Textdaten
Autor: Max Adler
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Titel: 1848
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Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1905
Verlag: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung
Drucker: Johann R. Bernay
Erscheinungsort: Wien
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
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1848
Von
Dr. Max Adler.


Wien 1905.
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung
------- Ignaz Brand[WS 1] -------
Wien, IV. Gumpendorferstraße Nr. 18.

[-]
— Druck von Johann R. Bernay. —
[5]
I.

In rasendem Fluge führt uns alle die Zeit dahin. Ihre sich unaufhaltsam drängenden Stunden und Tage nehmen mit hunderten von Fragen und Erscheinungen auch den geringsten Teil unseres Lebens in Anspruch. In der jagenden Flucht ihrer Wechselfälle verdrängt ein Eindruck den anderen, und was uns erst jüngst noch so lebhaft und tief bewegt hat, — es ist im Handumdrehen ein Schatten geworden, nach dem wir oft in der Erinnerung mühsam haschen. Bloße Empfindungen sind es dann, der Freude vielleicht, viel öfter noch, leider, des Schmerzes und der Trauer, die in Nachwirkung früherer Ereignisse die Vergangenheit selbst eine kleine Weile noch gegenwärtig halten, ehe sie uns ganz ins Wesenlose zerstiebt. Denn auch die Freude verrauscht, es verliert sich der Schmerz mit den verharschenden Wunden, und alles, was da Stand halten will, reißt der flutende Strom der Zeit mit seinem rastlosen Wellengetriebe dahin in eine stets neue und stets sich verändernde Gegenwart.

Doch zuweilen geht es wie mit einem plötzlichen Schlage durch die Gemüter der Menschen. Eine übergewaltige, unwiderstehliche Macht durchbricht für wenige Momente den Bann dieser steten Gegenwart, in der nur zu oft das menschliche Leben, zu keiner Ruhe und Selbstbesinnung gelangend, sich selbst verliert und, willenlos mit fortgerissen von der bestimmungslosen, unpersönlichen Zeit, zuletzt um seine eigene Zeit betrogen wird. Wenn große Epochen sich vollenden, wie am Ende eines Jahrhunderts, oder wenn Ereignisse sich jähren, die tief in die Geschichte der Staaten und Völker, ja der Menschheit eingegriffen haben, dann werden die Menschen durch die unentrinnbare Macht einer allgemeinen Ideenassoziation für Augenblicke gleichsam außer die Zeit gestellt. Ihre magische Einwirkung drängt die Gedanken und [6] selbst als blutiger, wild durch die Straßen rasender Umsturz, die unseren höchsten Gefallen erregt und die wir lobpreisend verherrlichen? Einer solch lächerlichen Insinuation entgegenzutreten, verlohnte sich wahrhaftig nicht, gälte es nicht, zu zeigen, daß auch die Revolution an und für sich, nur richtig in ihrem Wesen erfaßt, einen hohen und unbestreitbaren Wert hat. Dies werden uns spätere Bilder aus der Vergangenheit zeigen.

Aber auch abgesehen davon ist diese große Volksbewegung nach vielen Richtungen hin für uns Sozialdemokraten ein denkwürdiges und entscheidendes Ereignis. Von ihr datiert das moderne Europa, das Europa der entwickelten Kapitalsherrschaft mit allen seinen intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften, aber auch das Europa der entwickelten Klassengegensätze mit all seiner Verelendung und Unterdrückung. Von ihr datiert das Reich der bourgeoisen Herrlichkeit und Zivilisation mit seiner ganzen Lüge und geschminkten Heuchelei, mehr und mehr sich bewußt seiner inneren Hohlheit und Ideallosigkeit und in diesem Bewußtsein immer haltloser in sich selbst zerfallend; und von ihr geht auch aus das Weltreich des Proletariats, diese noch nicht dagewesene Vereinigung der Völker, mit all der Tatkraft und Begeisterung, Hoffnungsfreudigkeit und Siegesgewißheit, wie sie nur aus einem großen Ideal geboren werden kann.

Wir sagten, von dieser Zeit des Jahres 1848 beginne erst das Reich der Bourgeoisie auf dem kontinentalen Europa. Es ist aber notwendig, gerade an diesem Gedenktage, sich eines Umstandes aus der Genesis dieser Klassenherrschaft bewußt zu werden und ihn nie wieder aus den Augen zu verlieren, der ihr von vornherein den unverlierbaren Stempel des Rückschrittes und der Volksfeindlichkeit aufprägen mußte. Freilich war es die Revolution, welche, indem teils ihr direkter Einfluß, teils ihre mächtigen und lange noch fühlbaren Nachwirkungen der alten, aus längst überlebten Wirtschaftsformen überkommenen Fesseln der Produktion und des Handels sprengten, der bürgerlichen Klasse für ihre Entwicklung freien Spielraum verschaffte. Aber was ihr Wachstum eigentlich begünstigte, was ihr Reich in Wahrheit festigte, das war nicht die Revolution, das war — die Reaktion, die vom Bürgertum als Rettung vor dem drohenden sozialen „Umsturz“ begrüßte Reaktion. Sie war die wahre Schutz- und Schirmherrin des Bürgertums geworden, seit das Volk, in dessen Namen im Februar und März des Jahres 1848 politische Rechte und Freiheiten gefordert worden waren, diese Forderung ernst genommen hatte und nun nicht mehr ablassen [7] wollte von dem „wahnwitzigen“ Verlangen, auch mitgenießen zu wollen, wofür es gekämpft und geblutet hatte. So mußte die Reaktion die Revolution des Bürgertums vollenden, mußte sie die entfesselten Geister des Proletariats zurückbannen in die ihm einzig angemessene Rolle des stummen und gefügigen Werkzeuges. Blut mußte in Strömen vergossen, beschworene und feierlich verliehene Rechte mußten verletzt werden, um die einzige Freiheit zu sichern, auf die es die Bourgeoisie im Grunde abgesehen hatte, die Freiheit des Profits.

Und so geschah’s denn auch, wo nicht mit direkter werktätiger Hilfe des Bürgertums, so doch mit feiger, innerlich den Erfolg erflehender Assistenz desselben. Und erst nachdem durch Tod und Kerker das kaum erwachte Bewußtsein und Freiheitsstreben der großen Masse des Volkes erstickt zu sein schien, konnte die Bourgeoisie sich ihres kümmerlichen Sieges erfreuen. Auf dem vom Blute der Freiheitsopfer noch rauchenden Boden, auf so vielen zerstörten Existenzen, auf den zertretenen Hoffnungen der Völker, auf dem feigen Verrat höchster Kulturinteressen, erstand nun mit der wiedergekehrten „Ruhe“ und der allein bewahrten Freiheit eines sich immer mehr entfaltenden Handels und Verkehres eine Aera der wirtschaftlichen Prosperität, der es bei der sich nun auch rasch ins Große entwickelnden Industrie sehr schnell gelang, das Bürgertum allenthalben mit der reaktionären Politik seiner Regierungen auch formell auszusöhnen; dies umsomehr, als ja infolge der immer größeren Abhängigkeit, in welche die Staaten bei ihren zerrütteten finanziellen Verhältnissen von der stets wachsenden Kapitalskraft des Bürgertums gelangten, ihm bald mühelos und ungeteilt an politischer Macht in den Schoß fiel, was es früher mit den breiten Volksmassen hätte teilen sollen.

