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Artikel „Rathke, Heinrich“ von Ludwig Stieda in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 352–355, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rathke,_Heinrich&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 19:10 Uhr UTC)
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Rathke: Martin Heinrich R., hervorragender Anatom und Embryolog, wurde am 25. August 1793 als Sohn eines begüterten Schiffsbaumeisters zu Danzig geboren und daselbst erzogen. Zu Ostern 1814 ging der junge R. nach Göttingen, um Medicin zu studiren. Hier förderte Blumenbach einerseits, der Umgang mit gleichstrebenden Genossen Pander, Mehlis, Leukart andererseits die Neigung zur Zoologie und vergleichenden Anatomie. Ein naher Verwandter Rathke’s Dr. Otto, welcher als Arzt in Bengalen und Westindien gewesen war, hatte bereits früher im jungen R. die Liebhaberei zur Naturwissenschaft erweckt. 1817 wandte sich R. nach Berlin, beendigte daselbst seine Studien und erwarb sich den Grad eines Doctor der Medicin durch die Dissertation „De Salamandrarum corporibus adiposis, ovariis et oviductibus eorumque evolutione“ (24 pp. c. tab. 2 Berol. 1818). Nun kehrte R. in seine Vaterstadt zurück und ließ sich daselbst als praktischer Arzt nieder; 1825 wurde er Oberarzt am großen Bürgerspital, 1826 übernahm er das Amt eines Kreisphysicus; außerdem ertheilte er vier Jahre hindurch am Gymnasium Unterricht in der Physik und physischen Geographie. Daneben aber widmete er sich mit großem Eifer und rastlosem Fleiß anatomischen und embryologischen Arbeiten, wobei der Umgang mit den Königsberger Forschern Burdach und Baer befruchtend wirkte. In Berücksichtigung seiner ausgezeichneten wissenschaftlichen Arbeiten erhielt R. 1829 eine Berufung zum Professor der Physiologie und allgemeinen Pathologie an die damals noch [353] junge Universität Dorpat. Mit Freude gab R. seine ärztliche Thätigkeit auf und zog mit seiner Familie nach Dorpat, um von nun ab ganz der Wissenschaft zu leben. Er las Physiologie und allgemeine Pathologie, aber auch zeitweilig Zoologie und vergleichende Anatomie und setzte mit ungeschwächtem Eifer seine anatomischen und embryologischen Untersuchungen fort. In Begleitung zweier Zuhörer Dr. Kutorga und Kappherr machte R. 1832 und 1835 eine Reise in die Krim und an das Schwarze Meer, um aus eigener Anschauung die Fauna eines südlichen Meeres kennen zu lernen. Das gesammelte zoologische Material wurde zu weiteren Arbeiten benutzt. Als K. E. v. Baer in Königsberg seine Stellung aufgab, um an die Akademie nach St. Petersburg überzusiedeln, wurde R. im Sommer 1835 aus Dorpat nach Königsberg berufen. Er folgte mit Freuden dem Ruf ins Vaterland und übernahm beide Professuren der Anatomie und Zoologie, gleichzeitig das Amt eines Medicinalraths. Anfangs konnte er in Königsberg nicht recht heimisch werden; als er aber endlich festen Fuß gefaßt hatte, wandte er sich aufs neue seinen wissenschaftlichen Studien zu. Im Mai 1839 unternahm er eine Reise nach Norwegen und Schweden, um zoologisches Material zu sammeln. Er las Anatomie des Menschen und daneben abwechselnd Zoologie und vergleichende Anatomie und leitete auch zoologische Uebungen. Mit Eifer und Nachdruck sorgte er für Vermehrung der Sammlungen und für zweckmäßige Aufstellung derselben: 1853 konnte er die Sammlungen in das neuerbaute Haus (k. anatomische Anstalt) überführen – das alte Haus war fast dem Einsturz nahe. – 1859 besuchte