wenn man aufrichtig sein will, das Glück, gerade das als Lebensberuf zu ergreifen, was mit ihrer Begabung sich deckt! Er besaß in seinem klaren Verstande ein bedeutendes auf Organisation gerichtetes Talent und würde als Beamter der höheren Verwaltung noch größeres geleistet haben, wie als akademischer Gelehrter. Er war mir zu jeder Hilfe bereit, nahm mir, was ich wünschte, ab und erledigte alles geschäftliche wie im Spiel. Neben ihm als Sprachforscher und Grammatiker konnte ich am ehesten ihn ergänzend zunächst meine mehr auf das Geschichtliche unserer Studien gehende Richtung verfolgen und allmählich zur eigentlichen Philologie hinüberlenken. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß unser Zusammenarbeiten glücklich war und der Erfolg unserer praktischen Arbeit in Anbetracht der kleinen Verhältnisse leidlich befriedigend.

Eine für mich ganz neue Seite meines Lebens war die Beteiligung an den amtlichen Pflichten des Professors. Durch Erneuerung von Statuten und Prüfungsordnungen gab es vielerlei Arbeit. Ich erinnere an eine länger andauernde Bewegung zu Gunsten schärferer Promotionsbedingungen, in die auch ich eingriff.[8] Das brachte Leben und Anregung, nahm aber auch mehr Zeit, als um der wissenschaftlichen Vertiefung willen gut war. Ganz konnte man sich solchen Aufgaben nicht entziehen, und die Mitte halten ist dem Menschen das Schwerste. Um mich über den Zeitaufwand zu trösten, sah ich ihn als den Tribut an, den der Gelehrte dem öffentlichen Leben bringt, von [172] dem sein Beruf ihn zu seinem Nachteile ausschließt. – Das äußere Leben gestaltete sich angenehm. Eine hübsche Landschaft und eine reiche Umgegend von hoher, alter historischer Kultur mit kleinen und großen Städten eröffnete ein völlig neues Gesichtsfeld, und das Beste daran, der Mensch, fehlte nicht. Von den vielen Trefflichen, unter denen ich in diesen ersten Gießener Jahren lernte und an einfacher Geselligkeit mich erfreute, nenne ich nur noch einen, der mir neben Clemm am nächsten stand, den Zoologen Anton Schneider. Er war viel älter als ich, unserem politischen Bekenntnis nach waren wir einander völlig entgegengesetzt, und doch verstanden wir uns in allen Lebensfragen. Von keinem vielleicht habe ich persönlich so viel gelernt, seine geistige Beweglichkeit war geradezu einzig; unter allen Menschen, die ich näher kennen lernte, erschien er mir als der am vielseitigsten gebildete. Er starb 1890 in Breslau, nachdem er 10 Jahre früher von uns gegangen war zu einer Zeit, wo mir die beste Gabe meines Lebens den Verlust weniger schmerzlich machte.

Denn der Frühling 1881 brachte mir die ersehnte Bestätigung der „opinion“ des vikar of Wakefield, und zeither führten mir zwei blühende Töchter das Glück vor Augen, daß ich nicht genötigt worden bin, statt ihrer zwei Jungen durch die mühevollen Fächer und Stufen unserer heutigen gelehrten Vorbildung zu treiben. – Als meine Frau und ich anderthalb Jahre später im September von unserer Ferienreise zurückkehrten, lag unser guter Clemm im Sterben. In ihm verlor ich den treuen Genossen so vieler äußerer und innerer Erlebnisse, und an die Stelle der frohen Gemeinschaft des Thuns trat vom folgenden Wintersemester an eine durch die Verschiedenheit der Naturen geforderte Teilung der Arbeit zwischen meinem neuen Kollegen und mir, welche für mich viele Veränderungen zur Folge hatte. Diese Arbeitsteilung machte zunächst eine viel weitere wissenschaftliche Orientierung nötig. Das war an sich kein Schade. „Sie werden die Katastrophe noch segnen,“ schrieb mir damals mein Freund Schneider. Gesegnet habe ich sie zwar nicht, aber ich habe mich ihr anzupassen gesucht, so gut ich konnte. Ich suchte durch anhaltendes, eindringendes Lesen meine Kenntnis der alten Litteratur zu vertiefen, teils für meine eignen Zwecke wissenschaftlicher Erkenntnis, teils für den Lehrberuf. Ich will zuerst von diesem reden.