Allein der erschütternde Eindruck, der von der welthistorischen Tatsache ausging, daß die Bewegung, die im Frühjahr 1848 im Namen des Volkes inauguriert wurde, gegen das Volk mit brutalster Waffengewalt durchgeführt werden mußte, ohne daß das Bürgertum dies zu hindern suchte, ja in Frankreich sogar in dessen bewußtem und ausgesprochenem Interesse, — dieser erschütternde Eindruck konnte nicht mehr verwischt werden. In den blutigen Straßenkämpfen des Juni und Oktober zerstob unter den unbarmherzig vernichtenden Säbelhieben und Musketensalven die Legende von der Gleichheit und Brüderlichkeit innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung. Vor den Rachestätten der Standgerichte, über den Gräbern der Gemordeten, die doch alle nur eine [8] bessere soziale Ordnung der Gesellschaft erstrebt hatten, die alle doch nur beseelt waren von der wahrhaft patriotischen Idee, ihre Heimat, ihren Staat wohnlich zu machen für alle Menschen, und die dieses Streben büßen mußten mit der Strafe, die nur die Ausgeworfensten des Menschengeschlechtes trifft, mit dem Tode — vor all diesen ernsten, ergreifenden Tatsachen floh der alte, liebe Wahn einer imaginären Interessengemeinschaft der Besitzenden und Besitzlosen, der Glaube, daß in einer von Interessengegensätzen zerklüfteten Gesellschaft der Humanität, der Zivilisation, der Kultur jemals eine Stätte wahrer Pflege und Hingebung bereitet werden könnte.

Und in jenen schicksalsschweren Tagen zog ein neues Bewußtsein in die verödeten Gemüter der unterdrückten Menschheit ein, ein Bewußtsein, das sie zusammenführen und verbinden sollte zum höchsten Streben, ein Bewußtsein, das ihr ein untrüglicher Wegweiser werden sollte aus all dem Greuel und Elend, das ihr bis dahin nur wie eine unfaßbare Verirrung der menschlichen Vernunft erschienen sein mag: es erstand in ihren Köpfen zu immer größerer Klarheit das Bewußtsein des Klassengegensatzes und Klassenkampfes.

Was Marx und Engels kurz zuvor im kommunistischen Manifest den Proletariern aller Länder in unvergänglichen Worten einzuflößen bestrebt waren, die Erkenntnis ihrer eigenen Interessenlage und damit ihrer Stärke zugleich und eine klare Einsicht in das Wesen der sozialen Entwicklung, das hatte nun mit einem allerdings furchtbaren Schlage eine gewaltigere Lehrmeisterin, die Geschichte, dem Proletariat unverwischbar in die Brust geschrieben. Das proletarische Klassenbewußtsein, die Idee des Klassenkampfes, seine Notwendigkeit und seine Bedeutung, das ist seit jener stürmischen Zeit des Jahres 1848 ein unverlierbares Akquisit, in dessen Besitz das Proletariat zur geistigen Herrschaft über alle folgenden Bewegungen gelangt ist und gelangen wird.

Ein anderes ebenso denkwürdiges Moment der Bewegung von 1848 ist das erste ruhmreiche Eintreten des kontinentalen Proletariats in die soziale Bewegung überhaupt. Wir haben bereits gesehen, daß der Ruf nach politischen Reformen überall von der Bourgeoise im Namen des Volkes erhoben wurde. Es war nicht nur die stets bei solchen Minoritätsbewegungen auftretende Eigentümlichkeit, daß die revoltierende Minderheit ihre Interessen mit denen des ganzen entrechteten Volkes identifizierte; es war auch die durch Jahrtausende sich hinziehende und schon im hochgebildeten [9] gebildeten Griechentum auftretende Überhebung des Besitzes über die Besitzlosen, über die manuelle Arbeit, die das Bürgertum bei seinem Ruf nach politischer Freiheit für das Volk gar nicht daran denken ließ, daß das Volk auch noch andere Kreise umfaßt als die seinigen, und daß es diesen etwa einfallen könnte, seine Parole ernst zu nehmen. Das Volk — das war die Bourgeoisie. Die Masse des Proletariats, dieser weitaus größte Teil des Volkes, das waren nichts weiter als — Arbeiter, nicht viel mehr als den Griechen die Sklaven, die nicht mitzählten in der Bürgerschaft.

Freilich, als es zum Kampfe kam mit den alten Gewalten, da wurde es anders mit dieser stolzen, verächtlichen Haltung des Bürgertums. „Die Arbeiter werden kommen!“ so hieß es in Paris, in Wien, in Berlin, und dieser Ruf hatte schon damals seine elektrisierende Wirkung. Schon damals fühlte ein jeder, daß die Sache, zu der die Arbeiter hielten, eine wahre Volkssache und Sache der Freiheit sei, schon damals war der Anschluß der Arbeiter bei ihrem Mut, bei ihrer Tatkraft und Opferfreudigkeit, bei ihrer hinreißenden Begeisterungsfähigkeit eine Gewähr des Sieges, eine moralische Stärkung allerersten Ranges. Die arme, gedrückte und unwissende Klasse der Arbeiter, sie, die in gräßlichster Verelendung fern von allen Gütern der Kultur gehalten wurde, ein Gegenstand der Verachtung oder bestenfalls der Herablassung — sie war in ihren vergleichsweise aufgeklärtesten und bestsituierten Schichten schon damals das Gewissen der bürgerlichen Klasse.

Und die Arbeiter kamen.

Vertrauensvoll schlossen sie sich den Fahnen des Bürgertums an, die sie für Freiheitsfahnen hielten; und sie harrten bei der Sache der Freiheit aus, bis sie die Gewalt zu Boden streckte.

