Über die Liebe/Zweites Buch
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Immer trägt alle Phantasie und Liebe eines Menschen die Farbe eines der sechs Temperamente; sie ist:
sanguinisch in Frankreich (Herr von Francueil, Memoiren der Frau von Epinay),
cholerisch in Spanien (Lauzun; Peguilhen in den Memoiren von Saint-Simon),
melancholisch in Deutschland (Schillers Don Carlos),
phlegmatisch in Holland,
nervös (Voltaire),
athletisch (Milon von Kroton).
Wenn der Einfluß des Temperaments schon im Ehrgefühl, im Geiz und in der Freundschaft hervortritt, so muß er sich erst recht in der Liebe geltend machen, die eine starke Beimischung vom Physischen hat.
Nehmen wir an, daß jede Liebe sich einer der von mir im ersten Buche aufgestellten Arten zurechnen läßt, zu der
Liebe aus Leidenschaft (Julie von Etanges),
Liebe aus Galanterie,
Liebe aus Eitelkeit,
Liebe aus Sinnlichkeit.
Lassen wir nun diese vier Arten der Liebe sich mit den sechs Spielarten des Temperaments mischen. Tiberius [137] hatte nicht die tolle Phantasie Heinrichs des Achten. Betrachten wir alsdann alle die Mischungen, die von der Verschiedenheit der Lebensweise infolge der Regierungsform oder des Volkscharakters abhängig sind; und zwar unterscheide ich da
1. den asiatischen Despotismus, zum Beispiel in Konstantinopel,
2. die absolute Monarchie, wie unter Ludwig dem Vierzehnten,
3. die durch eine Verfassung verdeckte Aristokratie: die Beherrschung eines Volkes zu gunsten der Reichen, wie in England, und unter einer sozusagen biblischen Moral,
4. die konstitutionelle Monarchie,
5. die föderative Republik oder die Herrschaft aller, wie in den Vereinigten Staaten,
6. den Staat im Zustande der Revolution, wie in Spanien, Portugal und Frankreich. Dieser Zustand eines Landes erweckt in jedem Staatsangehörigen eine lebhafte Leidenschaft, er begünstigt die Natürlichkeit der Sitten, vernichtet die Narrheiten und Scheintugenden der Konvention, die bornierten Standesvorurteile, verleiht der Jugend Ernst, läßt sie die „Liebe aus Eitelkeit“ verachten und die bloße Galanterie vernachlässigen.
Dieser Zustand kann lange andauern und so die Lebensgewohnheiten eines ganzen Geschlechts bestimmen. In Frankreich begann er 1788, wurde 1802 unterbrochen, setzte sich 1815 fort und wird wer weiß wann enden.
Außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten zur Betrachtung der Liebe kommen noch die Unterschiede des [138] Alters und schließlich die individuellen Eigentümlichkeiten hinzu.
Zum Beispiel könnte ich sagen:
Ich habe in Dresden beim Grafen Wolfstein die Liebe aus Eitelkeit, das melancholische Temperament, die monarchische Lebensweise, das Alter von dreißig Jahren und gewisse individuelle Eigentümlichkeiten gefunden.
Diese Art, die Dinge zu sehen, kürzt ab und ermöglicht, was unerläßlich und sehr schwer ist, ein unparteiisches Urteil.
Wie aber der Mensch in der Physiologie fast nichts über sich selbst weiß, außer durch die vergleichende Anatomie, so können wir bei den Leidenschaften, der Eitelkeit und verschiedenen anderen Ursachen von Illusionen, über das, was in uns vorgeht, nur durch die Schwächen aufgeklärt werden, die wir an anderen beobachtet haben. Wenn mein Buch überhaupt irgend einen Nutzen bringen sollte, so wäre es der, daß es zu solchen Vergleichen anregt. Um das zu tun, will ich versuchen, einige Hauptzüge des Charakters der Liebe bei den verschiedenen Völkern zu skizzieren.
Wenn ich dabei häufig Italien erwähne, so bitte ich um Nachsicht; bei dem gegenwärtigen Sittenzustande von Europa ist es das einzige Land, wo sich die von mir beschriebene Pflanze in voller Freiheit entwickelt. In Frankreich ist es die Eitelkeit, in Deutschland eine anspruchsvolle, höchst lächerliche Philosophie, in England ein ängstlicher, leidender, rachsüchtiger Stolz, der die echte Liebe quält und unterdrückt oder in eine barocke Richtung drängt.
[139]
Ich suche mich von jeglichem Vorurteil frei zu machen und nichts als kalter Philosoph zu sein.
In Frankreich sind die Frauen durch die Erziehung der liebenswürdigen Franzosen, die nur Eitelkeit und sinnliches Begehren kennen, weniger tatkräftig, weniger energisch, weniger gefürchtet und besonders weniger geliebt, als die Frauen Spaniens und Italiens.
Die Macht einer Frau steht im unmittelbaren Verhältnis zu dem Unglück, das sie über ihren Geliebten zu bringen vermag. Wenn jedoch allein die Eitelkeit entscheidet, so ist eine Frau höchstens nützlich, niemals notwendig. Das Schmeichelhafte des Erfolgs aber liegt im Erringen, nicht im Besitzen. Für lediglich sinnliche Bedürfnisse gibt es Dirnen, und nicht ohne Grund sind die Dirnen Frankreichs reizend, die Spaniens höchst übel. In Frankreich können Dirnen den meisten Männern ebensoviel Glück gewähren, als ehrbare Frauen, das heißt Glück ohne Liebe, und etwas schätzt ein Franzose immer höher als seine Geliebte: seine Eitelkeit.
Ein junger Pariser sieht in der Geliebten eine Art Sklavin, die vor allem den Zweck hat, ihm die Freuden der Eitelkeit zu gewähren. Wenn sie den Geboten dieser maßgebenden Leidenschaft nicht mehr entspricht, verläßt er sie und ist obendrein noch sehr zufrieden mit sich selbst, wenn er seinen Freunden erzählen kann, auf welche überlegene Weise und unter welchen pikanten Umständen er sich ihrer entledigt hat.
Ein Franzose, der sein Land sehr gut kennt, sagt: [140] „In Frankreich sind große Leidenschaften ebenso selten, wie große Männer.“ (Meilhan.)
Es fehlt der französischen Sprache an Wörtern, um auszudrücken, wie durchaus unmöglich für einen Franzosen die Rolle eines verlassenen Liebhabers ist, dessen Schicksal und Verzweiflung die ganze Stadt kennt und teilnehmend verfolgt. In Venedig und Bologna ist das nichts Ungewöhnliches.
Wenn man in Paris Liebe finden will, so muß man zu den Klassen niedersteigen, wo die Energie durch den Mangel an Erziehung und Eitelkeit und den Kampf um die wirklichen Bedürfnisse des Lebens noch nicht so gebrochen ist.
Eine große, ungestillte Sehnsucht verraten, heißt eine Niederlage eingestehen, ein Bekenntnis, das in Frankreich ganz unmöglich wäre und nur unter ganz gewöhnlichen Leuten vorkommt; man würde sich dadurch allerlei schlechten Witzen aussetzen. Daher das übertriebene Lob der Dirnen im Munde der französischen Jugend, die sich vor ihrem eigenen Herzen fürchtet. Die maßlose, plumpe Angst, sich unter seiner Würde zu zeigen, ist das leitende Element der Unterhaltung der Provinzialen. Es ist historisch, daß einer, der die Ermordung des Herzogs von Berri als Neuigkeit hörte, die Antwort gab: „Das wußte ich schon“, – nur aus Furcht, dem, der etwas Neues erzählt, eben dadurch nachzustehen.
Im Mittelalter stählte die Gegenwart der Gefahr die Herzen. Wenn ich mich nicht irre, liegt hierin ein Grund für die erstaunliche Überlegenheit der Männer des sechzehnten Jahrhunderts. Die Originalität, bei uns selten, lächerlich, gefahrvoll und häufig unnatürlich, [141] war damals alltäglich und ungeschminkt. Länder, wo die Gefahr noch heute mit eiserner Hand droht, wie Corsica,[1] Spanien und Italien, bringen immer noch große Männer hervor. In diesen Himmelsstrichen, wo die Glut der Sonne während dreier Monate im Jahre die Galle reizt, fehlt es meist nur an der Verwendung der Spannkraft, in Paris fehlt diese Spannkraft selbst.
Viele unserer jungen Leute, die sonst in Montmirail und im Bois de Boulogne so unternehmungslustig sind, fürchten sich vor der Liebe, und aus richtiger Verzagtheit meiden sie den Anblick eines jungen Mädchens, das sie hübsch finden. Wenn sie daran denken, was in Romanen als Pflicht eines Liebenden bezeichnet wird, sind sie starr. Diese kalten Seelen verstehen nicht, daß der Sturm der Leidenschaft, der die Wogen im Meer aufjagt, auch die Segel des Schiffes schwellt und ihnen die Kraft verleiht, den Sturm zu besiegen.
Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrundes zu pflücken. Außer der Lächerlichkeit sieht die Liebe immer das Schrecknis, von der Geliebten verlassen zu werden. Dann bleibt für das ganze Leben nichts übrig, als ein „dead blank“.
Die Vollkommenheit der Kultur würde darin bestehen, die feinen Genüsse des neunzehnten Jahrhunderts mit häufigeren Gefahren zu vereinen. Die Genüsse des Privatlebens müßten sich ins Unendliche steigern, je häufiger man sich der Gefahr aussetzte. Ich denke dabei nicht nur an kriegerische Gefahren. Ich wünsche solche Gefahren zu jedem Zeitpunkt, in jeder Form, für alle Lebenskreise; sie müßten den Inhalt des Lebens [142] ausmachen, wie im Mittelalter. Der Gefahr, wie sie von unserer Kultur geschaffen und ausgeschmückt wird, ist auch der schwächste Charakter gewachsen.
Ich finde in O’Mearas Buch „A voice from Saint-Helena“ (II, 94) die Worte eines großen Mannes:
„Murat erhält den Befehl: Gehen Sie zur Vernichtung der sieben oder acht feindlichen Regimenter vor, die dort unten in der Ebene am Kirchdorf stehen! Im Augenblick war er wie ein Blitz auf und davon, und so wenig Kavallerie er auch führte, die feindlichen Regimenter waren bald zersprengt, vernichtet und verschwunden. Überläßt man diesen Mann aber sich selbst, so hat man einen Schwachkopf ohne Urteil. Es ist mir unbegreiflich, wie ein so tapferer Mann so feig sein kann. Nur vor dem Feinde war er tapfer, dort aber gewiß der glänzendste und mutigste Soldat von ganz Europa.
Er war ein Held, ein Saladin, ein Richard Löwenherz auf dem Schlachtfelde. Machte man ihn zum König oder setzte man ihn in einen Ministerrat, so war er nichts, als ein Feigling ohne Willen und Urteil. Murat und Ney sind die tapfersten Männer, die ich gekannt habe.“
Frankreich nimmt in der Anlage dieses Buches viel Raum ein, weil Paris dank der Überlegenheit seiner Literatur und seiner Sprache der Salon Europas ist und bleiben wird.
[143] Drei Viertel aller Liebesbriefe in Wien wie in London werden französisch geschrieben oder sind voll von französischen Wendungen und Worten und Gott weiß in was für einem Französisch.[2]
Mir scheint, es sind zwei Ursachen, die Frankreich hinsichtlich der großen Leidenschaften der Originalität beraubt haben:
1. Das echte Ehrgefühl oder der Wunsch, Bayard zu gleichen, um in der Gesellschaft Ansehen zu genießen und täglich seine Eitelkeit befriedigt zu sehen.
2. Das falsche Ehrgefühl oder der Wunsch, Leuten von gutem Ton aus der ersten Pariser Gesellschaft zu gleichen, zum Beispiel in der Kunst, in einen Salon einzutreten, einen Rivalen seine Abneigung merken zu lassen oder sich mit einer Geliebten zu überwerfen.
Das falsche Ehrgefühl bietet unserer Eitelkeit weit mehr Genuß als das echte, schon an und für sich, weil es jedem Einfaltspinsel verständlich ist, dann aber auch, weil es sich den täglichen und selbst stündlichen Handlungen anpaßt. Man kann beobachten, daß Leute mit diesem falschen Ehrgefühl in der Gesellschaft sehr gut aufgenommen werden, während das Gegenteil unmöglich ist.
Der Ton der großen Gesellschaft verlangt:
1. Alle großen Interessen mit Ironie zu behandeln. Nichts ist natürlicher; früher konnten Leute aus der wirklich großen Gesellschaft durch nichts innerlich berührt werden; sie hatten gar nicht die Zeit dazu. Der Landaufenthalt ändert das. Überdies geht es einem Franzosen gegen die Natur, sich eine Bewunderung anmerken zu lassen. Er würde sich dadurch etwas vergeben, nicht nur vor dem Bewunderten, sondern [144] besonders vor seinem Nachbar, falls es diesem einfällt, über den Gegenstand der Bewunderung zu spotten.
In Deutschland, Italien und Spanien hingegen liegt in der Bewunderung Aufrichtigkeit und Glück. Dort ist der Bewunderer auf seine Empfindungen stolz und bedauert den Auszischer; ich sage nicht den Spötter, denn den gibt es nicht in Ländern, wo die einzige Lächerlichkeit die ist, den Weg zum Glück, nicht aber die Nachäffung fremder Manieren, zu verfehlen. Im Süden erzeugt das Mißtrauen und die Befürchtung, im wirklich empfundenen Genuß gestört zu werden, eine angeborene Bewunderung für Luxus und Pracht.[3]
2. Ein Franzose hält sich für den unglücklichsten und lächerlichsten Menschen, wenn er gezwungen ist, einsam zu sein. Aber was ist Liebe ohne Einsamkeit?
3. Ein leidenschaftlicher Mensch denkt nur an sich; ein Mensch, der nach Beachtung trachtet, denkt nur an andere. Mehr noch: vor 1789 fand man in Frankreich persönliche Sicherheit nur, wenn man einem Stande, zum Beispiel dem Richterstande, angehörte und von den Angehörigen dieses Standes beschützt wurde.[4] – Die Meinung eines Nachbarn war also ein wesentlicher und notwendiger Teil des Glückes. Am Hofe war das noch mehr der Fall, als in der Stadt Paris.
Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluß solche Anschauungen, – die allerdings nach und nach außer Kraft treten, doch in Frankreich noch für ein Jahrhundert ausreichen, – auf die großen Leidenschaften ausüben.
[145] Ich kann mir einen Menschen vorstellen, der sich aus dem Fenster stürzt, dabei aber in gefälliger Haltung unten auf dem Pflaster anzulangen bestrebt ist.
In der Leidenschaft gleicht ein Mann sich selbst und keinem anderen, was in Frankreich die Quelle aller Lächerlichkeiten bildet. Zudem beleidigt man die anderen, und das verleiht der Lächerlichkeit noch Flügel.
In Italien beruht das Glück darin, sich der Eingebung des Augenblicks zu überlassen, ein Glück, das bis zu einem gewissen Grade auch in Deutschland und England heimisch ist.
Dazu ist Italien ein Land, wo die Nützlichkeit, die Tugend der mittelalterlichen Republiken, noch nicht durch monarchische Ehr- und Tugendbegriffe entthront ist und wo das wahre Ehrgefühl dem falschen noch nicht Platz gemacht hat. Man fragt sich nicht: Was denkt mein Nächster von meinem Glücke? Denn Herzensglück hat mit der Eitelkeit nichts zu schaffen, es ist unsichtbar. Der beste Beweis dafür ist der, daß Frankreich das Land ist, wo die wenigsten Liebesheiraten vorkommen.
Ein anderer Vorteil Italiens ist die ungestörte Muße unter einem wundervollen Himmel, die für die Schönheit in allen Gestalten empfänglich macht. Es kommt ein übertriebnes, dennoch vernünftiges Mißtrauen hinzu, das die Einsamkeit erhöht und den Reiz völliger Hingabe verdoppelt; außerdem liest man wenig, weder Romane noch andere Bücher, und überläßt sich um so mehr den Eingebungen des Augenblicks; endlich [146] erweckt die Leidenschaft für Musik eine der Liebe verwandte Seelenstimmung.
In Frankreich gab es gegen 1770 kein Mißtrauen; es gehörte zum guten Ton, öffentlich zu leben und zu sterben. Wie die Herzogin von Luxemburg mit hundert Freunden vertraut war, so gab es auch sonst weder eigentliche Vertrautheit, noch Freundschaft mehr.
In Italien, wo eine Leidenschaft kein sehr seltenes Vorrecht ist, hat sie auch nichts Lächerliches an sich und man hört in den Salons ganz laut allgemeine Liebesregeln entwickeln. Jedermann weiß Bescheid über die Symptome und den Verlauf dieser Krankheit und beschäftigt sich reichlich damit. Man sagt zu einem Verlassenen: „Sechs Monate werden Sie untröstlich sein, dann aber gesunden wie der und der.“
In Italien ist die öffentliche Meinung eine ergebene Dienerin der Leidenschaften. Der ungeschminkte Genuß übt dort dieselbe Macht aus, die anderswo in den Händen der Gesellschaft liegt. Einfach, weil die Gesellschaft dem Volke fast kein Vergnügen bereitet und dieses keine Zeit zur Eitelkeit hat. Die Gelangweilten tadeln zwar die Leidenschaften, aber man lacht sie aus. Südlich der Alpen ist die Gesellschaft ein Despot ohne Kerker.
In Paris, wo die Ehre gebietet, mit dem Degen in der Faust, oder – wenn man das kann – mit geistreichen Reden alle Tore eines jeden großen zugestandenen Interesses zu verteidigen, ist es weit bequemer, seine Zuflucht zur Ironie zu nehmen.
Einige junge Leute haben ein anderes Teil erwählt und sich zu Schülern J. J. Rousseaus und der Frau von Staël aufgeworfen. Seit die Ironie etwas Gewöhnliches [147] geworden ist, sind sie gefühlvoll. Übrigens liegen die Verhältnisse seit 1789 zu gunsten der Nützlichkeit oder des individuellen Empfindens und gegen den Ehrbegriff oder die Herrschaft der öffentlichen Meinung. Die Parlamente geben ein Beispiel, alles zu diskutieren, selbst den Scherz. Indem das Volk ernster wird, verliert die Galanterie den Boden.
Ich muß als Franzose sagen, daß der Reichtum eines Landes nicht in einer geringen Zahl riesiger Vermögen besteht, sondern in der Masse der mittleren Vermögen. In Frankreich sind die Leidenschaften selten, aber die Galanterie ist anmutiger und feiner, daher hat sie auch mehr Glück zur Folge.
Ein römischer Künstler schrieb aus Paris:
„Ich fühle mich hier gar nicht wohl; ich glaube, es liegt daran, daß ich nicht nach Herzenslust lieben kann. Hier verbraucht sich die Empfindung tropfenweise, in dem Maße, wie sie hervorquillt, und in einer Weise, die bei mir wenigstens die Quelle schwächt. In Rom bei den wenig aufregenden täglichen Ereignissen und der Langeweile des Außenlebens sammelt sich die Empfindungsfähigkeit zu gunsten der Leidenschaften an.“
Nur in Rom kommt es vor, daß eine anständige Frau, die Equipage hat, vor einer anderen, einer bloßen Bekannten, gelegentlich ihr Herz ausschüttet, wie ich es heute Vormittag erlebt habe. „Ach, meine liebe Freundin, verliebe dich nie in den Fabio Vitelleschi. [148] Lieber kannst du deine Liebe einem Straßenräuber schenken. Trotz seines sanften und gemessenen Benehmens bringt er es fertig, dir einen Dolch ins Herz zu bohren und dich dabei mit liebenswürdigem Lächeln zu fragen: Liebchen, tut es weh?“ – So geschehen am 30. September 1819 in Gegenwart eines hübschen fünfzehnjährigen, übrigens sehr geweckten Mädchens, der Tochter jener Dame, die den guten Rat empfing.
Die Natürlichkeit der südlichen Liebenswürdigkeit ist nichts, als die einfache Entwickelung einer großangelegten Natur, die durch den doppelten Mangel an guter Erziehung und an bedeutenden Ereignissen begünstigt wird. Wenn ein Nordländer das Unglück hat, nicht von Anfang an dadurch abgestoßen zu werden, so kommen ihm nach Verlauf eines Jahres die Frauen aller anderen Länder unausstehlich vor.
Er sieht die niedlichen Französinnen, die in den ersten drei Tagen recht liebenswürdig und verführerisch, aber schon am vierten langweilig sind; sobald man nämlich dahinter kommt, daß all ihr Liebreiz vorher einstudiert und angelernt ist und für jedermann und jeden Tag ewig derselbe bleibt.
Er sieht die deutschen Frauen, die im Gegensatz zu den Französinnen so natürlich sind und sich so leidenschaftlich ihrer Phantasie hingeben, aber doch bei aller ihrer Natürlichkeit oft innerlich arm, einfältig und rührselig sind. Der Ausspruch des Grafen Almaviva scheint in Deutschland niedergeschrieben zu sein: „Und man ist höchst erstaunt, eines schönen Abends Übersättigung zu finden, wo man das Glück suchte.“
In Rom darf der Fremde nicht vergessen, daß in [149] einem Lande, wo alles natürlich ist, das Schlechte viel schwärzer erscheint, als anderwärts. Um nur von den Männern[5] zu reden, so sieht man hier in der Gesellschaft Ungeheuer auftauchen, die sich wo anders verstecken müßten. Es sind Menschen, die gleichmäßig leidenschaftlich, scharfblickend und feige sind. Ein böses Geschick hat sie zum Beispiel aus irgend einem Anlaß in die Nähe einer Frau geführt; wahnsinnig verliebt, trinken sie den Kelch des Leids, einen andern bevorzugt zu sehen, bis zur Hefe aus. Ihre Gegenwart hat nur den einen Zweck, diesem glücklicheren Geliebten entgegenzuarbeiten. Nichts entgeht ihnen und alle Welt sieht, daß ihnen nichts entgeht. Aber allem Ehrgefühl zum Trotz fahren sie fort, die Frau, ihren Geliebten und sich selbst zu quälen, und niemand tadelt sie, denn „sie tun, was ihnen Vergnügen macht“. Eines Abends gibt ihnen der Liebhaber, zum äußersten gebracht, einen Fußtritt; am nächsten Morgen bitten sie ihn sehr um Entschuldigung und beginnen von neuem, beständig und unerschütterlich, die Frau, den Geliebten und sich selbst zu peinigen. Man schaudert bei dem Gedanken, welche Fülle von Unglück diese niedrigen Seelen täglich hinnehmen müssen, und ohne Zweifel ist nur ein Gran Feigheit weniger nötig, um sie zu Giftmischern zu machen.
Es ist auch nur in Italien möglich, daß junge Lebemänner, die Millionäre sind, Tänzerinnen großer Bühnen vor den Augen der ganzen Stadt mit dreißig Soldi jeden Tag (1,20 Mark) großartig aushalten. Zwei Brüder, schöne, junge Leute, leidenschaftliche Jäger und Pferdeliebhaber, sind auf einen Fremden eifersüchtig. Statt aber zu ihm zu gehen und ihre [150] Beschwerden offen anzubringen, verbreiten sie heimlich ungünstige Gerüchte über den armen Fremden. In Frankreich würde die öffentliche Meinung solche Leute zwingen, entweder ihre Verdächtigungen zu beweisen oder dem Fremden Genugtuung zu geben. Hier gilt die öffentliche Meinung und die Verachtung nichts. Ein Reicher ist sicher, überall gut aufgenommen zu werden. Ein Millionär, der sich in Paris unmöglich gemacht hat, kann in aller Ruhe nach Rom pilgern. Dort wird er genau so hoch eingeschätzt werden, wie seine Scudi.
Heute Abend, am 12. Februar 1819, sprach ich in einer Loge mit einem Herrn, der irgend ein Anliegen an einen fünfzigjährigen Beamten hatte. Seine erste Frage war: „Wer ist seine Geliebte? Chi avvicina adesso?“ – Hier sind alle solche Verhältnisse vollkommen bekannt, sie haben ihre Gesetze und es gibt eine anerkannte Art, sich dabei zu benehmen, die sich ohne Rücksicht auf das Herkommen fast nur auf die Billigkeit stützt. Andernfalls ist man ein „porco“.
„Was gibt’s Neues?“ fragte mich gestern ein Freund, der aus Volterra kam. Nach einem kräftigen Stoßseufzer über Napoleon und die Engländer fährt man im Ton der lebhaftesten Teilnahme fort: „Die Vitteleschi hat ihren Liebhaber gewechselt; der arme Gherardesca ist in Verzweiflung.“ – „Wen hat sie nun?“ – „Den Montegalli, den schönen Offizier mit dem Schnurrbart, der die Prinzessin Colonna hatte. Sehen [151] Sie, da unten im Parkett steht er wie angenagelt unter ihrer Loge. Dort bleibt er den ganzen Abend, denn ihr Mann will ihn nicht in seinem Hause sehen. Und dort am Eingang sehen Sie den armen Gherardesca, wie er trübselig auf und ab spaziert und von fern die Blicke zählt, die seine Ungetreue seinem Nachfolger zuwirft. Er ist ein ganz anderer Mensch geworden und in heller Verzweiflung. Umsonst wollen seine Freunde ihn nach Paris oder London schicken. Nur der Gedanke, Florenz zu verlassen, heißt für ihn Sterben. Das hat er selbst gesagt.“
Jedes Jahr gibt es in der großen Gesellschaft zwanzig ähnliche Verzweiflungsfälle; einige habe ich drei bis vier Jahre andauern sehen. Diese armen Teufel sind ohne jede Scheu und ziehen alle Welt ins Vertrauen. Übrigens hat man hier wenig Gesellschaft, und vollends, wenn man liebt, sucht man sie kaum mehr auf. Man darf nicht glauben, daß die großen Leidenschaften und die schönen Seelen irgendwo, selbst in Italien, etwas Gewöhnliches seien. Nur brennen dort die Herzen heller und die tausend kleinen menschlichen Eitelkeiten schießen dort nicht so ins Kraut und darum blühen selbst geringeren Liebschaften herrliche Freuden. So habe ich dort sogar bei der Liebe aus Laune Wonnen und Augenblicke des Rausches beobachtet, wie sie die heftigste Leidenschaft unter dem Breitengrade von Paris niemals zeitigen würde.
Ich habe heute Abend erkannt, daß es im Italienischen besondere Bezeichnungen für tausend Beziehungen der Liebe gibt, die in anderen Sprachen endlose Umschreibungen erfordern; zum Beispiel gibt es einen prägnanten Ausdruck für die schnelle Wendung, die [152] man macht, wenn man vom Parkett aus mit dem Glase nach der Loge der Frau, die man begehrt, hinaufsieht, und ihr Gatte oder Liebhaber nähert sich gerade der Brüstung der Loge.
Die Hauptcharakterzüge dieses Volkes sind:
1. Die Aufmerksamkeit und Gewohnheit im Dienst ernster Leidenschaften macht schwerfällig; das ist der charakteristische Unterschied zwischen einem Franzosen und einem Italiener. Man muß einen Italiener beim Einsteigen in einen Postwagen, oder wenn er etwas bezahlt, beobachten, es ist keine „furia francese“. Deshalb erscheint der gewöhnlichste Franzose, wenn er nicht gerade ein beschränkter Kerl wie Demasure ist, einer Italienerin immer wie ein höheres Wesen.
