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Artikel „Niem, Dietrich von“ von Theodor Lindner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 671–673, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Dietrich_von_Nieheim&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 15:59 Uhr UTC)
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Niem: Dietrich oder Theoderich v. N. (Nieheim), bedeutender Geschichtsschreiber, † am 22. März 1418, wurde zwischen 1340 und 1350 in dem Paderborn’schen Städtchen Nieheim geboren. Wo er seine wissenschaftliche Ausbildung erhielt, läßt sich nicht sicher nachweisen; unter Urban V. oder wahrscheinlicher erst unter Gregor XI. wurde er Notar der päpstlichen Rota in Avignon und übersiedelte im J. 1376 mit der Curie nach Rom. Urban VI., der ihn in seine nähere Umgebung zog, ernannte ihn zum Abbreviator in der Kanzlei. N. verfaßte damals eine kleine Schrift: „De stilo“, welche das Verfahren und den Rechtsgang der Rota behandelte und stellte einen „liber cancellariae“ her, ein Handbuch der päpstlichen Kanzlei, in welchem die giltigen Kanzleiordnungen gesammelt und redigiert sind. Als Urban im Herbst 1383 nach Neapel zog, um den König Karl von Durazzo zur Erfüllung seiner Versprechen zu bewegen, erlebte N. in seinem Gefolge manche Abenteuer, bis es ihm Anfang 1385 gelang, sich von der Curie zu trennen. Indessen finden wir ihn 1387 wieder in seiner früheren Stellung, bis er 1395 von Bonifacius IX. zum Bischof von Verden befördert wurde. Er trat zwar seine Würde an, vermochte sich aber gegen mancherlei Widerstand nicht zu behaupten und kehrte nach Rom zurück. Seine weiteren Bemühungen waren vergeblich; nachdem der Papst selbst ihn fallen gelassen hatte, mußte er auf seinen Titel verzichten und in seine Kanzleithätigkeit zurücktreten, in welcher er 1403 wieder erscheint. In die Zwischenzeit fällt die Gründung eines deutschen Nationalhospizes in Rom, welchem N. eifrige Fürsorge und später reichliche Schenkungen zugewendet hat; es ist dies das heutige Institut dell’ Anima. Auch zur Feder hat er damals gegriffen und eine Chronik zu schreiben begonnen, von welcher uns jedoch nur Bruchstücke erhalten sind. Die nächsten Jahre vergingen, ohne daß er einen über seine amtliche Thätigkeit hinausgehenden Einfluß ausübte.

Schon seit langer Zeit hatte die traurige Lage der Kirche, welche theils durch das Schisma, theils durch die Maßlosigkeit Urban’s VI. und die Geldgier Bonifacius IX. veranlaßt wurde, N. mit schmerzlichem Zorne erfüllt. Erst die Wahl Gregor’s XII. erweckte Hoffnungen, welche aber nur zu bald vereitelt wurden. N. war in der Begleitung des Papstes, als dieser im Mai 1408 zu Lucca durch sein Verhalten den Bruch mit dem größten Theile der Cardinäle herbeiführte, welche ihn verließen, um sich in Pisa mit den avignonesischen Collegen zu vereinigen und mit ihnen weitere Schritte zu beschließen. N., welcher sich vergeblich bemühte, Gregor zur Nachgiebigkeit zu bewegen, blieb, als dieser Lucca verließ, dort zurück, beschäftigt, ein großes Werk zu vollenden. Er stellte die Actenstücke verschiedener Art zusammen, welche ihm über die Unionsverhandlungen bekannt geworden waren, die päpstlichen Erlasse, Gutachten, Flug- und Privatschriften, dann die Briefe, welche er selbst geschrieben und erhalten hatte, und fügte mancherlei hinzu, was ihm sonst nützlich schien. Dem Ganzen gab der den Titel: „Nemus unionis“. Obgleich er im Herzen mit dem Gange der Dinge nicht einverstanden war, schloß er sich doch den Pisanern an. Ein während der ersten Tage des September in Pisa entstandenes Pamphlet gegen Gregor XII. und seine Anhänger ist wohl auch aus seiner Feder geflossen.

[672] In der Meinung, daß ein Ende des Schisma, eine Reform der Kirche nur von Deutschland aus bewirkt werden könne, ging er bald darauf dorthin, wenn er auch auf die Persönlichkeit Ruprechts von vornherein und, wie sich bald zeigte, mit Recht geringe Hoffnungen setzte. Dem Kölner Erzbischofe Friedrich, mit dem er schon seit längerer Zeit in Verbindung stand, hat er damals das Nemus unionis überreicht. Obgleich das Pisaner Concil durch die Erhebung des Papstes Alexanders V. die Verwirrung nur noch steigerte, hielt sich N. doch zu diesem und trat wieder in seine ehemalige Curialstellung ein. An demselben Tage, an welchem dessen Nachfolger Johann XXIII. in Bologna die Krönung erhielt, am 24. Mai 1410, schloß er ein neues literarisches Werk ab, seine drei Bücher „De schismate“, deren Niederschrift er Ende 1409 begonnen hatte.