R. die Naturforscherversammlung in Karlsruhe. Am 13. Juli 1860 feierte er das 25jährige Jubiläum seiner Königsberger Lehrthätigkeit und erfreute sich vieler Zeichen anhänglicher Liebe von Seiten seiner ehemaligen und damaligen Schüler. Als erster Geschäftsführer der Naturforscher-Versammlung, welche Ende September in Königsberg tagen sollte, starb er plötzlich am 15. September 1860, als er eben die Gäste empfangen wollte. Ueber Rathke’s Lebensweise und Aeußeres schreibt Zaddach Folgendes: „Dieselbe Consequenz, mit der er seine wissenschaftlichen Arbeiten verfolgte, sprach sich auch in seiner Lebensweise aus, ohne irgendwie an Pedanterie zu grenzen. Die Eintheilung des Tages war bei ihm von seiner Jugend bis zum letzten Tag seines Lebens ziemlich dieselbe geblieben. Schon früh, zwischen vier und fünf Uhr Morgens, pflegte er an die Arbeit zu gehen, die Abendstunden dagegen widmete er gern der Erholung: einem Spaziergange, leichterer Lectüre, zu der er am liebsten Reisebeschreibungen wählte, oder der Gesellschaft. In dieser war er voller Gemüthlichkeit, ging mit Interesse auf jede Unterhaltung ein und ließ sich gern über Verhältnisse und Zustände, die ihm ferne lagen, von Anderen belehren. – R. war von kräftigem Körper, und nur zweimal war er am Nervenfieber ernstlich krank gewesen, einmal in früher Jugend, später in Dorpat, kurz vor seiner Reise nach der Krim. – Obgleich ungewöhnlich groß, erschien seine Gestalt weder schmächtig noch kolossal; seine gerade Haltung, der ruhige ernste Ausdruck seiner regelmäßigen Gesichtszüge gaben seinem Auftreten Würde; sein Auge, obschon täglich am Mikroskop[WS 1] und an der Lupe angestrengt, behielt bis zum Tode seine vollkommene Schärfe.“

R. war ein ausgezeichneter Beobachter und Forscher, ein äußerst fleißiger Schriftsteller; sein höchstes Ziel war eine Erweiterung der Wissenschaft durch eigene Arbeiten. So legen denn die vielen umfangreichen Schriften Rathke’s Zeugniß ab von seinem rastlosen Eifer, seinem angestrengten Fleiß. Das bei Zaddach mitgetheilte Verzeichniß zählt 125 größere und kleinere Abhandlungen und Werke auf und ist doch nicht vollständig. Hier ist kein Ort, weder um alle Schriften nochmals aufzuzählen, noch um die einzelnen kritisch zu beleuchten; [354] es können nur in ganz großen kurzen Zügen die wissenschaftlichen Leistungen Rathke’s charakterisirt werden. Rathke’s Arbeiten gehören mit wenig Ausnahmen der Embryologie oder der vergleichenden Anatomie an; in vielen Arbeiten greifen beide Gebiete eng ineinander: wenn seine Arbeiten auch nicht so bahnbrechend sind, wie die seines Zeitgenossen K. E. v. Baer, so sind sie doch, speciell, was die Bildung einzelner Organe betrifft, von hoher Bedeutung. In erster Linie stehen die embryologischen Schriften Rathke’s und zwar diejenigen, welche eine mehr oder weniger abgeschlossene Bildungsgeschichte einzelner Thierspecies oder Thiergruppen liefern; sorgfältig ausgearbeitete Monographien haben in diesem Gebiet einen ganz außerordentlichen Werth. Hierher gehören: „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Haifische und Rochen“ (Beiträge zur Geschichte der Thierwelt, Schriften der Danziger nat. Ges. II. Bd. Halle 1827, S. 4–66), „Bildungs- und Entwicklungsgeschichte des Blennius viviparus“ (Abh. zur Bildungs- und Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Thiere, II. Theil, Leipzig 1833, S. 1–68). „Ueber die Entwicklung der Syngnathen“ (Zur Morphologie, Leipzig 1837, S. 112–128), „Entwickelungsgeschichte