ADB:Tscharner, Karl Friedrich von

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Artikel „Tscharner, Karl Friedrich von“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 699–701, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tscharner,_Karl_Friedrich_von&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 19:44 Uhr UTC)
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Tscharner: Karl Friedrich v. T. (1772–1844, über seine Familie s. den folg. Artikel Karl Eman. v. T.), wurde am 13. Februar 1772 in Lausanne getauft, wo sein Vater, der Major Junker Beat Albrecht T., bernischer Landvogt war. In Lausanne, dem Sitz feinster französischer Bildung, später in Bern, erhielt er seine erste Erziehung, über welche es an genaueren Angaben fehlt. Siebzehn Jahre alt trat er in ein Schweizerregiment in französische Dienste, das aber bald von der Berner Regierung zurückberufen und aufgelöst wurde. Beim Einfall der Franzosen in die Schweiz, im März 1798, stand T. unter den kämpfenden Berner Milizen und erlebte als solcher, nach erfolglosem Widerstande, die Einnahme und Besetzung seiner Vaterstadt. Während der Zeit der helvetischen Einheitsregierung mit allen seinen aristokratischen Standesgenossen aus dem Staatsdienste verdrängt, aber durch ansehnlichen Grundbesitz vollkommen unabhängig, verlebte er einige Jahre im Privatstande. Nach der theilweisen Rückkehr zu den alten Regierungsformen wurde er zum Mitgliede des obersten Gerichtshofes erwählt; 1817 trat er in den „Kleinen Rath“ oder die eigentliche Regierungsbehörde. Zugleich war er Kanzler der neu errichteten Akademie und soll in dieser Eigenschaft, obschon er selbst keine eigentlich wissenschaftliche Bildung besaß, durch Heranziehung tüchtiger Lehrer aus dem In- und Auslande sich verdient gemacht haben um die Entwicklung der Anstalt. Seit 1820 war er Vorsteher [700] des Justiz- und Polizeiraths, wobei er den Mangel an eigener Rechtskenntniß durch seinen steten und vertrauten Verkehr mit dem ausgezeichneten Juristen, Professor Samuel Schnell (s. diesen Artikel), zu ersetzen verstand. Diese Geschäfte, wie sein Grundbesitz, brachten ihn in vielfache Berührung mit dem Landvolke, und wie er selbst durch Schlichtheit und Leutseligkeit sich Vertrauen erwarb, so konnte er sich seinerseits der Einsicht nicht verschließen von der Allgemeinheit und der Berechtigung des Verlangens nach einer Aenderung des Regierungssystems. Als der Umsturz erfolgte und im Januar 1831 die Räthe ihre Gewalt niederlegten, schloß sich der schon bejahrte Mann offen der Bewegung an. Ein Verfassungsrath wurde gewählt, und während fast alle seine Standesgenossen die auf sie fallenden Wahlen grollend ablehnten, nahm T. den Ruf zur Mitwirkung an und wurde am 28. Februar 1831 sofort zum Präsidenten ernannt. Ohne hervorragende Charaktereigenschaften, ohne Rednertalent, ja überhaupt ohne besondere geistige Begabung, genügten seine Ehrenhaftigkeit, seine Pflichttreue, sein praktisch nüchterner Sinn, vor allem seine Kenntniß des Volkes und seiner Bedürfnisse, ihm rasch ein bedeutendes persönliches Ansehen zu geben. Die hohe Achtung, die man ihm entgegenbrachte, mußte ihn entschädigen für mancherlei Verkennung und Kränkung, die er von frühern Freunden erfuhr. Als die Verfassung ins Leben trat, ernannten ihn nicht weniger als 24 Bezirke zu ihrem Vertreter im Großen Rath, und dem entsprechend wurde er nun auch sofort