2. Alle Welt unterhält Liebschaften, und nicht nur heimlich, wie in Frankreich. Der Gatte ist der beste Freund des Liebhabers.
3. Kein Mensch liest.
4. Es gibt keine Gesellschaft. Um sein Leben auszufüllen und Beschäftigung zu haben, verlangt man etwas mehr, als eine zweistündige Plauderei und Befriedigung seiner Eitelkeit in dem oder dem Salon. Das Wort „causerie“ läßt sich nicht ins Italienische übersetzen. Man redet, wenn man im Dienste einer Leidenschaft zu reden hat, aber selten spricht man, um gut und über alles mögliche zu plaudern.
5. Es gibt in Italien nichts Lächerliches.
In Frankreich suchen zwei Menschen immer das gleiche Vorbild nachzuahmen, und die Art und Weise, wie dies einem gelingt, unterliegt stets dem Urteil des andern. In Italien weiß ich nicht, ob ein eigentümliches Betragen dem, der es an den Tag legt, [153] nicht Vergnügen macht und ob es dem, der es wahrnimmt, nicht vielleicht auch welches bereit.
Was in Sprache und Benehmen in Rom für unnatürlich gilt, erscheint wohlanständig oder unauffällig in Florenz. Man spricht in Lyon dasselbe Französisch wie in Nantes. Aber der venezianische, neapolitanische, genueser und piemonteser Dialekt sind wie vollkommen untereinander verschiedene Sprachen, und doch werden sie von Leuten gesprochen, die übereingekommen sind, in Druckwerken nur die in Rom übliche Sprache anzuwenden. Nichts wäre sinnloser als ein Lustspiel, dessen Ort der Handlung Mailand ist und dessen Personen römisch sprechen. Die italienische Sprache, die sich viel mehr für den Gesang als zum Sprechen eignet, kann sich gegen die Klarheit des Französischen nur durch die Musik halten.
In Italien erhöht die Furcht vor dem Pascha und seinen Spionen den Wert des Nützlichen. Auf keinen Fall gibt es falsches Ehrgefühl. Es wird durch einen gewissen kleinlichen Haß auf die Gesellschaft, den sogenannten petegolismo ersetzt.
6. Der Partikularismus.
Jener Stolz, der uns dazu führt, die Achtung unserer Mitbürger zu erstreben und sich mit ihnen eins zu fühlen, ward um 1550 durch den eifersüchtigen Despotismus der kleinen italienischen Fürsten von allen edleren Bestrebungen abgedrängt und so zum Anlaß eines Zerrbilds von Patriotismus, einer Mischung von Raserei und Dummheit, die selbst die gescheitesten Köpfe ansteckt.
Dieser Partikularismus ist die große geistige Wunde Italiens, ein tödliches Fieber, dessen unheilvolle Folgen [154] sich noch bemerkbar machen werden, wenn das Joch der lächerlichen Kleinstaaterei längst abgeschüttelt ist. Er kommt namentlich in dem unauslöschlichen Hasse gegen alles Ausländische zum Ausdruck.
7. Als letzten Charakterzug nenne ich die Unduldsamkeit in der Unterhaltung und die zornige Aufwallung, wenn man dem Gegner nicht sofort mit Gegenbeweisen kommen kann. Es ist dies ein Zeichen von feinster Empfindlichkeit, aber nicht von der liebenswürdigen Seite, somit etwas, das ich am liebsten als Beweis ihres Vorhandenseins gelten lasse.
Ich wollte die „ewige Liebe“ kennen lernen, und nach mancherlei Schwierigkeiten habe ich es erreicht, heute Abend dem Cavaliere C*** und seiner seit fünfundzwanzig Jahren geliebten Freundin vorgestellt zu werden. Gerührt habe ich die Loge dieses liebenswürdigen Greisenpaares wieder verlassen. Das ist die Kunst, glücklich zu sein, von der die Jugend meist nichts versteht.
Vor zwei Monaten besuchte ich Monsignor R*** in seinem Landhause, wo er mit Frau D***, seiner „avvicina“, wie man sagt, seit vierunddreißig Jahren lebt. Sie ist noch schön, aber es schwebt eine gewisse Schwermut über beiden, die man durch den Verlust eines ehedem durch den Gatten der Frau D*** vergifteten Sohnes erklärt. Hier ist Liebe etwas anderes als in Paris, wo man eine Geliebte nur alle Wochen eine Viertelstunde besucht und sonst höchstens einen Blick oder einen Händedruck von ihr erhascht. Der Liebende, der glücklich Liebende, verlebt vier bis fünf Stunden jedes einzelnen Tages mit der geliebten Frau. [155] Er spricht mit ihr von seinen Geschäften, seinem Park, seinen Jagdabenteuern, seiner Beförderung und von tausenderlei. Es ist das vollständigste und zärtlichste Zusammenleben. Er duzt sie in Gegenwart ihres Gatten und überall.
Ein sehr ehrgeiziger junger Italiener wurde zum Gesandten in Wien ernannt, konnte sich aber nicht in das Fernsein schicken. Nach sechs Monaten verzichtete er auf seine hohe Stellung und kehrte zurück, um in der Loge seiner Freundin glücklich zu sein.
Ein solcher ständiger Verkehr würde in Frankreich lästig sein, wo man in der Gesellschaft unbedingt eine gewisse Rolle spielen muß und uns unsere Geliebte mit Recht sagt: „Herr So-und-so, heute Abend sind Sie gräßlich, Sie sagen ja gar nichts.“ In Italien handelt es sich nur darum, daß man der geliebten Frau alles sagt, was einem in den Sinn kommt; man muß geradezu laut denken. Es gibt eine gewisse nervöse Folge der Offenheit und Vertrautheit, die wieder Offenheit erweckt und die man ohne solche nicht erntet. Diese Liebe besitzt freilich den großen Nachteil, daß sie alle anderen Liebhabereien lahmlegt und alle anderen Lebensbetätigungen nichtig erscheinen läßt. Diese Liebe ist der beste Ersatz der Leidenschaft.
In Bologna gibt es in der Gesellschaft nichts Verächtliches. In Paris ist die Rolle des hintergangenen Ehemannes abscheulich. Hier in Bologna ist nichts dabei: es gibt keine betrogenen Ehemänner. Die Sitten sind wohl die gleichen, nur fehlt der Haß. Der Liebhaber der Frau ist immer der Freund des Gatten, und diese Freundschaft, gefestigt durch gegenseitige Dienste, überlebt oft alle anderen Beziehungen. [156] Meistens dauern solche Liebesverhältnisse fünf bis sechs Jahre, mitunter länger. Am Ende verläßt man sich, wenn man sich nichts mehr zu sagen weiß, und nach einem Monat des Bruches verliert sich alle Bitterkeit.
Die alte Mode der „cavalieri serventi“, die in Italien durch Philipp den Zweiten mit dem spanischen Stolz und den spanischen Sitten eingeführt wurde, hat sich in den großen Städten ganz verloren. Napoleon hat in Oberitalien und selbst in Neapel der Sittenlosigkeit ein Ende gemacht.
Wenn der Italiener, der immer zwischen Haß und Liebe schwankt, von der Leidenschaft und der Franzose von der Eitelkeit lebt, so leben die guten einfachen Nachkommen der alten Germanen von der Phantasie. Kaum sind sie aus den unmittelbarsten und für ihren Lebensunterhalt nötigsten sozialen Interessen heraus, so sieht man mit Erstaunen, wie sie sich in ihre Philosophie vergraben. Es ist das eine Art von sanfter, liebenswürdiger und vor allem unschädlicher Narrheit.
Als Begleiter von Männern mit zügellosem Ehrgeiz, die sich bei den Paraden von Schönbrunn um einen Blick des Kaisers oder einen Baronstitel stritten, schildert der Apotheker Napoleons die deutsche Liebe (Seite 188) folgendermaßen:
„Nichts ist gefälliger und süßer, als eine Österreicherin. Bei ihr ist die Liebe ein Kultus, und wenn sie zu einem Franzosen eine Neigung fühlt, betet sie ihn mit grenzenloser Inbrunst an.
[157] „Es gibt überall leichtsinnige und launenhafte Frauen, aber im allgemeinen sind die Wienerinnen treu und gar nicht kokett. Wenn ich sage treu, so meine ich dem Geliebten ihrer Wahl, denn die Ehemänner sind in Wien wie überall.“
„Die schönste Frau Wiens hat die Huldigungen eines meiner Freunde, des Hauptmanns M*** im Hauptquartier des Kaisers, angenommen. Er ist ein hübscher und gescheiter junger Mann, aber sicherlich bietet weder seine Erscheinung, noch sein Gesicht etwas besonders Bemerkenswertes.
Seit einigen Tagen erregt seine junge Freundin das größte Aufsehen unter unseren glänzenden Stabsoffizieren, die ihre Zeit damit totschlagen, alle Winkel Wiens zu durchstöbern. Es gilt, der Kühnste zu sein; alle Kriegslisten werden angewandt; das Haus dieser Schönen ist von den hübschesten und reichsten Offizieren in Belagerungszustand versetzt. Die Junker wie die glänzenden Obersten, die Gardegenerale, ja selbst Prinzen, vergeuden ihre Zeit unter ihren Fenstern. Keiner hat Erfolg. In Paris oder in Mailand waren diese Prinzen nicht gewohnt, grausame Frauenherzen zu finden. Als ich über das Mißgeschick dieser Herren mit jener reizenden Frau belustigt plauderte, sagte sie zu mir: ‚Aber, mein Gott, wissen Sie denn nicht, daß ich den Hauptmann M*** liebe?‘“
(Seite 290:) „Als wir in Schönbrunn lagen, bemerkte ich, daß zwei jüngere Herren aus der Umgebung des Kaisers niemanden in ihrer Wiener Wohnung emfingen. Wir neckten die beiden mehrfach wegen [158] dieser Heimlichtuerei. Eines Tages sagte der eine zu mir: ‚Ich möchte kein Geheimnis vor Ihnen haben. Eine junge Frau aus der Stadt ist meine Geliebte geworden, unter der Bedingung, daß sie niemals meine Wohnung zu verlassen braucht und daß ich ohne ihre Einwilligung niemanden empfange.‘ Ich war neugierig, diese freiwillige Klausnerin kennen zu lernen, und da mir mein Beruf als Arzt ganz wie im Orient einen anständigen Vorwand gab, nahm ich eine Einladung zum Frühstück bei meinem Freunde an. Ich fand eine sehr verliebte Frau, die eifrig im Haushalt beschäftigt war und trotz des verlockenden Wetters kein Verlangen trug, auszugehen; sie war übrigens überzeugt, daß sie ihr Geliebter mit nach Frankreich nehmen würde.
„Der andere junge Herr, den man niemals in seiner Stadtwohnung antraf, vertraute mir kurz darauf etwas Ähnliches an. Auch seine Schöne sah ich auf gleiche Weise. Sie war blond, sehr hübsch und schön gewachsen.
„Die eine, achtzehn Jahre alt, war die Tochter eines wohlhabenden Tapezierers, die andere, ungefähr vierundzwanzig Jahre alt, die Gattin eines österreichischen Offiziers, der in der Armee des Erzherzogs Johann am Feldzuge teilnahm. Ihre Liebe ging bis zum Heroismus. Ihr Geliebter wurde ihr nicht nur untreu, er kam sogar in die Lage, ihr ein sehr mißliches Geständnis machen zu müssen. Sie pflegte ihn mit vollkommener Hingabe, und durch die schwere Krankheit ihres Geliebten und die Gefahr, in der er schwebte, eng an ihn gefesselt, liebte sie ihn darum nur noch inniger, als vorher.
„Man versteht, daß ich als Fremdling und Eroberer, zumal sich die ganze vornehme Gesellschaft Wiens bei [159] unserem Anmarsche auf ihre Landgüter nach Ungarn zurückgezogen hatte, keine Gelegenheit hatte, die Liebe in den oberen Klassen zu beobachten, aber ich habe genug gesehen, um mich zu überzeugen, daß sie anders ist, als die Liebe in Paris.
„Dieses Gefühl wird von den Deutschen als eine Tugend angesehen, als eine Äußerung des Göttlichen, als etwas Mystisches. Es ist nicht lebhaft, heftig, eifersüchtig, herrisch wie im Herzen einer Italienerin; es ist innig und ähnelt dem Illuminismus; es ist meilenweit entfernt von der englischen Liebe.
„Vor einigen Jahren überfiel ein Leipziger Schneider in einem Anfall von Eifersucht seinen Nebenbuhler im öffentlichen Garten und erdolchte ihn. Er wurde zum Tode verurteilt. Die Moralisten jener Stadt stritten, gutmütig und leicht erregbar, wie die Deutschen sind (es ist dies eine Charakterschwäche an ihnen), über das Urteil, fanden es streng und bemitleideten sein Los. Aber das Urteil war nicht rückgängig zu machen. Am Tage der Hinrichtung erschienen alle jungen Mädchen Leipzigs in weißen Kleidern und gaben dem Schneider Blumen streuend das Geleit bis zum Schaffot.
„Kein Mensch fand diese Feierlichkeit merkwürdig. Freilich könnte man diesem Lande, das sich selbst für das Land der Denker hält, vorwerfen, es verherrliche damit den Mord. Aber es war eine Zeremonie und eine solche wird in Deutschland sicherlich niemals lächerlich gefunden. Man denke nur an das Hofzeremoniell der kleinen Fürsten, über das wir uns totlachen, das aber in Meiningen und Köthen überaus imposant erscheint.
[160] „Der Unterschied zwischen den Deutschen und allen anderen Völkern ist der: Nachdenken beruhigt sie nicht, sondern regt sie auf. Und zweitens trachten sie auf Tod und Leben nach Charakter,
„Das Hofleben, das der Liebe und ihrer Entwickelung anderswo so vorteilhaft ist, stumpft sie in Deutschland ab. Man macht sich keinen Begriff von dem Ozean sinnloser Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, aus denen in Deutschland ein Hof selbst bei den besten Fürsten besteht. (München, 1820.)[6]
„Wenn wir mit unserem Stabe in eine deutsche Stadt einrückten, trafen die Damen der Gegend im Laufe von vierzehn Tagen ihre Wahl, Bei dieser Wahl blieb es. Indessen habe ich sagen hören, die Franzosen seien die Klippe gewesen, an der manche bisher unbescholtene Tugend gescheitert sei.“
Die jungen Deutschen, denen ich in Dresden, Göttingen, Königsberg und anderen Orten begegnet bin, waren im Dunstkreis jener angeblich philosophischen Systeme aufgewachsen, die nichts als dunkle, schlecht geschriebene Poesie, aber in moralischer Hinsicht von hoher und heiliger Erhabenheit sind. Es scheint mir, daß die Deutschen von ihrem Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß wie die Italiener geerbt haben, sondern eine starke Neigung zur Begeisterung und Aufrichtigkeit. Aus diesem Grunde haben sie alle zehn Jahre einen großen Mann, der alle anderen verdunkelt. Ich denke an Kant, Schelling und Fichte.
Luther hat den moralischen Sinn mit mächtiger Stimme aufgerüttelt und die Deutschen haben sich, [161] ihrem Gewissen getreu, dreißig Jahre lang herumgeschlagen. Ein schöner und beherzigenswerter Ruf, wenn auch der Glaube an und für sich wohl sinnlos ist.
Eine geheimnisvolle Begeisterung für die Frauen und die Liebe rühmte schon Tacitus, wenn dieser Schriftsteller nicht etwa lediglich eine Satire auf Rom hat verfassen wollen.
Man braucht nur hundert Meilen durch Deutschland zu reisen und man erkennt bereits in diesem uneinigen und zerstückelten Volke eine tiefe Begeisterung, die eher sanft und zart, als feurig und ungestüm ist.
Einen weiteren Beweis für diese allen Deutschen gemeinsame Neigung sehe ich im österreichischen Gesetzbuch, das für die Bestrafung fast aller Verbrechen das Geständnis des Verbrechers verlangt. Es ist für ein Volk berechnet, wo Verbrechen selten und eher eine Tat des Wahnsinns schwächlicher Naturen, als die Folge eines mutigen, wohlüberlegten und in beständiger Fehde mit der Gesellschaft liegenden Geistes sind. Italien braucht entgegengesetzte Gesetze; man will jene dahin verpflanzen, aber es wäre ein großer Fehler,
Ich habe in Italien deutsche Richter in Verzweiflung gesehen, wenn sie Todesurteile oder schwere Gefangenschaft ohne Geständnis des Schuldigen verhängen mußten.
Ich habe in letzter Zeit viel mit den Tänzerinnen vom Theater Del Sol in Valenzia verkehrt. Man versichert mir, verschiedene unter ihnen seien sehr keusch, [162] weil nämlich ihre Beschäftigung zu ermüdend ist. Vigano läßt sie das Ballett in der „Jüdin von Toledo“ alle Tage von zehn Uhr vormittags bis vier Uhr nachmittags und von Mitternacht bis drei Uhr morgens proben. Außerdem müssen sie alle Abende zweimal tanzen.
Das hat mich an Rousseau erinnert, der Emil viel zu gehen empfiehlt. Als ich heute um Mitternacht mit den kleinen Tänzerinnen in der Frische am Meeresstrand einen Spaziergang machte, kam mir in den Sinn, wie unbekannt dieser überirdische Genuß der frischen Seebrise unter dem Himmel von Valenzia beim Anblick der schimmernden, hier so nahen Sterne in unserem traurigen, nebligen Norden ist. Er allein lohnt schon eine Reise von vielen hundert Meilen, er verhindert durch die Fülle der Empfindungen das Denken. Ich dachte, daß die Enthaltsamkeit meiner kleinen Tänzerinnen sehr gut erklärt, warum der männliche Stolz in England den Weg des Trunkes geht, um Haremssitten inmitten eines Kulturvolkes langsam wieder einzuführen. Man weiß, daß manche junge Engländerin trotz ihrer Schönheit und ihres reizenden Gesichtsausdruckes in geistiger Hinsicht recht zu wünschen übrig läßt. Trotz der Freiheit auf dieser Insel und der bewundernswerten Eigenart des Volkscharakters fehlt es den Engländerinnen an anregenden und ursprünglichen Gedanken. Oft haben sie nichts Bemerkenswertes, als die Verschrobenheit ihres Zartgefühls. Das ist leicht erklärlich; in England ist die Schamhaftigkeit der Frauen der Stolz ihrer Ehemänner. Aber so unterwürfig eine Sklavin auch sein mag, ihre Gesellschaft wird doch bald zur Last. Daher [163] kommt für die Männer die Notwendigkeit, sich allabendlich stumpfsinnig zu betrinken, statt wie in Italien die Abende mit der Geliebten zu verbringen. In England unternehmen reiche Leute, die sich zu Hause langweilen, unter dem Vorwande einer notwendigen Leibesübung einen vier- bis fünfstündigen Marsch, als ob der Mensch auf die Welt gekommen wäre, um zu laufen. Sie verbrauchen so ihre Nervenkraft mit den Beinen, statt mit dem Herzen. Bei alledem wagen sie von weiblichem Zartgefühl zu sprechen und Spanien und Italien gering zu schätzen.
Niemand hingegen ist beschäftigungsloser, als die jungen Italiener. Alle Bewegung, die ihre Empfindlichkeit beeinträchtigen würde, ist ihnen unangenehm. Höchstens machen sie von Zeit zu Zeit einen halbstündigen Spaziergang, weil er ihrer Gesundheit dienlich ist. Was die Frauen anbetrifft, so läuft eine Römerin im ganzen Jahre weniger, als eine junge Miß in einer Woche.
Mir scheint, daß der Stolz des englischen Ehemannes die Eitelkeit seiner armen Frau sehr geschickt auf die Spitze treibt. Er redet ihr vor allem ein, daß man nie gewöhnlich sein darf, und die Mütter, die ihre Töchter daraufhin zustutzen, einen Gatten zu finden, haben diesen Gedanken gut verstanden. Deshalb ist auch die Mode im vernünftigen England viel geschmackloser und herrischer, als im leichtfertigen Frankreich. In England ist sie eine Pflicht, in Paris ein Genuß. Die Ehemänner gestatten ihren Frauen gern diese aristokratische Narrheit als Entschädigung für den unendlichen Verdruß, den sie ihnen auferlegen.
[164] Vorzüglich finde ich in den einst berühmten Romanen der Miß Burney die Schilderung der gesellschaftlichen Zustände unter den englischen Frauen, wie sie der wortkarge Dünkel der Männer verschuldet hat. Da es gewöhnlich ist, um ein Glas Wasser zu bitten, wenn man durstig ist, so verdursten die Heldinnen der Miß Burney lieber. Um das Gewöhnliche zu meiden, fällt man in die schauderhafteste Ziererei.
Ich vergleiche die Vorsicht eines jungen Engländers von zwanzig Jahren mit dem tiefen Mißtrauen eines gleichalterigen Italieners. Der Italiener wird dazu gezwungen, um sich persönlich zu sichern, er legt aber sein Mißtrauen ab oder vergißt es wenigstens, sobald er vertraut wird, während sich Vorsicht und Hochmut beim jungen Engländer gerade inmitten der augenscheinlich zärtlichsten Gesellschaft verdoppeln.
Wohlgemerkt zwingt das Los des Silvio Pellico und hundert anderer den Italiener zum Mißtrauen, während die Vorsicht des jungen Engländers nur durch die übertriebene und krankhafte Empfindlichkeit seiner Eitelkeit verursacht wird. Der Franzose, der in seiner Denkweise jederzeit verbindlich ist, sagt seiner Geliebten alles. Das ist eine Gewohnheit bei ihm, ohne die er nicht ungezwungen wäre, und er weiß, daß es ohne Ungezwungenheit keine Anmut gibt.
Nur mit Schmerz und mit Tränen im Auge habe ich gewagt, das Vorstehende niederzuschreiben. Da ich aber auch einem Könige nicht schmeicheln würde, warum sollte ich da von einem Lande nicht sagen, was ich denke, wenn es of course auch recht ungereimt sein kann, weil ich gerade diesem Lande das [165] Leben der liebenswürdigsten Frau danke, die ich kennen gelernt habe?
Mit Befriedigung will ich hinzufügen, daß unter dieser Art von Sitten und unter so vielen Engländerinnen, die das geistige Opfer des männlichen Dünkels sind, doch eine ausgesprochene Originalität lebt, daß eine vornehme Familie, die über diese trübselige Beschränktheit erhaben ist, bezaubernde Charaktere hervorzubringen vermag. Aber wie unbezeichnend ist doch das Wort „bezaubernd“ trotz seines Ursprungs, um das wiederzugeben, was ich damit ausdrücken möchte. Die sanfte Imogen und die holde Ophelia haben sicherlich in England lebendige Urbilder; aber diese Wesen genießen durchaus nicht die hohe Verehrung, die der „fashionablen“ Engländerin einmütig gezollt wird, deren Bestimmung es ist, allen Anforderungen des Herkommens voll zu entsprechen und einem Gatten den Genuß des krankhaftesten aristokratischen Dünkels und eines sterbenslangweiligen Glückes zu gewähren.[7]
In der langen Flucht von fünfzehn bis zwanzig kühlen und lauschigen Gemächern, in denen die italienischen Damen nichtstuend ihr Dasein verträumen, lauschen sie den halben Tag lang den Worten der Liebe und der Musik. Abends im Theater im Dunkel der Logen hören sie wiederum die Sprache der Musik und der Liebe.
So ist neben dem Klima die Lebensweise in Spanien und Italien der Musik und der Liebe ebenso günstig, wie sie ihnen in England feindlich ist.
Ich tadle und lobe nicht, ich beobachte.
[166]
Ich liebe Irland zu sehr und ich habe mich dort zu wenig aufgehalten, um davon zu sprechen. Ich bediene mich der Beobachtungen eines Freundes.
Der gegenwärtige Zustand Irlands ist heute (1822) zum zwanzigsten Male seit zwei Jahrhunderten in jener eigentümlichen Phase, die mutigen Entschlüssen so förderlich und der Langeweile so feindlich ist, in einem Zustand, in dem sich Leute, die eben noch fröhlich zusammen frühstücken, zwei Stunden später auf einem Schlachtfelde wieder begegnen können. Nichts entspricht kräftiger und unmittelbarer der den zarten Leidenschaften günstigen Seelenstimmung, der Natürlichkeit. Nichts schützt mehr vor den beiden größten englischen Lastern, dem cant und der bashfulness (Heuchelei und Ängstlichkeit aus krankhaftem Stolz).
Man muß Irland für sehr unglücklich halten, da es seit zwei Jahrhunderten unter der feigen und grausamen Gewaltherrschaft Englands blutet. Es tritt in dem moralischen Zustande Irlands ein Schreckensgespenst hinzu, der Priester …
Seit zwei Jahrhunderten wird Irland ungefähr so schlecht regiert wie Sizilien. Und doch ist Sizilien das bei weitem glücklichere Land von beiden, die zu Gunsten weniger von Narren beherrscht werden. Seine Regierung läßt ihm wenigstens die Liebe und das Vergnügen. Sie hätte ihm diese wie alles andere wohl auch geraubt, aber glücklicherweise gibt es in Sizilien nur wenig von jenem moralischen Übel, das den Namen Gesetz und Regierung trägt. Ich bezeichne als moralisches Übel jede Regierung, die nicht [167] zwei Kammern hat. Die einzige Ausnahme davon ist die, wenn das Staatsoberhaupt ein Muster an Redlichkeit ist, wie zum Beispiel in Sachsen.
Die alten Leute und die Priester machen die Gesetze und halten auf ihre Ausübung; das erkennt man an der vielfach lächerlichen Eifersucht, mit der auf den britischen Inseln das Vergnügen verfolgt wird. Das Volk könnte zu seiner Regierung wie Diogenes zu Alexander sagen: „Geh mir ein wenig aus der Sonne!“
Durch Gesetze, Vorschriften, Gegenvorschriften und Strafverfügungen hat die Regierung in Irland die Kartoffel eingeführt, und die Bevölkerung Irlands übertrifft an Zahl bedeutend die Siziliens; das heißt, man hat ein paar Millionen rechtloser, dummer Bauern gezwungen, in Arbeit und Elend vierzig oder fünfzig Jahre hindurch ein unglückliches Leben in den Sümpfen des alten Erin zu fristen und dabei pünktlich den Zehnten zu zahlen. Ein hohes Wunder! In der heidnischen Religion hätten diese armen Teufel wenigstens ein Glück genossen, so aber müssen sie auch noch den heiligen Patrick anbeten.
In Irland sieht man nichts weiter als Bauern, die unglücklicher sind, als Wilde. Nur sind es, statt zehntausend wie im Naturzustände, acht Millionen[8] geworden, die fünfhundert Absentees in London oder Paris ein Leben in Überfluß ermöglichen.