Es kann ja nicht geleugnet werden, daß der Ausbruch der Revolution, namentlich hier in Wien, zu ausgedehnten Exzessen und Ausschreitungen der Arbeiterschaft führte. Aber man vergesse auch nicht die erschreckende Unwissenheit, in einer Zeit, wo selbst das Bürgertum durch die Zensur und das Polizeiregiment geknebelt war, in welcher diese von jeder Bildungsmöglichkeit ausgeschlossene Masse des Proletariats dahinvegetierte; dazu das gräßliche Elend, von dem bald hier, bald dort ausbrechende Hungerrevolten entsetzliche Kunde gaben. Nichtsdestoweniger — und hierin dürfen wir uns auf übereinstimmende Berichte sonst sehr auseinandergehender Geschichtsschreiber des Jahres 1848 stützen — nichtsdestoweniger waren auch diese Pöbelexzesse nicht eigentlich [10] Mordbrennereien oder beutegierige Raubzüge. Sie waren vielmehr ein rohes und elementar hereinbrechendes Strafgericht, welches die noch gänzlich in den Banden ihres Instinkts gehaltenen Arbeiter über die Maschinen, über die Fabriken der als besondere Ausbeuter bekannten Arbeitgeber, über die gewissenlosesten der Lebensmittelwucherer abhielten. Daß der so plötzlich und so wild entfesselte Strom dabei gewaltige Massen Schlammes aufwühlte, ist nur eine unvermeidliche Nebenerscheinung dieses gewaltigen Naturereignisses.

Wie dem aber auch sein mag und gar nicht in Betracht gezogen, was für eine eminente Bedeutung gerade dieser bis an die Mauern der Hofburg brandende „Pöbelaufstand“ wenigstens für die Wiener Revolution hatte, soviel steht fest: das Proletariat — im Gegensatz zur Bourgeoisie — wuchs überall mit der Bewegung, in die es noch unreif und tastend getreten war, und die es bald mit seinem Geiste erfüllte. Es erweiterte seinen Horizont, es bereicherte sein politisches Wissen in unglaublich schnellem Fortschritte, was nur erklärlich ist dadurch, daß es eben aus seinen vitalsten Interessen heraus, mit seiner ganzen Existenz die Bewegung ergriff und aufrecht zu halten suchte. Ja, während ringsum das besitzende und intelligente Bürgertum, um seine gesicherten Futterplätze bangend, abschwor, wo es noch kurz zuvor so heilig zu verteidigen sich vermessen hatte, während Cavaignac, Windischgraetz und Wrangel das Werk der Pazifizierung zur allgemeinen Zufriedenheit der nach Ruhe und Ordnung lechzenden Bourgeoisie bluttriefend verrichteten, stieg das Proletariat bis zur Höhe des Martyriums. Aber, so wie das Bild des Erlösers am Kreuze unverwischbar eingeprägt blieb in den Herzen der Menschen als ein Zeichen der selbstlosen unbezwinglichen, auch dem Tode trotzenden Menschenliebe, deren heroische Tat den Menschen den Weg bahnen sollte heraus aus dem Elend und der Dumpfheit ihres Daseins zu künftigem Heile — so werden noch späte Geschlechter einer glücklicheren Zukunft rühmend gedenken, wie der neue Welterlöser, das Proletariat, gleich bei seinem ersten Eintritt in die Geschichte seinen Beruf klar erkannt hat, ein Hort zu sein für Freiheit, Recht und ein glückliches Leben der Menschen, und wie es ihm treu geblieben — bis in den Tod.

Und das Dritte, dessen wir in diesen Gedenktagen uns erinnern mögen, ist, daß es eben jene tatkräftige Mithilfe des Proletariats zum größten Teile war, durch welche erst der Raum für die moderne Entwicklung des Kapitalismus in Europa, damit aber zugleich auch für die [11] eigene Entwicklung des Proletariats, für sein selbständiges Hervortreten als Klasse mit ihren selbstbewußten Interessen und Zielen geschaffen wurde. Denn, wie Karl Marx in seinen Briefen über die deutsche Revolution schrieb: „Die Bewegung der Arbeiterklasse ist niemals selbstständig und von ausschließlich proletarischem Charakter, ehe nicht alle die verschiedenen Teile der Bourgeoisie und besonders ihr fortschrittlichster Teil, die Industriellen, die politische Macht erobert und den Staat nach ihren Bedürfnissen umgestaltet haben. Ist es so weit, dann rückt der unvermeidliche Konflikt zwischen den Unternehmern und den Arbeitern in drohende Nähe, ohne weiter hinausgeschoben werden zu können; dann ist es nicht länger mehr möglich, die Arbeiter mit trügerischen Hoffnungen und Versprechungen abzuspeisen, die niemals in Erfüllung gehen können; dann tritt endlich das große Problem des neunzehnten Jahrhunderts, die Aufhebung des Proletariats, völlig klar zu Tage.“

Die Kämpfe des Jahres 1848 hatten die Zeit dieser klaren Erkenntnis ihres Problems gewaltig nähergebracht, indem sie nicht nur mit allen ideologischen Sentimentalitäten grausam aufräumten, die ihr noch entgegengestanden waren. Nein, — wie mit einem eisernen Besen wurde nun auch die Weltbühne reingefegt von allem störenden und hinderlichen Urväterhausrat, um den Schauplatz zu bereiten, auf dem fortan ein gewaltiges Schauspiel allein sich abspielen sollte, das Schauspiel des Ringens zweier Weltanschauungen, des Kampfes zweier Klassen, von denen die eine ihre Herrschaft stabilisieren will auf der Unterdrückung der anderen, von denen die andere nur siegen will, um mit ihrem Sieg aller Klassenherrschaft (und so auch ihrer eigenen, eben erst errungenen) für immer ein Ende zu bereiten, nachdem sie diese noch benutzt hat, eine solche Gesellschaftsordnung einzurichten, in der das Wohl und die Freiheit der Gesamtheit zugleich auch das Wohl und die Freiheit jedes Einzelnen ist.

[12]
II.

Wenn so die Revolution des Jahres 1848 für Europa überhaupt den Anfang seiner modernen Ära bedeutet, so ist damit noch viel zu wenig prägnant bezeichnet, was sie für Deutschland, was sie speziell für Österreich war, jenes Land, das nach den Worten von Karl Marx „bis zum März 1848 den Augen des Auslandes fast ebenso fest verschlossen war, wie China vor dem letzten Krieg mit England (1851).“ Seit den großen Reformen, die der edle Kaiser Josef II. durch eine verzeihliche Überschätzung seiner kaiserlichen Machtvollkommenheit selbst gegenüber noch ungebrochenen wirtschaftlichen Interessengruppen durchzuführen suchte, und denen er sich hingab mit all der Unerschütterlichkeit, deren nur eine gefestete Überzeugung fähig ist — seit jenem vom Throne versuchten radikalen Umsturz alter, tief eingewurzelter Einrichtungen des Staates, der Kirche und der Gesellschaft war es stille geworden in Österreich. Die heilige Allianz hatte ja in ihrer eifrigen, um das Wohl der Völker (daß sie es nämlich nur ja nicht anstreben sollten) allzu besorgten Tätigkeit überhaupt verstanden, Europa in einen Zustand geistiger Versumpfung und Beschränktheit zu versehen, wie er allein ihren Machtaspirationen und Legitimitätsdogmen entsprach. Aber nirgends war ihr das so gelungen, wie in Österreich, das, schon durch die Gegenreformation aus dem geistigen Verbande mit dem übrigen Deutschland herausgerissen, nunmehr durch ein unerhörtes Polizeiregiment und durch ein nie noch so fluchtwürdig gehandhabtes Zensursystem in einer erschreckenden Geistesöde isoliert wurde.