Schon früh hatte ich für richtig gehalten, die Studierenden in ihren Arbeiten auf Schriftsteller und was in deren Umkreis liegt, hinzuweisen, nicht auf neuere Bücher, bestimmte Themata oder ganze Nebendisziplinen der Philologie. Ohne daß ich mich für einen eigentlichen Philologen ansah, hatte ich für Interpretationsübungen Interesse selbst empfunden und bei zunehmender Einsicht auch in den Studierenden zu wecken gewußt. Für kritische Anfangsarbeiten wies ich gern auf die griechischen [173] Tragiker hin. Ich bedauerte, sie nicht noch mehr in den Mittelpunkt der Arbeit rücken zu können, da ich sie ungebührlich vernachlässigt fand. Ich veranlasste einzelne Dissertationen. Aber weiter reichte mein Erfolg nicht. Zu der Metrik habe ich als gänzlich unmusikalischer Mensch nie ein inneres Verhältnis gewonnen. Wie ich selbst die griechische Poesie als das, um dessen willen die Philologie lehrenswert ist, mein Leben lang angesehen habe, so habe ich auch bei meinen Studenten die Überzeugung zu wecken gesucht, daß hier die Wurzeln unserer Kraft liegen, nicht etwa in den Stoffen meines eigenen, zufälligen Arbeitsgebietes. So behandelte ich auch die Examina, die bei uns öffentlich waren und dadurch den Zuhörern Gelegenheit gaben zu erfahren, was der einzelne Examinator für die Hauptsache seiner Forderungen angesehen wissen wollte. Ebenso bevorzugte ich das Cicerostudium und pflegte Stilübungen, zu denen ich als Schüler und Student nicht die mindeste Lust gehabt hatte. Ich wußte, daß es sein mußte, und bei etwas Sinn oder Anlage für das Formale trat allmählich an die Stelle bloßer Pflichterfüllung eine gewisse von Überschätzung noch weit genug entfernte Lust, welche diese Übungen für einen Teil meiner Studenten nicht ganz erfolglos hat sein lassen. Diese Bemerkungen sollen zeigen, daß ich weder, solange ich mit Clemm arbeitete, noch später in meinem Unterrichte das hervortreten ließ, was meine Fachgenossen nach meinen bescheidenen schriftstellerischen Veröffentlichungen als meine Spezialitäten anzusehen sich gewöhnt haben mögen. Ich hätte das für unrecht gehalten meinem Amte gegenüber, habe aber auch um meiner selbst willen stets lieber weiter gehen und lernen wollen, auch wenn ich deswegen ein paar Druckbogen weniger erscheinen[WS 1] ließe. Frage ich mich nun nach dem Erfolge meiner Berufsarbeit nach Clemms Tode, verglichen mit der Zeit, da ich mit ihm arbeitete, so muß ich diesen Erfolg geringer anschlagen und zwar wegen der Teilung der Arbeit, die doch für den einzelnen von uns die Mühe größer gemacht hatte. Der einzelne bemühte sich seine Aufgabe so zu erfassen, als ob er der einzige wäre, und die Studierenden wählten doch zwischen zwei Professoren und ihren Fächern, anstatt diese als sich ergänzende Teile eines ganzen Lehrgebietes anzusehen. Darf ich also den Inhalt dieser Jahre vom Herbst 1883 bis 1893 in eine Formel fassen, so wäre es die: Den Studierenden habe ich weniger genützt als früher, mir selbst mehr, nämlich durch eigenes Lernen.