In Schottland ist die Gesellschaft unendlich fortgeschrittener; dort ist die Regierung in vielen Beziehungen gut; Verbrechen sind selten, es gibt Bücher und keine Bischöfe. Die zarten Leidenschaften kommen dort viel besser zur Entwickelung. Wir brauchen also [168] keine trüben Betrachtungen anzustellen und dürfen zum Lächerlichen übergehen.
Man sieht den schottischen Frauen eine tiefe Melancholie an. Besonders verführerisch wirkt sie auf dem Balle, wo sie dem Feuer und dem leidenschaftlichen Eifer bei ihren Nationaltänzen etwas eigenartig Pikantes hinzufügt. Edinburg hat noch einen zweiten Vorteil, weil es sich der gemeinen Großmacht des Goldes entzogen hat. Hierdurch und durch die seltsame, wilde Schönheit ihrer Lage bildet diese Stadt den vollen Gegensatz zu London. Wie Rom, erscheint das schöne Edinburg als der richtige Ort zu einem beschaulichen Dasein. Der rastlose Wirbel und die unruhigen Forderungen des täglichen Lebens mit seinen Vor- und Nachteilen gehören nach London. Edinburg scheint mir seinen Tribut an den Teufel durch einen geringen Hang zur Pedanterie zu zahlen. Die Zeiten, wo Maria Stuart im alten Holyrood Hof hielt und Riccio in ihren Armen ermordet wurde, waren für die Liebe günstiger, als die (darin werden mir alle Frauen recht geben), wo man lange und sogar in ihrer Gegenwart darüber streitet, ob dem neptunischen oder vulkanischen System der Vorrang zu geben sei. Lieber ist mir noch ein Gespräch über die neue Uniform, die der König der Garde verliehen hat, oder über die Herrn B*** entgangene Lordschaft, die London bei meinem dortigen Aufenthalt gerade beschäftigte, als eine Unterhaltung von den besten Forschungen über die Natur der Felsen …
Ich will nichts über den schrecklichen schottischen Sonntag sagen, gegen den einer in London wie ein Vergnügungsausflug erscheint. Dieser Tag, der zur [169] Ehre des Himmels bestimmt ist, ist das beste Bild der Hölle, daß ich je auf Erden erblickt habe. „Wir wollen nicht so schnell laufen,“ sagte ein Schotte zu einem ihm befreundeten Franzosen auf dem Heimweg von der Kirche, „sonst sieht es aus, als gingen wir spazieren.“
Irland ist von allen drei Ländern dasjenige, wo sich, wie mir scheint, am wenigsten Heuchelei findet. In Irland findet man eine ausgelassene und sehr liebenswürdige Lebhaftigkeit. In Schottland halt man den Sonntag streng ein, aber am Montag tanzt man mit einer Freude und einer Hingabe, wie man sie in London nicht kennt. Es gibt viel Liebe unter der Landbevölkerung Schottlands. Die Allmacht der Phantasie hat dieses Land im sechzehnten Jahrhundert französisiert.
Der furchtbare Fehler der englischen Gesellschaft, der an einem einzigen Tage mehr Trübsal heraufbeschwört, als Verschuldung und ihre Folgen, ja als selbst der tödliche Kampf zwischen reich und arm, ist in einem Satze ausgedrückt, den ich in diesem Herbst in Croydon vor dem schönen Standbild des Bischofs hörte: „In der Gesellschaft will sich kein Mann in den Vordergrund stellen, aus Furcht, in seinen Erwartungen getäuscht zu werden.“
Man kann sich vorstellen, welche Gesetze solche Männer unter dem Namen der Schamhaftigkeit ihren Frauen und ihren Geliebten aufdrängen müssen.
Eine freie Regierung ist eine Regierung, die ihren Bürgern nichts Böses zufügt, sondern ihnen im Gegenteil [170] Sicherheit und Ruhe gewährt. Trotzdem ist der Weg von diesem Zustande bis zum Glücke noch weit; der Mensch muß es in sich selbst finden, denn nur eine gewöhnliche Seele kann sich im Genusse der Sicherheit und Ruhe völlig glücklich fühlen. In Europa, besonders in Italien, ist man sich darüber nicht recht klar. Da wir an Regierungen gewöhnt sind, die uns Schlimmes antun, erscheint uns die Befreiung davon als das höchste Glück. Wir gleichen in dieser Hinsicht Kranken, die sich unter schrecklichen Leiden abquälen. Das Beispiel Amerikas zeigt den Gegensatz. Dort versieht die Regierung ihr Amt vorzüglich, ohne irgend jemandem zu schaden. Aber als ob das Geschick unsere ganze Philosophie Lügen strafen und irre machen oder vielmehr der Unkenntnis über die Grundlagen der Menschennatur beschuldigen wollte, sehen wir, so fern uns auch bei unseren unglücklichen europäischen Zuständen seit Jahrhunderten jede wirkliche Erfahrung ist, doch ein, daß es den Amerikanern trotz ihrer vorteilhaften Regierung innerlich an etwas fehlt. Man möchte sagen, daß die Quelle des Gefühls bei ihnen versiegt sei. Sie sind gerecht, sie sind vernünftig, aber keineswegs glücklich.
Volney erzählt, daß er einmal auf dem Lande im Hause eines biederen Amerikaners war, eines wohlhabenden und von bereits erwachsenen Kindern umgebenen Mannes, als ein junger Mensch eintrat. „Guten Tag, William,“ sagte der Familienvater, „setze dich.“ Der Reisende fragte, wer der junge Mann sei. „Mein Zweitältester.“ – „Woher kommt er?“ – „Aus Canton.“ – Die Rückkehr eines Sohnes vom andern Ende der Welt verursachte keine größere Erregung.
[171] Alle Aufmerksamkeit scheint auf die vernünftige Regelung des Lebens und auf die Beseitigung aller Störungen gerichtet zu sein. Ist man endlich soweit, die Frucht so vieler Sorgen und eines so lange bewährten Ordnungssinnes zu pflücken, dann reicht das Leben zum Genuß nicht mehr aus.
Man kann sagen, die Söhne Penns haben nie jenen Vers gelesen, der ihre Geschichte zu sein scheint:
„Et propter vitam vivendi perdere causas.“
Die jungen Leute beiderlei Geschlechts unternehmen im Winter, der wie in Rußland die heitere Zeit des Landes ist, Tag und Nacht Schlittenfahrten miteinander und sind meilenweit unterwegs, lustig und ohne Beaufsichtigung. Aber niemals entsteht Schlimmes dabei.
Es gibt dort einen sozusagen physischen Frohsinn, der mit dem Feuer der Jugend, das heißt mit kaum fünfundzwanzig Jahren, dahin ist, aber keine genußbringenden Leidenschaften. Man ist in den Vereinigten Staaten so sehr an die Vernunft gewöhnt, daß eine Kristallbildung unmöglich ist.
Ich bewundere dieses Glück, aber ich fühle keinen Neid. Es ist wie das Glück einer fremdartigen, untergeordneten Art von Wesen. Von Florida und Mittelamerika vermute ich Besseres.
Meine Ansichten über Nordamerika werden bestärkt durch den völligen Mangel an Künstlern und Schriftstellern. Die Vereinigten Staaten haben uns noch keine Tragödie, kein Gemälde und keine Lebensbeschreibung Washingtons herübergeschickt.
[172]
Andalusien ist eine der lieblichsten Stätten, welche die Lebensfreude sich auf Erden zum Wohnsitz erwählt hat. Als die Mauren Andalusien verließen, haben sie dort ihre Baukunst und beinahe auch ihre Sitten zurückgelassen. Da ich über letztere unmöglich in der Sprache der Frau von Sévigné sprechen kann, so will ich wenigstens von der maurischen Bauweise erwähnen, daß ihr Hauptmerkmal darin besteht, jedes Haus mit einem kleinen Garten zu versehen, der von eleganten, schlanken Säulen umschlossen wird. Hier unter diesen Säulenhallen herrscht köstlicher Schatten, wenn draußen die unerträgliche Sommerhitze brütet und das Thermometer wochenlang 30° Reaumur zeigt. In der Mitte des Gärtchens befindet sich in der Regel ein Springbrunnen, dessen eintöniges, liebliches Plätschern das einzige Geräusch ist, das diese reizende Heimlichkeit belebt. Das Marmorbecken ist von einem Dutzend Orangen- und Lorbeerbäumen umgeben. Ein dichtes Zelttuch überdeckt das ganze Gärtchen und schützt es gegen die Strahlen und das Licht der Sonne, gestattet aber leichten Brisen, die um Mittag von den Bergen herwehen, das Eindringen.
In diesem Raume leben die reizenden Andalusierinnen und empfangen sie ihre Besuche in einem einfachen schwarzen Seidenkleide, mit gleichfarbigen Fransen besetzt, das einen entzückenden Spann sehen läßt. Ihr Gang ist leicht und lebhaft, ihre Hautfarbe blaß, und in ihren Augen spiegeln sich die flüchtigsten Schattierungen zartester und wildester Leidenschaft. So [173] treten sie uns entgegen, diese himmlischen Geschöpfe, die ich hier nicht leibhaftig schildern kann.
Ich betrachte das spanische Volk als die lebendige Verkörperung des Mittelalters.
Es weiß nichts von einer Unzahl kleiner Wahrheiten, auf die seine Nachbarn kindisch eitel sind, aber es ist um so vertrauter mit den großen und hat genug Charakter und Geist, um ihnen bis in die entferntesten Winkel zu folgen. Der spanische Charakter bildet ein schönes Gegenstück zu dem französischen Geiste; hart, jäh, wenig elegant, voll wilden Stolzes, immer rücksichtslos gegen andere, verhält er sich genau wie das fünfzehnte zum achtzehnten Jahrhundert.
Spanien reizt mich zu einem Vergleiche; das einzige Land, das Napoleon zu widerstehen verstand, erscheint mir durchaus frei von falscher Ehre und von allem, was am Ehrgefühl töricht ist.
Die Liebe erfuhr in der Provence von 1100 bis 1328 eine sonderbare Entwickelung. Es gab anerkannte Gesetze für die Liebesbeziehungen zwischen beiden Geschlechtem, die gleich streng und genau befolgt wurden, wie vielleicht heute die Gesetze der Ehre. Die geheiligten Rechte der Ehe traten vor ihnen völlig in den Hintergrund, Heuchelei war etwas Unbekanntes, und da diese Gesetze die menschliche Natur nahmen, wie sie ist, mußten sie viel Glück hervorbringen.
[174] Es gab eine ganz bestimmte Form, sich in eine Frau verliebt zu erklären, und ebenso eine, als Liebhaber angenommen zu werden. Nach einer gewissen Zeit vorschriftsmäßiger Huldigung war es gestattet, der Geliebten die Hand zu küssen. Die noch junge Gesellschaft gefiel sich in Förmlichkeiten und feierlichen Gebräuchen, die, damals ein Zeichen von Bildung, heute sterbenslangweilig wären. Der gleiche Charakter tritt in der provençalischen Sprache zutage, in der Künstelei und Geziertheit ihrer Verse, in den männlichen und weiblichen Wörtern für die Bezeichnung ein und desselben Gegenstandes, endlich in der auffällig großen Zahl ihrer Dichter. Alles, was in der Gesellschaft Form ist, was heute so geschmacklos erscheint, hatte damals die ganze Frische und Kraft der Neuheit.
Nach dem Handkusse rückte man Grad für Grad auf, je nach Verdienst und ohne Bevorzugung. Wohlgemerkt, wenn auch die Ehemänner nie in Frage kamen, so gab es andrerseits für die förmliche Annäherung der Liebhaber eine Grenze dicht an den Wonnen der zärtlichsten Freundschaft zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts. Erst nach mehreren Monaten oder Jahren der Prüfung, wenn eine Frau über den Charakter und die Verschwiegenheit eines Mannes völlig sicher war und dieser den Augenschein und die Vorteile der zärtlichsten Freundschaft mit ihr teilte, mochte solche Freundschaft die Tugend stark beunruhigen.
Ich sprach von Bevorzugung, das heißt, eine Frau konnte mehrere Liebhaber, jedoch nur einen ersten Liebhaber haben. Anscheinend kamen die anderen nicht viel über den Freundschaftsgrad des Handkusses und des täglichen Besuches hinaus. Alles, was uns [175] von jener seltsamen Kultur übrig geblieben ist, besteht in Versen, und zwar in Versen barockster und schwierigster Art. Man darf sich nicht wundern, wenn unsere auf die Balladen der Troubadoure gestützte Kenntnis unklar und wenig genau ist. Man hat sogar einen Heiratsvertrag in Versen gefunden. Nach der Eroberung von 1328 ordneten die Päpste zu wiederholten Malen an, daß alle Handschriften in der Landessprache als ketzerhaft verbrannt würden. Die römische Arglist verkündete das Lateinische als die einzige, eines so geistvollen Volkes würdige Sprache.
Auf den ersten Blick scheint so viel Öffentliches und Förmliches in der Liebe nicht im Einklang mit der wahren Leidenschaft zu stehen. Wenn die Dame zu ihrem Ritter sagte: „Geht aus Liebe zu mir und besucht das Heilige Grab zu Jerusalem, bleibt dort drei Jahre und kehrt dann zurück!“, so machte sich jener sofort auf den Weg; ein Augenblick des Zögerns hätte ihn mit gleicher Schande bedeckt, wie heutzutage eine Schwäche in Ehrensachen.
Die Sprache jener Zeit besaß eine große Feinheit, um die flüchtigsten Schattierungen der Empfindung auszudrücken. Ein weiteres Zeichen dafür, daß die Sitten auf dem Wege der wahren Kultur weit vorgeschritten waren, ist der Umstand, daß zu einer Zeit, wo die Schrecken des Mittelalters und des Lehnswesens mit ihrer rohen Gewalt kaum überwunden waren, das schwache Geschlecht weniger geknechtet wurde, als es heutzutage von Rechts wegen geschieht. Vielmehr finden wir die armen, schwachen Wesen, die in der Liebe das Höchste zu verlieren haben und deren Anmut so rasch verwelkt, als Herrinnen [176] des Geschickes der Männer, die sich ihnen nähern. Eine dreijährige Verbannung nach Palästina, der Übergang von einer lebensfreudigen Kultur zum Fanatismus und den Mühsalen eines Kreuzzuges muß für jeden, der nicht gerade ein überspannter Christ war, ein äußerst harter Frondienst gewesen sein.
Was kann heute eine Frau ihrem Geliebten antun, wenn er sie feig verläßt? Darauf gibt es meiner Ansicht nach nur eine Antwort: eine Frau, die auf sich hält, darf keinen Liebhaber haben. Die Vorsicht rät also heutzutage den Frauen mit Recht viel mehr von der Liebe aus Leidenschaft ab. Aber rät ihnen nicht dafür eine andere Vorsicht, die ich nicht im geringsten billige, sich in der Liebe aus Sinnlichkeit zu entschädigen? Demnach hat die Tugend durch unsere Heuchelei und unsere Entsagung durchaus nichts gewonnen, denn die Natur wird niemals ungestraft unterdrückt, nur das irdische Glück und die edelmütigen Regungen haben eine unendliche Einbuße erlitten.
Ein Liebender, der nach zehnjährigen vertrauten Beziehungen seine arme Geliebte verläßt, weil er die Spuren ihrer zweiunddreißig Jahre bemerkt, hätte in der liebereichen Provence seine Ehre verloren. Er hätte keinen anderen Ausweg gehabt, als sich in die Einsamkeit eines Klosters zu vergraben. Schon das eigene Wohl gebot also einem, wenn auch nicht edelherzigen, so doch vorsichtigen Manne, nicht mehr Leidenschaft zu heucheln, als er empfand.
Alles das ahnen wir nur, da wir zu wenig Denkmäler haben, die uns Genaues überliefern. Ein Gesamturteil über jene Kultur kann man sich aber aus verschiedenen Einzelheiten zusammenstellen.
[177] Ich erinnere an eine bekannte Anekdote. Ein Troubadour hatte seine Dame verletzt. Nachdem sie ihm zwei Jahre lang nicht die geringste Hoffnung gegeben hatte, würdigte sie endlich seine zahllosen Sendungen einer Antwort und ließ ihm sagen, wenn er sich einen Fingernagel abrisse und ihr den Nagel durch fünfzig liebende und treue Cavaliere überreichen ließe, würde sie ihm vielleicht verzeihen. Der Dichter unterzog sich unverweilt dem schmerzhaften Verfahren, und fünfzig bei ihren Damen glückliche Ritter erschienen, um der beleidigten Schönen den Nagel unter allem nur möglichen Pomp zu überreichen. Das war eine ebenso eindrucksvolle Feierlichkeit, wie der Einzug eines Prinzen von Geblüt in eine Stadt des Königreiches. Der Liebende folgte im Büßergewand von weitem hinter seinem Nagel her. Nach der ganzen langen Feierlichkeit geruhte die Dame dem Dichter zu verzeihen. Er wurde wieder all der Wonnen seines früheren Glückes teilhaftig, und die Geschichte läßt die beiden noch viele glückliche Jahre zusammen verleben. Die zwei Jahre der ertragenen Ungnade beweisen eine wahre Leidenschaft, oder, wenn sie vorher nicht mit der gleichen Innigkeit vorhanden war, war sie es dadurch sicherlich geworden.
Zwanzig andere Geschichten, die ich anführen könnte, zeigen immer wieder eine liebenswürdige, geistreiche und von beiden Geschlechtern nach den Forderungen der Gerechtigkeit gepflegte Galanterie. Ich sage Galanterie, denn zu allen Zeiten ist die Liebe aus Leidenschaft eine mehr seltsame, als häufige Ausnahme gewesen, die sich keine Gesetze aufdrängen läßt. In der Provence war alles, was sonst Berechnung ist oder [178] von der Entscheidung des Verstandes abhängt, auf die Gerechtigkeit und Gleichberechtigung beider Geschlechter begründet. Dadurch – und das bewundere ich am meisten – wurde viel Unglück ferngehalten. Im Gegensatz dazu verstieg sich der Absolutismus unter Ludwig dem Fünfzehnten dazu, Ruchlosigkeit und Schlechtigkeit in Dingen der Liebe zur Mode zu machen.[9]
Obgleich die hübsche provençalische Sprache, die so reich an Zartheiten und durch die Poesie so fein geschliffen ist, wahrscheinlich nicht die Sprache des Volkes war, so waren die Sitten der Vornehmen doch bis auf das untere Volk durchgedrungen, das in der Provence bei seinem damaligen Wohlstande durchaus nicht roh war. Es genoß die ersten Freuden eines blühenden und sehr einträglichen Handels. Die Küstenbewohner des Mittelmeeres hatten eben (im neunten Jahrhundert) entdeckt, daß es weniger beschwerlich und doch ebenso unterhaltend sei, ein paar Barken auf dem Meere aufs Spiel zu setzen, als im Gefolge irgend eines kleinen Feudalherrn die Reisenden auf der benachbarten Heerstraße zu plündern. Bald danach sahen die Provençalen des zehnten Jahrhunderts bei den Arabern, daß es süßere Freuden gibt als Raub, Gewalttat und Kampf.
Man muß das Mittelmeer als den Herd der europäischen Kultur betrachten. Die glücklichen Gestade dieses schönen Meeres waren schon durch das Klima begünstigt, noch mehr durch das mühelose Leben ihrer Bewohner und durch das völlige Fehlen des Düsteren in Glauben und Gesetz. Der überaus heitere Geist der damaligen Provençalen war durch die Annahme des Christentums nicht verdrängt worden.
[179] Wir sehen ein lebhaftes Bild von ähnlicher Wirkung aus gleicher Ursache in den Städten Italiens, deren Geschichte uns in deutlicherer Weise überliefert worden ist und die dabei noch das große Glück hatten, uns einen Dante, einen Petrarca und die Denkmäler ihrer Malerei zu hinterlassen.
Die Provençalen haben uns keine große Dichtung wie die „Göttliche Komödie“ vermacht, in der sich alle Eigentümlichkeiten der Sitten jener Zeit spiegeln. Vielleicht hatten sie weniger Leidenschaft, aber viel mehr heiteren Sinn, als die Italiener. Sie hatten von ihren Nachbarn, den Mauren in Spanien, die freudige Lebensanschauung. Die Liebe herrschte mit ihrer Fröhlichkeit, ihren Festen und ihrem Genuß in den Burgen der glücklichen Provence.
Wir hören im Opernhause das Finale einer schönen komischen Oper von Rossini. Alles auf der Bühne ist Heiterkeit, Schönheit, ideale Herrlichkeit. Wir sind den schlechten Seiten der menschlichen Natur weit entrückt. Die Oper ist zu Ende, der Vorhang fällt, die Zuschauer gehen, der Kronleuchter wird hochgezogen, die Lampen erlöschen. Schlechter Geruch erfüllt den Raum. Der Vorhang hebt sich wieder zur Hälfte, man sieht schmutzige, schlecht gekleidete Arbeiter auf der Bühne hin und her laufen. Sie machen sich in widerwärtiger Weise zu schaffen und stehen da, wo eben noch junge reizende Mädchen in ihrer Anmut waren …
Ähnlich war für das Königreich Provence die Wirkung der Eroberung von Toulouse durch das Heer der Kreuzfahrer. An Stelle der Liebe, der Anmut und Lebenslust traten nordische Barbarei und der heilige [180] Dominicus. Ich will diese Seiten nicht mit haarsträubenden Erzählungen von den Schrecknissen der Inquisition in ihrer ersten Blüte schänden. Diese Barbaren waren unsre Vorfahren; sie mordeten und plünderten alles; sie zertrümmerten aus Zerstörungslust, was sie nicht wegschleppen konnten; eine wilde Wut gegen alles, was eine Spur von Kultur verriet, beseelte sie, und ihre Raserei wurde besonders dadurch, daß sie kein Wort jener schönen Sprache des Südens verstanden, noch verdoppelt. Sehr abergläubisch und unter dem schrecklichen Einfluß des heiligen Dominicus, glaubten sie sich durch die Hinmordung von Provençalen den Himmel zu erwerben. Für diese war nun alles zu Ende; es gab keine Liebe, keine Fröhlichkeit, keine Poesie mehr; in kaum zwanzig Jahren nach der Eroberung waren sie ebenso barbarisch und roh, wie die Franzosen, unsere Väter.
Ich will eine kleine Geschichte aus den pronençalischen Handschriften[10] in der Übersetzung wiedergeben. Die Tatsachen darin ereigneten sich gegen das Jahr 1180, die Niederschrift fand um 1250 statt. Die Anekdote ist jedenfalls sehr bekannt. Die Färbung der Sitten spiegelt sich im Stil und ich bitte mir deshalb zu gestatten, Wort für Wort ohne die geringste Rücksicht auf die Eleganz der heutigen Sprache zu übersetzen.
„Herr Raimund von Roussillon war ein tapferer Baron, wie ihr wißt, und hatte zur Frau Madonna [181] Margarete, die schönste Frau jener Zeit, hochbegabt in allen guten Eigenschaften, aller Tugend und aller Höfischkeit. Es begab sich, daß Wilhelm von Cabestaing, Sohn eines armen Ritters von der Burg Cabestaing, an den Hof des Herrn Raimund von Roussillon kam, sich ihm vorstellte und ihn bat, am Hofe als Knappe bleiben zu dürfen. Herr Raimund fand ihn hübsch und gefällig, hieß ihn willkommen und sagte ihm, er solle am Hofe verweilen. So blieb Wilhelm bei ihm und wußte sich so artig zu benehmen, daß groß und klein ihn liebte, und er verstand sich derartig hervorzutun, daß Herr Raimund wollte, er solle Page der Madonna Margarete, seiner Frau, werden. Und so geschah es. Nun wollte Wilhelm noch würdiger in Worten und Werken werden. Aber, wie es in der Liebe zu gehen pflegt, fand es sich, daß die Liebe Madonna Margarete erfaßte und ihren Sinn entflammte. So sehr gefiel ihr das Tun Wilhelms, seine Rede und seine Erscheinung, daß sie sich eines Tages nicht enthalten konnte, zu ihm zu sagen: „Wohlan, Wilhelm, sage mir, wenn eine Frau sich den Anschein gäbe, dich zu lieben, würdest du sie wieder lieben?“ – Wilhelm verstand sie und antwortete freimütig: „Gewiß, Herrin, ich würde es tun, vorausgesetzt, daß der Anschein Wahrheit ist.“ – „Beim heiligen Johannes“, sagte die Dame, „du hast wie ein Mann gesprochen. Aber jetzt will ich dich prüfen, ob du zu sehen und zu erkennen vermagst, was am Anschein wahr oder unwahr ist.“
Als Wilhelm diese Worte vernommen hatte, erwiderte er: „Herrin, es geschehe, wie es Euch gefällt.“
[182] Er begann nachdenklich zu werden, und Amor suchte sogleich Fehde mit ihm. Die Gedanken, die Amor den Seinen sendet, trafen ihn bis in das tiefste Herz, und von da an wurde er ein Diener der Minne und fing an, kleine, gefällige, frohe Lieder, Tanzweisen und Gesänge zu dichten, wodurch er sehr gefiel und am meisten der, für die er sang. Amor aber, der seine Vasallen belohnt, wenn es ihm gefällt, wollte Wilhelm den gebührenden Lohn erteilen. Und alsbald begann er der Dame so viele Gedanken und Einfälle über die Liebe zu geben, daß sie nicht Tag noch Nacht Ruhe fand in Gedanken an die Männlichkeit und den kühnen Sinn, der Wilhelm so reichlich erfüllte und ihm innewohnte.
Eines Tages geschah es, daß die Dame Wilhelm nahm und ihm sagte: „Wilhelm, sage mir nun, weißt du zu dieser Stunde, was von dem Anschein an mir Wahrheit oder Trug ist?“ – Wilhelm antwortet: „Madonna, so wahr mir Gott helfe, von dem Augenblick an, da ich Euer Diener ward, konnte mir kein andrer Gedanke in das Herz dringen, als daß Ihr die Beste seid, die je geboren ward, und die Wahrste in Wort und Wesen. Das glaube ich und werde ich mein Leben lang glauben!“
Und die Dame antwortete: „Wilhelm, ich sage dir, so Gott mir hilft, wirst du von nur nicht getäuscht werden und deine Gedanken sollen nicht vergeblich und verloren sein.“ Und sie breitete ihre Arme aus und umarmte ihn zärtlich in dem Gemache, darin sie beide saßen, und sie gaben sich der Minne hin. Es dauerte jedoch nicht lange, daß die bösen Zungen, die Gottes Zorn treffen möge, danach trachteten, von ihrer Liebe [183] zu plaudern und zu lästern wegen der Lieder, die Wilhelm verfaßte, und sagten, er sei in Frau Margarete verliebt. Und so lange redeten sie hin und her, bis die Sache Herrn Raimund zu Ohren kam. Da wurde er sehr betrübt und von schwerer Trauer erfüllt, erstlich, weil er seinen Reitknappen, den er sehr liebte, verlieren sollte, und dann wegen der Schande seiner Frau.