Während draußen in den deutschen Landen doch noch in Nachwirkung der klassischen Dichterperiode die Werke derselben die Gemüter erhoben, während vor allem die klassische deutsche Philosophie und ihr erster kühner Sprößling, die Religionskritik, alle Geister aufs regste [13] in Anspruch nahm, waren in Österreich die bedeutendsten Werke dieser Literatur verboten und ertötete ein pedantischer ideenloser Unterricht an den Hochschulen, dessen ganze Lehrmethode eingestandenermaßen nur auf Hervorbringung zuverlässiger und klaglos funktionierender Beamten gerichtet war, jedes höhere geistige Interesse. So wurde jene dumpfe Atmosphäre geschaffen, in der aller lebendige Drang in diesem Lande erstickt werden sollte und die es in jene geistige Isolierung versenkte, von der Grillparzer einmal, nur wenige Wochen vor dem Ausbruch der Revolution, mit bitterem Grolle schrieb:

„Ich weiß ein Land, das lag so unbeweglich,
Es regte kaum die Glieder wie ein Wurm,
Im Ringen schob sichs nach der Nahrung täglich,
Die Zeit war nur ein Glockenschlag vom Turm;

Die nächste Nähe lag auf hundert Meilen,
Die Dämmerung gab noch zu helles Licht,
Das Höchste schien des Niedern Schmach zu teilen,
Und Ruhe war nicht bloß der Bürger Pflicht.“

Nicht also ein Schritt weiter auf der Bahn des Fortschrittes und der Befreiung der Völker wie in Frankreich war diese Revolution für Österreich. Nein — der elementarste Anfang, das erste Morgengrauen nach einer langen Nacht schimpflicher Unterdrückung und Geisterlähmung brachten die Märztage von 1848 diesem unglücklichen Lande. Hier galt es ja erst noch das Mittelalter zu überwinden; hier handelte es sich nicht um eine freiheitlichere Ausgestaltung politischer Rechte und Einrichtungen, sondern war allererst ein Absolutismus zu brechen, wie er nur an der russisch-orientalischen Despotie ein wirkliches Gegenstück finden konnte, während er unendlich weit zurückblieb hinter dem Absolutismus des vorausgegangenen Jahrhunderts, auf den sich sein Legitimitätsgefühl so gerne berief.

Der Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts war der eines aufgeklärten Zeitalters, des Zeitalters der Philosophie und Humanität. Nur kraft der Einsicht und Weisheit, die er sich zuschrieb, nur im Interesse seiner, auf das Wohl der Völker gerichteten, überschauenden Bestrebungen beanspruchte er den freiesten Spielraum für seine Machtbetätigung. In diesem Bewußtsein fand er seine innere Rechtfertigung und seinen Anspruch auf äußere Anerkennung begründet. Der Absolutismus [14] des neunzehnten Jahrhunderts dagegen, das Metternich’sche Regime war Absolutismus schlechtweg, sein einziger Rechtfertigungsgrund, über den hinaus er auch keinen anderen für nötig hielt, das Legitimitätsprinzip, nach welchem der Staat und die Untertanen als sein Zubehör nur eine Domäne der Herrscherfamilie waren und die richtigen Regierungsmaximen völlig sich deckten mit den Rücksichten, nach denen ein bonus pater familias seinen Hausstand verwalten muß. Ein Absolutismus auf dieser Grundlage, der bereits in jeder Gestalt vom kritischen Geiste völlig ins Unrecht versetzt worden war, konnte sich nur durch brutale Unterdrückung des Geistes der Erbitterung, ja vernichtenden Lächerlichkeit entziehen und mußte so die bare Geistlosigkeit zu seinem bewußten Regierungsprinzip machen. Darum haftet auch an ihm als unauslöschliches Brandmal die bittere und erbitternde Klage unseres größten Dichters, Grillparzers, dessen Jünglings- und Mannesjahre ein unseliges Geschick in diese traurige Zeit fallen ließ, daß die Knechtschaft seine Jugend zerstört, der Absolutismus ihm sein halbes Leben geraubt hätte, in jenem Lande „in des Weltteils Mitte“, von dem seine zornsprühenden Verse singen:

„Die Freiheit hassen sie, doch nicht alleine,
Nicht mehr, als all, was stammt vom ewigen Geist,
Und atmend lebt in hellem Sonnenscheine,
Was wärmt, erhebt, was denkt und unterweist.

Dort tönt kein Wort durch späherische Lüfte,
Scheu kriecht das Denken in sich selbst zurück.
Die Brust vernieten krummgebog’ne Stiffte,
Und Gentzlich stumpf gilt dort für ganzes Glück.

Gleichwie in Dantes dunklen Schauderorten
Die Inschrift lehrt, daß da kein Rückschritt sei,
Steh’ inschriftweis’ an dieses Landes Pforten
Gemeinheit eingeprägt und Heuchelei.“

War schon der Absolutismus der Aufklärung unvereinbar mit dem Streben nach Freiheit, Fortschritt und materieller Wohlfahrt der Völker, um wie viel mehr mußte dieser „Absolutismus der Geistlosigkeit“ sich im Widerstreit befinden mit dem notwendigen Entwicklungsgange des Geistes und der gesamten Kultur. Mit vollem Rechte durfte denn [15] auch die offizielle „Wiener Zeitung“ am Tage nach der Revolution im Anschluß an die Kundmachung des kaiserlichen Patents, welches die Erlassung einer Konstitution zusicherte, sagen, getreu ihrer Aufgabe, auch den für die Regierung unangenehmsten Dingen eine notgedrungen gute Seite abzuwinnen oder wenigstens anzulügen, daß „die Ereignisse der letzten Tage“ (d. i. die Revolution) Österreich nunmehr als ebenbürtig in die Reihe der fortgeschrittenen Staaten Europas gestellt hätten. So wurde das zusammenbrechende System durch dasselbe Organ in seiner Zurückgebliebenheit gebrandmarkt, durch welches es sonst jede andere Kritik in einer ununterbrochenen Reihe von Verbotserkenntnissen und Regierungserlebnissen zu unterdrücken gewohnt war.

