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Artikel „Prochaska, Georg“ von August Hirsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 622–624, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Prochaska,_Georg&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 04:06 Uhr UTC)
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Prochaska: Georg P., Arzt, am 10. April 1749 zu Lispitz in Mähren geboren, widmete sich, nachdem er bereits in seinem 18. Lebensjahre die philosophische Doctorwürde erlangt hatte, in Prag und später in Wien dem Studium der Medicin, war zwei Jahre lang als Assistent in der medicinischen Klinik von de Haën thätig und wurde im J. 1776 zum Doctor der Medicin promovirt; er habilitirte sich an der Wiener med. Facultät als Docent der Anatomie, indem er gleichzeitig den Professor der Augenheilkunde Barth in seinen anatomischen Arbeiten und in seiner sehr ausgebreiteten augenärztlichen Praxis unterstützte. – Nach Veröffentlichung von zwei anatomischen Arbeiten „De carne musculari tractatus“ und „De structura nervorum“, in welchen er die feinern Structurverhältnisse der Muskeln und Nerven, so weit die damaligen sehr mangelhaften optischen Instrumente eine derartige Untersuchung gestatteten, auseinander setzte, wurde er (1776) zum Prof. extraord. der Anatomie ernannt und 1778 auf Barth’s Empfehlung als Professor der Anatomie und Augenheilkunde nach Prag berufen. In dieser Stellung verblieb er 11 Jahre und erwarb sich daselbst durch die Gründung einer anatomischen Sammlung, welche durch die Aufhebung alter Begräbnißstätten in den Besitz zahlreicher pathologischer Knochenpräparate gelangt war, ein großes Verdienst. Anfangs docirte er Anatomie und Physiologie, bei der Reorganisation des medicinischen Studiencurses aber überließ er den Unterricht in der elementaren Anatomie seinem Prosector und beschränkte sich mit seinen Vorlesungen wesentlich auf die Physiologie. In die Zeit seines Aufenthaltes in Prag fällt die Veröffentlichung seiner „Quaestiones physiologicae, quae vires cordis et motum sanguinis per vasa animalia concernunt“, in welchem er den Beweis zu führen versuchte, daß der Druck, der durch die Herzcontraction auf die Blutsäule ausgeübt wird, sich noch über das Capillarsystem hinaus erstreckt und so auch den Rückfluß des Blutes durch das venöse System vermitteln hilft, ferner „Adnotationes academicae continentes: observationes et descriptiones anatomicae“ (III Fasc. 1780–84), von welchen das erste Fascikel Untersuchungen über die Abnutzung und den Verlust der Zähne, das dritte Untersuchungen über die Verrichtungen des Nervensystems enthält, in welchen er, wie er erklärt, von allen Hypothesen abgesehen und den von Newton eingeschlagenen Weg der Forschung befolgt hat. Seiner Auffassung gemäß äußert sich die Thätigkeit des Nervensystems in Art einer electrischen Erregung; in dem „centrum commune“ nehmen die motorischen Nerven ihren Ursprung und finden die sensiblen Nerven ihr Ende; eben hier werden die Eindrücke, welche die Empfindungsnerven erfahren haben, auf die Bewegungsnerven übertragen (reflectirt) und dadurch werden willkürliche und unwillkürliche Bewegungen hervorgerufen; übrigens, sagt P., ist bei diesem reflectorischen Vorgange der Reflexwinkel keineswegs immer dem Incidenzwinkel gleich, auch darf man das Sensorium commune nicht nur im Gehirn suchen, da auch bei geköpften Fröschen Reflexbewegungen zu Stande kommen, daß also auch Nervenplexus und Nervenganglien ein Sensorium commune darstellen, welche reflectirte Bewegungen vermitteln, ohne daß die sensible Reizung zum Bewußtsein kommt. – Ob P. mit den diesen Gegenstand aprioristisch behandelnden Speculationen von Descartes bekannt gewesen ist, erscheint mindestens zweifelhaft, jedenfalls ist er der Erste, der sich mit demselben experimentell beschäftigt hat und daher als würdiger Vorläufer von Marshall Hall angesehen werden muß. Daß er aus dieser physiologischen Thatsache gewisse teleologische Schlüsse zog, indem er in die reflectirten Bewegungen zweckvolle, auf die Abwehr oder die Entfernung nachtheiliger Einflüsse [623] hingerichtete Vorgänge erblickte, erklärt sich aus dem Charakter des Vitalismus, den Reil damals der Physiologie aufgedrückt hatte. – Im J. 1791 wurde P., nach Barth’s Rücktritt, als Professor der Anatomie, Physiologie und Augenheilkunde nach Wien berufen, überließ jedoch, da er neben seinem akademischen Amte eine sehr ausgebreitete augenärztliche Praxis ausübte, im J. 1805 den anatomischen Unterricht dem (überaus