Eines Tages begab es sich, daß Wilhelm mit einem Reitknecht auf die Sperberjagd gegangen war, als Herr Raimund sich erkundigte, wo er wäre. Ein Knecht antwortete, er sei auf die Sperberjagd geritten, und ein andrer, der es wußte, fügte hinzu, nach welchem Orte. Auf der Stelle nahm Raimund Waffen, die er verbarg, ließ sich sein Pferd bringen und schlug ganz allein den Weg nach dem Orte ein, wohin Wilhelm gegangen war. Er ritt so lange, bis er ihn fand. Als Wilhelm ihn kommen sah, war er sehr erstaunt und sofort kamen ihm trübe Ahnungen. Er ritt ihm entgegen und sagte zu ihm: „Herr, seid willkommen! Warum seid Ihr so allein?“ – Herr Raimund entgegnete: „Wilhelm, du bist’s, den ich suche, um mich mit dir zu unterhalten. Hast du nichts erjagt?“ – „Nichts, Herr, denn ich habe nichts gefunden, und wer nichts findet, hat nichts, sagt das Sprichwort.“ – „Lassen wir diese Unterhaltung,“ sprach Herr Raimund, „und bei der Treue, die du mir schuldig bist, sage mir die Wahrheit in allen Dingen, um die ich fragen werde.“ – „Bei Gott, Herr,“ entgegnete Wilhelm, „wenn ich es sagen kann, werde ich es Euch gern sagen.“ – „Ich will keine Spitzfindigkeiten,“ sagte Herr Raimund, „sondern du sollst mir alles und [184] jedes sagen, um was ich dich frage!“ – „Herr, so viel Ihr mich auch zu fragen beliebt, immer will ich Euch die Wahrheit sagen.“ – Und Herr Raimund fragte: „Wilhelm, sage mir bei Gott und dem heiligen Glauben, hast du eine Geliebte, die du besungen hast und an die dich Amor fesselt?“ – Wilhelm antwortete: „Herr, wie könnte ich singen, wenn Amor mich nicht drängte? Hört die Wahrheit, Herr, Amor hat mich ganz in seiner Gewalt!“ Raimund fuhr fort: „Das will ich gern glauben, daß du sonst nicht so schön dichten könntest. Aber ich will gern wissen, wer deine Dame ist?“ – „Ach Herr, im Namen Gottes, was verlangt Ihr da? Ihr wißt doch sehr wohl, daß man den Namen seiner Dame nicht nennen darf und daß Bernhard von Ventadour sagt:
‚Wenn dich wer fragt nach deinem Lieb,
Nur eine kluge Antwort gib:
Am besten magst du lügen keck,
Die Wahrheit wäre nicht am Fleck.
Nein, töricht ist und knabenhaft,
Wer seines Herzens Leidenschaft
Ausplaudert einem andern Mann,
Der nimmer helfen will und kann.‘“ –
Herr Raimund antwortete: „Ich gebe dir mein Wort, daß ich dir helfen will, soweit ich kann.“ Er drang immer weiter in ihn, bis Wilhelm sagte: „Herr, so wißt denn, daß ich die Schwester von Frau Margarete, Eurer Gemahlin, liebe und daß ich ihre Gegenliebe erhoffe. Jetzt, da Ihr es wißt, bitte ich Euch, mir zu helfen oder mir wenigstens nicht zu schaden.“ – „Nimm Hand und Wort,“ sprach Raimund, „ich [185] schwöre und verspreche dir, daß ich meine ganze Macht für dich aufwenden werde.“ Darauf gab er ihm sein Wort, und als er es gegeben hatte, sagte er: „Ich will, daß wir in ihr Schloß gehen, denn es liegt nicht weit von hier.“ – „Ich bitte Euch darum, bei Gott!“ stimmte Wilhelm zu.
So schlugen sie den Weg nach der Burg Liet ein. Dort wurden sie von Herrn Robert von Tarascon, dem Gemahl der Frau Agnes, der Schwester der Frau Margarete, und von Frau Agnes selbst wohl aufgenommen. Herr Raimund nahm Frau Agnes bei der Hand und führte sie in ihr Gemach, und sie setzten sich auf das Bett. Und Herr Raimund sprach: „Jetzt sprich, Schwägerin, bei der Treue, die du mir schuldest, hast du eine Liebe?“ – „Ja, Herr!“ – „Und wer ist es?“ – „Oh, das sage ich nicht,“ erwiderte sie, „was führt Ihr da für Reden?“
Schließlich bestürmte er sie mit Bitten, und sie vertraute ihm an, daß sie Wilhelm von Cabestaing liebe. Sie sagte das, weil sie bemerkt hatte, daß Wilhelm traurig und nachdenklich war und weil sie von seiner Liebe zu ihrer Schwester wußte. Auch fürchtete sie, Raimund könne Schlechtes gegen Wilhelm planen. Ihre Antwort versetzte Raimund in große Freude. Agnes erzählte alles ihrem Gemahl und er antwortete ihr, daß sie wohl getan hätte, und gab ihr die Freiheit, alles zu sagen und zu tun, um Wilhelm zu retten. Agnes ließ es nicht daran fehlen. Sie rief Wilhelm ganz allein in ihre Kammer und verweilte so lange mit ihm, daß Raimund dachte, er müsse mit ihr die Freuden der Liebe genossen haben. Alles das war ihm recht und er begann zu glauben, daß das, was [186] man ihm erzählt hatte, nicht wahr und leeres Gerede sei, Agnes und Wilhelm kamen aus dem Gemach, das Abendessen wurde bereitet und man tafelte bei großer Heiterkeit. Und nach dem Abendessen ließ Agnes beider Lager nahe an der Türe zu ihrem Gemache errichten. Die Dame und Wilhelm spielten ihr Spiel so gut, daß Raimund glaubte, er schliefe bei ihr.
Am anderen Tage speisten sie im Schlosse mit großer Heiterkeit, und nach dem Mahle ritten sie mit allen Ehren eines ritterlichen Abschieds von dannen und kamen nach Roussillon zurück. Und sobald Raimund konnte, trennte er sich von Wilhelm, ging zu seiner Frau und erzählte ihr, was er von Wilhelm und ihrer Schwester gesehen hatte. Darüber war sie die ganze Nacht in großer Traurigkeit und am nächsten Morgen ließ sie Wilhelm rufen, empfing ihn ungnädig und nannte ihn einen falschen Freund und Verräter. Wilhelm bat um Gnade als ein Mann, der nichts Schlechtes von all dem getan habe, was sie ihm vorwarf, und erzählte ihr alles Wort für Wort, was sich begeben hatte. Die Dame rief ihre Schwester zu sich und erfuhr durch sie, daß Wilhelm recht hatte. Deshalb sagte sie ihm und befahl ihm, er solle ein Lied machen, in dem er zeigte, daß er außer ihr keine Frau liebe. Da dichtete er das Lied, das beginnt:
„Das süße Träumen,
Das Minne mir gewährt …“
Und als Raimund von Roussillon das Lied hörte, das Wilhelm für seine Frau gedichtet hatte, ließ er ihn kommen, um weit ab vom Schlosse ihn zur Rede zu stellen, schlug ihm den Kopf ab und steckte ihn [187] in seine Jagdtasche, riß ihm das Herz aus dem Leibe und tat es zu dem Kopfe. Darauf ging er zur Burg. Er ließ das Herz braten und seiner Frau zu Tisch vorsetzen und ließ sie es essen, ohne daß sie wußte, was sie aß. Als sie es gegessen hatte, stand Raimund auf und sagte seiner Frau, daß sie soeben das Herz des Herrn Wilhelm von Cabestaing gegessen habe, zeigte ihr das Haupt Wilhelms und fragte sie, ob ihr das Herz gut gemundet habe. Und sie hörte, was er sagte, und sah und erkannte das Haupt des Herrn Wilhelm. Sie antwortete ihm und sprach, daß niemals andere Speise und Trank ihrem Munde den Geschmack verderben solle, den das Herz Wilhelms darin zurückgelassen habe. Und Raimund ging mit einem Degen auf sie los. Sie entfloh, warf sich von einem Balkon herab und zerschmetterte sich das Haupt.
Dies wurde in ganz Catalonien und in allen Ländern des Königs von Aragon bekannt. Der König Alfons und alle Barone seiner Reiche empfanden großen Schmerz und große Traurigkeit über den Tod des Herrn Wilhelm und der Dame, die Raimund auf so häßliche Weise in den Tod getrieben hatte. Sie erklärten ihm den Krieg auf Leben und Tod. Nachdem der König Alfons von Aragon die Burg Raimunds genommen hatte, ließ er Wilhelm und seiner Dame ein Standbild vor der Kirche einer kleinen Stadt namens Perpignan setzen. Alle wahr Liebenden beteten für ihre Seelen zu Gott. Der König von Aragon nahm Raimund gefangen, ließ ihn im Kerker umkommen und verteilte alle seine Güter an die Verwandten Wilhelms und der Dame, die für ihn gestorben war.“
[188]
Es hat Minnegerichte in Frankreich nachweisbar in der Zeit von 1150 bis 1200 gegeben; wahrscheinlich aber reicht ihr Dasein bis in eine viel frühere Zeit zurück.
Die Damen, die zu Minnegerichten zusammentraten, entschieden entweder über Rechtsfragen, zum Beispiel, ob die Liebe zwischen verheirateten Leuten statthaft sei, oder über besondere Fälle, die Liebende ihrem Spruch unterwarfen.[11]
Soweit ich mir über die moralische Seite dieser Rechtspflege klar werden konnte, muß man sie mit den Ehrengerichten der Marschälle von Frankreich, die Ludwig der Vierzehnte einsetzte, vergleichen.
André, Kaplan des Königs von Frankreich,[12] um 1170 schriftstellerisch tätig, erwähnt die Minnegerichte der Damen der Gascogne, der Gräfin Irmgard von Narbonne, der Königin Eleonore, der Gräfin von Flandern und der Gräfin von Champagne (1174); von letzterer erwähnt er allein neun Urteile.
Jean von Nostradamus sagt in seiner „Vie des poëtes provençaux“ (Seite 15): „Die Tenzonen waren Wortkämpfe zwischen sangeskundigen Rittern und Damen über irgend eine schöne und spitzfindige Streitfrage auf dem Gebiete der Liebe. Fälle, über die man nicht einig werden konnte, unterbreitete man zur endgültigen Entscheidung den erlauchten Damen, die diesen Disputationen vorsaßen und öffentlich in Signe, Pierrefeu, Romanin oder andernorts Minnegerichte abhielten und ihre Urteile abgaben, die sogenannten [189] „lous arrests d’Amours“. Wahrscheinlich tagte ein und dasselbe Gericht bald im Schlosse zu Pierrefeu, bald in dem zu Signe.“
In seiner „Vie de Bertrand d’Alamanon“ erzählt Nostradamus: „Dieser Troubadour war in Phanette von Romanin verliebt, eine Dame aus dem Hause Gantelmes, die damals in ihrem Schlosse zu Romanin, nahe der Stadt Saint-Remy, öffentliches und freies Minnegericht hielt. Sie war eine Tante der Laura de Sade in Avignon, die der Dichter Petrarca so verherrlicht hat.“ Bei dieser Gelegenheit liest man, daß Laura in Avignon um 1341 gelebt hat, daß sie von Phanette unterrichtet wurde, und daß beide treffliche Lieder nach allen Regeln der provençalischen Dichtkunst dichteten. Sie war von vielen vornehmen und edlen Damen der Provence umgeben, die um jene Zeit in Avignon berühmt waren, als der päpstliche Hof dort residierte. Sie widmeten sich dem Studium der Literatur, hielten öffentliche Minnegerichte ab und entschieden Liebesstreitigkeiten, die ihnen vorgebracht und zugesandt wurden.
André berichtet, daß ein Gericht, das von einer großen Zahl von Damen und Rittern gebildet wurde, einen Liebeskodex veröffentlicht hat.
Er hat uns auch ein Bittgesuch überliefert, das an die Gräfin von Champagne gerichtet wurde, als sie die Frage: „Kann wahre Liebe zwischen Eheleuten bestehen?“ in verneinendem Sinne entschieden hatte.
Welche Strafe ereilte nun jemanden, der sich dem Urteil eines Minnegerichts nicht fügte? Wir lesen eine Verfügung des Gerichts von Gascogne, daß solche [190] Urteile wie gesetzliche Bestimmungen anzusehen seien und daß unbotmäßige Damen sich die Feindseligkeit jeder anständigen Dame zuziehen würden.
Wie weit erkannte aber die öffentliche Meinung die Urteilssprüche dieser Minnegerichte an? Galt sich ihnen zu entziehen genau so als Schande, wie heutzutage in Ehrensachen? Ich finde bei André und bei Nostradamus keine Auskunft über diese Fragen.
Zwei Troubadoure, Simon Doria und Lansranc Cigalla, regten einmal die Frage an: „Wer ist der Liebe würdiger, jemand, der sie freiwillig, oder jemand, der sie unfreiwillig gewährt, um für freigebig zu gelten?“ Diese Frage wurde den Damen des Minnegerichts von Pierrefeu und Signe vorgelegt, aber die beiden Troubadoure waren mit der gefällten Entscheidung nicht zufrieden und wandten sich an das oberste Minnegericht der Damen von Romanin.
In ihrer Fassung entsprachen diese Urteilssprüche ganz den Richterurteilen jenes Zeitalters. Wie auch die Meinung des Lesers über die gewaltige Macht sein mag, die damals die Minnegerichte im zeitgenössischen Leben bildeten, ich bitte dabei in Betracht zu ziehen, um was sich heute die Unterhaltung der vornehmsten und reichsten Damen von Toulon und Marseille bewegt. Waren die Frauen von 1174 nicht um vieles fröhlicher, geistreicher und glücklicher, als die von heute?
Fast alle Urteilssprüche der Minnegerichte fußen auf den Satzungen des Liebeskodex. Er findet sich vollständig in dem Werke von André und enthält folgende einunddreißig Sätze.
[191]
1.
Causa conjugii ab amore non est excusatio recta.
Die Ehe ist für die Liebe kein Hinderungsgrund.
2.
Qui non celat, amare non potest.
Wer nicht verschwiegen sein kann, kann auch nicht lieben.
3.
Nemo duplici potest amore ligari.
Man kann sein Herz nicht zweimal vergeben.
4.
Semper amorem minui vel crescere constat.
Die Liebe kann jederzeit wachsen oder abnehmen.
5.
Non est sapidum, quod amans ab invito sumit amante.
Was man in der Liebe gewaltsam erringt, bietet keinen Genuß.
6.
Masculus non solet nisi in plena pubertate amare.
Der Mann liebt gewöhnlich erst in voller Reife.
7.
Biennalis viduitas pro amante defuncto superstiti praescribitur amanti.
Stirbt einer der Liebenden, so muß der Überlebende ihm zwei Jahre hindurch die Treue halten.
[192]
8.
Nemo, sine rationis excessu, suo debet amore privari.
Niemand soll ohne triftigen Grund seines Rechts in der Liebe beraubt werden.
9.
Amare neno potest, nisi qui amoris suasione oompellitur.
Niemand vermag zu lieben ohne Hoffnung auf Gegenliebe.
10.
Amor semper ab avaritia consuevit domiciliis exulare.
Durch Geiz wird die Liebe meist aus dem Hause getrieben.
11.
Non decet amare, quarum pudor est nuptias affectare.
Es ziemt sich nicht, die zu lieben, die man zu heiraten sich schämen würde.
12.
Verus amans alterius nisi suae coamantis ex affectu non cupit amplexus.
Wahre Liebe begehrt nach keinen anderen Liebkosungen, als nach denen der Geliebten.
13.
Amor raro consuevit durare vulgatus.
Liebe, von der alle wissen, hat selten Dauer.
[193]
14.
Facilis perceptio contemptibilem reddit amorem, diffcilis eum parum facit haberi.
Zu leichter Erfolg raubt der Liebe bald den Reiz, Hindernisse verleihen ihr den Wert.
15.
Omnis consuevit amans in coamantis aspectu pallescere.
Jeder Liebende erblaßt beim Anblick der Geliebten.
16.
In repentina coamantis visione cor tremescit amantis.
Beim unerwarteten Erscheinen des Geliebten erbebt das Herz.
17.
Novus amor veterem oompellit abire.
Neue Liebe verjagt die alte.
18.
Probitas sola quemcumque dignum facit amore.
Verdienst allein macht der Liebe würdig.
19.
Si amor minuatur, cito deficit et raro convalescit.
Eine erlöschende Liebe verflackert rasch und lodert selten wieder auf.
20.
Amorosus semper est timorosus.
Der Liebende ist immer zaghaft.
[194]
21.
Ex vera zelotypia affectus semper crescit amandi.
Durch echte Eifersucht wächst die Liebe immer.
22.
De coamanta suspicione percepta zelus interea et affectus crescit amandi.
Argwohn und seine Folge, die Eifersucht, nährt die Neigung.
23.
Minus dormit et edit quem amoris cogitatio vexat.
Wen Liebesgedanken umgarnen, der ißt und schläft weniger.
24.
Quilibet amantis actus in coamantis cogitatione finitur.
Alles Tun eines Liebenden endet mit dem Gedanken an die Geliebte.
25.
Verus amans nihil beatum credit, nisi quod cogitat amanti placere.
Der wahren Liebe erscheint nur das gut, was der Geliebten gefällt.
26.
Amor nihil posset amori denegare.
Liebe kann der Liebe nichts versagen.
27.
Amans coamantis solatiis satiari non potest.
Der Liebende wird des Genusses der Geliebten nie satt.
[195]
28.
Modica praesumtio cogit amantem de coamante suspicari sinistra.
Der leiseste Verdacht weckt den schrecklichsten Argwohn des Geliebten.
29.
Non solet amare quem nimia voluptatis abundantia vexat.
Wer zu sehr an Vergnügungen gewöhnt ist, den meidet die Liebe.
30.
Verus amans assidua, sine intermissione, cosmantis imagine detinetur.
Wer liebt, dem schwebt das Bild des geliebten Wesens immerdar vor Augen.
31.
Unam feminam nihil prohibet a duobus amari, et a duabus mulieribus unum.
Nichts steht dem entgegen, daß eine Frau von zwei Männern oder daß ein Mann von zwei Frauen geliebt wird.
Zuletzt die Entscheidung eines Minnegerichts:
Frage: „Utrum inter conjugatos amor possit habere locum?“
Urteil der Gräfin von Champagne:
„Dicimus enim et stabilito tenore firmamus amorem non posse inter duos jugales suas extendere vires, nam amantes sibi invicem gratis omnia largiuntur, nullius necessitatis ratione cogente; [196] jugales vero mutuis tenentur ex debito voluntatibus oboedire et in nullo seipsos sibi ad invicem denegare …
Hoc igitur nostrum judicium, cum nimia moderatione prolatum, et aliarum quamplurium dominarum consilio roboratum, pro indubitabili vobis sit ac veritate constanti.
Ab anno MCLXXIV, tertio calend. maii, indictione VII.“
„Wir sagen und verfügen hiermit, daß die Liebe auf zwei verheiratete Personen ihre Rechte nicht ausdehnt, dieweil sich Liebende alles gegenseitig und freiwillig gewähren, ohne durch eine Notwendigkeit gezwungen zu werden, dagegen Ehegatten verpflichtet sind, sich gegenseitig zu Willen zu sein und eins dem anderen nichts zu verweigern. Solches Urteil, das wir nach reiflicher Erwägung und nach Einholung des Gutachtens einer großen Zahl anderer Damen gefällt haben, sei euch allezeit eine unerschütterliche und unverbrüchliche Wahrheit! So gegeben im Jahre 1174 am 16. Mai.“
Unter den schwarzen Zelten der arabischen Beduinen ist die Heimat und das Urbild der wahren Liebe zu suchen. Dort hat die Einsamkeit und ein schönes Klima die edelste Leidenschaft des menschlichen Herzens geboren, jene Leidenschaft, die, um das Glück zu finden, eines Wiederhalls ihrer eigenen Empfindungen bedarf.
[197] Um der Liebe im Menschenherzen den Schein des Idealen zu verleihen, war die möglichste Gleichheit zwischen der Geliebten und dem Liebenden erforderlich. Diese Gleichheit fehlt vor allem in unserem traurigen Abendlande, wo eine verlassene Frau unglücklich und entehrt ist. Unter dem Zelte des Arabers kann die Treue niemals gebrochen werden. Verachtung und Tod würden diesem Vergehen augenblicklich folgen.
Die Freigebigkeit ist diesem Volke so heilig, daß man stehlen darf, um zu geben. Im übrigen sind Gefahren dort alltäglich und das Leben spielt sich gleichsam in leidenschaftsvoller Einsamkeit ab. Selbst zu mehreren vereint, sprechen Araber wenig.
Die Wüstenbewohner kennen keine Abwechselung; alles ist dort ewig und unbeweglich. Ihre sonderbaren Sitten, von denen ich aus Unkenntnis nur ein schwaches Bild zu geben vermag, reichen wahrscheinlich bis ins homerische Zeitalter zurück. Sie sind zum erstenmal gegen das Jahr 600 unserer Zeitrechnung, zweihundert Jahre vor Karl dem Großen, beschrieben worden.
Im Vergleich zum Morgenlande waren wir die Barbaren, als wir es mit unseren Kreuzzügen beunruhigten, und was in unseren Sitten edel ist, verdanken wir den Kreuzzügen und den Mauren in Spanien.
Daß wir uns mit den Arabern vergleichen sollen, wird der prosaische Mensch in seinem Dünkel mitleidig belächeln. Unsere Künste sind den ihren weit überlegen und unsere Gesetzgebung dem Anscheine nach noch mehr, aber ich bezweifle es, ob wir sie in der Kunst des häuslichen Glücks übertreffen. Uns hat es von jeher an Redlichkeit und Einfachheit gefehlt. Im [198] Familienleben aber ist der Heuchler der erste Unglückliche. Er hat das Gefühl des Geborgenseins nicht.
Soweit die ältesten geschichtlichen Denkmäler zurückreichen, finden wir die Araber schon im grauen Altertum in eine große Zahl unabhängiger, in der Wüste umherwandernder Stämme geteilt. Je leichter diese Stämme sich mit den einfachsten menschlichen Bedürfnissen abfanden, desto verfeinerter waren ihre Sitten. Die Freigebigkeit war überall gleich, aber je nach dem Wohlstande des Stammes äußerte sie sich im Schenken eines Ziegenviertels, das zum notdürftigen Lebensunterhalt gehörte, oder im Darbieten von hundert Kamelen, wenn Familienbeziehungen oder Gastfreundschaft es erheischten.
Die Heldenzeit der Araber, in der diese hochsinnigen Menschen frei von jeder schöngeistigen oder überfeinerten Unnatürlichkeit hervorragten, ist das Jahrhundert vor Mohammed, das dem fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, also der Zeit der Gründung Venedigs und der Herrschaft Chlodwigs entspricht. Ich bitte ohne Vorurteil, die Liebeslieder, die uns die Araber überliefert haben, und die edle Kultur, die uns in „Tausend und eine Nacht“ geschildert wird, mit den abscheulichen Greueln zu vergleichen, die jedes Blatt Gregors von Tours und Einhards, der Geschichtsschreiber Chlodwigs und Karls des Großen, besudeln.
Mohammed war Puritaner, er wollte den Genuß aus der Welt schaffen, auch wenn dieser niemanden schädigte. Er hat in den Ländern, die den Islam angenommen haben, die Liebe vernichtet. Deshalb hat seine Religion auch weniger in Arabien, ihrer Wiege, [199] als in allen anderen morgenländischen Ländern Wurzel gefaßt.
Die Franzosen haben aus Ägypten vier Foliobände mit dem Titel „Buch der Lieder“ mitgebracht. Diese Bände enthalten:
1. Lebensbeschreibungen der Dichter der Lieder.
2. Die Lieder selbst. Der Dichter besingt darin alles, was ihn bewegt; er verherrlicht seine Geliebte, sein flüchtiges Roß und seine Waffen. Diese Lieder sind oft Liebesbriefe, die der Geliebten ein treues Bild aller Seelenempfindungen des Verfassers geben. Er singt darin zuweilen von kalten Nächten, wo er gezwungen ist, aus Pfeil und Bogen ein Feuer anzuzünden. Die Araber sind ein obdachloses Volk.
3. Lebensbeschreibungen der Komponisten, die zu den Liedern die Melodien geschaffen haben.
4. Zum Schluß eine Zusammenstellung von musikalischen Regeln. Diese Formeln sind für uns Hieroglyphen. Für immer wird uns diese Musik unbekannt bleiben und übrigens würde sie nicht nach unserem Geschmacke sein.
Es gibt noch eine Sammlung mit dem Titel „Geschichten von Arabern, die aus Liebe gestorben sind“.
Diese höchst seltenen Bücher sind sehr wenig bekannt. Die Gelehrten, die sie lesen könnten, haben ein vom Studieren und vom Gelehrtendasein ausgedörrtes Herz. Um sich unter diesen, durch ihr Alter und die seltsame Schönheit der Kultur, die sie ahnen lassen, so interessanten Denkmälern zurechtzufinden, muß man sich in die Geschichte vertiefen.
Zu allen Zeiten und schon vor Mohammed pilgerten die Araber nach Mekka zur Wallfahrt nach der Kaaba [200] oder dem Hause Abrahams. Ich habe in London ein sehr genaues Modell der Heiligen Stadt gesehen. Es sind sieben- bis achthundert Häuser mit flachen Dächern mitten in der sonnendurchglühten Sandwüste. An einem Ende der Stadt erblickt man ein riesiges, fast viereckiges Gebäude, das die Kaaba umgibt; es wird aus einer langen Flucht von Säulengängen gebildet, die unter der Sonne Arabiens die Ausübung des heiligen Rundganges ermöglichen. Diese Säulengänge haben in der Geschichte der Sitten und der Dichtkunst der Araber eine große Bedeutung. Jahrhundertelang waren sie augenscheinlich der einzige Ort, wo Männer und Frauen zusammenkamen. Bunt durcheinander, mit langsamen Schritten und unter dem Chorgesang heiliger Lieder machte man den Rundgang um die Kaaba. Ein Umgang dauert dreiviertel Stunden, man führte ihn an einem Tage mehreremal aus. Das war ein heiliger Brauch, zu dem Männer und Frauen aus allen Gegenden der Wüste herbeiströmten. Unter den Säulengängen der Kaaba haben sich die arabischen Sitten geglättet. Dort entstand ein Kampf zwischen Vätern und Liebenden, dort im Gedränge während der Wallfahrt verrieten Liebeslieder die Leidenschaft ihres Dichters dem jungen Mädchen, das von ihren Brüdern oder ihrem Vater streng bewacht wurde. Hochherzige Neigungen und Sinn für Gefühl waren schon im Zeltlager vorhanden, aber mir scheint, daß die Galanterie der Araber bei der Kaaba entstanden ist, ebenso wie dort die Heimat ihrer Literatur ist. Anfangs drückte man die Leidenschaft mit Einfachheit und Kraft aus, wie der Dichter sie empfand. Später war er nicht mehr lediglich darauf bedacht, seine Geliebte [201] zu rühren, er sann nach und schrieb in schönen Worten. So entstand die Überschwenglichkeit, die mit den Mauren nach Spanien gelangte und dort noch heutzutage die Bücher dieses Landes verdirbt.