Aber — ist es nicht seltsam, daß es uns nicht gelingen will, heute, da wir des Sturzes dieses lähmenden Absolutismus gedenken, ungeteilte Freude zu empfinden? Ein drückendes, peinigendes Bewußtsein hält jede wärmere Empfindung nieder und pakt uns gar, wenn es sich für Augenblicke zu völliger Klarheit erhebt, mit fast unheimlichen Schauer; es ist das Bewußtsein, daß es erst wenig mehr als 50 Jahre her sind — aber nicht doch — daß es Dank der Reaktionszeit kaum 40 Jahre sind, die uns von dieser traurigen Zeit trennen, daß es also erst wenige Jahrzehnte her ist, seit wir ein halbwegs modernes, wenigstens nach dem Buchstaben des Gesetzes konstitutionelles Staatsleben in Österreich aufweisen können. Im Jahre 1848 erstand in Österreich die erste Konstitution — und heute noch stecken wir mitten in den elementarsten Verfassungskämpfen. Heute noch harren alle die Fragen, die schon im Jahre 1848 alle Patrioten und weitausschauenden Politiker beschäftigten oder doch im Fortgang der Dinge zur Diskussion gestellt wurden, der Erledigung: die Nationalitätenfrage, das Verhältnis zu Ungarn, die Wahlrechtsfrage, ganz zu schweigen von den übrigen Forderungen der damaligen Zeit, wie Vereins- und Versammlungsrecht, Preßfreiheit, Aufhebung der Zensur etc.

Es wäre ein schwerer und verderblicher Irrtum, zu meinen, daß alle Fehler und Absonderlichkeiten unseres Verfassungslebens eben in dieser seiner Neuheit und Jugendlichkeit begründet wären. Von einem sich etwa überstürzenden Kraftbewußtsein, das deshalb es manchmal am rechten Orte fehlen ließ, von einem ausschweifenden Freiheitsschwärmen, das darüber im einzelnen manchen Ausbau vergässe, — wo wäre von alledem bei uns etwas zu finden! Nein, anderswo ist die Quelle des Übels zu suchen. Wie zu Fischhofs Zeiten schwebt auch heute noch das [16] Damoklesschwert der Polizei über allen unseren Institutionen und Freiheiten. Haben wir doch hier in Österreich zuerst das schier Unmögliche und wirklich auch Unfaßbare entsetzt erlebt: das Eindringen der Polizeiwache in den Saal der Volksvertretung — und dies auf Initiative ihres eigenen Präsidenten unter dem Beifalle ganzer großer Parteien des Hauses!

Unser Verfassungsleben ist neu — aber es war nie jung. War doch das deutsche Bürgertum, das es begründet hatte und nun ausgestalten sollte, um seine Jugend und besten Mannesjahre betrogen, von den ersten Zeiten seiner Herrschaft angefangen bereits schwach und greisenhaft. Nun ließ es sich in einer kurzen, stürmischen Erinnerung an längst verlorene Jugendkraft über seine eigene Lebensfähigkeit täuschen. Das Erwachen aus dem glücklichen Traum konnte nicht ausbleiben und und es kam schnell und gründlich. Denn der Erbe, an den das Bürgertum gar nicht gedacht hatte, war mit ihm zugleich aufgetreten, seine Volljährigkeit zu reklamieren, die doch erst das Bürgertum sich zu erringen gedachte. Da trat jetzt diesem in greller Klarheit die plötzliche Erkenntnis vor die Seele, daß die Zukunft ihm nicht mehr gehöre. Was Wunder, daß es unter diesem Eindrucke nun sogar an seiner Gegenwart verzweifelte und überall die eben erst errungene Konstitution fallen ließ, um sie nur nicht mit der Jugend, mit dem wirklichen Volke teilen zu müssen. Und seither ist alles, was in Österreich an wirklich konstitutionellem Leben erworben und namentlich erhalten wurde, dem Bürgertum abgetrotzt und muß in unaufhörlich wachsamer Hut vor ihm beschützt werden.

Das Proletariat aber, wenn es heute über alle die Jahre zurückblickt auf die Zeit der ersten österreichischen Konstitution, wenn es an dem Maß der damals für das ganze Volk geforderten Rechte und Freiheiten mißt, wessen es sich heute nach so vielen Kämpfen und Opfern hievon zu erfreuen hat, wenn es den tiefen Fall seiner Gegner erblickt, die heute sich nicht einmal voll zu ihrer Vergangenheit zu bekennen wagen — unterdrückt nur mühsam seine Empfindungen des Grolles und der Verachtung, verwindet nur schwer im Herzen die Wehmut und den Schmerz über so viel verlorene Zeit, über so viel unverrichtete Arbeit beim Werke der Völkerbefreiung. Doch mit aufatmender Brust reißt es sich los von diesem kläglichen Anblick: er hat ihm eine Aufgabe gezeigt und es wird sie getreulich erfüllen.

[17]
III.

Und noch eines anderen bedeutungsvollen Umstandes, bedeutungsvoll unter uns Österreichern am meisten für uns Wiener, sollen wir heute uns inne werden, wenn wir der Tage von 1848 gedenken. Es ist dies das aufrichtige Geständnis, daß eine solche historische Erinnerung uns wahrhaft not tut, sollen wir nicht an jedem edleren Kern unseres Volkes, an jeder Aussicht einer allgemeineren Entwicklungsmöglichkeit noch für lange Zeit verzweifeln. Fürwahr, gerade der wahre Patriot, der wirklich die Gemeinschaft liebt, an deren Gedeihen seine ganze physische und psychische Existenz und Fortentwicklung geknüpft ist, gerade er könnte am wenigsten dieses Blatt mit der Revolution — an deren bloßen Wortklange schon die falschen Patrioten stets ein Ärgernis genommen haben und noch nehmen — aus der Geschichte Wiens gestrichen sehen.

Indem ich dies mit vollem Bewußtsein ausspreche, ist es am Platze, jenen unsinnigen Anwürfen wieder einmal entgegenzutreten als ob es der Umsturz an sich wäre, dessen wir Sozialdemokraten so rühmend gedenken, die zügellose Durchbrechung aller gesetzlichen Schranken, die rohe, nackte Gewalt, und was sonst noch alles für Schrecknisse dem ruhigen, ordnungsliebenden Bürger aus dem grimmen Worte „Revolution“ entgegenstarren.

Ja freilich, wohl ist die Revolution eines der gewaltigsten Ereignisse im Leben eines Volkes, ein mit elementarer Wucht hereinbrechendes Schicksal, das in seinem unwiderstehlichen Anprall wenigstens zunächst alles besiegt, was sich ihm entgegenstellen will. Aber die Gewalt, die hier sich kundgibt, ist etwas ganz anderes, viel Höheres, als wie es die Ordnungsstützen je zu begreifen vermögen. Das hat sich gerade in Wien gezeigt.