Und dies ist auch der Gesichtspunkt, unter dem ich meine äußerlich nicht umfangreiche schriftstellerische Thätigkeit angesehen wissen möchte. Ich hätte das Doppelte und Dreifache veröffentlichen können, ohne viel mehr Mühe davon zu haben. Denn das Material, und zwar viele ἡμίεργα darunter, lag und liegt noch bereit. Aber ich sah keinen Grund dazu. Für mich war das Interesse an einer Frage zu Ende, wenn ich [174] ihre Beantwortung gefunden zu haben glaubte. Die Beweisführung, die man für andere giebt, hat mir allmählich stets weniger Freude gemacht, mehr aber, wenn ich einmal von anderen ausgesprochen fand, was ich selbst in meinen Sammlungen stehen hatte. Nun machen sich aber bekanntlich Philologen mit ihren Veröffentlichungen gegenseitig in der Regel am wenigsten Freude, wenn sie nicht demselben Kreise angehören. So gewöhnte ich mich allmählich auf einen Anlaß oder eine meist auch äußere Anregung zu warten. Daß meine wirkliche Neigung doch nur auf das Geschichtliche ging, wird man diesen knapp gefaßten, äußerlich an Schriftsteller angeschlossenen Aufsätzen nicht gleich ansehen. Und doch ist es so. Ich sagte mir: sollte es nicht möglich sein, daß reife Männer, die nicht mehr um Geld oder Fortkommen schreiben müssen, ihre Gedankenarbeit so herrichten, daß sie damit ihren Mitmenschen dienen, wenn diese Hilfe brauchen? Unsere teuren kritischen Schriftstellerausgaben mit umständlichen Vermerken darüber, wie oft ein unbedeutendes Programm oder eine Dissertation dies oder jenes Wort für echt oder unecht erklärt haben und mit ihrem gänzlichen Ignorieren dessen, was Sinn und Interpretation und Geschichte heißt, sind doch eigentlich Reste einer längst antiquierten Arbeitsart. Wenn Abhandlungen, die sich oft weit von den Textquellen verlieren, so eingerichtet würden, wie ich es versucht habe, könnten ihre Ergebnisse für künftige Herausgeber der Schriftsteller von Nutzen sein.[9] – Schon 1874 begann ich ferner die griechischen Lexikographen und Scholiasten auf ihren sachlichen Ertrag durchzuarbeiten. Auf diese Arbeit habe ich über 10 Jahre lang alle meine freie Zeit verwandt. Ich hatte die Absicht, eine Art Konkordanz im Anschluß an Pollux mit Quellennachweisen herauszugeben. Als ich den größten Teil des Materials bereit hatte und das gesuchte Quellengebiet kannte, hatte ich für meinen Gebrauch genug, das Interesse an der äußeren Vollendung nahm ab und der Beruf forderte anderes von mir. – Wie die weitergehende Beschäftigung mit den griechischen Tragikern mich tiefer in das Drama der modernen Völker hineinführte, so glaubte ich auch zum [175] Verständnis der antiken Historiographie den Maßstab bei den großen Geschichtschreibern anderer Nationen mir verschaffen zu können. Dem nächsten, technischen Zwecke gesellte sich unerwartet ein Interesse an der Sache, und solche Beschäftigungen führten mich hinaus über die anfangs gezogene Grenze. Meiner Lehrtätigkeit sind sie zu gute gekommen, und mancher schöne Plan zu anders gerichteter Arbeit konnte für spätere Zeit zurückgelegt werden.

Zweimal im Anfange meiner Gießener Zeit habe ich auch über griechische Kunstgeschichte gelesen, für die ich mit berufen war. Später hielt ich es für richtig, an der kleinen Universität, bei beschränkten Lehrkräften und bei so vielen nötigeren Anforderungen, dieses Gebiet zurücktreten zu lassen. Die unter meiner Verwaltung stehende Sammlung vervollständigte ich und suchte sie dem Interesse der Studierenden nahezubringen; für mich war die Beschäftigung mit diesen Dingen (denn für einen Archäologen von Fach habe ich nie gelten wollen) eine domestica consuetudo. Ich benutzte sie, um das Altertum zu beleben und beschränkte mich später auf eine ein-, höchstens zweistündige erklärende Vorlesung, und ich weiß daß ich auf diesem Wege vielfach Vorstellungen und Begriffe geweckt habe, auf die der Archäolog innerhalb der Grenzen seines konventionellen Faches gar nicht kommt. – Um diese Zeit wandte ich mich, angeregt durch das lebhafte Interesse meiner Frau und gemeinsam mit ihr gelegentlich wieder den längst aufgegebenen Beschäftigungen mit der Kunst der Renaissance und der neueren Zeit zu. Auf Reisen sahen wir viel und lasen dann, nach Hause zurückgekehrt, miteinander. Hie und da erschien auch ein kleiner Journalartikel dieses oder verwandten Inhalts, alles anonym wie in früheren Jahren. Zu solchen Feiertagszerstreuungen gehörte aus früherer Zeit eine Prosaausgabe des ‚Armen Heinrich‘ in glänzendster Ausstattung, wozu Führich die Abbildungen lieferte.[10] –