Einen rührenden Beweis der Hochachtung der Araber für das schwache Geschlecht sehe ich in ihrem Brauch bei der Ehescheidung. Die Frau riß in Abwesenheit des Gatten, von dem sie getrennt sein wollte, das Zelt ab und schlug es in der Weise wieder auf, daß der Eingang nunmehr an der entgegengesetzten Seite war. Diese einfache sinnbildliche Handlung trennte beide Gatten für ewig.
Mohammed, der Sohn des Djaâfar Elahuâzadi, erzählt, daß Elâbas, Sohn des Sohail, den Djamil während seiner letzten Krankheit besuchte und ihn bereit fand, die Seele aufzugeben, „O Sohn Sohails,“ sagte Djamil zu ihm, „wie denkst du über einen Mann, der niemals Wein getrunken, niemals unerlaubten Gewinn gemacht, niemals ungerechterweise eine lebende Kreatur wider Gottes Gebot getötet und immer den Glauben gehabt hat, daß es keinen Gott außer Allah gibt, und daß Mohammed sein Prophet ist?“ – „Ich denke,“ entgegnete Sohail, „daß dieser Mann selig werden und in das Paradies eingehen wird. Aber wer ist der Mann, den du meinst?“ – „Ich bins,“ [202] erwiderte Djamil. – „Ich glaubte nicht, daß du ein strenger Anhänger des Islam seiest,“ sagte Sohail, „und dann hast du vor zwanzig Jahren Bothaina geliebt und sie in deinen Liedern gefeiert.“ – „Jetzt bin ich,“ antwortete Djamil, „am Ende dieser und am Anfange der anderen Welt und ich will, daß sich die Gnade unseres Herrn und Meisters Mohammed am Tage des Gerichts von mir abwenden möge, wenn ich Bothaina je in sträflicher Weise berührt habe.“
Djamil und seine Geliebte Bothaina gehörten alle beide dem Stamme des Asra an, die unter allen Arabern wegen ihrer Liebe berühmt sind. Ihre Liebe ist sprichwörtlich geworden, und Gott hat nirgends Wesen geschaffen, die gleich viel Zartgefühl in der Liebe besitzen.
Sahid, Agbas Sohn, fragte eines Tages einen Araber: „Von welchem Stamme bist du?“ – „Ich bin vom Stamme derer, welche sterben, wenn sie lieben,“ antwortete der Araber. – „So bist du vom Stamme der Asra,“ sagte Sahid. – „Ja, beim Herrn der Kaaba!“ versetzte der Araber. – „Wie kommt es, daß ihr so liebt?“ fragte darauf Sahid. – „Unsere Frauen sind schön und unsere jungen Männer keusch!“ erwiderte der Araber.
Jemand fragte einmal den Dichter Aruâ-Ben-Hezam: „Ist es denn wahr, was man von Euch erzählt, daß Ihr von allen Menschen in der Liebe das zarteste Herz habt?“ „Bei Gott, es ist wahr,“ antwortete Aruâ, „und ich habe dreißig junge Männer meines Stammes gekannt, die der Tod hingerafft hat, und die keine andere Krankheit hatten, als die Liebe.“ –
Ein Araber vom Stamme der Fazârat sagte eines Tages zu einem anderen Araber vom Stamme der [203] Asra: „Ihr Asra glaubt, aus Liebe zu sterben sei ein süßer und edler Tod; aber es ist offenbar Schwäche und Dummheit, und die, welche ihr für großherzige Männer haltet, sind nichts als törichte und weichliche Geschöpfe.“ – „Du sprächest nicht so,“ entgegnete der Asra, „hättest du die großen schwarzen Augen unserer Frauen gesehen, wie sie unter dem Schleier ihrer langen Wimpern hervorblitzen; hättest du sie lächeln sehen und ihre weißen Zähne zwischen braunen Lippen schimmern.“
Ali Abu-el-Hassan, Sohn Abdallahs, erzählt folgendes: „Ein Muselmann liebte ein christliches Mädchen bis zum Wahnsinn. Er war gezwungen, mit einem Freunde, der um seine Liebe wußte, eine Reise in ein fremdes Land zu machen. Seine Geschäfte daselbst zogen sich in die Länge; eine tödliche Krankheit befiel ihn und er sprach zu seinem Freunde: ‚Ich fühle, daß mein Ende naht; ich werde die, die ich liebe, in dieser Welt nie wiedersehen und ich fürchte, wenn ich als Muselmann sterbe, auch im Jenseits nicht.‘ Er wurde Christ und starb. Sein Freund fand bei seiner Rückkehr die Christin sterbenskrank. Sie sagte ihm: ‚Ich werde meinen Freund in dieser Welt nicht mehr sehen, aber ich will mit ihm im Jenseits vereint sein. Darum bekehre ich mich zu dem Glauben, daß es keinen Gott außer Allah gibt, und daß Mohammed sein Prophet ist!‘ Darauf starb sie; die Gnade Gottes komme über sie.“
Eltemini erzählt, daß bei dem arabischen Stamme der Tagleb eine junge, sehr reiche Christin gelebt habe, die einen jungen Muselmann liebte. Sie bot ihm ihr Vermögen dar, und alles, was sie an Kostbarkeiten besaß, ohne daß es ihr gelang, seine Liebe zu gewinnen. Als [204] sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, ließ sie sich von einem Künstler für hundert Denare ein Standbild des Geliebten machen. Der Künstler fertigte das Bildnis an, und als sie es hatte, stellte sie es an einem Orte auf, zu dem sie täglich pilgerte. Dort küßte sie das Standbild, setzte sich dann zu seinen Füßen und verbrachte den Rest des Tages mit Weinen. Wenn der Abend kam, grüßte sie das Bild und ging heim. So trieb sie es lange Zeit. Da starb der junge Mann. Sie wollte ihn noch einmal sehen und küßte den Toten, dann kehrte sie zu ihrer Bildsäule zurück, grüßte sie, küßte sie wie immer und setzte sich ihr zu Füßen hin. Als der Morgen kam, fand man sie tot, in der Hand ein paar Zeilen, die sie vor ihrem Tode geschrieben hatte. –
Ueddah aus dem Lande Yemen war wegen seiner Schönheit unter den Arabern berühmt. Er und Om-el-Bonain, Tochter des Abd-el-Aziz, Enkelin des Meruan, liebten sich schon als Kinder so, daß sie es nicht ertragen konnten, nur einen Augenblick lang voneinander getrennt zu sein. Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit im Zustande der Verwirrung und des Leidens gelebt hatte, ging er nach Syrien und umschlich täglich die Behausung Ualids, ohne zunächst ein Mittel zur Erreichung seiner Absicht zu finden. Endlich traf er eine junge Sklavin, die er durch Ausdauer und Güte für sich gewann. Als er glaubte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kenne. – „Gewiß, sie ist meine Herrin,“ erwiderte die junge Magd. – „Wohlan,“ fuhr Ueddah fort, „deine Herrin ist meine Base, und wenn du ihr Nachricht von mir bringen willst, bereitest du ihr gewiß [205] Vergnügen.“ – „Ich will sie ihr gern bringen,“ sagte sie. Darauf lief sie zu Om-el-Bonain, um ihr Nachricht von Ueddah zu geben. – „Was sagst du mir da?“ rief diese, „was, Ueddah lebt?“ – „Gewiß,“ erwiderte die Magd. – „Geh und sage ihm,“ fuhr Om-el-Bonain fort, „er soll sich nicht eher wieder entfernen, als bis er eine Botschaft von mir erhalten hat.“ – Nunmehr traf sie Vorkehrungen, um Ueddah bei sich einzulassen, und hielt ihn danach in einer Truhe verborgen. Wenn sie sich sicher glaubte, ließ sie ihn heraus, um mit ihm zusammen zu sein, und wenn jemand kam, der ihn nicht sehen sollte, ließ sie ihn wieder in die Truhe steigen.
Es begab sich eines Tages, daß man Ualid eine Perle brachte, und er sagte einem seiner Sklaven: „Nimm diese Perle und bringe sie Om-el-Bonain!“ – Der Diener nahm die Perle und brachte sie zu Om-el-Bonain. Da er sich nicht anmelden ließ, trat er in ihr Gemach in einem Augenblick, wo Ueddah bei ihr war, und konnte unbemerkt einen Blick in das Schlafgemach der Om-el-Bonain tun. Der Diener entledigte sich seines Auftrags und bat Om-el-Bonain um eine kleine Belohnung für das gebrachte Kleinod. Sie schlug sie ihm barsch ab und schalt ihn aus. Er ging erbittert von ihr und hinterbrachte Ualid, was er beobachtet hatte, und beschrieb die Truhe, in die er Ueddah hatte steigen sehen. – „Du lügst, mutterloser Sklave! Du lügst!“ schrie Ualid und lief hastig zu Om-el-Bonain. In ihrem Gemache standen verschiedene Truhen. Er setzte sich auf die, in der Ueddah steckte, die ihm der Sklave beschrieben hatte, und sagte zu Om-el-Bonain: „Schenke mir eine dieser Truhen!“ [206] – „Sie sind alle dein, so gut wie ich,“ antwortete sie. „Nun,“ fuhr Ualid fort, „dann möchte ich die, auf der ich sitze.“ – „In dieser sind für eine Frau unentbehrliche Dinge,“ sagte Om-el-Bonain. – „Ich will ja nicht den Inhalt, nur die Truhe,“ beharrte Ualid. – „Sie ist dein!“ antwortete sie. Ualid ließ sofort die Truhe wegschaffen, rief zwei Sklaven und befahl ihnen, ein Loch in die Erde zu graben, so tief, bis sie auf Wasser stießen. Dann näherte er sich mit seinem Munde der Truhe und rief: „Man hat mir etwas von dir gesagt; wenn es wahr ist, so sei jede Spur von dir getilgt, jede Kunde begraben. Hat man mich aber belogen, dann tue ich nichts Böses, wenn ich eine Truhe vergrabe; denn ich verscharre nur Holz.“ Dann ließ er die Truhe in das Loch werfen und dieses mit den ausgegrabenen Steinen und Erdschollen wieder zuschaufeln.
Seitdem besuchte Om-el-Bonain häufig jenen Ort, um dort zu weinen, bis man sie eines Tages entseelt fand, das Antlitz zur Erde gewendet.
Nachgelassene Liebesbriefe von römischen Damen hat man uns nicht überliefert. Petronius hat ein reizendes Buch geschrieben, aber er schildert nur die Entartung.
Über die Liebe im alten Rom haben wir außer der Dido und der zweiten Ekloge Virgils nichts Genaueres, als die Werke der drei großen Dichter Ovid, Tibull und Properz.
[207] Die Geliebten dieser großen Dichter waren kokette, untreue und käufliche Frauen; sie suchten nur sinnlichen Genuß, und ich möchte glauben, daß sie niemals eine Ahnung von den erhabenen Gefühlen gehabt haben, die dreizehn Jahrhunderte später das Herz der zartlichen Heloïse bewegten.
Ich entnehme die folgende Stelle dem Werke des vorzüglichen Literaturhistorikers Ginguené („Histoire littéraire de l’Italie“ II, 490), der die lateinischen Dichter viel gründlicher kennt als ich:
„Das glänzende Genie des Ovid, die reiche Phantasie des Properz, die gefühlvolle Seele des Tibull verliehen ohne Zweifel ihren Versen eine verschiedene Färbung, aber alle drei liebten in gleicher Art und Weise Frauen ziemlich gleichen Schlages. Sie begehren, sie siegen, sie haben glückliche Nebenbuhler, sie sind eifersüchtig, sie entzweien und versöhnen sich, sie sind ihrerseits untreu, sie erlangen Verzeihung und sie finden ein Glück wieder, das alsbald durch die nämlichen Wechselfälle von neuem getrübt wird.
„Corinna ist verheiratet. Die erste Lehre, die ihr Ovid gibt, besteht in der Unterweisung, wie sie ihren Gatten hintergehen soll, welche Zeichen sie in Gegenwart ihres Mannes und anderer machen soll, damit sie sich beide heimlich verständigen können. Der Genuß folgt auf dem Fuße; dann gibt es Streit, und was man von einem galanten Manne wie Ovid nicht erwarten sollte, Schmähungen und Schläge; dann wieder Entschuldigungen, Tränen und Verzeihung. Bisweilen wendet er sich an untergeordnete Leute, an Diener, an den Türhüter seiner Geliebten, der ihm nachts die Tür öffnen soll, an eine durchtriebene Alte, [208] die sie verdirbt und sie verführt, sich für Gold hinzugeben, an einen alten Eunuchen, der sie bewacht, an eine junge Sklavin, die ihr Briefchen mit der Bitte um ein Stelldichein zustecken soll. Es wird verweigert; er verflucht seine Briefe, die so schlechten Erfolg hatten; um mehr Glück zu haben, wendete er sich an Aurora, sie möge ihm sein Glück nicht wehren.
„Bald wirft er sich seine zahlreichen Treulosigkeiten und seine Neigung zu allen Frauen vor. Einen Augenblick später ist auch Corinna treulos; der Gedanke ist ihm unerträglich, daß er ihr Lehren gegeben hat, die sie sich mit einem andern zu nutze macht. Corinna wird ihrerseits eifersüchtig. Sie ist eine mehr jähzornige als zärtliche Frau; sie beschuldigt ihn, eine junge Sklavin zu lieben. Er schwört es ab, aber er schreibt dieser Sklavin, und alles, was Corinna erbittert hat, ist wahr. Woher wußte sie es aber? Welche Anzeichen verrieten es ihr? Er bittet die junge Sklavin um ein neues Stelldichein. Falls sie es ihm abschlüge, droht er, Corinna alles zu gestehen. Einem Freunde gegenüber macht er sich über seine zwei Liebschaften lustig, über die Leiden und die Freuden, die sie ihm bereiten. Bald darauf ist Corinna wieder Alleinherrscherin. Sie ist ganz die Seine. Er besingt seinen Sieg, als sei es sein erster Erfolg. Nach gewissen Ereignissen, die wir aus mehr als einem Grunde nicht erwähnen wollen und die zum Wiedererzählen auch viel zu lang sind, stellt es sich heraus, daß Corinnas Gatte zu gleichgültig geworden ist. Er ist nicht mehr eifersüchtig. Das mißfällt dem Liebhaber, er droht, seine Frau verlassen zu wollen, wenn er nicht von neuem eifersüchtig würde. Der Mann gehorcht allzu [209] gut, er läßt Corinna so streng bewachen, daß Ovid sich ihr nicht mehr nähern kann. Nun beklagt er sich über diese Überwachung, deren Ursache er selbst ist, und hofft sie zu überwinden. Zu seinem Unglücke ist er nicht der einzige, dem das gelingt. Die Untreue Corinnas wiederholt und vermehrt sich; ihre Streiche werden stadtbekannt, so daß Ovid als einzige Gunst darum bittet, bei ihren Hintergehungen umsichtiger zu verfahren und nicht allzu offenkundig ihre wahre Natur zu verraten. Derartig waren die Sitten Ovids und seiner Geliebten und derartig ihre Liebe.
Cynthia ist die erste Liebe des Properz und wird seine letzte sein. Solange er glücklich ist, ist er eifersüchtig. Cynthia ist maßlos putzsüchtig; er bittet sie, den Luxus zu meiden und die Einfachheit zu achten. Er selbst freilich gibt sich mannigfachen Ausschweifungen hin.
Cynthia erwartet ihn; erst am frühen Morgen geht er zu ihr; er kommt von einer Zecherei und ist vom Wein berauscht. Er findet sie im Schlafe; es dauert lange, bis der Lärm, den er macht, und selbst seine Liebkosungen Cynthia aufwecken. Endlich öffnet sie die Augen und macht ihm wohlverdiente Vorwürfe.
Ein Freund will ihn von Cynthia losreißen; er preist diesem Freunde ihre Schönheit und ihre Begabung. Einmal verliert er sie beinahe. Sie geht mit einem Soldaten durch, folgt ihm ins Lager und erträgt allerlei, nur um bei ihm zu sein. Properz ist außer sich, er weint und gelobt ihr alles Glück. Kaum weicht er aus ihrem verlassenen Hause, er sucht Fremde auf, die sie gesehen haben, und fragt sie endlos nach Cynthia aus. So viel Liebe erweicht sie; sie verläßt [210] den Soldaten und bleibt wieder bei dem Dichter. Er dankt Apollo und den Musen und ist trunken vor Glück.
Bald wird es wieder durch neue Anwandlungen von Eifersucht getrübt, durch gezwungenes Fernsein unterbrochen. Fern von ihr denkt er nur an sie. Ihre frühere Untreue läßt ihn neue befürchten. Todesgefahren schrecken ihn nicht, er fürchtet nur den Verlust Cynthias. Wenn er ihrer Treue gewiß wäre, würde er ohne Bedauern in das Grab sinken.
Nach neuen Verrätereien glaubt er seine Liebe überwunden zu haben, aber bald ist er wieder in ihren Fesseln. Er entwirft das entzückendste Bild von seiner Geliebten, von ihrer Schönheit, ihrer Eleganz und ihrem Geschmeide, ihren Fähigkeiten im Gesang, in der Dichtkunst und im Tanz. Alles verdoppelt oder rechtfertigt seine Liebe. Aber die ebenso lasterhafte wie liebenswürdige Cynthia entehrt sich durch ihre Abenteuer vor der ganzen Stadt so auffällig, daß Properz sie ohne Schande nicht mehr lieben kann. Er errötet darüber, aber er vermag sich nicht von ihr loszureißen. Er bleibt ihr Liebhaber, ihr Gatte; niemals will er eine andere lieben.
Sie verlassen und versöhnen sich nochmals. Cynthia ist eifersüchtig, er beruhigt sie. Nie will er eine andre lieben. In Wahrheit sind es nicht einzelne Frauen, die er liebt, es sind alle Frauen. Er besitzt ihrer nie genug, er ist im Genuß unersättlich. Um ihn zur Besinnung zu bringen, ist es wiederum nötig, daß ihn Cynthia verläßt. Seine Klagen sind nun so lebhaft, als ob er selbst niemals untreu gewesen wäre. Er will fliehen. Er zerstreut sich durch Ausschweifungen. [211] Er ist wie so oft betrunken; er tut, als sei ihm eine Schar von Liebesgöttern begegnet, die ihn wieder zu Cynthias Füßen zurückgeführt hätten. Ihrer Versöhnung folgen neue Stürme. Cynthia erhitzt sich bei einem ihrer abendlichen Gelage am Wein, reißt den Tisch um und wirft dem Geliebten ein paar Becher an den Kopf. Properz findet das reizend.
Neue Untreue zwingt ihn endlich, seine Ketten zu brechen. Er will eine Reise machen und ganz Griechenland durchwandern. Schon ist der Reiseplan fertig, da steht er von seinem Vorhaben ab, um sich nochmals neuen Kränkungen auszusetzen. Cynthia beschränkt sich nicht mehr darauf, ihn zu hintergehen, sie macht ihn sogar bei seinen Nebenbuhlern lächerlich. Da wird sie krank und stirbt. In ihren letzten Augenblicken beklagt sie seine Treulosigkeit, seine Launen und ihre Verlassenheit und schwört, daß sie ihm trotz des Scheins stets treu gewesen sei. Das sind die Sitten und Abenteuer des Properz und seiner Geliebten, das ist in kurzen Strichen die Geschichte ihrer Liebe. Eine solche Frau mußte die Seele eines Properz lieben.
Ovid und Properz sind vielfach untreu, aber nie unbeständig. Sie sind lockere Gesellen, die gern hier und da ihre Huldigungen darbringen, aber immer in die alten Fesseln zurückkehren. Corinna und Cynthia haben zu Rivalinnen alle Frauen, nicht irgend eine einzelne. Wenn die Liebe dieser Dichter nicht treu ist, so ist es doch ihre Muse, denn kein anderer Name erscheint in ihren Versen, als Corinna und Cynthia.
Tibull, ein feinfühligerer Dichter und Liebender und nicht so stürmisch und heißblütig in seinen Liebschaften, [212] hat nicht die gleiche Beständigkeit. Drei Schönheiten sind nacheinander der Gegenstand seiner Liebe und seiner Lieder. Delia ist die erste, die berühmteste und die am innigsten geliebte. Tibull hat sein Vermögen eingebüßt, aber es bleibt ihm sein Landhaus und Delia. Wenn er sie im ländlichen Frieden besitzt, wenn er sterbend Delias Hand in der seinen fühlt, wenn sie an seinem Grabe weint, hat er keine weiteren Wünsche. Delia wird von einem eifersüchtigen Gatten bewacht, aber Tibull gedenkt trotz Argus und dreifacher Schlösser in ihr Gefängnis einzudringen. In ihren Armen will er alle seine Leiden vergessen. Er wird krank, stets denkt er nur an Delia; er bittet sie, immer keusch zu sein, das Gold zu verachten und ihm allein das zu gewähren, was sie ihm geschenkt hat. Aber Delia befolgt diesen Rat nicht. Er glaubt, ihre Treulosigkeit ertragen zu können, aber er kann es nicht und bittet Delia und Venus um Gnade. Er sucht im Wein ein Heilmittel, findet es aber nicht; er kann dadurch weder sein Leid mildern, noch sich von seiner Liebe heilen. Er wendet sich an Delias gleich ihm betrogenen Gatten; er enthüllt ihm alle die Listen, deren Delia sich zu bedienen pflegt, um Liebhaber an sich zu locken und bei sich zu sehen. Wenn der Gatte sie nicht zu hüten verstehe, so möge er ihm vertrauen, er wird jene schon fernzuhalten und die vor Nachstellungen zu schützen wissen, die sie beide betrübt hat. Er beruhigt sich und kehrt zu ihr zurück; er erinnert sich Delias Mutter, der Beschützerin ihrer Liebe. Das Andenken an diese gute Frau macht sein Herz wieder weichen Gefühlen zugänglich und alles Unrecht Delias ist vergessen. Aber bald begeht sie [213] Schlimmeres. Sie hat sich durch Geld und Geschenke verführen lassen, sie gehört einem und vielen an. Tibull zerbricht endlich die schmachvollen Fesseln und sagt ihr Lebewohl.
Er geht unter die Verehrer der Nemesis und wird nicht glücklicher. Sie liebt nur das Gold und mißt Versen und den Gaben des Genius wenig Wert bei. Nemesis ist eine habsüchtige Frau, die sich dem Meistbietenden hingibt. Er verwünscht ihre Habgier, aber er liebt sie und kann ohne ihre Liebe nicht leben. Er sucht sie durch rührende Bilder zu bändigen. Sie hat eine junge Schwester verloren. Tibull will zu ihrem Grabe gehen und weinen und ihrer stummen Asche seinen Kummer anvertrauen. Der Geist der toten Schwester wird über die Tränen zürnen, die um Nemesis vergossen werden. Diesen Zorn soll Nemesis achten. Das traurige Bild ihrer Schwester wird ihren nächtlichen Schlummer stören … Nemesis ist zu Tränen gerührt. Aber um diesen Preis will der Dichter selbst das Glück nicht erkaufen.
Seine dritte Geliebte ist Neera. Er hat lange ihre Liebe genossen; er bittet die Götter um nichts, als mit ihr leben und sterben zu dürfen. Sie verreist und bleibt fern. Er denkt immer an sie und bittet die Götter nur um sie. Im Traume erscheint ihm Apollo und verkündet ihm, daß Neera abtrünnig ist. Er will diesem Traum nicht Glauben schenken, er könnte solches Unglück nicht überleben, und doch ist das Unglück wahr; Neera ist untreu. Wiederum ist er einsam. Das war der Charakter und das Los Tibulls, das ist der dreifache, recht unglückliche Roman seiner Liebe.
[214] An Tibull ist eine sanfte Schwermut charakteristisch, die selbst den Genuß durch einen Schleier von Träumerei und Traurigkeit abtönt. Darin beruht sein Reiz. Wenn irgend ein antiker Dichter die Liebe der Seele gekannt hat, so war es Tibull. Aber jene Feinheiten der Empfindung, die er so meisterhaft schildert, liegen nur in ihm selbst; sie in seinen Geliebten zu entdecken oder zu erwecken, versucht er ebensowenig, wie Ovid und Properz. An den Frauen sind es nur äußerliche Reize, die ihn begeistern, ihre Gunst ist es, die er ersehnt und verlangt, ihre Käuflichkeit, ihre Untreue und ihr Verlust, die ihn unglücklich machen.
Von allen den Frauen, die durch die Verse dieser drei großen Dichter berühmt geworden sind, erscheint Cynthia als die liebenswürdigste. Zu ihren sonstigen Vorzügen tritt ihre Begabung hinzu; sie pflegt den Gesang und die Dichtkunst. Aber bei all ihren Fähigkeiten, die auch bei gewissen Hetären nicht selten waren, taugt sie nicht mehr als diese; Gold und Wein und Wollust beherrschen sie trotzdem, und Properz, der ihren Kunstsinn nur ein oder zweimal rühmt, wird in seiner Leidenschaft für Cynthia doch von einer ganz anderen Macht bemeistert.“
Diese großen Dichter gehören augenscheinlich zu den feinsinnigsten und zartfühligsten Geistern ihrer Zeit. Aber wen lieben sie und wie lieben sie? Dabei muß man von jeder literarischen Betrachtung und Beurteilung absehen. Ich will von ihnen nur ein Zeugnis über ihr Jahrhundert, genau so, wie ein heute moderner Roman dereinst in zweitausend Jahren ein Zeugnis unserer Sitten sein wird.
[215]
Durch die gegenwärtige Erziehung der jungen Mädchen, die eine Frucht des Zufalls und des dümmsten Dünkels ist, läßt man ihre herrlichsten Fähigkeiten, die ihnen selbst, wie den Männern, das meiste Glück bringen, verkümmern. Welcher Mann hat nicht wenigstens einmal in seinem Leben ausgerufen:
„… eine Frau
Besäße Geist genug, wenn sie ein Wams
Von einem Beinkleid unterscheiden kann.“[13]
In Paris ist das höchste Lob für ein junges heiratsfähiges Mädchen: „Sie hat viel Nachgiebigkeit im Charakter und ist aus Gewohnheit sanft wie ein Lamm.“ Nichts übt mehr Wirkung auf einen dummen Freier aus. Beobachten wir ihn aber zwei Jahre später, wenn er mit seiner Frau an einem trüben Tage beim Frühstück sitzt: er hat eine Hausmütze auf und drei Lakaien stehen herum.
Man hat in den Vereinigten Staaten im Jahre 1818 ein Gesetz erlassen, das denjenigen zu vierunddreißig Peitschenhieben verurteilt, der einen Virginia-Neger im Lesen unterrichtet. Ein sehr richtiges und vernünftiges Gesetz.
Sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika selbst ihrem Mutterlande nützlicher gewesen, da sie noch seine Sklaven waren, als jetzt, wo sie ihm gleichstehen? Wenn die Arbeit eines freien Mannes zwei- oder dreimal mehr wert ist, als die eines Menschen in Sklaverei, warum soll es sich nicht ebenso mit seiner Gesinnung verhalten?
[216] Wenn wir es wagten, würden wir die jungen Mädchen wie Sklaven erziehen; das geht schon daraus hervor, daß sie vom Nützlichen nur so viel wissen, als wir, ihre Lehrer, wollen.
