„Ein Kuß“
[756] „Ein Kuß“. Unter diesem Titel hat Paul von Schönthan in der Reclam’schen Universalbibliothek Gereimtes und Ungereimtes zusammengestellt. Er schickt eine kurze Geschichte des Kusses voraus und giebt dann eine Auswahl poetischer und prosaischer Stellen, die man im Ganzen billigen kann; denn leicht war die Arbeit nicht, bei einem Thema, das alle Poeten des Alterthums und der Neuzeit, des Morgenlandes und Abendlandes behandelt haben, in einem Miniaturbändchen das Gute und Beste auszuwählen. Für den Geschmack des Sammlers spricht es, daß er an die Spitze seines Bändchens die Verse gestellt hat, mit denen Friedrich Halm im „Wildfeuer“ den Kuß verherrlicht, die auch wir für das Schönste und Schwungvollste halten, was über ihn gedichtet worden:
„Ein Wunder, ein Geheimniß ist der Kuß,
Denn wie des Morgenlandes Weise sagen:
Die Lippe küßt, wohin das Herz sie neigt,
Ehrfurcht die Hände, Sklavendienst das Kleid,
Die Freundschaft auf die Wangen, auf die Stirne
Küßt tröstend Mitgefühl; doch auf die Lippen
Drückt Liebe ihren Kuß, wildloderndes
Verlangen auf das müd geschloss’ne Auge,
Und Sehnsucht haucht ihn seufzend in die Luft.
Noch mehr! Ein Kuß ist das, was ihr ihn schätzt,
Nichts, wenn ihr scherzt, und, wenn ihr ernst meint, alles;
Er kühlt und glüht, er fragt und er giebt Antwort;
Er heilt und er vergiftet, trennt und bindet,
Er kann versöhnen wie entzweien, kann
Vor Wonne tödten und kann Todte wecken,
Und mehr, noch mehr! Was könnte nicht ein Kuß?“ †