Lebenskluge Männer haben oft gesagt, daß es für den einzelnen nicht sowohl darauf ankomme, was er geleistet hat, als wie das, was er zu leisten suchte, auf ihn selbst wirkte. Wenn das richtig ist, so muß ich zufrieden sein, daß ich auf dem Felde, auf dem ich zunächst zu arbeiten berufen war, anstatt vieler Einzelkenntnisse, deren Verwertung mir mehr äußere Erfolge hätte bringen können, eine Gesamtanschauung mir erarbeitet habe, auch wenn diese nicht durchweg erfreulich sein sollte. Stände nicht der Gelehrte namentlich in der kleinen Stadt dem öffentlichen Leben so völlig fern, so hätte es wohl meiner Natur entsprochen, an einem Austausche über allgemeine Fragen teilzunehmen. So aber hatte ich nur gelegentlich, wie in meiner Rektoratsrede[11][176] Anlaß mich zu äußern über einige Beziehungen meiner Wissenschaft zu dem uns umgebenden Weltganzen. Mit dem philologischen Unterrichte selbst habe ich amtlich nichts mehr zu thun. Über seine Kulturaufgabe nachzudenken werde ich nicht aufhören.

Ich habe die Überzeugung, daß mit dem jetzigen Material erhebliche oder gar irgendwie nützliche Entdeckungen, wie andere Wissenschaften sie uns bieten, nicht mehr gemacht werden können, und ich meine, dem einfachen und aufrichtigen Sinne müßte das einleuchten. Selbsttäuschungen sind ja möglich und gehen von Individuen auf einen ganzen Kreis über. Aber schwerlich darüber hinaus. Da hört der consensus auf. Deswegen ist es nicht wertlos für uns, zu wissen, was andere über unsere Arbeiten denken, die unser Thun nicht so hoch schätzen wie wir selbst. Also die Resultate und ihre Neuheit sind es wahrlich nicht, womit wir Philologen andere gewinnen können. Und damit, daß die philologischen Gelehrten untereinander und gegeneinander Abhandlungen schreiben und das Wissenschaft nennen, ist jedenfalls nicht der letzte Zweck erfüllt, den die antike Kultur noch für unser Jahrhundert hat. So gut wie die Pädagogen von ihrem Gesichtspunkte aus für die Schule den Stoff der griechisch-römischen Welt verwerten, so gut muß auch der Ertrag der wissenschaftlichen Arbeit, wenn es überhaupt einer ist, in einfacher Darstellung dem durch die griechisch-römische Disziplin erzogenen Gebildeten verständlich gemacht werden können. Und es hat eine Zeit gegeben, wo das geschah. Geht dieses nicht mehr, so bleibt nur noch jenes übrig. Hörte auch das einmal auf, so wäre die Wissenschaft von Griechenland und Rom eitel Scholastik geworden und würde nicht mehr verstanden werden, wie der Aturenpapagei in Humboldts Schilderung des Orinoco. –

Der Gedanke, mein Lehramt aufzugeben, ist mir öfter nahe getreten. Ich habe ihn immer zurückgedrängt. Lebenswege selbst zu ändern hat sein Mißliches. Schließlich habe ich es für nötig gehalten, um meinen Abschied nachzusuchen und habe ihn im Herbst 1893 in Gnaden von meinem Landesherrn erhalten, –

dum nova canities, dum prima et recta senectus,
dum superest Lachesi quod torqueat –

und mit freundlichen Wünschen für dieses Gespinnst wolle der Leser von mir und meinem Nekrolog Abschied nehmen.

Dresden, im Herbst 1894. A. P.     