der Natter“, Königsberg 1837, „Ueber die Entwicklung der Schildkröten“, Braunschweig 1848. „Ueber die Entwicklung der Krokodile“, Braunschweig 1866. – Eine Reihe anderer embryologischer Arbeiten beschäftigt sich mit der Bildungsgeschichte einzelner Organsysteme oder einzelner Organe: Hier stehen oben an die Abhandlungen, welche die Bildung der Geschlechtswerkzeuge aller Classen der Wirbelthiere schildern. Dazu gehören: „Ueber die Entstehung und Entwicklung der Geschlechtstheile bei den Urodelen“ (Beiträge zur Geschichte der Thierwelt I, Danzig 1820, S. 1–188). „Ueber die Entwicklung der Geschlechtstheile bei den Fischen, Amphibien, Vögeln und Säugethieren“ (Beiträge zur Geschichte der Thierwelt III, Halle 1826, S. 1–92). „Ueber die Bildung der Samenleiter, der Fallopischen Trompeten und der Gartner’schen Kanäle, der Gebärmutter und Scheide der Wiederkäuer“ (Meckel’s Archiv für An. u. Ph. 1832, S. 329–389). Es sei hier nur auf ein Resultat der umfangreichen Untersuchungen aufmerksam gemacht: R. wies nach, daß die von Wolff bei Hühner-Embryonen entdeckten Körper bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme vorkommen, daß die Körper nur vorübergehende Bedeutung haben, daß neben und aus ihnen die Harn- und Geschlechtsorgane entstehen; R. gab den Körpern zu Ehren Wolff’s den Namen der Wolff’schen Körper. Eine andere Serie von Arbeiten schildert die Bildung der Athemwerkzeuge; eine dritte Serie die Bildung des Skeletts oder einzelner Skeletttheile. Bei Gelegenheit der Untersuchungen der Athemwerkzeuge entdeckte R. die Schlundspalten und Schlundbogen, welche er zuerst Kiemenspalten und Kiemenbogen nannte. –

Doch nicht allein die Entwicklungsgeschichte der Wirbelthiere, sondern auch die der Wirbellosen wurde durch Rathke’s Arbeiten bereichert. Hier sind zu nennen: „Untersuchungen über die Bildung und Entwicklung des Flußkrebses“ (Leipzig 1829. 97 S. fol. 3 Taf.) „Untersuchungen über die Bildung und Entwickelung der Wasser-Assel“ (Abh. zur Bildungs- und Entwickelungsgeschichte I. Thl. S. 1–20). „Bildungs- und Entwicklungsgeschichte des Oniscus Asellus“ (Abh. II. Thl. S. 69–84). „Zur Entwicklungsgeschichte der Aktinien, des Scorpions, der Crustaceen“ (Zur Morphologie, Leipzig 1837, S. 1–151). Ferner enthalten die „Beiträge zur vergleichenden Anatomie und Physiologie, Reisebemerkungen aus Scandinavien“ Danzig 1842, einige bezügliche Aufsätze. Wieder andere Abhandlungen liefern Schilderungen des Baues einzelner Thiere oder einzelner Organsysteme, sind rein anatomischen oder vergleichend anatomischen Inhalts. „Bemerkungen über den Bau der Cyclopterus Lumpus“ (Meckel’s deutsche Arch. für Physiol. 1822. VII. S. 498–524), „Bemerkungen über den [355] inneren Bau der Pricke“, Danzig 1826. „Bemerkungen über den inneren Bau des Quarders und des kleinen Neunauges“ (Beitr. zur Geschichte der Thierwelt IV, Halle 1827, S. 64–152). „Anat.-physiologische Untersuchungen über den Kiemenapparat und das Zungenbein der Wirbelthiere. Riga u. Dorpat 1832. „Bemerkungen über den Bau des Amphioxus lanceolatus“. Königsberg 1841. – Schließlich ist zu erwähnen, daß viele Arbeiten Rathke’s über den Bau wirbelloser Thiere handeln, daß einige Arbeiten zoologischen und daß andere paläontologischen Inhalts sind: eine Aufzählung aller würde hier zu weit führen. –

Heinrich Rathke. Eine Gedächtnißrede v. G. Zaddach, Königsberg 1860 (Neue Preuß. Prov.-Blätter, 3. Folge, Bd. VI).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mikoskrop