Man denke doch an den Zustand Österreichs vor dem Jahre 1848, an den geistlosen Absolutismus, von dem ich sprach. Unter seinem Drucke war Österreich ein Spott in Europa geworden und die Wiener ein Gegenstand des Mitleids und der Verachtung. Wer immer auf Besserung und Fortschritt hoffte — auf Österreich, auf Wien hat wohl [18] niemand gezählt, vielmehr von dessen unsäglicher Versumpftheit das Ärgste befürchtet, wenn ja einmal die Stunde der Freiheit schlagen sollte. Selbst seine Unterdrücker spotteten des harmlosen, gemütlichen Völkleins, bei dessen Indolenz und patriarchalischen Unwissenheit das Regieren gefahrloses Kinderspiel schien. Wie bezeichnend dafür ist doch das berühmt gewordene „gemütliche“ Wort des alten Kaiser Franz I., mit welchem er einmal alle Zweifel gegen den Bestand seines Regierungssystems niederschlug: „Mich und den Metternich halt’s noch aus.“

Wie war unter solchen Umständen der 13. März in Wien überhaupt möglich? Wie ist es erklärlich, daß der österreichische Absolutismus, diese gewaltige Selbstherrschaft, die Jahrzehnte hindurch ihre reaktionäre Gewaltpolitik allen Regierungen Europas aufgezwungen hatte, in wenigen Stunden einer vergleichsweise doch winzigen Kraftanstrengung seines Volkes erlag? Ist es da nicht auch dem blödesten Auge klar, daß es nicht die physische Gewalt ist, was das Wesen der Revolution ausmacht?!

Ein alter Landstand der am 13. März 1848 im Landhaus in Wien zusammentretenden Stände Niederösterreichs, fand instinktiv die richtige Lösung. Fischhof hatte soeben seine denkwürdige Rede beendet. Das massenhaft im Hofe des Landhauses versammelte Volk stand noch unter dem Banne eines bis dahin in Österreich unerhörten Ereignisses. In einem fassungslosen, überwältigenden Ausbruch der Freude muß dieses erste freie Wort in Österreich seine Hörer hingerissen haben, in einem Sturm der Begeisterung muß nun zum erstenmale die dumpfe Last, die so lange alle Gemüter niederdrückte, abgeschleudert worden sein und die belebende Erleichterung sich kundgegeben haben. Denn Fürst Johann Liechtenstein, der gleich anderen Landständen aus den Fenstern des Landtagsgebäudes herabsah auf dieses unvergeßliche, unbeschreiblich schöne Bild der ersten Volksversammlung unter freiem Himmel, er brach, überwältigt von Erstaunen in die Worte aus: „Das sind nicht mehr die Wiener“.

Nein, das waren nicht mehr die Wiener; das war nicht mehr das gedankenlose, leichtlebige Völklein an der Donau, — das war ein erwachendes, seines Wertes sich bewußt werdendes Volk. Das war nicht mehr der alte, nichtige, in eitler Genußsucht aufgehende, spielerische Sinn, — das war ein neuer, kraftvoller und hoch sich aufschwingender Geist, der nun die Massen erfüllte. Und diese Umkehrung der Gemüter, diese von Grund aus umstürzende Wandlung des Geistes — das war die Revolution, das war sie noch jedesmal, sobald sie ihres Werkes zu walten berufen war und wird sie immer sein. Denn [19] nur in dieser plötzlichen Ergriffenheit eines ganzen Volkes von einer neuen großen Idee gewinnt es die Kraft, für dieselbe auch einzutreten und Opfer zu bringen. Aus diesem Nährboden entstehen mit einemmale die edelsten Bürgertugenden, deren Bestand noch einen Tag zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Privatinteressen weichen weit zurück hinter dem einen, großen Allgemeininteresse. Ein Geist der Brüderlichkeit und Opferwilligkeit erfüllt die Kämpfer für die neue Sache und wessen Blick bis dahin eingeengt war in die kleinlichen, kümmerlichen Verhältnisse seines täglichen Trübsals, den drängt es nun heraus, mit seinem geistigen Blick zu umfassen, was irgend die Menschen bewegt. Nie hat bisher der alte Satz, daß der Mensch ein ζῶον[WS 2] πολιτικόν (gesellschaftliches Wesen) sei, eine lebendigere Wahrheit erreicht, als in solchen Zeiten einer großen inneren Umwälzung der Gemüter. Nie hat der Gemeinsinn, diese schönste Blüte des antiken Staatslebens, sich seither jemals kräftiger entfaltet, als in solchen stürmischen Tagen.

Das Auftreten eines neuen geistigen Prinzips also im Bewußtsein der Menschen, wie Lassalle dieses einmal nannte, ihre wahre geistige Wiedergeburt — das ist es, was uns die Revolution bedeutet, nicht aber Barrikaden und Guillotine, Sturmgeläute und Pulverdampf. Gewiß ist es eine schmerzliche Tatsache, daß noch in den meisten Fällen der blutige Mantel der Revolution nicht gefehlt hatte. Aber ganz abgesehen davon, daß viel mehr Blut vergossen wurde, die errungenen Freiheiten zurückzunehmen oder vorzuenthalten (erleben wir es nicht jetzt wieder schauernd in den Metzeleien der ruchlosen russischen Despotie!), als da sie erkämpft wurden, so hängt es allein von den entgegenstehenden Verhältnissen und Faktoren ab, ob der in den Menschenköpfen bereits bewirkte Umschwung sich auch äußerlich friedlich kundgeben kann oder nicht. Von dem Kulturfortschritt im allgemeinen und der wachsenden politischen Bildung insbesonders ist es zu hoffen, daß die Entwicklung der Völker in Hinkunft ohne allzu schwere Opfer werde vor sich gehen können. Wenigstens ist es eben die revolutionäre Sozialdemokratie, die in genauer Erfassung des dialektischen Wesens der sozialen Entwicklung gerade die Gesetzlichkeit zu ihrer erfolgreichsten Waffe geschmiedet hat und sie sich nie wird entreißen lassen, — es sei denn durch die Ungesetzlichkeit ihrer Gegner.

Weil wir also in dem Gedächtnisse an die Revolution von 1848 zugleich die Wiedergeburt des österreichischen Volkes feiern, weil wir in ihr eine gewaltige Aufraffung der Volkskraft sehen, selbst unter [20] beispiellos traurigen äußeren und inneren Bedingungen, deshalb ist uns diese Erinnerung so kostbar und unentbehrlich, ja eine Gewähr für die Zukunft.