unfähigen) Prosector, späteren Prof. ord. Mich. Mayer, während er selbst ausschließlich sich der Physiologie zuwandte. Im J. 1819, d. h. in dem für Pensionirung der Professoren gesetzlichen Alter von 70 Jahren legte er sein Amt nieder und ist ein Jahr später (am 17. Juli 1820) gestorben. – Während seines Aufenthaltes in Wien hat P. eine weitere Reihe zum Theil werthvoller Schriften anatomischen und physiologischen Inhaltes veröffentlicht. Bald nach seiner Ankunft daselbst erschien der erste Band der „Institutiones physiologiae humanae“ (der zweite Band erschien 1805, das ganze Werk in deutscher Uebersetzung unter dem Titel „Lehrsätze aus der Physiologie des Menschen“ 2 Bde. 1797, in 2. und 3. Auf1. 1802 und 1810), die er vollständig umgearbeitet 1820 unter dem Titel „Physiologie oder Lehre von der Natur des Menschen“ herausgegeben hat. – In der ersten Bearbeitung dieses, von dem Standpunkte der neuesten Erfahrungen seiner Zeit verfaßten Lehrbuches lehnt er sich sehr entschieden an die dem Vitalismus nahestehenden animistischen Theorien Stahl’s an, der, wie er sagt, „die Verrichtungen des Nervensystems aus dem wahren Gesichtspunkte betrachtet zu haben scheint“, und „mit Recht kein Bedenken trug, die Seele allein in dem menschlichen Körper für die Ursache aller Verrichtungen, sie mögen mit oder ohne Bewußtsein geschehen, anzunehmen“. Die aus der „anima“ resultirende Kraft nennt P., im Einverständnisse mit Reil, die „Lebenskraft“, während er in der zweiten Bearbeitung des Werkes ausdrücklich erklärt, daß die physikalischen (mechanischen, hydraulischen u. a.) und chemischen Kräfte noch kein Leben ausmachen, und daß das Lebensprincip, d. h. die Lebenskraft auf galvanische Polaritäten zurückzuführen sei. In der Ausführung dieses Gedankens gibt sich P. einer maßlosen naturphilosophischen Speculation hin, und in demselben Sinne ist denn auch sein „Versuch einer empirischen Darstellung des polarischen Naturgesetzes und dessen Anwendung auf die Thätigkeiten der organischen und unorganischen Körper, mit einem Rückblicke auf den thierischen Organismus“ (1815) bearbeitet. – In einem andern Werke „Bemerkungen über den Organismus des menschlichen Körpers und über die denselben betreffenden arteriösen und venösen Haargefäße nebst der darauf gegründeten Theorie der Ernährung“ (1810), theilt P. interessante Experimente mit, welche er über Diffusionserscheinungen an Geweben (Arterienhäuten) angestellt hat und äußert Ansichten über die Knochenbildung, welche in der Uebereinstimmung mit den jetzt allgemein acceptirten Ansichten über diesen Gegenstand in hohem Grade überraschen müssen. Uebrigens sei darauf hingewiesen, daß die von P. ausgeführten Injectionen des Capillarsystems zu den ausgezeichnetesten Leistungen auf diesem Gebiete gehören, sodaß dieselben den berühmten Lieberkühn’schen Injectionspräparaten vollkommen an die Seite gestellt werden können. Daß es Capillargefäße gibt, die nur Blutserum führen, wird von P. in Abrede gestellt. – Zu seinen besten Arbeiten gehört die „Disquisitio anatomico-physiologica organismi corporis humani ejusque processus vitalis“ (1812), in welcher er u. a. auf die Aehnlichkeit in den anatomisch-physiologischen Verhältnissen zwischen der portio major und minor des nervus trigeminus einer- und den hinteren und vorderen Wurzeln der Rückenmarksnerven andererseits hinweist und dabei die später von Bell als richtig bestätigte und weiter ausgeführte Lehre vorträgt, daß von den Rückenmarksnerven die einen (vorderen) in centrifugaler, die anderen (hinteren) in centripetaler Weise [624] leiten. In derselben Schrift spricht P. das stolze Wort aus: „Limites non constant, ultra quos progredi ingenio humano non datur“. Außer diesen größeren Schriften hat P. noch mehrere Arbeiten aus dem Gebiete der Physiologie, pathologischen Anatomie und der Augenheilkunde in den Schriften der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, in den Wiener Beiträgen zur praktischen Arzneikunde und in den Abhandlungen der k. k. Joseph. med.-chir. Akademie veröffentlicht. – P. theilt mit anderen bedeutenden Gelehrten das Geschick, daß ihre Leistungen während ihres Lebens wenig Anerkennung gefunden haben und erst nachher in ihrer Bedeutung gewürdigt und geschätzt worden sind; lange nach seinem Tode hat man in ihm den scharfen Denker erkannt und sich von dem überzeugt, was er nicht nur von einem divinatorischen Standpunkte, sondern auch auf dem Boden der exacten Beobachtung stehend, für die Neugestaltung der Wissenschaft geleistet hat.