als Schultheiß an die Spitze der Regierung gestellt, eine Würde, die er nun, verfassungsgemäß Jahr um Jahr mit einem Amtsgenossen wechselnd, von 1832–1844 bekleidete. Hatte er schon vor der Einsetzung der neuen Behörde, im Januar 1831, den schwierigen Auftrag erhalten, in den ungeduldigen, zu revolutionären Gewaltthaten geneigten Gegenden den Jura die Ordnung herzustellen, so bedurfte er jetzt nicht weniger Thatkraft, um bewaffnete Erhebung von Seiten der gestürzten Aristokratie zu unterdrücken. Etwas unsicher in seinem politischen Urtheil, ließ sich T. meistens von seinen Rathgebern leiten, wußte aber seine Stellung stets mit Würde zu behaupten. Schwieriger gestaltete sich dagegen sein Verhältniß zum Auslande. Die Vertreter der fremden Großstaaten übten damals in der Schweiz einen ungebührlich großen Einfluß aus, es war die Zeit der politischen Flüchtlinge, aus Deutschland, aus Polen, aus Italien, die Zeit der beständigen Reclamationen und diplomatischen Beschwerden gegen das von der Schweiz behauptete „Asylrecht“, und hierbei zeigte der Schultheiß wiederholt eine Aengstlichkeit, welche ihm auch von seinen sonstigen Parteigenossen als eine die Ehre und Selbständigkeit des Landes preisgebende Unterwürfigkeit zum schweren Vorwurf gemacht worden ist. Im J. 1836 war Bern Vorort der Eidgenossenschaft und infolge dessen der Schultheiß T., jetzt 63 Jahre alt, Präsident der Tagsatzung. Allein gerade dieses Jahr sollte nichts weniger als leicht sich gestalten für die Leitung der Geschäfte. War bisher wenigstens Frankreich der fortschrittlich gesinnten bernischen Regierung günstig gewesen, so wurde nun auch dieser westliche Großstaat aufs äußerste verstimmt, so sehr, daß im October 1836 eine außerordentliche Tagsatzung berufen werden mußte. Tscharner’s Antrag, sich der Forderung des französischen Gesandten zu fügen, wurde abgelehnt und damit der Schweiz eine bedenkliche Demüthigung erspart, denn die Drohungen hatten keine weitere Folge. Die gleiche Haltung nahm T. wieder 1838 ein, als Frankreich die Austreibung des Prinzen Ludwig Napoleon verlangte; er war für Nachgiebigkeit, während eine freilich kleine Mehrheit den verfolgten „Schweizerbürger“ schützen wollte und sich zum Kriege rüstete. Seine treuesten Freunde – manche betrachteten sie eher als seine Lenker – die Brüder Schnell (s. den Art.), traten jetzt von allen Staatsämtern zurück, T. selbst blieb Mitglied der Regierung und die Ueberzeugung von der unbedingten [701] Rechtschaffenheit des Mannes war allgemein genug, um ihn auch solche moralische Niederlagen überwinden zu lassen. Im Jahre 1842 trat er, wieder Schultheiß geworden, zum zweiten Male an die Spitze der Eidgenossenschaft. Nach langwieriger Krankheit, aber noch im Amte stehend, starb er am 9. Mai 1844. Das Begräbniß des trotz aller Schwäche hochverdienten, edeln und ehrwürdigen Staatsmannes wurde durch ungewohnte Feierlichkeit ausgezeichnet. Seine Bedeutung liegt hauptsächlich darin, daß er in seiner Person auf treffliche Weise den Uebergang aus dem alten aristokratischen Bern in das neue volksthümliche vermittelt hat.

Neue Helvetia, Zürich 1844. Nekrolog. – Tillier, Geschichte der Eidgenossenschaft während der Zeit des sogeheißenen Fortschritts. Bern 1854–1855. 3 Bde. – Blösch, Eduard Blösch und 30 Jahre Bernischer Geschichte. Bern 1872. – Baumgartner, Die Schweiz in ihren Kämpfen und Umgestaltungen. Zürich 1853–1866. 4 Bde.