ADB:Lynar, Rochus Friedrich Graf zu

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Artikel „Lynar, Rochus Friedrich Graf zu“ von August Mutzenbecher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 734–736, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lynar,_Rochus_Friedrich_Graf_zu&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 11:46 Uhr UTC)
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Lynar: Rochus Friedrich Graf zu L. wurde am 16. Decbr. 1708 als der zweite Sohn des Grafen Friedrich Casimir zu L. auf dem Schlosse Lübbenau in der kursächsischen Niederlausitz geboren. Nachdem er seinen Vater schon 1716 verloren hatte, kam er, 16 Jahre alt, in das Haus des der Lynar’schen Familie eng befreundeten Grafen Heinrich XXII. von Reuß-Plauen, eines frommen und einfachen Herrn, welcher der Regierung seines Ländchens mit gewissenhafter Sorgfalt sich widmete. Mit einem Sohne desselben, dem Grafen Heinrich VI., bezog L. 1726 die Universität Jena, die 1729 mit Halle vertauscht wurde, und machte dann, nach einem Besuche in Dänemark und Schweden, mit seinem Studiengenossen eine längere Reise durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich und England, nach deren Beendigung er in dänische Dienste trat. Von König Christian VI. zum Kammerherrn ernannt (1733), arbeitete er zugleich in der deutschen Kanzlei zu Kopenhagen und fand so Gelegenheit, in den verschiedenen Zweigen des Dienstes sich auszubilden. Nachdem er eine Sendung nach Ostfriesland zur Regelung der Angelegenheiten der verwittweten Fürstin Sophie Caroline, Schwester des Königs, günstig erledigt hatte (1734), wurde er 1735 zu dem wichtigen Posten eines Gesandten am schwedischen Hofe berufen. Bevor er sich zur Uebernahme desselben nach Stockholm begab, vermählte er sich am 27. Mai 1735 zu Köstritz mit der Gräfin Sophie Marie Helene von Reuß-Plauen, ältesten Tochter des Grafen Heinrich XXIV. – Bis zum Jahre 1740 führte L. die Vertretung Dänemarks in Schweden, wo im Reichstage wie am Hofe die beiden Adelsparteien, die Rußland zuneigende unter Führung des Grafen Arwed Horn und die französische unter dem Grafen Karl Gyllenborg, sich heftig befehdeten; die von der dänischen Regierung vollzogene Erneuerung eines Subsidienvertrages mit England zu einer Zeit, als L. mit dem Grafen Gyllenborg wegen Abschluß eines russenfeindlichen Bündnisses in vertrauliche Verhandlungen getreten war, machte Lynar’s Stellung in Stockholm unhaltbar und seine Abberufung nothwendig. Nach vorübergehender Beschäftigung bei dem schleswigschen Obergerichte zu Gottorp wurde er zum Amtmann in Steinburg (1742) und [735] bald darauf zum Kanzler und Präsidenten der Regierung des Herzogthums Holstein ernannt. Nachdem er 1746 zum wirklichen Geheimen Rath befördert war, übertrug ihm der König eine Mission an den Hof zu St. Petersburg (1749), welche den Zweck hatte, wegen der langjährigen Streitigkeiten mit dem Herzoge von Holstein-Gottorp durch Verhandlungen mit dem russischen Hofe zu einer friedlichen Verständigung zu gelangen und den als Nachfolger der Kaiserin Elisabeth anerkannten Herzog Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp, nachmaligen Kaiser Peter III., für einen Verzicht des Gottorp’schen Hauses auf seine Rechte an den Herzogthümern Schleswig und Holstein zu gewinnen. Die Mission scheiterte; die mit Lynar’s Abberufung 1751 abgebrochenen Verhandlungen haben indeß den Weg gebahnt, der später zu dem provisorischen Tractate von Kopenhagen vom 22. April 1767 und dem Definitivvertrag von Sarskoe-Selo vom 1. Juni 1773 geführt hat, durch welchen das Haus Holstein-Gottorp seine Rechte an Schleswig und Holstein zu Gunsten des dänischen Königshauses aufgab und für seinen Antheil an Holstein die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst in Tausch nahm. – Während der Petersburger Verhandlungen war in Kopenhagen der Staatsminister Graf von Schulin gestorben (13. April 1750) und L. vom König zum Nachfolger desselben bestimmt (Juni 1750). Allein seine Gegner am Hofe wußten diese Ernennung rückgängig zu machen; der König übertrug das für L. bestimmte Departement der auswärtigen Angelegenheiten dem Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorf, und L. wurde bei seiner Rückkehr aus St. Petersburg (März 1752), obgleich vom König mit großer Auszeichnung empfangen, zum Statthalter der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst ernannt. In Oldenburg, wo seine Stellung eine vorwiegend repräsentative war, fand er Muße, litterarischen Studien, an denen sein Interesse nie erkaltet war, sich wieder zuzuwenden; Uebersetzungen von Seneca’s Schriften De clementia und De brevitate vitae, die in Hamburg 1753 und 1754 erschienen, der Versuch einer Paraphrase des Briefes an die Römer (1754) und des Briefes an die Hebräer (1756), sowie eine erklärende Umschreibung sämmtlicher apostolischer Briefe (1765) sind als die Früchte seiner Studien zu verzeichnen; auch einzelne politische Aufsätze und Gedichte entstanden, sowie eine Satire „Der Sonderling“ (1761). Inmitten dieser Beschäftigungen erhielt er 1757 unerwartet den Auftrag nach der Schlacht von Hastenbeck die von der dänischen Regierung übernommene Vermittelung eines Waffenstillstandes zwischen dem Herzog von Cumberland und dem Marschall Richelieu auszuführen, und es gelang ihm, nach 5tägiger Verhandlung am 10. Octbr. 1757 die berüchtigte Convention von Kloster Zeven zu Stande zu bringen, welche mitten im Kriege eine schlagfertige Armee zur Unthätigkeit verurtheilte und Friedrich dem Großen in verhängnißvollem Augenblick seinen einzigen Alliirten abtrünnig machte. Im J. 1763 durch Verleihung des Elephantenordens ausgezeichnet, nahm L. im J. 1766 seinen Abschied aus dem dänischen Staatsdienst und zog sich auf die Herrschaft Lübbenau zurück, wo er am 13. Novbr. 1783 verstarb. Auch in seinen letzten Lebensjahren blieben neben den politischen Angelegenheiten namentlich kirchlich-theologische Sachen Gegenstände seines Interesses; 1770 und 1771 erschien von ihm eine erklärende Umschreibung der 4 Evangelien und 1772 ein Versuch in geistlichen Liedern. – „Subire ac perferre“ war die Devise, welche Graf L. als Ritter des Danebrog sich wählte. Ueber der Durchführung dieses Wahlspruchs in seinem Leben hat ein eigenthümliches Verhängniß gewaltet. Die Gesandtschaft in Schweden und die Petersburger Mission schlugen fehl, die Convention von Kloster Zeven ging zu Grunde, und in den oldenburgischen Landen legt kein wichtiges Gesetz, keine große Verbesserung, keine gemeinnützige Anstalt der Gegenwart ein Zeugniß von der 14jährigen Thätigkeit des Grafen [736] L. ab. Gleichwol war derselbe ein Mann von hervorragender Bedeutung, die auch nicht dadurch gemindert wird, daß nicht jede Art öffentlicher Thätigkeit ihn in gleichem Maße ansprach. Die große Politik war das Feld, für welches Beruf und Neigung ihn bestimmt hatten; die nüchterne Schärfe und die Klarheit, mit welcher er die verwickeltsten Verhältnisse überschaute und beherrschte, die Gediegenheit und der Umfang seiner Bildung, die Gewandtheit in der Form und im Ausdruck, sein Reichthum an Welterfahrung und Menschenkenntniß stellen ihn in die erste Reihe der Staatsmänner seiner Zeit. Unter diesen aber tritt er als eine eigenthümliche Erscheinung insofern hervor, als er in seinen Gesinnungen die in der strengen Schule des Pietismus ihm anerzogenen Grundsätze nie verleugnete.

Jansen, Rochus Friedrich Graf zu Lynar (Oldenburg 1873). – Des weiland Grafen R. F. zu Lynar hinterlassene Staatsschriften und andere Aufsätze, 2 Bde. (Hamburg 1793).