ADB:Wiedemann, Rudolf
Wiedemann: Christian Rudolph Wilhelm W. wurde am 7. November 1770 zu Braunschweig geboren. Er promovirte 1792 in Jena auf Grund einer Dissertatio sistens vitia genus humanum hodiernum debilitantia. Zwei Jahre später wurde er bereits Professor der Anatomie am anatomisch-chirurgischen Colleg seiner Vaterstadt und schrieb ein Programm: „Ueber das fehlende Brustbein“ (Braunschweig 1794). Im J. 1795 trat er als Secretär und 1800 als Beisitzer in das Obersanitätscolleg in Braunschweig ein. Inzwischen hatte er 1796 ein „Handbuch der Anatomie“ erscheinen lassen, von welchem 1802 eine zweite und 1812 die dritte Auflage ausgegeben wurde. Ueber eine Reise nach Paris, auf welcher er die letzte Patientin, die von Dusay-Leroy mittelst des Schamfugenschnittes entbunden worden war, zu beobachten Gelegenheit hatte, berichtete er in dem Werke: „Ueber Pariser Gebäranstalten und Geburtshelfer“ u. s. w. (Braunschweig 1803). Nach seiner Rückkehr wurde er 1802 auch noch Geburtshelfer an dem obengenannten Colleg und schrieb in demselben Jahre einen „Unterricht für Hebammen“. 1805 wurde er als ordentlicher Professor der Geburtshülfe, Mitdirector und Oberlehrer am Hebammeninstitut mit dem Titel eines königlich dänischen Justizrathes nach Kiel berufen, wo er bis zu seinem am 21. December 1840 erfolgten Tode blieb. In Kiel hat er nur noch ein „Lehrbuch für Hebammen“ 1814 geschrieben, welches 1826 eine zweite Auflage erlebte. Er nannte dasselbe „Lesebuch für Hebammen, enthaltend Geschichten von schweren Geburten und belehrende Gespräche darüber“.
W. war, wie seine zahlreichen anderweitigen Publicationen beweisen, eine sehr vielseitig gebildete Persönlichkeit. Außer in seinem Hauptfache, der Geburtshilfe, arbeitete er auch in den Gebieten der Anatomie, der Geologie, besonders der Entomologie. Daneben hatte er ein reges Interesse für die modernen Sprachen und gab beispielsweise eine mehrbändige „Chrestomathie zeitgenössischer britischer Schriftsteller“ heraus. In Wiedemann’s Hause verkehrten als tägliche Tischgenossen einige junge Docenten, namentlich Dahlmann und Karl Welcker; in den Nachmittagstunden wurden hier die „Kieler Blätter“ redigirt. W. war mit einer Tochter des Harburger Arztes G. P. Michaelis verheirathet und also Onkel von G. A. Michaelis (s. d.), der in seinem Hause erzogen wurde und durch die Vielseitigkeit der Interessen des Oheims lebhaft angeregt wurde (Julie Michaelis geb. Jahn S. 18. Leipzig 1893). Außer den Schriften über Anatomie und über Geburtshilfe publicirte W. auch eine Anleitung zur Rettung Verunglückter, über das Impfen der Kuhpocken, über den Mangel der Gallenblase usw., ferner übersetzte er verschiedene englische und französische Werke und behandelte in der letzten Zeit seines Lebens hauptsächlich naturhistorische Gegenstände. Er war auch Sammler und seine hinterlassene Mineralien-Collection wurde für die Universität Kiel angekauft.
Von den geburtshilflichen Lehren Wiedemann’s ist zu bemerken, daß er die Perforation des lebenden Kindes verdammte und für die Berechtigung des Kaiserschnittes im Anschluß an einen 1804 ausgeführten Fall (Siebold’s Lucina I, 378), der freilich unglücklich endete, sehr energisch eintrat. Ferner, daß er gegen das völlig unnöthige, rohe und gewaltsame Entfernen der Nachgeburt als eine sehr gefährliche Operation rücksichtslos zu Felde zog und daß er die kräftige Compression der Gebärmutter von außen bei der Extraction der Nachgeburt empfahl (Lucina II, 3, 20).