Textdaten
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Autor: Erich Mühsam
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Titel: 1919
Untertitel:
aus: Brennende Erde. Verse eines Kämpfers, S. 75–81
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Kurt Wolff Verlag
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld
Kurzbeschreibung:
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[75] 1919
Dem Andenken Gustav Landauers
Mai 1919
Die das Volk bisher geleitet,
folgend dem gewohnten Lichte,
waren nicht drauf vorbereitet:
es begibt sich Weltgeschichte.
5
Wild schlägt der Empörung Welle
an des Staates morsche Fugen.
Krachend bersten die Gestelle,
die die alte Ordnung trugen.
     Ja, ja, ihr Herrn, so geht's,
10
     hört man die Demokraten.
     Wir sagten es ja stets:
     es kann nicht wohl geraten,
     wenn man nach eignem Willen tut
     und fragt nicht das Parteistatut.
15
Fürsten gleiten von den Thronen,
Völker lösen ihre Bande,
und es reiben sich Millionen
aus den Augen Schmerz und Schande.
Sie erwachen und begreifen
20
Gegenwart und Zukunft — beides,
und sie sehn Befreiung reifen
aus den Wurzeln ihres Leides.
     Halt, liebe Leute, halt!
     Vertraut bewährten Führern.
25
     Sonst kommt ihr in Gewalt
     von skrupellosen Schürern.
     Folgt uns, so hilft euch gern der Staat,
     wie er euch stets geholfen hat.
[76] Finstre Mächte, die gewaltsam
30
Völker unter Fäuste preßten,
flüchten scheu, — und unaufhaltsam
strömt die Menge zu den Besten.
Und sie hört die neuen Lehren,
formt des Glückes Traumgebäude;
35
Leid scheint sich in Lust zu kehren
und die Arbeitslast in Freude.
     Gewiß — nun ja — auch wir
     sind Revolutionäre —
     und schwingen das Panier.
40
     Doch Umsturz ist Chimäre.
     Besänftigt euern Seelenschwung
     und stört nicht die Entwickelung.
Stimmen, die erst leise riefen,
tönen jubelnd wie Posaunen,
45
uud[1] das Volk aus seinen Tiefen
reckt die Arme hoch voll Staunen.
Wie an unsichtbaren Drähten
zieht die Wahrheit in die Geister,
und das Volk in seinen Räten
50
fühlt sich seines Schicksals Meister.
     Arbeiter-, Bauernrat?
     Wir ziehn ihn schon, den Bankert.
     Er sei im Bürgerstaat
     genehmigt und verankert!
55
     Jetzt zeigt sich's doch wohl jedem Kind,
     was wir für Sozialisten sind.
[77] Das Errungene zu wahren,
neue Freiheit zu gewinnen,
sammeln sich des Volkes Scharen
60
zu gewaltigem Beginnen.
Die ihr Werk sich selber bauen,
fürchten keine Widerstände,
denn es stützt sich ihr Vertrauen
auf die Kraft der eignen Hände.
65
     Nein, mit Verlaub: dies jetzt
     ist nicht mehr zu gestatten.
     Mit solchem Vorgehn setzt
     ihr uns ja in den Schatten.
     Und wir sind da, euch zu erziehn
70
     zu Ruhe, Ordnung, Disziplin.
Stein auf Stein nach kühnen Plänen
wird das stolze Haus errichtet,
plaudernd unter Freudentränen
künftiges Glück hineingedichtet.
75
Aber denen, die geschäftig
ränkevoll den Bau umlauern,
drohen ein paar Fäuste kräftig,
sie verscheuchend von den Mauern.
     Wir üben nur Kritik.
80
     Ihr werdet's noch erfahren:
     Ihr Recht der Republik,
     doch auch sein Recht dem Zaren.
     Drum halten wir's zu jeder Zeit
     gesetzlich mit der Obrigkeit.
85
[78] Trotzig stehen auf den Stufen
vor dem Eingang die Genossen:
Rührt am Werk nicht, das wir schufen!
Euch ist dieses Tor verschlossen.
Unser Herzblut hält die Quadern,
90
die das Dach des Hauses stützen.
Wagt's! — Das Blut aus unsern Adern
soll der Kinder Wohnhaus schützen!