„Aber das Wenige, daß sie unglücklicherweise an Bildung erhaschen, wenden sie gegen uns an“, werden gewisse Ehemänner sagen. Kein Zweifel. Napoleon hatte sehr recht, als er der Nationalgarde keine Waffen gab. Wenn wir einem Menschen Waffen geben und fortfahren, ihn zu unterdrücken, so werden wir es erleben, daß er diese Waffen gegen uns zu gebrauchen wagt.
Selbst wenn wir berechtigt wären, die jungen Mädchen wie Idioten mit Ave Marias und schlüpfrigen Liedern (wie in den Klöstern von 1770) zu erziehen, so gäbe es immer noch einige kleine Einwände dagegen:
Erstens: Falls der Gatte stirbt, sind die Frauen berufen, der jungen Familie vorzustehen.
Zweitens: Als Mütter geben sie den männlichen Kindern, den jungen künftigen Tyrannen, die erste Erziehung, die den Charakter bildet und die Seele bestimmt, das Glück mehr auf dem oder jenem Wege zu suchen, was sich bereits mit vier oder fünf Jahren entscheidet.
Drittens: Bei allem unseren Dünkel sind die Ratschläge der notwendigen Lebensgefährtin von größtem Einfluß auf unsere kleinen inneren Angelegenheiten, von denen unser Glück vor allem abhängt, weil das Glück in Ermangelung von Leidenschaften in der Vermeidung der kleinen alltäglichen Widerwärtigkeiten beruht. Keineswegs wollen wir der Frau den geringsten Einfluß [217] einräumen, aber sie wiederholt zwanzig Jahre lang die gleichen Dinge, und welcher Mensch hat die Standhaftigkeit eines Römers, einem immer wiederkehrenden geistigen Einfluß sein Leben lang zu widerstehen? Die Welt wimmelt von Ehemännern, die sich leiten lassen, aber aus Charakterschwäche, nicht aus Gefühl für Gerechtigkeit und Gleichheit. Da sie sich unfreiwillig fügen, liegt der Versuch des Mißbrauchs immer nahe, und ein solcher ist zuweilen sogar zur Selbsterhaltung nötig.
Viertens: Schließlich liegt unser Glück in den Jahren der Liebe, unsrer schönsten Lebenszeit, die im Süden oft zehn bis zwölf Jahre währt, ganz und gar in den Händen der Frau, die wir lieben. Warum sollte ein auf den Thron erhobener Sklave nicht versuchen, seine Gewalt zu mißbrauchen? Hier finden wir den Grund des falschen Zartgefühls und des weiblichen Stolzes. Dergleichen Darlegungen sind gänzlich nutzlos; die Männer sind Tyrannen und man weiß, was bei einem Despoten selbst die vernünftigsten Ratschläge ausrichten: der allmächtige Mann liebt nur eine einzige Art von Ratschlägen, nämlich solche, die ihn seine Macht noch vergrößern lehren. Wo werden die armen jungen Mädchen einen Quiroga oder einen Riego finden, der ihren Unterdrückern und Erniedrigern solche heilsame Ratschläge erteilen könnte, die man mit Gunst und Orden belohnt, statt mit dem Galgen von Porlier?
Wenn ein Umschwung auf diesem Gebiete mehrere Jahrhunderte erfordert, so liegt der Grund darin, daß durch einen verhängnisvollen Zufall alle ersten Erfahrungen unbedingt immer mit der Wahrheit in [218] Widerspruch stehen. Die Gedankenwelt des jungen Mädchens muß erleuchtet, sein Charakter gebildet weiden, mit einem Worte: man muß ihm eine gute Erziehung in des Wortes wahrer Bedeutung geben. Aber früher oder später wird es sich seiner Überlegenheit über die anderen Frauen bewußt und dadurch zur Pedantin, das heißt zum unangenehmsten und entartetsten Wesen auf Erden. Jeder von uns Männern will lieber sein Leben mit einer Sklavin, als mit einer solchen gelehrten Frau verbringen.
Wenn man einen jungen Baum mitten in einem dichten Walde pflanzt, wo ihm die Nachbarbäume Licht und Luft rauben, werden seine Blätter verkümmern und er wird lächerlich in die Höhe schießen und eine unnatürliche Gestalt annehmen. Man muß eben einen ganzen Wald gleichzeitig pflanzen. So ist es auch mit den Frauen. Lesen zu können, brüstet sich keine.
Seit zweitausend Jahren wiederholen uns die Pedanten, daß die Frauen geistig lebhafter, die Männer gründlicher sind, daß die Frauen mehr Zartheit in ihren Ideen, die Männer mehr die Kraft der Beobachtung haben. Aber mancher Pariser Bummler, der ehedem durch die Gärten von Versailles schlenderte, mag aus allem, was er da sah, den Schluß gezogen haben, alle Bäume wären von Natur gleichmäßig zugestutzt.
Ich will zugeben, daß die kleinen Mädchen weniger körperliche Kräfte haben, als die Knaben. Wenn man aber daraus auf den Geist schließen wollte, müßten Voltaire und Dalembert, die ersten Köpfe ihres Jahrhunderts, auch berühmte Boxer gewesen sein. Es ist vielmehr eine allbekannte Sache, daß ein zehnjähriges [219] Mädchen zwanzigmal verschmitzter ist, als ein gleichaltriger Junge. Warum ist aber eine Zwanzigjährige dumm, linkisch, schüchtern und fürchtet sich vor einer Spinne, während der Knabe dann ein gebildeter Mensch geworden ist?
Die Frauen wissen nur das, was sie nicht wissen sollen, und was sie durch ihre eigene Lebenserfahrung lernen. Deshalb sind die Frauen im Nachteile, die aus einer reichen Familie stammen; anstatt mit Menschen in Berührung zu kommen, die mit ihnen natürlich umgehen, sind sie von Kammerzofen und Gesellschafterinnen umgeben, die das Geld verdorben und unnatürlich gemacht hat. Am unglücklichsten ist eine Prinzessin daran.
Die jungen Mädchen haben in Erkenntnis ihrer Sklaverei die Augen beizeiten offen, sie sehen alles, wenn sie auch zu unwissend sind, um richtig zu sehen. Eine Französin hat mit dreißig Jahren nicht die Kenntnisse, die ein Knabe mit fünfzehn Jahren hat, und mit fünfzig Jahren nicht den Verstand eines halb so alten Mannes. Frau von Sévigné hat bekanntlich an Ludwig dem Fünfzehnten die sinnlosesten Handlungen bewundert und Frau von Epinay ist in ihrem Urteile durchaus unreif.[14]
„Die Frauen sollen ihre Kinder ernähren und pflegen.“
Den ersten Teil dieses Einwandes bestreite ich, dem zweiten stimme ich zu.
[220] „Sie sollen sich fernerhin um Küche und Haushalt kümmern. Darum haben sie keine Zeit, einem Manne an Kenntnissen gleichzukommen.“
Die Männer sind Richter, Bankiers, Rechtsanwälte, Kaufleute, Ärzte, Geistliche oder sonstwas, und doch finden sie Zeit, die Reden von Fox und die „Lusiaden“ von Camoëns zu lesen.
Bei den heutigen Zuständen ist die Muße, die für den Mann die Quelle allen Glückes und wirklichen Reichtums ist, für die Frau nicht nur kein Vorteil, sondern eine unheilvolle Freiheit.
„Aber den Frauen liegen die kleinsten häuslichen Arbeiten ob.“
Herr S*** hat vier Töchter, die nach den besten Grundsätzen erzogen worden sind, das heißt, sie arbeiten den ganzen Tag. Wenn ich hinkomme, singen sie Arien von Rossini, die ich ihnen aus Neapel mitgebracht habe; sonst lesen sie biblische Geschichte, lernen aus der Geschichte das Dümmste, die Zahlen und Memorierverse, sind in der Geographie bewandert und sticken wundervoll, kurz, ich schätze, daß jedes von diesen hübschen jungen Mädchen sich mit seiner Arbeit täglich acht Sous verdienen könnte. Das macht, auf dreihundert Tage gerechnet, im Jahre vierhundertundachtzig Franken; es ist weniger, als man einem ihrer Lehrer gibt. Für jährlich vierhundertundachtzig Franken verlieren sie also für immer die Zeit, in der es dem Menschen vergönnt ist, seinen Ideenkreis zu erweitern.
„Wenn die Frauen die zehn oder zwölf guten Bücher, die jedes Jahr in Europa erscheinen, mit Genuß zu lesen verständen, würden sie bald die Pflege ihrer Kinder vernachlässigen.“
[221] Das wäre genau so, als wenn wir den Meeresstrand mit Bäumen bepflanzen und damit befürchten wollten, die Bewegung der Wogen aufzuhalten. In diesem Sinne ist die Erziehung nicht allmächtig. Übrigens macht man seit vierhundert Jahren die gleichen Einwände gegen jede Art von geistiger Bildung. Eine Pariserin von 1820 hat nicht nur mehr Tugenden, als eine von 1720, sondern die Tochter des reichsten Generalpächters von damals genoß eine weniger gute Erziehung, als die Tochter eines Winkeladvokaten von heute. Werden deshalb die häuslichen Pflichten weniger gut erfüllt? Gewiß nicht. Weshalb auch? Elend, Krankheit, Schande und Instinkt zwingen stets zu ihrer Erfüllung. Genau so könnte man von einem Offizier, der zu liebenswürdig wird, sagen, er verlerne das Reiten.
Die Erweiterung des Ideenkreises hat bei beiden Geschlechtern die gleichen guten und schlechten Folgen. Von Eitelkeit werden wir nie frei, auch wenn sie nicht im geringsten begründet ist. Man sehe sich die Bürger einer Kleinstadt an; zwingen wir sie wenigstens, nur auf ein wirkliches Verdienst eitel zu sein, das der Gesellschaft nützlich oder angenehm ist.
Die Halbgebildeten fingen unter den Nachwirkungen der Revolution, die in Frankreich alles verändert hat, vor zwanzig Jahren an, einzugestehen, daß die Frauen eine Beschäftigung haben könnten; sie sollen sich einer ihrem Geschlecht angemessenen Arbeit widmen, Blumen züchten, Herbarien anlegen, Singvögel aufziehen. Das nennt man unschuldige Vergnügungen.
Solche unschuldigen Vergnügungen sind besser als Garnichtstun. Überlasse man letzteres den dummen [222] Frauen, wie man den dummen Männern den Ruhm läßt, zum Geburtstagsfest des Hausherrn ein Tafellied zu verbrechen. Kann man aber geistig regen Frauen, wie Madame Roland oder Mrs. Hutchinson im Ernste zumuten, einen bengalischen Rosenstock aufzuziehen?
Dieser ganze Gedankengang gipfelt schließlich darin, daß man von einem Sklaven sagen möchte: „Er ist zu dumm, um gefährlich zu sein.“
Aber vermöge eines gewissen Gesetzes, das Sympathie heißt, eines Naturgesetzes, das gewöhnlichen Augen verborgen bleibt, schaden die Fehler unserer Lebensgefährtin unserem Glücke nicht deshalb, weil sie uns unmittelbares Unglück bereiten könnten. Mir freilich wäre es lieber, wenn mich meine Frau in einem Wutanfall alle Jahre einmal zu erdolchen versuchte, als wenn sie mich alle Abende mürrisch empfinge.
Schließlich ist unter Leuten, die zusammenleben, das Glück ansteckend.
Mag sich unsere Geliebte den Vormittag, während wir auf dem Exerzierplatze oder im Parlament waren, mit Blumenmalen oder mit dem Lesen eines Shakespeareschen Dramas vertrieben haben: in beiden Fällen waren ihre Vergnügungen unschuldig; nur wird sie uns nach unserer Heimkehr langweilen, wenn sie uns ihre Gedanken beim Malen ihrer Rose erzählt, und obendrein wird sie abends ausgehen wollen, um in der Geselligkeit etwas lebhaftere Eindrücke zu finden. Wenn sie dagegen Shakespeare mit Verstand gelesen hat, dann ist sie so müde, wie wir, und ein einsamer Spaziergang an unserm Arm im Bois de Vincennes wird sie glücklicher machen, als der Besuch der größten [223] Gesellschaft. Die Freuden der großen Gesellschaft sind glücklichen Frauen nichts.
Nur die Unwissenden feinden die Frauenerziehung instinktiv an. Heute vertändeln sie ihre Zeit mit ihnen, machen ihnen den Hof und werden von ihnen gut behandelt. Aber was würde aus ihnen, wenn die Frauen einmal den Walzer satt bekämen? Wenn wir aus Afrika oder Asien heimkommen, mit verbrannter Gesichtsfarbe und einer Stimme, die noch nach einem halben Jahre etwas grob klingt, was könnten jene auf unsere Erzählungen antworten, wenn sie nicht die Redensart hätten: „Wir, wir haben die Frauen auf unserer Seite. Während Sie in der Ferne waren, hat sich die Farbe der Dogcarts geändert. Jetzt sind schwarze Mode.“ Wir lauschen aufmerksam, denn das zu wissen, ist nützlich. Manche hübsche Frau wird uns keines Blickes würdigen, wenn unser Wagen einen schlechten Geschmack verrät.
Eben diese Tröpfe, die sich als Männer verpflichtet glauben, mehr zu wissen als die Frauen, wären gänzlich in den Schatten gestellt, wenn die Frauen etwas lernen wollten. Solch ein Flachkopf von dreißig Jahren sagt sich beim Anblick der kleinen zwölfjährigen Töchter seines Freundes: „Mit einer werde ich in zehn Jahren mein Leben teilen.“ Man stelle sich seine Klagen und seinen Schrecken vor, wenn er sie irgend etwas Nützliches lernen sähe.
Nicht die Gesellschaft und Unterhaltung eines Mann-Weibes, sicherlich aber die einer wohlunterrichteten Frau, falls sie ihren Ideenkreis ohne Verlust der weiblichen Anmut erweitert hat, wird unter den hervorragendsten Männern ihres Jahrhunderts eine Beachtung finden, die an Begeisterung streift.
[224] „Dann werden die Frauen die Rivalinnen, nicht mehr die Genossinnen der Männer sein.“
Ja, wenn die Liebe sich durch ein Gesetz abschaffen ließe. Bis dahin wird die Liebe ihren Reiz und ihre Macht verdoppeln. Die Grundlage der Kristallbildung wird nur breiter. Der Mann wird alle seine Ideen mit der geliebten Frau genießen, die ganze Natur wird beim gemeinsamen Sehen neue Reize gewinnen, und da die Gedanken immer gewisse Schattierungen des Charakters widerspiegeln, werden sich beide besser kennen lernen und weniger Unklugheiten begehen; die Liebe wird weniger blind sein und nicht mehr so viel Unglück anstiften.
Der Wunsch zu gefallen schützt immer die Schamhaftigkeit, das Zartgefühl und die Anmut des Weibes vor irgendwelchem Einflusse der Erziehung. Die Nachtigallen kann man auch nicht lehren, im Frühling nicht zu singen.
Die Anmut der Frauen hat mit der Unwissenheit keinen Zusammenhang. Man sehe die würdigen Gattinnen der kleinstädtischen Bürger oder die Frauen der englischen Großkaufleute an. Die Geziertheit ist eine Pedanterie; denn es ist eine Pedanterie, wenn man ohne Anlaß von einem Kleide von Leroy oder von einer Romanze von Romagnesi spricht; ebenso ist es Pedanterie, wenn man gelegentlich eines Gespräches über unsere sanften Missionare den Fra Paolo und das Tridentiner Konzil anbringt. Die Pedanterie der Kleidung und des guten Tones, das Bedürfnis, über Rossini gerade die passende Redensart zu sagen, ertöten die Anmut der Pariserin. Aber sind nicht trotz der schrecklichen Folgen dieser ansteckenden Krankheit [225] gerade die Pariserinnen die liebenswürdigsten Frauen Frankreichs? Sind es nicht gerade die, in deren Köpfe der Zufall die richtigsten und anmutigsten Gedanken gelegt hat? Gerade das sind Ideen, wie ich sie von Büchern verlange Ich mute gewiß keiner Frau zu, Grotius oder Pufendorf zu lesen, seit wir das Buch von Tracy über Montesquieu haben.
Es gibt in Frankreich ungefähr fünfzigtausend Frauen, die durch ihre Vermögensverhältnisse aller Arbeit überhoben sind. Aber ohne Arbeit kein Glück. Selbst die Leidenschaften zwingen zur Arbeit und zwar zu recht harter Arbeit, die die ganze Tatkraft der Seele beansprucht.
Eine Frau mit vier Kindern bei zehntausend Franken Jahreseinkommen arbeitet, wenn sie Strümpfe strickt oder für ihr Töchterchen ein Kleid näht. Aber unmöglich arbeitet eine Frau, die einen eigenen Wagen hat, wenn sie eine Stickerei oder etwas Ähnliches anfertigt. Außer einem bißchen Eitelkeit hat sie kaum irgend ein Interesse dabei: also arbeitet sie nicht.
Folglich ist ihr Glück schwer bedroht.
Und was noch mehr sagen will, das Glück ihres Gebieters; denn eine Frau, deren Herz kein anderes Interesse, als das für ihre Stickerei erfüllt, kann leicht auf den übermütigen Gedanken geraten, daß Liebe aus Galanterie oder aus Eitelkeit oder gar aus Sinnlichkeit im Vergleich zu ihrem gegenwärtigen Zustand ein ungeheures Glück sei.
„Eine Frau soll vermeiden, daß man von ihr spricht.“
Von neuem muß ich darauf entgegnen: Spricht man von einer Frau, weil sie lesen kann? Und was hindert die Frauen, bis der Umschwung ihres [226] Schicksals kommt, das Studium, das ihre gewöhnliche Beschäftigung bildet und ihr täglich eine ansehnliche Menge von Glück beschert, zu verbergen? Nebenbei will ich ihnen ein Geheimnis offenbaren. Wenn man sich ein Ziel gesteckt hat, zum Beispiel wenn man sich ein klares Bild der Verschwörung des Fiesco in Genua im Jahre 1547 schaffen will, so wird auch das langweiligste Buch interessant. Ebenso ist es, wenn wir lieben, mit der Begegnung eines gleichgültigen Menschen, der eben mit der geliebten Person gesprochen hat. Und dieses Interesse wächst mit jedem Tage, bis man die „Verschwörung des Fiesco“ wieder beiseite legt.
„Das beste Feld der Frauentugenden ist das Krankenzimmer.“
Dann müßte man die göttliche Güte bitten, die Häufigkeit der Krankheiten zu verdoppeln, um unseren Frauen Beschäftigung zu geben. Sonst hieße es auf Ausnahmen rechnen.
Überdies behaupte ich, daß eine Frau täglich ihre drei bis vier Mußestunden ausfüllen muß, wie ein verständiger Mann sie ausfüllt.
Eine junge Mutter, deren Sohn die Röteln hat, würde, auch wenn sie wollte, keinen Genuß am Lesen von Volneys „Reise in Syrien“ finden, ebensowenig wie ihr Gatte, ein reicher Bankier, im Augenblick eines Kraches mit Genuß über Malthus nachdenken kann.
Die geistige Überlegenheit ist der einzige Punkt, in dem sich reiche Frauen von gewöhnlichen unterscheiden. Dadurch haben sie naturgemäß auch verschiedene Empfindungen.
„Wollen Sie aus der Frau eine Schriftstellerin machen?“
[227] Nicht weniger, als Sie die Absicht hegen, Ihre Tochter in der Oper auftreten zu lassen, weil Sie ihr einen Gesanglehrer halten. Ich möchte behaupten, daß eine Frau ihre Werke nur nach ihrem Tode veröffentlichen lassen soll, wie Frau von Staal-Launay. Wenn eine Frau unter fünfzig Jahren etwas drucken läßt, so setzt sie damit ihr Glück in der leichtfertigsten Weise aufs Spiel. Hatte sie das Glück, einen Geliebten zu besitzen, so wird sie ihn alsbald verlieren.
Nur eine Ausnahme erkenne ich an, wenn eine Frau zum Besten der Ernährung und Erziehung ihrer Familie schreibt. Dann muß sie sich aber, wenn sie von ihren Arbeiten spricht, mit dem Geldpunkte entschuldigen und zum Beispiel zu einem Rittmeister sagen: „Ihre Stellung bringt Ihnen jährlich viertausend Franken. Ich konnte im letzten Jahre durch meine zwei Übersetzungen aus dem Englischen dreitausendfünfhundert Franken mehr auf die Erziehung meiner beiden Söhne verwenden.“
Sonst muß eine Frau ihre Bücher so drucken lassen, wie der Baron Holbach oder Frau von Lafayette, deren beste Freunde nichts davon wußten. Nur für Halbweltschönheiten kann die Veröffentlichung eines Buches ohne Nachteil bleiben. Die Menge, der es freisteht, sie wegen ihres Gewerbes zu verachten, hebt sie wegen ihrer Begabung in den Himmel und läßt sich davon betören.
Von den Männern in Frankreich, die sechstausend Franken Jahreseinkommen haben, finden die meisten in literarischer Hinsicht Befriedigung, ohne daß es ihnen in den Sinn kommt, selbst etwas zu veröffentlichen. Das Lesen eines guten Buches ist ihnen einer der größten [228] Genüsse. Nach zehn Jahren haben sie ihre Kenntnisse verdoppelt, und niemand wird in Abrede stellen, daß man im allgemeinen mit der geistigen Vervollkommnung immer weniger von solchen Leidenschaften hat, die das Glück anderer beeinträchtigen. Ebenso wird man nicht bestreiten können, daß die Kinder einer Frau, die Gibbon und Schiller liest, geistig besser beanlagt sind, als die einer Frau, die den Rosenkranz abbetet und die Bücher der Frau von Genlis liest.
Ein junger Rechtsanwalt, ein Kaufmann, ein Arzt oder ein Ingenieur kann ohne irgendwelche anfängliche Erfahrung im Leben vorwärtskommen, er findet sie alltäglich in der Ausübung seines Berufes. Aber welche Hilfsquellen bieten sich den Frauen, um wertvolle und notwendige Kenntnisse zu erwerben? In der Einsamkeit ihres Haushaltes bleibt ihnen das große Buch des Lebens und der Notwendigkeit verschlossen. Die drei Goldstücke, die sie alle Montage von ihrem Gatten erhalten, geben sie immer auf die gleiche Weise aus, nachdem sie die Ausgaben der Köchin geprüft haben.
Der unbedeutendste Mann ist mit zwanzig Jahren und in jugendlicher Frische für eine Frau, die von nichts versteht, gefährlich, denn sie folgt nur dem Impuls; in den Augen einer geistvollen Frau wird er nicht mehr Erfolg haben, als ein hübscher Lakai.
Das Lächerliche der heutigen Erziehung liegt darin, daß man den jungen Mädchen nur Dinge lehrt, die sie schnell wieder vergessen müssen, sobald sie verheiratet sind. Sechs Jahre lang sollen sie täglich Musik treiben und zwei Stunden Pastell oder Aquarell malen. Die meisten jungen Mädchen bringen es dabei nicht einmal [229] zu einer leidlichen Mittelmäßigkeit. Daher das so wahre Sprichwort: Dilettanten sind Ignoranten.
Selbst wenn ein junges Mädchen etwas Begabung gehabt hat, nimmt es nach dreijähriger Ehe höchstens einmal im Monat die Noten oder den Pinsel zur Hand; diese Beschäftigung ist ihm langweilig geworden, außer wenn ihm der Zufall eine Künstlerseele verliehen hat. Aber das kommt selten vor und vereinbart sich auch kaum mit den Haushaltssorgen.
So läßt man die jungen Mädchen unter dem hinfälligen Vormunde der Schicklichkeit in Unkenntnis der Dinge, die sie durch die künftigen Wechselfälle des Lebens leiten könnten; man verbirgt ihnen sogar deren Vorhandensein, leugnet die Wirrsale des Lebens ab und vermehrt sie somit noch durch die Wirkung der Verwunderung und des Mißtrauens, das einst die ganze Erziehung im Lichte der Lüge erscheinen lassen muß. Ich behaupte trotz allem, daß es zu der guten Erziehung eines jungen Mädchens gehört, es auch über die Liebe zu belehren. Wer möchte im Ernst behaupten, daß ein junges Mädchen mit sechzehn Jahren bei unseren heutigen Sitten nichts vom Dasein der Liebe wüßte? Woher stammt aber diese wichtige und heikle Kenntnis? Julie von Etanges gesteht klagend, daß ihr Wissen von einer Kammerzofe herrühre. Man muß Rousseau dankbar sein, daß er in einem Jahrhundert der falschen Scham so wahre Sittenbilder zu malen gewagt hat.
Da die heutige Erziehung der Frauen vielleicht die lächerlichste Geschmacklosigkeit des modernen Europas ist, so sind die Frauen um so mehr wert, je weniger [230] sie eine sogenannte Erziehung gehabt haben. Deshalb sind die Frauen Italiens und Spaniens den Männern so überlegen, und ich glaube, auch den Frauen der anderen Länder.
Die ganze Kenntnis des Frauenherzens stammt in Frankreich aus dem Katechismus. Das Lächerlichste dabei ist, daß viele Leute diesem Buche keinen entscheidenden Wert beilegen, sobald es sich um fünfzig Franken handelt; aber sie hängen am Buchstaben und sind stumpfsinnig in Dingen, die bei der Eitelkeit unserer zeitgenössischen Sitten vielleicht von der größten Bedeutung für ihr Glück sind.
„Man braucht keine Ehescheidung, denn die Ehe ist ein Mysterium“ – und was für eins? „Ein Sinnbild der Vereinigung Christi mit seiner Kirche.“ Wie stände es aber um jenes Mysterium, wenn das Wort „Kirche“ zufällig männlichen Geschlechts wäre?
Wir wollen nicht weiter auf haltlose Vorurteile eingehen und nur auf eine merkwürdige Erscheinung hinweisen: die Wurzel des Baumes ist mit der Axt der Lächerlichkeit abgeschlagen worden, aber die Zweige grünen weiter.
Kehren wir zur Beobachtung der Tatsachen und ihrer Folgen zurück. Bei beiden Geschlechtern hängt das Schicksal des Alters davon ab, wie man seine Jugend verbracht hat. Bei den Frauen trifft das am richtigsten zu. Wie wird eine Frau von fünfundvierzig Jahren in der Gesellschaft behandelt? Auf harte und [231] ihrem Verdienst nicht entsprechende Art und Weise. Mit zwanzig Jahren umschmeichelt, wird sie mit vierzig Jahren verlassen. Eine fünfundvierzigjährige Frau hat nur mittelbaren Einfluß durch ihre Kinder oder durch ihren Geliebten.
Eine Mutter, die eine bedeutende Künstlerin ist, kann ihren Sohn durch ihre Begabung nur in den seltensten Fällen fördern, wenn er selbst von der Natur eine Künstlerseele empfangen hat. Eine Mutter aber, die geistig gebildet ist, wird nicht nur die schöngeistigen Talente ihres Sohnes ausbilden, sondern auch die Anlagen, die der menschlichen Gesellschaft nützlich sind, und ihm dann die Wahl lassen.