Sie sind die bedeutendste Schrift Niem’s, auf welche sich sein Ruhm als Schriftsteller hauptsächlich begründet. Man kann sie als Memoiren bezeichnen und sie zeigen die Licht- und Schattenseiten dieser Gattung der Geschichtsschreibung. Mit feuriger Lebendigkeit schildert N. die Ereignisse seit dem Jahre 1376, wie er sie selbst erlebt und in seinem Gedächtnisse bewahrt hatte, in schnellem Flusse der Darstellung, ohne die Einzelheiten noch einmal ängstlich zu prüfen. Er ist ganz Parteimann und schreibt als solcher, aber er enthüllt uns seine Zeit in ihrem vollen und warmen Pulsschlag. Dem neu antretenden Papste widmete er alsbald wohlgemeinte Rathschläge: „De bono regimine Romani pontificis“. Bald zeigte sich, wie wenig sie fruchteten und allgemein kam die Concilsidee zu neuer Kraft. Auch N. war von ihr erfüllt und wir besitzen schon aus dem Sommer und Anfang Herbst 1410 Aufzeichnungen von ihm, in denen er seine Ansichten entwickelt hat. Doch bieten sie in der Gestalt, in welcher sie vorliegen, der Kritik manche schwierige Frage. Es sind die Abhandlungen: „De modis uniendi ac reformandi ecclesiam“ und: „De difficultate reformationis in concilio universali“. Ihr Grundgedanke ist, daß weder der Papst noch die Cardinäle das Concil berufen dürfen und dieses über dem Papste stehen müsse. Auch gegen die Hussiten, contra dampnatos Wiclivitas Pragae, hat er damals eine kleine Abhandlung verfasst.

Endlich mußte sich Johann XXIII. entschließen, das Concil nach Konstanz zu berufen. So trat Deutschland an die Spitze der kirchlichen Bewegung und Niem’s lange gehegtes Ideal war damit erfüllt. Sofort suchte er der Welt in der flüchtig hingeworfenen Flugschrift: „Jura ac privilegia imperii“ die Macht und Herrlichkeit der kaiserlichen Würde aus der Geschichte nachzuweisen. Bedeutender und zu dem besten, was er verfaßt hat, zählend, sind die bald darauf entstandenen: „Avisamenta pulcherrima de unione et reformatione membrorum et capitis fienda“, ein Programm über die Gesichtspunkte, von denen die Kirchenreform auszugehen habe, der Niederschlag der Erfahrungen eines langen, vielbewegten Lebens, die Schäden des päpstlichen Systems klar enthüllend. Als das Concil eröffnet war, begann N. sofort ein Tagebuch zu führen, welches uns leider nicht erhalten ist. Es liegt aber theilweise zu Grunde der „Vita Johannis XXIII. papae“, welche N. nach dessen Absetzung niederschrieb. An diese schließen sich wieder inhaltsreiche tagebücherartige Aufzeichnungen, welche bis in den Juni 1416 fortgeführt sind.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß N. bei den Verhandlungen des Concils eine nicht unwichtige Rolle gepielt hat. Freilich konnte das nur unter der Hand geschehen, aber er wird als Rathgeber an dem Vorgehen der deutschen Nation einen bedeutenden Antheil gehabt haben. Wir wissen auch, daß er im August 1415 zu den Geschäftsführern derselben gehörte. Daß die Reform der Kirche das dringendste Werk sei und vor der Neuwahl eines Papstes erledigt werden müsse, war ganz seine Ueberzeugung. – Am 22. März 1418 ist er in Mastricht [673] gestorben und in der dortigen Servatiuskirche bestattet worden. Vermuthlich hat er diese Pfründe erst in den letzten Jahren erhalten und sich dorthin zurückgezogen, um als hochbetagter Greis sein Leben in Ruhe zu beschließen.

Es ist nicht nur die große Zahl und der Umfang seiner Schriften, welche Niem’s Bedeutung als Geschichtsschreiber begründen. Sie sind eine der wichtigsten und interessantesten Quellen für die Geschichte jener Zeit wegen der lebhaften und anschaulichen Schilderung der Ereignisse und Persönlichkeiten, wegen der genauen Kunde, welche er von den Dingen und namentlich von denen am römischen Hofe besaß, und wegen des warmen und verständnisvollen Antheils, welchen er an den großen Zeitfragen nahm. Stil und Auffassung sind freilich noch rein mittelalterlich und mit dem Humanismus, dessen erste Vertreter Petrarca und Boccaccio ihm bekannt waren, hat er nichts gemeinsam. Die historischen und juristischen Kenntnisse sind recht umfassend, aber erstere entbehren der Klarheit und kritischen Sichtung. N. besaß einen weiten Blick; auch die Naturwissenschaften zogen ihn an und er beobachtet mit Verstand und Urtheil die natürlichen und geographischen Verhältnisse der Länder und Völker, welche er auf seinen weitausgedehnten Reisen kennen lernte. Aber am hellsten leuchtet hervor der Eifer für die Kirche und die Liebe zum deutschen Volke. Die große Vergangenheit desselben ist ihm die Quelle, an der er sich immer wieder in trüben Tagen erfrischt, und auf welche sich seine Hoffnungen für die Zukunft aufbauen. Vor allem liebt er seinen eigenen Stamm, die „hochragenden, kühnen und feurigen Sachsen“. So bildet er in jener denkwürdigen Epoche, in welcher die mittelalterliche Welt überlebt und entartet in sich selbst zerfiel, eine eigenartige und fesselnde Erscheinung.

Die ältere Litteratur über ihn bei Sauerland, Das Leben des D. v. N. nebst einer Uebersicht über dessen Schriften. Göttingen 1875, und bei Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen II. – Die seitdem erschienenen Abhandlungen hat Sauerland im „Historischen Jahrbuch“ 1886, S. 59 ff. zusammengestellt. Eine allgemeine Darstellung von Dietrich’s Leben und Bedeutung gab Lindner in der Zeitschrift für Allgemeine Geschichte etc. 1885. Die von ihm benutzten Quellen behandelt Alf. Fritz in den Münsterischen Beiträgen etc. Herausgeg. von Lindner, X. Heft. – Eine neue Ausgabe seiner Werke wird von Sauerland und Erler vorbereitet.