     Oho! Da hilft man schon.
     Habt ihr für euern Tempel
95
     denn auch die Konzession
     und den Regierungsstempel? —
     Wir sind Regierung, — sind erwählt.
     Man hat die Stimmen ausgezählt.
Eignen Willens Wort zu hören,
100
drängt das Volk zu den Erkornen:
Zu den Waffen! Sie zerstören
uns das Heim der Ungebornen!
Wer's versucht, den soll's gereuen!
Freier Zukunft frei die Bahnen! –
105
Und es eilen die Getreuen
kampffroh zu den roten Fahnen.
     Zu Hilfe, Bürger, schnell!
     Ein Aufruhr tobt, ein frecher.
     Wer selber kein Rebell,
110
     hilft gegen die Verbrecher.
     Mit Dolch und Flinte kommt zuhauf
     und fahrt auch die Haubitzen auf!
[79] In dem Glauben an das Gute,
in dem Wissen um das Rechte
115
steht das Volk, mit seinem Blute
Trotz zu bieten im Gefechte.
Der Berater Stimmen schallen;
aus den Augen blitzen Strahle.
Aufrecht! — Siegen oder fallen!
120
Hoch die Internationale!
     Seht die Banditenschar
     mit ihren großen Mündern,
     jedweder Ehre bar,
     begierig nur zu plündern!
125
     Schuft! Räuber! Mörder! Trunkenbold!
     Ein jeder käuflich nur für Gold!
Auf von ihren Schmerzensbetten
zu den Brüdern treibt's die Bleichen,
hinkend aus den Lazaretten,
130
die geblutet für die Reichen.
Letzte Kraft will sich ermannen.
Frauen selbst stehn auf zum Kampfe,
daß die Machtgier der Tyrannen
nicht der Kinder Glück zerstampfe.
135
     Herbei, ihr Leut zumal,
     ihr Heiden, Juden, Christen!
     Es geht fürs Kapital, —
     und wir sind Sozialisten!
     Pennäler! Bauer! Offizier!
140
     Ran! Keiner zahlt so gut wie wir!
[80] Rauch wölkt auf. Geschosse fliegen.
Gruppen gehen vor und weichen.
Vor dem Bau der Freiheit liegen
Kämpfer, — Leichen über Leichen.
145
Die sich nicht ergeben wollen,
drängen sterbend sich zusammen.
Donner der Geschütze rollen, —
und der Tempel steht in Flammen.
     Heil, weiße Garde, heil!
150
     Da liegt die ekle Horde.
     Stoßt sie vors Hinterteil
     für ihre feigen Morde!
     Und zuckt noch wo ein solcher Wicht, —
     packt ihn — und vor das Standgericht!
155
Jubel übertönt das Trauern.
Fahnen wehn und Salven krachen.
An der Kerkerhöfe Mauern
staut sich Blut in breiten Lachen.
Zwischen Zellenwänden siechen
160
die von Haß und Blei Verschonten ...
Doch aus ihren Winkeln kriechen
die schon längst vom Volk Entthronten.
     Willkommen, hohe Herrn!
     Soziale Demokraten
165
     stehn wir zu Diensten gern
     für Sie mit Wort und Taten. —
     Doch machen Sie sich nicht so breit,
     nachdem wir grade Sie befreit.
[81] Stück für Stück bricht vom Gefüge,
170
das des Volkes Tat geschaffen.
Knebelung, Gewalt und Lüge
sind wie je des Staates Waffen.
Und dem armen Volke fehlen
die der Rede Gabe hatten. —
175
Doch der Toten bleiche Seelen
halten Rat im Reich der Schatten.
     Weh! Teuflischer Verrat!
     Die wir erlöst aus Banden,
     die schlagen jetzt den Staat
180
     und schlagen uns zu Schanden!
     Hilf du uns, Volk, hilft uns nicht Gott,
     vom Untergang und vom Bankrott.
     Eines Tages in den Quellen
     scheinbar ausgedorrter Bäche
185
     brodeln neue Lebenswellen,
     flutend an die Oberfläche.
     Aller Völker Hände greifen
     zueinander wie zum Beten, —
     und der Morgensonne Streifen
190
     übergolden den Planeten.

Anmerkungen:

  1. Fehler im Original