Anmerkungen des Originals


  1. Ich promovierte 1865 in Göttingen in Philologie und alter Geschichte. Die Dissertation widmete ich meinem Freunde Hermann Hitzig, wie er mir bald darauf die seinige, beide mit dem Motto: „magna gloria inde non nascitur“. Leutsch wies nämlich einst ein Seminarmitglied darauf hin, daß dessen Plato-Konjektur schon bei Heindorf stände. Als der Student sein Urheberrecht damit verteidigte, daß er erst „hinterher“ Heindorf eingesehen habe, gab ihm Leutsch zur großen Erheiterung der übrigen in seinem trockenen Tone jene Antwort.
  2. Homer and the Iliad by John Stuart Blackie, 4 vols. London 1866. Neue Jahrbb. 1868, 577.
  3. Neue Jahrbb. 1867, 475 und Lützows Kunstchronik 1867, 120.
  4. Über die Demosth. Rede gegen Timotheos Neue Jahrbb. 1866, 611. Zu C. Inscr. Graec. No. 1756 (Sklavenverkauf) a. O. 749. Gegen Zenothemis (keine Sophistenarbeit, sondern wirkliche Rede) a. O. 1867, 577. Zu Dem. gegen Apaturios § 10 : 825.
  5. Göttinger Gel. Anz. 1866, 769 (van den Es, de iure familiarum). – Nachträge zum Bürgerrecht: Über einige Reden des Isäos und Demosthenes Neue Jahrbb. 1879, 413 (Orgeonen).
  6. Die griechischen Künstler Damophilos und Gorgasos in Rom. Neue Jahrbb. 1873, 205. – Annali 1875 (Basreliefs der Villa Borghese).
  7. So z. B. stellte der gute selige Starck Heidelb. Jahrb. 1872, 942 einen nicht eben taktvollen Vergleich an zwischen ihr und der Arbeit eines gerade damals in einflußreiche Stellung gelangten hohen Beamten. Was sollte man aber vollends sagen, wenn derselbe Beurteiler, der die schwer zu beschaffenden Maße hoch angebrachter Reliefs, die ich für meinen Zweck nicht brauchte und darum nicht gab, – tadelnd vermißte, selbst [170] aber das Gigantenrelief im Cortile di Belvedere (Müller-Wieseler II n. 848) ausmaß und an seinen „Tempel des Jupiter Tonans, Heidelb. 1869“ versetze, ohne zu merken, daß es dafür viel zu groß war! – Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn. Ebenso wenn ein jüngerer Herr mir den Text las, weil ich an einem Relief an der Außenwand des Casino der Villa Medici (Bartoli u. Bell. Admir. I² T. 44) die modernen Restaurationen des Hintergrundes nicht erkannt hatte, während er selbst in reiferen Jahren vollständig moderne Reliefs, nach Hennings Phigaliafries gearbeitet (Arch. Zeitg. 40, 1882, 165), ahnungslos als Werke altgriechischer Kunst besingen konnte: Athen. Mitteil. 3, 68 und 6, 306. Trotz der Warnung Mitt. 5, 364. Und als ob die Ate noch nicht genug habe: Archäol. Zeitg. 1885 (Charonrelief) zu vergl. mit Jahrbuch des arch. Instit. 2, 240.
  8. Über die Reform der Doktorpromotion. Eine akademische Rede. Gießen, 1876.
  9. De Philisto Timaeo Philochoro Plutarchi in Niciae vita auctoribus 1874. Adnotationculae ad legum formulas quae in Demosthenis Midiana extant nonnullas 1878. (Gießener Programme). – Hermokopiden Neue Jahrbb. 1879, 685. Kleine Bemerkungen zu griechischen Rednern Rhein. Mus. 34, 609. Die Arginusenschlacht und das Psephisma des Kannonos a. O. 35, 607. Solon und Krösus a. O. 36, 472. Bemerkungen zu den ersten fünf Büchern des Thukydides a. O. 36, 245. Zu Thukydides Buch 6 und 7 Neue Jahrbb. 1881, 95. – Wochenschrift für kl. Phil. 1885, 363 (Keil, Analecta Isocratea). Alkibiades, Sokrates, Isokrates Rhein. Mus. 41, 13. Über einige Züge aus der Geschichte des Alkibiades, Sybels historische Zeitschr. N. F. 21, 398.
  10. Der arme Heinrich. Sieben Zeichnungen von Joseph von Führich mit Text nach Hartman von Aue. Leipzig, Dürr 1878.
  11. [176] Einige Bemerkungen über den philologischen Unterricht. Gießen 1890.

Anmerkungen von Wikisource-Bearbeitern

  1. Vorlage: ercheinen.