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Artikel „Volrat“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 275, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Volrat&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 09:04 Uhr UTC)
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Volrat nennt sich in der Wiener Hs. 2885 der Dichter einer zierlichen Reimnovelle von der alten blinden Mutter, die ihren Sohn seiner Verschwendung wegen bei Kaiser Friedrich verklagen will, aber dank einer Finte des schlauen Schwaben, blind, wie sie ist, einen fremden Ritter beschuldigt, dem nun trotz allem Protestiren und zur Belustigung der Anwesenden die kindlichste Fürsorge für die Pseudo-Mutter durch kaiserlichen Machtspruch auferlegt wird. Der Franke V., der sich auf mündliche Erzählung beruft, läßt den Schwabenstreich in Nürnberg spielen, in dessen Nähe (etwa in Bamberg) er selbst seiner Sprache nach wol könnte zu Hause gewesen sein, und er hält die Begebenheit für historisch. In Wahrheit handelt es sich nur um die Variation eines Novellenthemas, das sich mit viel zwingenderer Logik in dem afranz. ‚Du prestre qui ot mere a force‘ (Barbazan-Méon, Fabliaux et contes III, 190 ff.) ausgeführt findet (ferner liegt der Schwank bei Legrand, Fabliaux ou contes³ IV, 199 ff.). Daß die Motivirung der deutschen Erzählung jünger ist, verräth sich besonders in des Kaisers Befehl, der Beklagte solle die Mutter in treuer Pflege halten: das paßt auf die, sonst durchaus abweichende, französische Geschichte, aber gar nicht auf die Voraussetzungen Volrat’s, dessen Held seine Pflichten gegen die Mutter nie vernachlässigt hat. – Das deutsche Gedicht ist in zwei Fassungen erhalten. Die genannte Wiener Hs. verdient bei der Text- und Versgestaltung unbedingt den Vorzug, macht aber die Dialogpartien, besonders den eigentlichen Anklageact, also die Hauptsache, in einer so unverständlichen Kürze ab, daß sie sich dadurch als einen Auszug verräth. Für die Beurtheilung des Dichters muß also die Fassung der Heidelberger Hs. 202, die Volrat’s Namen nicht nennt, wesentlich maßgebend sein: ihr behagliches Plaudern stimmt durchaus zu dem gemüthlichen Humor, der das Ganze durchweht. In seiner äußeren Technik, in Versbau und Reimgebrauch, sticht der mitteldeutsche Dichter von der höfischen Eleganz merklich ab; aber er strebt ihr doch mit Bewußtsein zu. Das äußert sich schon in der vorsichtigen Wortwahl und ist viel deutlicher noch in der poetischen Auffassung des Themas, die den Mann von Zucht und Bildung überall verräth. Seine Sympathie gehört dem ritterlichen Verschwender, der gerne Gut um Ehre mit vollen Händen wegwirft. Aber auch die geizige Mutter wird, ohne die groben Mittel des französischen Fabliau, mit überlegenem Humor zwar, aber noch immer höflich behandelt: V. findets in der Ordnung, daß Alles schweigt, als eine Frau ihre Klage erhebt. Am launigsten aber schildert der Dichter den armen Ritter, der nolens volens seine seit 30 Jahren todte Mutter gegen alle Kirchenlehre aus dem Grabe wieder auferstehn sieht, mit sauersüßer Miene sie nach Hause führt und, als er sie wieder los werden kann, sich ehrenhalber gar noch wehren muß. Das Lächeln der schadenfrohen Hofgesellschaft begleitet leise sein Malheur: nur der Kaiser bricht zu guter Letze in eine dröhnende Lache aus. V. ist, so stark der Stoff zur Posse verführte, stets mit zühten gemeit: er könnte noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts seine liebenswürdige kleine Dichtung verfaßt haben.

Nach der Wiener Hs. gab M. Haupt die Erzählung heraus Zeitschr. f. deutsches Alterthum 6, 497, nach der Heidelberger v. d. Hagen, Gesammtabenteuer Nr. 5 (Bd. I, S. XCV f., 85 ff.).