Und in dieser Rettung der Kulturbedeutung der Revolution, ist es durchaus nicht unsere angebliche parteiliche Vorliebe für revolutionäre Zeiten, die unser Urteil bestimmt. Es war einer der größten Denker des deutschen Volkes, es war Immanuel Kant, der einmal, wie schon so viele vor ihm, die durchlaufene Bahn der Menschheitsgeschichte überschauend, die bange Frage aufwarf, ob es denn vorwärts gehe oder ob nicht am Ende ein höhnendes Schicksal die Menscheit im Kreise führe, wenn sie nicht gar im schrecklichen Verfall einem späten, doch sicheren Untergang entgegenstrebe. Und der grübelnde Geist des Denkers konnte nicht zur Gewißheit gelangen. Doch plötzlich sah er den festen Grund, darin sich sein Wissen zusamt seiner Hoffnung festankern durfte. Wenn es eine Begebenheit in der Geschichte gäbe, bei der sich eine neue Denkungsart der Menschen kundgegeben hätte, die ganz abstäche von ihrem gewöhnlichen Egoismus und Kleinkram, wenn sich irgendwo eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnahme auf der einen Seite gegen die auf der anderen Seite zeigte, und dies selbst mit Gefahr des eigenen Wohles; wenn auf diese Weise sich ein Charakter des Menschengeschlechtes überhaupt offenbarte, der zugleich wegen der Uneigenützigkeit ein moralischer Charakter wenigstens der Anlage nach wäre, dann dürfte man, so schloß Kant, davon nicht nur auf den Fortschritt der Menschheit im ganzen zum Besseren hoffen, nein, dann wäre dies selbst schon ein solcher Fortschritt. Und eine solche Begebenheit fand Kant in der französischen Revolution, die doch an Blutvergießen und Gewalttätigkeiten aller Art jede spätere Revolution (ich spreche wieder nicht von den Reaktionen) übertraf. Die allgemeine Teilnahme also, der Enthusiasmus eines Volkes bei dem Spiele seiner großen Umwandlungen (Revolutionen), das ist nach Kant — weit entfernt, etwas Strafwürdiges, Schändendes zu sein, — die alleinige Gewähr für den Fortschritt der menschlichen Angelegenheiten. „Denn aller Enthusiasmus“, so lautet im Wesen seine Begründung, „geht auf das Idealische und rein Moralische.“

Ein ganzes Volk, getragen von diesem Enthusiasmus, ein ganzes Volk, durchdrungen von einem neuen Geiste, der stürmische Pulsschlag der Geschichte in jedem Einzelnen durchzuckend sein sich weitendes Selbst und es erfüllend mit der Größe des Augenblicks, — wessen Herz erwärmte sich nicht vor solchem Bilde? Und mußte nicht jede Zeit, in der sich ein solches Völkererlebnis erfüllte, eine glückliche, große, heilbringende Zeit sein?

[21] Der März des Jahres 1848 war noch keine solche Zeit.

Wie es den ahnungslos im Walde Dahinwandelnden trifft, wenn er, der drückenden Enge der Stube entflohen, das Auge erfrischt an dem lebendigen Grün und erquickt einatmet die langentbehrte freie Luft und nun ihn plötzlich mit wütendem Zischen eine giftige Natter anfällt, die er, in seinen Frühlingstraum versunken, unversehens niedergetreten — und er fällt leblos ins blühende Gras, — so zischten die todbringenden Kugeln eines verendenden Regierungssystems in die festlich gehobene Stimmung der Massen, so vergifteten ihre verderblichen Wirkungen die reinen Empfindungen, mit denen die junge Freiheit eben erst alle Gemüter befeligt hatte. Und 23 Leichen in den Straßen Wiens färbten die Steine mit ihrem Blute.

Ihr Toten des 13. März, — wir grüßen euch heute aus treuem Angedenken! Eure Namen zwar sind der großen Menge unbekannt und von vielen hat nicht einmal die Geschichte sie dem Nachforschenden aufbewahrt. Ihr waret eben die Opfer, die der Masse auferlegt wurden, und die Masse ist es denn auch, die euer Andenken lebendig erhalten hat und es bewahren wird für und für in dankbarem Herzen.

Ihr armen Opfer, die ihr jäh aus dem Leben scheiden mußtet, da es eben erst lebenswert schien, die ihr grausam aus der Gemeinschaft der Menschen gerissen wurdet, eben als diese sich aufs herrlichste zu betätigen anschickte, ihr armen, ahnungslosen Opfer blind zuschlagender Gewalt, — ihr mußtet fallen! Nur ein unerhörtes Ereignis — das wußten auch damals schon alle Einsichtigen — konnte Wandel schaffen in den verrotteten Zuständen des alten Regims. Wehmut und Ingrimm mögen uns heute erfüllen, wenn wie solch unseliger Notwendigkeit uns bewußt werden; und unser Inneres muß sich empören in Zorn und Abscheu, zu sehen, daß diese Notwendigkeit immer noch in der Geschichte herrscht, so daß auch heute noch ein bluttriefendes Gewaltregiment in Rußland der Kulturmenschheit ein Bild vor Augen stellen konnte, daß sie nimmermehr sehen zu müssen glaubte. Mit welch bitteren Empfindungen gedenken wir späten Nachkommen euer, ihr Toten des März, da wir gewahr werden, wie auch noch heute nur Menschenblut es ist, mit dem der Boden gedüngt werden kann für die Saat der Vernunft, nur hingestreckte Menschenleiber es sind, die den Bann verbrecherischer Herrschsucht und verjährten, zum Unrecht gewordenen Vorrechtes zu brechen vermögen. In dieser niederdrückenden Empfindung gereicht es uns wenigstens zum Trost und zur Freude, wenn wir der Art gedenken, in der sich dies harte Schicksal im Jahre 1848 vollzog.

[22] Ihr Toten des März, ihr mußtet fallen; aber indem ihr fielet, vernahm euer erlahmendes Ohr noch den Zornesruf der Menge, euer brechendes Auge sah noch in den entsetzten Mienen aufblitzen den Mut und die grimme Entschlossenheit zugleich mit der Empörung ob dieses namenlosen Frevels, — in eurer Seele stand noch das große, beglückende Erlebnis des Tages in seiner ganzen ungetrübten Schönheit. Und wie die Kugeln fürchterlich aufschlugen auf eure wehrlosen Leiber, da mag es euch ebenso jäh durchzuckt haben mit seiner ganzen erlösenden und versöhnenden Kraft: Aus unserem versprengten Blut ersteht heute die neue Zeit, aus unserem versiegenden Leben steigt glorreich herauf ein sonniges glücklicheres Leben für ungezählte Menschenkinder! ...

Es war kein Tod mehr so schön im ganzen Jahre 1848, das noch so viele Opfer kosten sollte. Vielmehr ein bitteres Sterben war es für alle jene, die später fallen mußten, deren Herz schon bei Lebzeiten gebrochen war über so viel getäuschte Hoffnungen, und deren Grab nun mit ihnen zugleich aufnahm die zertrümmerte Hoffnung eines ganzen Volkes, deren alleiniger Trost ein letzter, finsterer Gedanke:

Exoriare aliquis ultor ex ossibus nostris![1]

Und der Rächer ist euch schon erstanden, ihr Toten — anders freilich, als ihr selbst es gedacht haben möget, anders als auch viele nach euch es geglaubt haben mögen, die ein neues, schrecklicheres Blutvergießen für nötig hielten, euch zu rächen. Es ist anders gekommen. Nicht die Gewalt hat das Rächeramt übernommen, nicht selbstmörderischer Umsturz arbeitet an einer Sühne für euer Blut. Die perennierende Revolution der Produktionsverhältnisse und damit der Köpfe, die unaufhaltsam in ihrem Gefolge sich ausbreitende Aufklärung und Erkenntnis derselben Volksmasse, aus der euch der Tod riß, die zielbewußte, alle Handhaben des Gesetzes zäh ausnützende und deshalb unangreifbare Arbeit an der Umwandlung der bestehenden Gesellschaftsordnung in eine vernünftigere und vollkommenere Form, — das ist die Sühne, die euren Massen täglich und stündlich dargebracht wird, — das Proletariat der ganzen Welt, von diesem Geiste immer mehr beseelt, ist eure Rächerin.

