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Artikel „Unverzagt, Wilhelm“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 321–322, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Unverzagt,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 06:08 Uhr UTC)
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Unverzagt: Wilhelm U., Mathematiker, geboren zu Bad Ems am 17. December 1830, † Ende Januar 1885 durch Ertrinken im Rhein bei Bendorf. Sein Vater, ein sehr geschickter Schmiedemeister, bestimmte ihn gleich dem älteren Sohne zu dem von ihm selbst betriebenen Handwerke, aber die überraschenden Fortschritte des Knaben auf der Schule gaben die Veranlassung, ihn einem gelehrten Beruf zu widmen, und so kam U. im Herbst 1844 auf das Realgymnasium nach Wiesbaden, ein halbes Jahr bevor Johann Traugott Müller (s. A. D. B. XXII, 629–631) Leiter dieser Anstalt wurde. Müller’s Lehre und Beispiel übten einen tiefgehenden Einfluß erst auf den Schüler, dann auf den Collegen. Im Frühjahr 1850 verließ U. die Schule, um in Marburg und Göttingen Mathematik und neuere Sprachen zu studiren; Ostern 1854 kehrte er nach bestandener Staatsprüfung als Probecandidat an die Anstalt zurück. [322] Dann ging er 1856 auf ein Jahr nach Paris, wurde 1857 Collaborator an der Wiesbadner höheren Bürgerschule, 1861 Conrector am Realgymnasium, um noch ein Jahr lang neben seinem verehrten Lehrer Müller, dann in dessen Geiste weiter bis 1877 zu wirken. So sehr U. mit dem Realgymnasium verwachsen war, verließ er es Ostern 1877, um als Rector an die Spitze der höheren Bürgerschule Wiesbadens zu treten. Sein Geist wirkte auch hier befruchtend und fördernd. Schon Ende 1879 erhielt die von ihm geleitete Anstalt die Befugniß, ihren Schülern durch einfaches Abgangszeugniß ohne besondere Prüfung das Recht zum Einjährig-Freiwilligendienst zu ertheilen. Ein schweres Unglück traf die Unverzagt’sche Familie 1884. Frau U. geb. Keck, eine vortreffliche Dame, welche ihrem Manne in jeder Beziehung ebenbürtig, ihm helfend und erheiternd zur Seite gewandelt war, starb nach kurzer Krankheit. Der Kummer vollendete, was übermäßige Geistesanstrengung bei U. angebahnt hatte. Seine Nerven waren derart zerrüttet, daß er der Heilanstalt in Bendorf übergeben werden mußte. Um die Jahreswende war er wieder soweit hergestellt, daß seine Heimkehr nach Wiesbaden für den Monat Februar 1885 in feste Aussicht genommen werden konnte. Ende Januar lief er auf dem Rheine Schlittschuhe. Er schnallte sie aus, um auf einem Damme nach einem benachbarten Dorfe zu gehen. Vermuthlich ist er vom Damme abgerutscht und in dem eisigen Strome ertrunken. Man fand die Leiche erst im August unweit Köln, erkennbar an den Kleidungsstücken. War U. ein von seinen Schülern geliebter und geehrter Lehrer, hat er – darin mit Joh. Traug. Müller gleichen Sinnes – diese Schüler weit über das gewöhnliche Ziel der Schule hinauszuführen sich angelegen sein lassen, so bediente er sich dabei der eigenthümlichsten Mittel. Er gab neben dem mathemathischen noch den französischen Unterricht und wußte letzteren dem ersteren bis in einem gewissen Grade dienstbar zu machen. Er ließ z. B. statt eines anderen französischen Schriftstellers die Werke Arago’s lesen. Neben der pädagogischen Thätigkeit in Schule und Haus, wo er zahlreiche Knaben in einem Pensionate vereinigte, wußte der scheinbar unermüdliche Mann auch noch Zeit zu wissenschaftlichen Arbeiten zu erübrigen. Schulprogramme aus den Jahren 1864, 1866, 1871, 1878, 1881, ein Werk „Theorie der goniometrischen und longimetrischen Quaternionen“ von 1876 zeigen U. als geistvollen und erfindungsreichen Mathematiker. Die Programme von 1864 und 1866 gehören der darstellenden Geometrie an. Im Programme von 1871 über ein einfaches Coordinatensystem der Geraden ließ er zwei parallele Axen durch eine Grundlinie schneiden, welche damit Anfangspunkte jener Axen bestimmte. Eine Gerade ist alsdann durch die Abschnitte gegeben, welche sie auf den beiden Axen von jenen Anfangspunkten an abzumessen gestattet, und welche ihre Coordinaten sind. Quotienten von bei dieser Untersuchung auftretenden Strecken nannte U. longimetrische Functionen. Diese bilden den Uebergang zu dem Werke von 1876, zu den Programmen von 1878 und 1881. U. war einer der Ersten, welche den Hamilton’schen Quaternionen in Deutschland Eingang zu verschaffen suchten, und er that es nicht als Uebersetzer, sondern durch selbständige Weiterbearbeitung der Gedanken, die bei ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren, und deren gelegentlich auch polemische Verfechtung er in den beiden genannten späteren Programmen als seine Aufgabe betrachtete.

Aug. Schmidt, Wilhelm Unverzagt, ein Nekrolog von einem ehemaligen Schüler in der Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXXI (Jahrgang 1886) Histor. litter. Abtheilung S. 41–50.