Die Barbarei der Türken hängt größtenteils mit dem Zustande der geistigen Verwilderung der schönen Georgierinnen zusammen. Die jungen, in Paris geborenen Leute verdanken ihren Müttern die unbestrittene geistige Überlegenheit, die sie mit sechzehn Jahren über ihre Altersgenossen in der Provinz haben. Zwischen dem sechzehnten und einundzwanzigsten Jahre wird es gerade umgekehrt.
Die Männer, welche die Buchdruckerei, die Webkunst und anderes erfunden haben, tragen täglich zu unserem Glücke bei, ebenso Montesquieu, Racine, Lafontaine. Nun aber steht die Anzahl der Genies, die ein Volk hervorbringt, in einem gewissen Verhältnis zur Gesamtzahl seiner Männer mit leidlicher Bildung. Wer weiß, ob mein Schuhmacher nicht so viel Seele hat, um wie Corneille zu schreiben; es fehlt ihm aber gewiß die nötige Bildung, um seine Gefühle auszugestalten und mitteilbar zu machen.
[232] Nach der heutigen Erziehungsweise der weiblichen Jugend sind alle als Frauen geborenen Genies für das allgemeine Glück verloren. Nur wenn ihnen der Zufall Mittel, sich zu äußern, in die Hand gibt, entwickeln sie die höchsten Fähigkeiten. Ich erinnere in unseren Tagen an Katharina die Zweite, die ihre einzige Erziehung in der Gefahr gehabt hat, an Madame Roland, an Alessandra Mari, die in Arezzo ein Regiment aushob und gegen die Franzosen führte, an die Königin Karoline von Neapel, die besser als Castlereagh den Einfluß des Liberalismus einzuschränken verstand. Das, was der Überlegenheit der Frauen in geistiger Arbeit Einhalt gebietet, habe ich im Kapitel über das weibliche Schamgefühl, Punkt 9, erwähnt.
Welcher Mann hat – in der Liebe oder in der Ehe – das Glück, seiner Lebensgefährtin alle seine Gedanken unverändert mitteilen zu können? Er findet wohl ein gutes Herz, das an seinen Sorgen Anteil nimmt, aber er muß seine Gedanken stets in kleine Münze wechseln, wenn er verstanden sein will. Es wäre auch lächerlich, brauchbare Ratschläge von einem Geist zu erwarten, der zum Verständnis der Dinge der angedeuteten Maßregel bedarf. Die nach heutigen Erziehungsbegriffen vollendetste Frau läßt ihren Gefährten im Drange des Lebens einsam und bald gelangweilt dastehen.
Welchen herrlichen Berater aber könnte der Mann in seiner Frau finden, wenn sie zu denken verstünde, einen Berater, dessen Interessen nicht nur den Lenz des Lebens hindurch in einem einzigen Punkt, sondern in allen Dingen des ganzen gemeinsamen Lebens genau die seinigen wären?
[233] Es ist eins der schönsten Vorrechte des Geistes, im Alter Achtung zu genießen. Die Ankunft Voltaires in Paris ließ selbst die Majestät erbleichen. Die armen Frauen aber haben, wenn der Glanz ihrer Jugend vorüber ist, nur ein einziges, trauriges Glück: sich Selbsttäuschungen über ihre Rolle in der Welt hinzugeben. Die Trümmer ihrer Jugendmacht sind nur lächerlich, und für unsere heutigen Frauen wäre es ein Glück, wenn sie mit fünfzig Jahren stürben.
Bei richtiger Lebensanschauung erkennt man um so klarer, je mehr Geist man hat, daß die Gerechtigkeit der einzige Weg zum Glück ist. Genie ist eine Macht, aber noch mehr eine Leuchte, um die große Kunst des Glücklichseins zu finden.
Die meisten Menschen haben in ihrem Leben einen Augenblick, wo sie Großes leisten könnten und wo ihnen nichts unmöglich erscheint. Durch die Unwissenheit der Frauen geht dieser glänzende Augenblick dem Männergeschlecht unausgenutzt verloren. Allenfalls bewirkt es die Liebe, daß wir anständig zu Pferd sitzen oder in der Wahl unseres Schneiders geschickt sind.
Ich habe nicht die Zeit, meinen Standpunkt der Kritik gegenüber zu verteidigen. Wenn ich die Macht hätte, Vorschriften zu erteilen, so würde ich den jungen Mädchen möglichst genau dieselbe Erziehung angedeihen lassen, wie den Knaben. Wenn auch die heutige Erziehung der Knaben nicht ganz richtig ist, – man unterrichtet sie nicht in den wichtigsten Wissenschaften, in der Logik und Ethik, – so ist es doch immer noch besser, die jungen Mädchen ebenso zu erziehen, als sie nur Musik, Malen und Sticken zu lehren.
[234] Ein großer Vorteil der Schule (im Gegensatz zum Unterricht zu Hause) ist der, daß die Kinder von ihren Schulgefährten unwillkürlich die Kunst lernen, wie man in der Welt lebt und für seinen Vorteil sorgt. Ein kluger Lehrer sollte den Kindern ihre kleinen Streitereien und Freundschaften vor Augen führen und damit den Unterricht über die Moral beginnen, statt mit der Geschichte vom goldenen Kalbe. Ich möchte, daß die jungen Mädchen wie die Knaben das Lateinische erlernten. Das Lateinische ist vortrefflich, weil es lehrt, was Langeweile ist. Daneben Geschichte, Mathematik, Pflanzenkunde, die sich namentlich auf die Nähr- und Arzneipflanzen zu erstrecken hätte, Logik und Ethik. Der Unterricht im Tanzen, in der Musik und im Zeichnen müßte mit fünf Jahren beginnen.
Mit sechzehn Jahren muß ein junges Mädchen daran denken, sich einen Mann zu suchen, und von seiner Mutter eine richtige Vorstellung über die Liebe, die Ehe und die Untreue der Männer erhalten.
Eheliche Treue ohne Liebe ist offenbar naturwidrig.
Man hat den Versuch gemacht, sie gegen die Natur durch die Furcht vor der Hölle und durch religiöse Gefühle zu erzwingen. Bis zu welchem Grade das geglückt ist, zeigt das Beispiel Italiens und Spaniens.
In Frankreich hat man es durch die öffentliche Meinung erreichen wollen. Es ist das zwar der einzige wirkliche widerstandsfähige Damm, aber man hat ihn schlecht gebaut. Es ist widersinnig, einem jungen [235] Mädchen zu sagen: „Du mußt dem Gatten deiner Wahl treu sein,“ es dann aber mit einem langweiligen alten Manne zu verheiraten.[15]
„Aber die jungen Mädchen heiraten doch gern.“
Das kommt davon, weil die jetzige engherzige Erziehungsweise ihnen im elterlichen Hause eine Sklaverei von unerträglicher Langeweile aufbürdet. Auch fehlt ihnen der klare Blick und schließlich verlangt es die Natur. Nur ein Mittel gibt es, um von den Frauen mehr eheliche Treue zu erlangen, das ist, wenn man den jungen Mädchen Freiheit gewährt und den verheirateten Leuten die Ehescheidung ermöglicht.
Eine Frau verliert in der Ehe meist die schönsten Tage ihrer Jugend und fürchtet, durch eine Scheidung Dummköpfen Anlaß zu schlechten Redereien zu geben.
Junge Frauen, die viele Anbeter haben, bedürfen der Ehescheidung nicht. In einem gewissen Alter glauben die Frauen, die viele Liebhaber gehabt haben, ihren Ruf wieder herstellen zu müssen, und in Frankreich gelingt es ihnen immer, wenn sie sich gegen Fehltritte, die sie selbst hinter sich haben, nun recht streng gebärden.
Gerade tugendsame, unglückliche und wahrhaft liebende junge Frauen verlangen nach der Ehescheidung, und doch müssen sie sich von Frauen, die fünfzig Männer gehabt haben, in Acht und Bann tun lassen.
Ich für meine Person beehre mit dem Namen „Tugend“ die gewohnheitsmäßige Ausübung von beschwerlichen, anderen nützlichen Handlungen.
[236] Der Heilige Simeon, der zweiundzwanzig Jahre unter Kasteiungen auf einer Säule zubrachte, ist in meinen Augen keineswegs tugendhaft. Ebensowenig ist es ein Karthäuser, der nur Fischspeisen ißt und sich nur am Donnerstag zu sprechen erlaubt. Ich gestehe offen, daß mir der General Carnot viel lieber ist, der in hohem Alter die harte Verbannung nach einer kleinen Stadt im fremden Norden einer niedrigen Handlung vorzog.
Heute früh (7. Mai 1819) habe ich mir während der Festmesse in Pesaro, zu der ich zu gehen gezwungen war, ein Meßbuch geben lassen und folgenden Satz gefunden:
„Johanna, die Tochter Alfons des Fünften, Königs von Portugal, war in so hohem Grade von der göttlichen Liebe begeistert, daß sie schon von frühester Kindheit an alle weltlichen Dinge verachtete und nur sehnsüchtig nach dem himmlischen Reiche begehrte.“[16]
Die rührendste Tugend, wie sie Chateaubriand im „Génie du Christianisme“ mit schönen Redensarten predigt, läuft eigentlich nur darauf hinaus, keine Trüffeln zu essen, weil man davon Leibschmerzen bekommen könnte. Es ist eine sehr kluge Berechnung, wenn man an die Hölle glaubt, aber immerhin eine Berechnung des persönlichen und prosaischen Eigennutzes. Im Gegensatz hierzu legt die philosophische Tugend, die uns die Rückkehr des Regulus nach Karthago erklärt und während der Revolutionszeit zu ähnlichen Zügen begeistert hat, ein Zeugnis von Hochherzigkeit ab.
Lediglich um nicht in der jenseitigen Welt in einem Kessel mit siedendem Öl zu braten, widersteht in den „Liaisons dangereuses“ Frau von Tourvel dem Valmont. [237] Ich verstehe nicht, warum der Gedanke, mit einem Kessel siedenden Öls zu wetteifern, Valmont nicht veranlaßt hat, sich verachtungsvoll von ihr abzuwenden. Viel rührender erscheint mir Rousseaus Julie, die nur an ihr Versprechen und an das Glück Wolmars denkt.
Eine der lächerlichsten Verkehrtheiten auf Erden ist die, daß die Menschen das, was ihnen zu wissen not täte, schon zu wissen meinen. Man höre sie über Politik, diese schwierigste aller Wissenschaften, man höre sie über Ehe und Sittlichkeit sprechen.
Bis hierher haben wir die Ehefrage nur theoretisch beleuchtet, wenden wir uns nun zu den Tatsachen.
Welches Land der Erde hat die glücklichsten Ehen? Unbestreitbar das protestantische Deutschland.
Es ist wahr, die Männer werden dort nicht betrogen. Aber, großer Gott, was gibt es dort für Frauen! Bildsäulen, keine lebendigen Wesen. Vor der Ehe sind sie angenehm, leicht wie Gazellen, mit lebhaften und zärtlichen Augen, die jede Andeutung von Liebe verstehen. Sie sind eben auf der Jagd nach einem Gatten. Kaum ist er gefunden, so sind sie nichts anderes mehr, als Gebärmaschinen. In einer Familie von vier bis fünf Kindern muß eins immer krank sein, da die Hälfte der Kinder vor dem siebenten Jahre stirbt, und sobald ein Kind krank ist, geht hier zu Lande die Mutter nicht mehr aus. Ich habe beobachtet, daß sie eine unbeschreibliche Freude an den Liebkosungen ihrer Kinder finden. Nach und nach hören sie gänzlich auf [238] zu denken. Junge Mädchen von ausgelassenster Fröhlichkeit werden nach kaum einem Jahre die langweiligsten Frauen.
Als Schlußwort über die Ehen in Deutschland füge ich hinzu, daß die Mitgift der Frauen infolge des Erbrechtes gleich Null ist. Ein Fräulein von D***, deren Vater vierzigtausend Mark Jahreseinkünfte hat, erhält vielleicht zweitausend Taler Mitgift.
Die Mitgift wird durch die Eitelkeit auf die Hoffähigkeit ersetzt. Man könnte im Bürgerstande Partien mit hunderttausend und hundertfünfzigtausend Talern finden, aber dann wäre man nicht mehr hoffähig und von allen Gesellschaften, wo Prinzen oder Prinzessinnen erscheinen, ausgeschlossen, und „das ist entsetzlich“, sagte mir jemand aus vollstem Herzen.
Eine deutsche Frau, seelenvoll und geistreich, mit edlen und feinen Zügen und dem Feuer der Jugend, anständig und infolge der hiesigen Sitten auch natürlich und aus dem gleichen Grunde nicht über das nützliche Maß religiös, vermag ohne Zweifel ihren Gatten sehr glücklich zu machen. Darf man aber hoffen, daß sie unter all diesen stumpfsinnigen Müttern so bleibt?
„Er war doch verheiratet!“ antwortete sie mir heute Morgen, als ich Lord Oswald, den Geliebten der Corinne, wegen seines vierjährigen Schweigens tadelte. Bis drei Uhr früh hatte sie in „Corinne“ gelesen. Der Roman hatte sie tief erregt, und doch antwortete sie mir in rührender Aufrichtigkeit: „Er war doch verheiratet!“
[239]
Ich kenne wenig so glückliche Familien, wie die des Berner Oberlandes, und doch ist es öffentlich und allgemein bekannt, daß dort die jungen Mädchen die Nächte vom Sonnabend zum Sonntag zusammen mit ihrem Geliebten verbringen. Glücklicherweise finde ich bei einem schweizer Schriftsteller (Weiß)[17] die Bestätigung dessen, was ich vier Monate hindurch mit eigenen Augen gesehen habe (1816).
„Ein biederer Bauer beklagte sich über verschiedene in seinem Weinberge angerichtete Beschädigungen, Ich fragte ihn, warum er sich keine Hunde hielte. ‚Meine Töchter würden dann niemals heiraten.‘ – Ich verstand diese Antwort nicht, und nun erzählte er mir, daß er einen so bösartigen Hund gehabt habe, daß keiner der jungen Burschen mehr durch’s Fenster einzusteigen gewagt habe.
Ein andrer Bauer, der Schulze seines Dorfes, sagte mir zum Lobe seiner Frau, daß kein andres Mädchen in der Mädchenzeit so viele junge Männer nachts bei sich gehabt habe.
Ein allgemein geachteter Oberst war einst bei einem Ritte durch das Gebirge gezwungen, die Nacht am Ende eines sehr einsamen, malerischen Tales zuzubringen. Er nahm bei dem höchsten Beamten des Ortes, einem reichen und wohlangesehenen Manne, Quartier. Bei seiner Ankunft bemerkte der Fremde ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, ein Bild von Anmut, Frische und Einfachheit: es war die Tochter des Hauses. An demselben Abend fand ein Tanzfest statt. Der Offizier machte dem jungen Mädchen, [240] das wirklich von auffälliger Schönheit war, den Hof. Schließlich faßte er sich ein Herz und fragte, ob er nicht nachts zu ihr kommen dürfe. Sie antwortete: „Nein, denn ich schlafe mit meiner Kousine zusammen, aber ich werde zu Ihnen kommen.“ Man stelle sich die freudige Erregung vor, die diese Antwort hervorrief. Man aß zu Abend, dann stand der Fremde auf, das Mädchen nahm den Leuchter und folgte ihm in sein Zimmer. Er glaubte, das Glück in den Armen zu haben. „Nein,“ sagte sie treuherzig, „erst muß ich meine Mutter um Erlaubnis fragen.“ Ein Blitzschlag würde ihn nicht mehr niedergeschmettert haben. Sie geht hinaus, er folgt heimlich bis an das Schlafzimmer der braven Leute und hört, wie das junge Mädchen in schmeichelndem Tone die Mutter um die erwünschte Erlaubnis bittet; endlich wird sie gewährt. „Nicht wahr, Alter,“ sagt die Mutter zu ihrem Manne, der schon im Bette liegt, „du hast nichts dagegen, daß Trinelli die Nacht mit dem Herrn Obersten schläft?“ – „In Gottes Namen,“ antwortet der Vater, „ich glaube, einem solchen Manne könnte ich auch meine Frau anvertrauen.“ – „Also schön,“ sagte die Mutter, „aber sei ein braves Mädchen und behalte deine Röcke an …“
Am andern Morgen stand Trinelli jungfräulich wieder auf. Der Fremde hatte sie geachtet. Sie brachte das Bett in Ordnung, bereitete Kaffee und holte Sahne für ihren Nachtgenossen. Nachdem sie mit ihm auf dem Bette sitzend gefrühstückt hatte, schnitt sie ein Stückchen Stoff aus ihrem Brustlatze heraus und sagte: „Hier, behalte das zum Andenken an eine glückliche Nacht, die ich nie vergessen werde. Warum [241] bist du Oberst?“ „Nach einem Abschiedskusse enteilte sie. Der Oberst sah sie niemals wieder.“
Das ist der völlige Gegensatz zu unseren französischen Sitten, die mir so wenig zusagen.
Wenn man sich unter jungen Leuten über einen armen Verliebten tüchtig lustig gemacht und er das Zimmer verlassen hat, so gerät die Unterhaltung am Ende gewöhnlich auf die Streitfrage, ob man die Frauen so nehmen soll, wie Mozarts Don Juan oder wie Goethes Werther.
Der Charakter Don Juans verlangt eine größere Zahl jener in der Welt sehr nützlichen und geschätzten Tugenden, Unerschrockenheit, Findigkeit, Lebhaftigkeit, Kaltblütigkeit und Unterhaltungsgabe. Die Don Juans haben manche öde Stunde, und es steht ihnen ein recht trübseliges Alter bevor. Allerdings werden sie selten alt.
Die Verliebten spielen im Salon eine traurige Rolle, denn man hat Frauen gegenüber nur dann Geschick und Kraft, wenn man an ihren Besitz nicht mehr Interesse knüpft, als an eine Partie Billard. Da Verliebte der Gesellschaft ihr großes Interesse verraten, setzen sie sich, so geistvoll sie auch sein mögen, dem Gespött aus. Aber statt sich darüber zu ärgern, wenn sie morgens aufwachen, denken sie an die Geliebte und bauen sich Luftschlösser, in denen das Glück wohnt.
Die Liebe in Werthers Art offenbart der Seele alle Künste, alle zarten und romantischen Eindrücke, die [242] Schönheit des Mondscheins, des Waldes, der Malerei, mit einem Worte, die Empfindung und den Genuß des Schönen in jeder Gestalt, und sei es unter einem groben Wollkleide. Diese Liebe findet das Glück auch ohne Reichtum, Sie feit die Seelen gegen Blasiertheit und macht die Menschen aus übergroßer Empfindlichkeit toll wie Rousseau. Frauen von gewisser Seelengröße, die nach der ersten Jugend zwischen Liebe und Liebe wohl zu unterscheiden verstehen, entgehen meistens den Don Juans, für die mehr die Zahl, als die Eigenschaften der eroberten Herzen Wert hat. Zum Nachteil der Selbstachtung zarter Seelen ist den Don Juans die Öffentlichkeit zum Triumph genau so nötig, wie das Geheimnis den Werthernaturen. Die meisten Männer, die sich berufsmäßig mit den Frauen beschäftigen, sind im Reichtum geboren, also infolge ihrer Erziehung und durch das Vorbild der Umgebung ihrer Jugendzeit egoistisch und kalt. Schon Marc Aurel sagt in seinen „Selbstbetrachtungen“: „Im allgemeinen sind die Patrizier weiter als andere Menschen davon entfernt, etwas zu lieben.“
Die echten Don Juans sehen schließlich in den Frauen ihre Feinde und finden an deren vielfältigem Unglück Genuß.
Im Gegensatz hierzu hat mir der liebenswürdige Fürst Pignatelli in München (1820) die wahre Art gezeigt, wie man in der Wollust selbst ohne Liebe aus Leidenschaft glücklich sein kann. Er gestand mir eines Abends: „Wenn ich vor einer Frau ganz betroffen dastehe und nicht weiß, was ich ihr sagen soll, so erkenne ich daran, daß sie mir gefällt.“ Keineswegs errötete er in seiner augenblicklichen Verwirrung oder [243] suchte sich aus Eitelkeit dafür zu rächen; im Gegenteil, er freute sich köstlich darüber wie über eine Quelle des Glücks. Bei diesem liebenswürdigen jungen Manne war die Liebe aus Galanterie völlig von der nagenden Eitelkeit frei, sie war eine schwächere, aber reine und unvermischte Abart der wahren Liebe, und er achtete alle Frauen als entzückende Wesen, gegen die wir allzu ungerecht sind.
Da man sich sein Temperament, das heißt seine Seele, nicht willkürlich wählen kann, so muß man die einem zugeteilte Rolle spielen. Rousseau und der Herzog von Richelieu hätten sich bei allen ihren geistigen Fähigkeiten noch so anstrengen können, sie hätten doch niemals ihr Verhältnis zu den Frauen zu ändern vermocht. Ich glaube gern, daß Richelieu niemals solche Augenblicke erlebt hat, wie Rousseau im Park des Schlosses Chevrette bei Frau von Houdetot, oder in Venedig, als er der Musik der Scuole lauschte, oder in Turin zu Füßen der Frau Bazile. Dafür brauchte er auch nie über die Lächerlichkeit zu erröten, die Rousseau bei Frau von Larnage auf sich lud und deren Reue ihn bis zum Ende seines Lebens quälte.
Die Rolle Werthers ist sanfter und läßt keinen Augenblick des Daseins unausgefüllt; aber man muß zugeben, die eines Don Juans ist glänzender. Wenn Werther in der Mitte seines Lebens den Geschmack ändern wollte, so würde er bei seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit und mit seinen träumerischen Gewohnheiten im Theater der großen Gesellschaft auf dem letzten Platze sitzen. Don Juan hingegen genießt einen vorzüglichen Ruf unter den Männern und kann [244] vielleicht sogar einer zarten Frau gefallen, wenn er ihr sein lockeres Leben aufrichtig zum Opfer bringt.
Aus allen diesen angeführten Gründen halten sich beide Arten die Wagschale. Ich selbst möchte Werther für glücklicher halten, weil er nicht wie Don Juan die Liebe zu einer gewöhnlichen Sache macht. Anstatt wie Werther die Wirklichkeit nach seinen Wünschen zu idealisieren, hat Don Juan ehrgeizige Wünsche, die sich in der kalten Wirklichkeit nur unvollkommen erfüllen. Anstatt sich in den zauberischen Träumen der Kristallbildung zu verlieren, denkt er wie ein General an den Erfolg seiner Manöver und tötet kurz gesagt die Liebe. Er genießt sie also keineswegs voller, als Werther, wie die große Menge vermutet.
Das eben Gesagte halte ich für einwandlos. Es gibt noch einen andren Grund dafür, wenigstens in meinen Augen, der aber dank der Bosheit der Vorsehung von den Männern verzeihlicherweise nicht anerkannt wird; es ist der, daß mir die Gewohnheit, gerecht zu sein, von Zufällen abgesehen, der sicherste Weg zur Erreichung des Glückes zu sein scheint, und die Werthers sind keine Verbrecher.
Um im Verbrechen glücklich zu sein, darf man kein Gewissen haben. Ich weiß nicht, ob es solche Wesen gibt, ich bin keinem begegnet und ich möchte sogar wetten, daß das Abenteuer mit Frau Michelin den Herzog von Richelieu schlaflose Nächte bereitet hat. Man müßte, was unmöglich ist, gar kein Mitgefühl haben und fähig sein, das ganze Menschengeschlecht in den Tod zu schicken.
Wer die Liebe nur aus Romanen kennt, wird einen natürlichen Widerwillen empfinden, wenn er diese [245] Sätze zu Gunsten der Tugend in der Liebe liest. Denn nach den Gesetzen des Romanes ist die Schilderung der tugendhaften Liebe durchaus langweilig und gleichgiltig. Von weitem gesehen, scheint das Gefühl der Tugend das der Liebe zu neutralisieren und der Ausdruck „tugendhafte“ Liebe erscheint gleichwertig mit „schwacher“ Liebe. Aber doch ist das lediglich eine Unvollkommenheit in der Kunst der Schilderung, die nichts mit der Leidenschaft, wie sie in der Natur vorkommt, gemein hat.
Ich bitte um die Erlaubnis, hier das Porträt meines vertrautesten Freundes einfügen zu dürfen.
Don Juan leugnet alle Pflichten ab, die ihn mit der Menschheit verknüpfen. Auf dem großen Marktplatz des Lebens ist er ein unredlicher Käufer, der immer kauft und nie bezahlt. Der Gedanke der Gleichheit verursacht ihm Unbehagen, wie Wasser dem Wasserscheuen; deshalb verträgt sich auch Geburtsstolz mit dem Charakter eines Don Juans. Mit dem Begriffe der Gleichheit verschwindet auch der der Gerechtigkeit, oder vielmehr, wenn ein Don Juan aus berühmtem Geschlecht stammt, so sind ihm solche gewöhnlichen Ideen niemals nahegetreten, und ich bin überzeugt, daß ein Mann, der einen historischen Namen trägt, viel eher als jeder andere geneigt ist, eine Stadt in Flammen aufgehen zu lassen, nur um sich ein Ei zu kochen. Man muß das entschuldigen, er ist dermaßen von der Liebe zu sich selbst eingenommen, daß er schließlich jede Vorstellung von dem Übel, das er anrichtet, verliert und in der ganzen Welt nur sich allein noch als den Genießenden oder Leidenden sieht. Im Feuer der Jugend, wenn alle Leidenschaften das Leben nur im eigenen Herzschlag fühlen lassen und [246] das Mißtrauen gegen andere noch fremd ist, beglückwünscht sich Don Juan im Überschwang seiner Gefühle und seines offenbaren Glücks, daß er nur an sich selbst denkt, während sich die anderen Männer für die Pflicht aufopfern. Er glaubt, die große Lebenskunst gefunden zu haben. Aber mitten in seinem Triumph, kaum dreißig Jahre alt, erkennt er mit Erstaunen, daß das Leben leer ist, und er empfindet einen wachsenden Ekel gegen das, was sein Genuß war. Don Juan gestand mir in Thorn in einem Anfall von Verstimmung: „Es gibt keine zwanzig verschiedene Arten von Frauen, und wenn man zwei oder drei von jeder Spielart gehabt hat, stellt sich Übersättigung ein.“ Ich antwortete: „Allein die Phantasie erhebt uns über diese Übersättigung. Jede Frau flößt ein anderes Interesse ein und mehr noch, die gleiche Frau kann man auf verschiedene Weise lieben, je nachdem sie der Zufall uns zwei oder drei Jahre früher oder später in den Weg führt und je nachdem der Zufall will, daß man sie liebt. Deine Art, die Frauen zu besitzen, tötet alle anderen Genüsse des Lebens, die Art Werthers verhundertfacht sie.“
Das Drama hat ein trauriges Ende. Wenn Don Juan alt wird, sieht man, wie er sich an den Dingen seiner eigenen Übersättigung festhält, nie an sich selbst. Man sieht, wie er vom Gifte, das ihn verzehrt, gequält wird, wie er Ablenkung sucht, wie er alle Augenblicke den Gegenstand wechselt. Aber wie glänzend das auch nach außen hin erscheinen mag, es ist doch im Grunde nur ein Wechsel des Leidens; er gibt sich ruhiger oder erregter Langeweile hin, das ist die einzige Wahl, die ihm bleibt.