Darum ist auch der Gedenktag der Revolution von 1848 ein Tag der Feier geworden, die das Proletariat überall begeht, nicht nur in dankbarer Pietät und in treuem Gedenken, sondern zugleich auch als einen Merktag der eigenen Kraft und eigenen Aufgabe. Wenn das [23] Proletariat in den Februartagen in Paris, in den Märztagen in Wien und Berlin hinauszieht zu den Gräbern von 1848, dann gehen die Blicke nicht nur zurück in die große ruhmvolle Vergangenheit; nein, sie fliegen durch die endlosen Reihen derer, die da herangezogen kommen in gleichem Sinn und gleichem Streben, und in einem stolzen Kraftbewußtsein wird sich das Proletariat allenthalben des ganzen Unterschiedes bewußt, der seine heutige Stellung von jener des Jahres 1848 trennt. Auch damals war das Proletariat ein begeisterter, opfermutiger Kämpfer, aber für Ziele, die ihm von anderen gesetzt waren, für Aufgaben, die es noch nicht völlig begriff. Es folgte nur dem Drange seiner Seele nach Freiheit, und so war es ihm gleich, wer es zu dem Werke rief, wenn es nur das Werk der Befreiung war. Die einzigen, die in jener großen Bewegung des Jahres 1848 wirklich mit Bewußtsein wenigstens der nächsten Ziele standen und handelten, waren die Studenten und Akademiker. Im Jahre 1848 ist der Name Student ein Ehrentitel geworden, in dessen Glanze die Nachkommen sich noch heute sonnen. Studenten standen an der Spitze der Bewegung, sie gaben die Zeitworte aus, sie warfen die zündenden Gedanken in die Menge als unermüdliche Versammlungsredner, im Barrikadenkampf standen sie an den gefährdetsten Stellen und ihr jugendlich Feuer entflammte überall die Lässigen. Mit einer unbeschreiblichen Liebe hingen die Arbeiter an diesen jugendlichen Freiheitskämpfern, die so recht in ihren Augen die leuchtende Verkörperung der herrlichen Sache schienen, die auch sie im Innersten erfüllte. Wo sie auftraten, ordnete sich alles ihnen unter, wann immer sie riefen, erschienen die Massen kampfbereit auf den Straßen, vor ihrem Worte bangte selbst die Hofburg. Sie waren die ersten im Kampfe: unter den ersten Opfern des 13. März verblutete bereits ein 18jähriger Jüngling aus ihren Reihen; — sie waren die letzten, die ausharrten, als schon längst das Bürgertum seinen feigen Frieden mit der erstarkenden Reaktion geschlossen hatte, die letzten, die in den Oktoberkämpfen fielen, die in den Kerker geworfen, in jahrelange Verbannung getrieben wurden. Dieses Bündnis der Intelligenz mit der Arbeiterschaft ist einer der glanzvollsten Züge des Revolutionsjahres, in ihm offenbart sich bereits der innerste Charakter der Arbeiterbewegung, die mit allen Mächten der Zivilisation und des Kulturfortschrittes durch ihr eigenes Interesse verbunden ist.

Die Intelligenz, als Stand betrachtet, ist ihrer Führerrolle in diesem Kampfe um Volksfreiheit und Gleichheit nicht treu geblieben. Es [24] ist hier nicht der Ort, der Ursachen zu gedenken, die es mit sich gebracht haben, daß die Nachkommen der Studenten von 1848, ja diese selbst in ihren alten Tagen, nicht mehr in dem Lager angetroffen wurden, in dem sie als Kämpfer einst standen, nicht mehr die Wortführer der Ideale der Nation sind. Wenn es einen Toten gibt, der wirklich der Vernichtung völlig anheimgefallen zu sein scheint, obgleich ihn keine Kugeln darniederstreckten, dessen Spuren ausgewischt scheinen, obgleich so wenige Jahrzehnte erst verflossen seit den glanzvollen Tagen seines Erdenleben, so ist dieser Tote — wir gestehen es uns mit Ingrimm und Bitterkeit im Herzen — die stolze „akademische Legion“. Dieses herrliche Korps vom höchsten Idealismus begeisterter Jugend, diese Kerntruppe der Revolution, der Stolz und die Hoffnung aller Freunde des Volkes und der Freiheit, — wo wäre es heute zu finden unter der heranwachsenden Jugend des Bürgertums, die zum allergrößten Teil kalt, verständnislos und abweisend dem gärendsten Drange unserer Zeiten gegenübersteht und, während sich aus der tiefsten Kraft ihres eigenen Volkes eine neue Welt kraftvoll und glückverheißend herauszuringen strebt, ihre Gegenwart vertrödelt in abgestandenen Formen vergangener Zeiten ohne jeden Inhalt oder verdirbt in ödester Streberei um einen auskömmlichen Bissen aus der großen staatlichen Versorgungsanstalt!

Die Arbeiterschaft allein hat die Hoffnung eingelöst, die sie damals erstehen ließ. Ihre damalige Verbindung mit der Intelligenz hat sie in einer viel höheren und umfassenderen Weise zu einer dauernden gemacht. Während sie, wie wir sahen, im Jahre 1848 noch fremden Ideen folgte, so ließ sie sich seither immer mehr von der wissenschaftlichen Erkenntnis ihrer eigenen sozialen Lage und Bestimmung leiten. An Stelle der Intellektuellen wurde so die eigene Intelligenz, an Stelle der Personen die Wissenschaft ihre Führerin. Die größte und unzerstörbare revolutionäre Kraft, die Triebkraft der Wissenschaft, nunmehr in lebendigen Zusammenhalt mit der in einen Willen zusammengeschweißten unermeßlichen Tatkraft der Arbeiterschaft, das ist die auszeichnende Signatur der großen sozialen Bewegung unserer Zeit, in deren Sieg die Leiden aller früheren Revolutionen werden gesühnt, die besten Hoffnungen aller früheren Volksbewegungen endlich werden erfüllt werden.

Anmerkungen

  1. Aus unseren Gebeinen wird der Rächer erstehen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ingnaz
  2. Vorlage: ξῶον