[247] Endlich entdeckt er die verhängnisvolle Wahrheit und gesteht sie sich selbst ein. Sein einziger Genuß besteht fortan darin, seine Macht fühlen zu lassen und ungeschminkt Böses um des Bösen willen zu tun. Das ist die letzte Zuflucht aller Unglücklichen; aber kein Dichter hat jemals eine getreue Darstellung davon gewagt; eine wahrheitsvolle Schilderung wäre ein Schreckbild.
Indessen ist zu hoffen, daß ein höherer Mensch diesen verhängnisvollen Weg nicht bis ans Ende verfolgt, denn dem Charakter Don Juans liegt ein gewisser Widerspruch zu Grunde. Ich habe bei ihm viel Geist vorausgesetzt und viel Geist läßt uns den Weg vom Tempel des Ruhmes zur Entdeckung der Tugend finden.
Larochefoucald, der sich wirklich auf Eigenliebe verstand und der im wirklichen Leben nichts weniger als ein einfältiger Literat[18] gewesen ist, sagt in seinen „Maximes“ (267): „Der Genuß der Liebe liegt im Lieben und man ist glücklicher über eine Leidenschaft, die man fühlt, als über eine, die man einflößt.“
Das Glück Don Juans ist nichts als Eitelkeit, die allerdings auf Voraussetzungen beruht, bei denen Geist und Tatkraft eine große Rolle spielen. Aber er muß fühlen, daß der unbedeutendste General, der eine Schlacht gewinnt, oder der kleinste Präfekt, der ein Departement verwaltet, einen reicheren Genuß hat, als er; anderseits steht das Glück des Herzogs von Nemours, als ihm die Prinzessin von Cleve ihre Liebe gesteht, meiner Meinung nach über dem Glücke Bonapartes bei Marengo.
Die Liebe eines Don Juan ist ein ähnliches Gefühl, wie die Vorliebe für die Jagd. Sie ist ein Tatendrang, [248] den das Neue reizt und der ohne Unterlaß die eigene Fähigkeit argwöhnisch erprobt.
Werthers Liebe gleicht dem Gefühl eines Gymnasiasten, der ein Trauerspiel vollendet hat. Tausendmal mehr, sie ist ein neuer Lebenszweck, der mit allen Dingen in Zusammenhang steht und jedem ein neues Ansehen verleiht. Die Liebe aus Leidenschaft führt dem Menschen die gesamte Natur in erhabenen Bildern wie etwas eben Entdecktes vor Augen. Er staunt beim Anblick dieses seltsamen Schauspiels, das sich vor seiner Seele enthüllt. Alles ist neu, alles lebt, alles atmet das leidenschaftlichste Interesse. Ein Liebender sieht die Frau, die er liebt, in den Berglinien jeder Landschaft, durch die er kommt, und wenn er hundert Meilen weit reisen muß, um sie für einen Augenblick zu sehen, so redet unterwegs jeder Baum und jeder Fels in einer anderen Sprache von ihr und erzählt etwas Neues. Im Gegensatz zu diesem Zauber muß Don Juan in den äußeren Dingen, die für ihn nur einen Nützlichkeitswert haben, wenn sie ihm Interesse bereiten sollen, irgend eine neue Intrigue in ihnen finden.
Die Liebe eines Werther hat eigentümliche Freuden. Nach ein oder zwei Jahren, wenn der Liebende sozusagen ein Herz und eine Seele mit der Geliebten ist, fragt er sich bei allem, was er tut und erlebt, – wunderlicherweise unabhängig vom Liebeserfolg, und selbst wenn er bei der Geliebten in Ungnade ist: „Was würde sie sagen, wenn sie jetzt bei mir wäre? Was würde ich zu ihr bei diesem Blick auf Casa Lecchio sagen?“ Er plaudert gleichsam mit ihr, er hört sie im Geiste antworten, er lacht über ihre Scherze. Hundert Meilen von ihr, unter der Nachwirkung ihres Zornes, befällt [249] ihn plötzlich der Gedanke: „Sie war heute abend recht lustig“ … Er kommt zu sich. „Ach Gott,“ seufzt er, „es gibt im Irrenhause Menschen, die nicht so toll sind, wie ich.“
Die Don Juans werden die Richtigkeit des oben geschilderten Seelenzustandes nur schwer zugeben, selbst wenn sie ihn erkennen und fühlen könnten; er verletzt ihre Eitelkeit zu sehr. Der Irrtum ihres Lebens beruht in der Zuversicht, in vierzehn Tagen das erobern zu können, was ein wahrhaft Liebender kaum in sechs Monaten erreicht. Sie bauen auf Erfahrungen, die sie auf Kosten jener armen Teufel gemacht haben, die weder Seele genug haben, um zu siegen, wenn sie ihre naiven Regungen einer zartfühlenden Frau offenbaren, noch den Geist, den die Rolle des Don Juan erfordert. Sie wollen nicht einsehen, daß das, was sie erreichen, selbst wenn es die nämliche Frau gewährt, doch nicht dasselbe ist.
„Der Kluge ist auf seiner Hut,
Denn viel zu Viele sind bereit,
Zu schwören einen falschen Eid.
Die Frauen lassen manche Glut,
Die ohne Falsch ist, unerhört;
Nur der ermißt der Minne Wert,
Der Minne zu genießen weiß.
Und doch ist stets zu hoch ihr Preis.“[19]
Die Liebe läßt sich mit einem einsamen, steilen und mühevollen Wege vergleichen, der zwar zwischen reizenden Büschen anfängt, sich aber bald zwischen schroffen Felsen verliert, deren Anblick für gewöhnliche Augen nichts Verlockendes hat. Bald führt er in das Hochgebirge, [250] mitten durch einen düsteren Wald, dessen riesenhafte Bäume mit ihren dichten, in den Himmel ragenden Kronen das Tageslicht verschlingen und eine nicht für die Gefahr geborene Seele mit Grauen erfüllen.
Nach langem Irren durch ein endloses Labyrinth, dessen zahllose Kreuz- und Querwege die Eigenliebe totmachen, gelangt man plötzlich in eine neue Welt und findet sich im köstlichen Tale von Kaschmir.
Wie können Don Juans, die niemals diesen Pfad betreten oder ihn höchstens nur einige Schritte weit gehen, ein Urteil über die Fernsicht haben, die sich an seinem Ende erschließt?
„Die Unbeständigkeit hat ihr Gutes.“
Gut, ihr macht euch über Treue und Gerechtigkeit lustig. Was sucht man in der Abwechslung? Offenbar Genuß.
Aber der Genuß, den man bei einer hübschen Frau findet, die man vierzehn Tage lang begehrt hat und dann drei Monate behält, ist ein anderer, als wenn man sich drei Jahre hindurch nach ihr gesehnt hat und sie zehn Jahre behält.
Wenn ich nicht immer sage, so liegt das daran, weil das Alter, wie man sagt, unsere körperliche Beschaffenheit ändert und uns für die Liebe unfähig macht. Ich für meinen Teil glaube das nicht. Ist unsre Geliebte unsre vertrauteste Freundin geworden, so gewährt sie uns einen neuen Genuß, die Freuden des Alters. Sie ist eine Blume, die im Lenz in der Zeit der Blüte eine Rose war, und sich im Herbst, wenn die Rosen nicht mehr blühen, in eine köstliche Frucht verwandelt.
[251] Eine Geliebte, die man drei Jahre lang begehrt hat, ist wirklich eine Geliebte in der ganzen Macht dieses Wortes. Nur mit Zittern naht man ihr, und den Don Juans sei ins Ohr gesagt: „Wer zittert, langweilt sich nicht.“ Die Freuden der Liebe stehen immer in einem gewissen Verhältnis zur Furcht.
Das Unglück der Unbeständigkeit ist die Langeweile, das Unglück der Liebe aus Leidenschaft die Verzweiflung und der Tod. Die Verzweiflung aus Liebe kennt man; man redet viel von ihr. Niemand aber achtet auf die blasierten Wüstlinge, die vor Langeweile umkommen und von denen es in Paris wimmelt.
„Die Liebe drückt mehr Menschen die Pistole in die Hand, als die Langeweile.“ – Das will ich glauben. Die Langeweile raubt einem alles, selbst den Mut zum Selbstmord.
Es gibt Charaktere, die nur in der Abwechslung das Glück finden. Aber ein Mensch, der den Champagner himmelhoch über den Bordeaux stellt, gesteht eigentlich nur mit mehr oder weniger Beredsamkeit: „Ich liebe den Sekt mehr.“
Beide Weine haben ihre Liebhaber und beide Parteien haben recht, wenn sie sich selbst nur gut kennen und wenn sie nach dem Glücke trachten, das ihren Organen und Gewohnheiten am besten entspricht. Den Anhängern der Abwechslung schadet es aber auf jeden Fall, wenn die Schar der Dummen aus Mangel an Mut auf ihre Seite tritt.
Schließlich hat jeder Mensch, wenn er sich nur die Mühe gibt, sich selbst zu erforschen, sein Schönheitsideal, und mir kommt es immer lächerlich vor, seinen Nächsten bekehren zu wollen.
[252]
„Ich bin noch im Zweifel darüber,“ sagt Montaigne, „ob jene lächerlichen Unglücksfälle in der Liebe, deren die Welt so voll ist, daß von nichts anderem gesprochen wird, nicht von Angst und Schwäche herrühren, denn ich weiß aus Erfahrung, daß einer, für den ich einstehen kann wie für mich selbst, den nicht der geringste Verdacht von Schwäche trifft, und der auch nicht der Verzauberung zugänglich ist, von einem Freunde einst die Geschichte einer solchen außergewöhnlichen Ohnmacht erfuhr, die gerade im allerungeeignetsten Augenblick eintrat; und als er selbst in eine ähnliche Lage kam, da ward seine Phantasie durch jene Erzählung, die ihm auf der Stelle einfiel, derart beeinflußt, daß es ihm genau so erging. Seitdem verfiel er öfter in jene Schwäche, da ihn die Erinnerung an sein Unglück verzehrte und völlig beherrschte. Er fand gegen diesen Einfluß ein Heilmittel in einem anderen Einfluß. Er gestand sich nämlich selbst seine Niederlage ein und hielt sie sich vor Augen, nahm dieses Übel als etwas Erwartetes und milderte dadurch die Aufregung seines Gemütes, so daß jener Zwang nachließ und fortan minder auf ihm lastete …
„Wer das einmal kann, der wird seiner nicht wieder unfähig, außer durch richtige Schwäche. Jenes Unglück ist nur dann zu befürchten, wenn unsre Seele über alle Maßen gespannt ist von Verlangen und Ehrerbietung. Die Seele des Angreifers, die durch allerlei Aufregungen verwirrt ist, verliert leicht ihre Kraft …“
[253] Wenn wir die Eitelkeit außer dem Spiele lassen, so ist der erste Sieg keinem Manne wahrhaft angenehm, außer:
1. wenn er gar keine Zeit gehabt hat, die betreffende Frau zu begehren und sich mit ihr in seiner Einbildung zu beschäftigen, das heißt, außer wenn er sie im ersten Augenblick des Begehrens sofort besitzt. Das ist der Fall des höchsten Sinnengenusses, denn die Seele ist noch völlig in jenem Zustande, wo sie ungeachtet der Hindernisse nur die Schönheiten sieht.
2. Oder, wenn es sich lediglich um ein weibliches Wesen ohne alle Nebenumstände und Folgen handelt, zum Beispiel um eine hübsche Kammerzofe oder eine von denen, die man nur begehrt, wenn man sie gerade vor Augen hat. Sowie ein Körnchen innerer Leidenschaft hinzutritt, ist auch ein Körnchen, eine Möglichkeit des Fiaskos dabei.
3. Oder, wenn der Liebhaber seine Geliebte auf eine so unerwartete Weise erobert, daß er nicht die geringste Zeit zum Nachdenken findet.
4. Oder in einer von Seiten der Frau hingebungsvollen und übertriebenen Liebe, die von ihrem Geliebten nicht in gleichem Maße geteilt wird.
Zur Erkenntnis dessen, daß der erste Sieg sehr oft eine peinliche Anstrengung ist, muß man zwischen dem Vergnügen am Abenteuer und dem Glücke des darauffolgenden Augenblicks unterscheiden. Man ist zufrieden:
1. daß man endlich in der so sehr herbeigesehnten Lage, im Besitze eines vollkommenen Glückes für die Zukunft ist, daß man über die Zeiten jener grausamen Härte, die einen an der Gegenliebe zweifeln ließ, hinaus ist;
[254] 2. daß man seine Sache gut gemacht hat und einer Gefahr entronnen ist. Dieser Umstand ist daran schuld, daß die Freude in der Liebe aus Leidenschaft nicht ungetrübt ist; man weiß nicht, was man tut, und man ist der Geliebten sicher. In der Liebe aus Galanterie jedoch, in der man nie den Kopf verliert, ist jener Augenblick wie die Heimkehr von einer Reise; man betrachtet sich prüfend, und wenn die Liebe viel Eitelkeit an sich hat, will man diese Prüfung verbergen.
3. Das gemeine Element der Seele genießt die siegreiche Errungenschaft. Vorausgesetzt, daß man Leidenschaft für eine Frau empfindet und daß unsre Phantasie nicht matt ist, so wird man, wenn die Geliebte die Ungeschicklichkeit begeht, uns eines Abends zärtlich und heimlich zuzuflüstern: „Komm morgen Mittag, wir werden allein sein,“ in nervöser Unruhe die ganze Nacht nicht schlafen. Wir malen uns tausend Bilder von dem Glücke aus, das unserer harrt; der Vormittag ist eine Qual; endlich schlägt die Stunde und jeder Schlag der Uhr scheint uns im Herzen wiederzuhallen. Auf dem Wege durch die Stadt haben wir Herzklopfen und kaum die Kraft zu gehen. Auf ihrer Treppe reden wir uns Mut ein – und wir erleben ein Fiasko der Phantasie.
Ein gewisser Rapture, ein Künstler, doch ein beschränkter Kopf, überdies ein sehr nervöser Mensch, erzählte mir in Messina, daß er nicht nur einmal, nein immer beim ersten Male, also dauernd, Unglück gehabt habe. Dabei halte ich ihn für einen Mann wie alle anderen, wenigstens habe ich zwei reizende Maitressen von ihm gesehen.
[255] Der Sanguiniker, der echte Franzose, der alles von der schönen Seite nimmt, wird durch ein Stelldichein für den nächsten Mittag keinesfalls übermäßig in seinem Gemüt aufgeregt; vielmehr strahlt ihm alles bis zum Augenblick der Wonne in rosigen Farben. Ohne das Stelldichein würde er sich wohl gar langweilen.
Man lese die Analyse der Liebe bei Helvetius. Ich möchte wetten, er fühlte wirklich so, und er schreibt im Sinne der meisten Menschen. Solche Naturen sind der Liebe aus Leidenschaft unfähig, sie würde nur ihre schöne Gemütsruhe stören; ich glaube, sie würden eine tiefe Neigung als ein Unglück auffassen, zum mindesten ihre Zaghaftigkeit als Demütigung empfinden.
Der Sanguiniker kann schlimmstenfalls nur eine Art von geistigem Fiasko erleben, wenn er nämlich ein Stelldichein mit einer Messalina hat und in ihrem Schlafzimmer daran denkt, vor welcher strengen Richterin er sich zeigen soll.
Der furchtsame Melancholiker kommt zuweilen dem Sanguiniker nahe, nämlich, wie Montaigne sagt, in ausgelassener Sektstimmung, vorausgesetzt, daß er sich nicht mit Absicht betrinkt. Sein Trost muß darin bestehen, daß die von ihm so beneideten glänzenden Menschen, denen er es nie gleichtun kann, niemals seine Stimmungen und seine himmlischen Freuden kosten und daß die schönen Künste, die sich von der Verzagtheit der Liebe nähren, ihnen ewig ein verschlossenes Reich bleiben. Der Mann, der sich wie Duclos nur ein Alltagsglück ersehnt, findet es oft, ist aber nie unglücklich und somit niemals für Kunst empfänglich.
Dem athletischen Temperament begegnet diese Art von Unglück nur aus Erschöpfung oder körperlicher [256] Schwäche, im Gegensatz zum nervösen und melancholischen Temperament, die dafür geschaffen zu sein scheinen.
Oft gelingt es den armen Melancholikern, wenn sie sich bei einer anderen Frau ermüdet haben, ihre Phantasie etwas einzudämmen und dann bei der leidenschaftlich geliebten Frau eine weniger traurige Rolle zu spielen.
Was muß man aus alledem schließen? Daß eine kluge Frau sich niemals zum ersten Male auf Verabredung hingeben darf. Dieses Glück muß sie unerwartet gewähren.
Anmerkungen Stendhals
- ↑ [350] Memoiren von Réalier-Dumas. Corsica, das nicht halb so viel Bevölkerung (180000 Einwohner) hat, wie ein französisches Departement, hat in letzter Zeit Salicetti, Pozzo di Borgo, den General Sebastiani, Cervioni, Abbuttacci, Arena, Lucian und Napoleon Bonaparte hervorgebracht. Das kommt daher, weil jeder Corse, wenn er sein Haus verläßt, eine Pistole tragen darf und weil ein Corse, dem wahren Christentum zuwider, Selbstverteidigung und Rache ausübt.
- ↑ [350] In England meinen die bedeutendsten Schriftsteller sich einen weltmännischen Anstrich zu verleihen, wenn sie französische Worte zitieren; meistens sind es solche, die ihr Französisch lediglich aus englischen Grammatiken haben. Man nehme die „Edinburgh-Review“ her, oder die Memoiren der Gräfin von Lichtenau, der Maitresse des vorletzten Königs von Preußen.
- ↑ [350] „Voyage en Espagne“ von Semple. Er schildert wahrheitsgetreu und man findet bei ihm eine eindrucksvolle [351] Schilderung der Schlacht von Trafalgar, obwohl er sie nur von fern sah.
- ↑ [351] Grimms Korrespondenz, Januar 1783: „Am Eröffnungstage des neuen Hauses war Graf N***, Kapitän auf Lebenszeit in der Garde von Monsieur [dem Bruder des Königs], entrüstet, daß er keinen Balkonplatz mehr frei fand. Er kam auf den bösen Einfall, einem ehrsamen Rechtsanwalt seinen Platz streitig zu machen. Dieser, Maître Parnot, wollte auf keinen Fall weichen. ‚Sie nehmen mir meinen Platz!‘ sagte er. – ‚Das ist meiner!‘ – ‚Wer sind Sie eigentlich?‘ – ‚Ich bin Herr Sechs-Franken‘ [das ist der Billetspreis]. Ein lebhafter Wortwechsel, Beleidigungen und Stöße mit dem Ellenbogen folgten. Graf N*** trieb seine Rücksichtslosigkeit so weit, den armen Rechtsverdreher ‚Dieb‘ zu schimpfen, und vermaß sich zu guter Letzt, ihn durch den diensthabenden Schutzmann festnehmen und auf die Wache bringen zu lassen. Maître Parnot begab sich mit großer Würde dahin und reichte sofort nach seiner Wiederentlassung Klage bei Gericht ein. Die furchtbare Kaste, der anzugehören er die Ehre hatte, wollte von einer Zurücknahme der Klage nichts wissen. Die Angelegenheit kam vor das Parlament. Graf N*** wurde in die Kosten verurteilt, mußte dem Rechtsanwalt Genugtuung geben und ihm 2000 Taler Entschädigung zahlen. Diese Summe wurde mit seiner Einwilligung den armen Gefangenen der Conciergerie überwiesen. Außerdem wurde genanntem Grafen dringend ans Herz gelegt, die [352] königlichen Orders in Bezug auf Ruhestörungen im Theater besser zu beachten. Der Vorfall wirbelte viel Staub auf, da öffentliche Interessen davon berührt wurden. Der ganze Richterstand hielt sich für bedroht, weil ein Träger des Amtskleides beleidigt worden war. Um die Geschichte in Vergessenheit zu bringen, suchte Herr von N*** auf dem Schlachtfeld von Saint-Roche Lorbeeren. Er konnte nichts Besseres tun, meinte man, um sein Talent zur Eroberung vielumstrittener Plätze in Geltung zu bringen.“ Man stelle sich einen unbekannten Philosophen an Stelle des Advokaten vor und entnehme daraus die Nützlichkeit des Duells. Siehe auch weiterhin auf Seite 496 eine recht verständige Ablehnung von Beaumarchais, der einem seiner Freunde eine vergitterte Loge zum „Figaro“ versprochen hat und sie darum einem anderen ausschlägt. Solange man glaubte, diese Antwort richtete sich gegen einen Herzog, war das Geschrei groß, und man sprach bereits von schweren Strafen. Als Beaumarchais aber erklärte, daß sein Brief nur an den Gerichtspräsidenten Dupaty gerichtet sei, lachte alles. Wir verstehen diese Empfindungsart nicht mehr. Und doch mutet man uns dieselben Trauerspiele zu, die jenen Menschen gefielen.
- ↑ [352]
„Heu! male nunc artes miseras haec saecula tractant;
Jam tener assuevit munera velle puer.“
(Tibull, I, 4.) - ↑ [353] Vgl. die „Memoiren der Markgräfin von Baireuth“ und „Mes souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin“ von Thiébault [deutsch von Robert Sulz, Stuttgart, 1902].
- ↑ [353] Siehe Richardsons Romane. Die Sitten der Familie Harlowe in „Clarissa“ sind mit einigen der Neuzeit entsprechenden Änderungen in England etwas Alltägliches; die Bedienten haben dort mehr Freiheit, als die Herrschaft.
- ↑ [353] Plunkell Craig „Vie de Curran“.
- ↑ [353] Man mußte den liebenswürdigen General von Laclos reden hören (Neapel 1802). Wenn man dieses Glück nicht gehabt hat, kann man die sehr angenehm geschriebene „Vie privée du maréchal de Richelieu“ (9 Bde.) zur Hand nehmen.
- ↑ [353] Das Manuskript befindet sich in der Laurentiana zu Florenz.
- ↑ [353] Vgl. Raynouard.
- ↑ [353] André le Chapelain war um 1176 schriftstellerisch tätig. Man findet in der Pariser Bibliothek (Nr. 8758) ein Manuskript von Andrés Werke, das einst im Besitz von Baluze war. Das Titelblatt lautet: „Hic incipiunt capitula de arte amatoria et reprobatione amoris.“ Diesem Titel folgen eine Inhaltsangabe der Kapitel und die Worte: „Incipit liber de arte amandi et de reprobatione amoris, editus [354] et compillatus a magistro Andrea, Francorum aulae regiae capellano, ad Galterium amicum suum, cupientem in amoris exercitu militare: in quo quidem libro, cujusque gradus et ordinis mulier ab homine cujusque conditionis et status ad amorem sapientissime invitatur; et ultimo in fine ipsius libri de amoris reprobatione subjungitur.“ Crescimbeni führt in seinem „Vite de’ poeti provenzali“ unter „Percivalle Doria“ ein Manuskript aus der Bibliothek des Nicolò Bargiacchi in Florenz an und zitiert mehrere Stellen daraus. Dieses Manuskript ist eine Übersetzung der Abhandlung Andrés. Die Akademie von Crusca zählt sie unter den Werken auf, die ihr Beispiele zu ihrem „Dictionnaire“ geliefert haben. Es gibt verschiedene Ausgaben des lateinischen Originals; Friedrich Otto Menckenius erwähnt in seinen „Miscellanea Lipsiensia nova“, Leipzig, 1751, VIII, 1, Seite 545 ff, eine ganz alte Ausgabe ohne Angabe des Jahres und des Druckortes, die er für eins der allerersten Druckwerke hält: „Tractatus amoris et de amoris remedio Andreae capellani Innocentii papae quarti.“ Eine zweite Ausgabe von 1610 trägt den Titel: „Erotica seu amatoria Andreae capellani regii, vetustissimi scriptoris ad venerandum suum amicum Guualterium scripta, nunquam ante hac edita, sed saepius a multis desiderata; nunc tandem fide diversorum [355] sorum mss. codicum in publicum emissa a Dethmaro Mulhero, Dortmundae, typis Westhovianis, anno una caste et vere amanda.“ Eine dritte Ausgabe hat auf dem Titel: „Tremoniae, typis Westhovianis, anno 1614.“ André teilt sein Thema nach folgendem Plan ein: 1. Quid sit amor et unde dicatur. 2. Quis sit effectus amoris. 3. Inter quos possit esse amor. 4. Qualiter amor acquiratur, retineatur, augmentetur, minuatur, finiatur. 5. De notitia mutui amoris, et quid unus amantium agere debeat, altero fidem fallente. Jede dieser Fragen wird in mehreren Kapiteln behandelt. André läßt abwechselnd den Liebenden und die Dame sprechen. Sie macht Einwendungen, der Liebende sucht sie durch mehr oder minder feinsinnige Beweise zu widerlegen. Hier eine Stelle, wo der Verfasser den Liebenden sagen läßt: „...Sed si forte horum sermonum te perturbet obscuritas, eorum tibi sententiam indicabo. Ab antiquo igitur quattuor sunt in amore gradus distincti: Primus, in spei datione consistit. Secundus, in osculi exhibitione. Tertius, in amplexus fruitione, Quartus, in totius concessione personae finitur.“
- ↑ [356] Zitat aus Molière, „Die gelehrten Frauen“, II, 7.
- ↑ [356] Vergl. u. a. die Memoiren von Collé.
- ↑ [356] Selbst unbedeutende Dinge haben lächerlicherweise genau wie auf uns Männer Einfluß auf die Erziehung der Frauen. So überwies zum Beispiel das Ministerium derselben edlen Regierung, die gegen die Ehescheidung ist, der Stadt Laon ein Standbild der Gabrielle d’Estrées. Es wird auf einem öffentlichen Platze aufgestellt, augenscheinlich um die jungen Mädchen an die Liebschaften der Bourbonen zu erinnern und sie anzuhalten, gelegentlich gegen liebenswürdige Könige nicht grausam zu sein und diesem erlauchten Hause Nachkommen zu gewähren. Dafür verweigerte das nämliche Ministerium der Stadt Laon die Genehmigung zu einem Denkmal des Marschalls Serrurier, eines braven Mannes, der kein galanter Herr war, aber seine Laufbahn als gemeiner Soldat begonnen hatte. (Rede des Generals Foy, „Courrier“ vom 17. Juni 1820; Dulaure „Histoire de Paris“ unter „Amours de Henri IV“.)
- ↑ [356] Im Original: „Joanna, Alphonsi quinti Lusitaniae regis filia, tanta divini amoris flamma praeventa fuit, ut ab ipsa pueritia rerum caducarum pertaesa, solo caelestis patriae desiderio flagraret.“
- ↑ [357] Oberst Weiß, „Principes philosophiques“, 7. Auflage, II, 245.
- ↑ [357] Vgl. „Memoiren des Kardinals von Retz“.
- ↑ [357] Aus Nivernais, „Le troubadour Guillaume de la Tour“, III, 332.
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