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Titel: Waldmenschen in München
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 644
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[644] Waldmenschen in München. Wir waren in Innsbruck. Unsere treuen Reisegefährten, Bädecker, Meyer, Grieben, Amthor, alle sprachen so zu uns. „Am Fuße des Berges liegt Schloß Amras oder Ambras, einst Lieblingsaufenthalt Erzherzog Ferdinand’s des Zweiten († 1595) und seiner Gemahlin Philippine Welser etc.“ oder doch so ähnlich. Wir hatten also die Wahl zwischen Amras und Ambras, entschieden uns für erstere Lesart und fuhren hin. Die Aussicht in’s Innthal – gehört nicht hierher; wir genossen sie mit stillem Behagen von der Schloßterrasse, zogen die Glocke am Schloßthore, und ein freundlicher Castellan, vielleicht der Enkel des Enkels von Ferdinand’s Castellan, führte uns im todten Schlosse umher und zeigte uns Alles, was schön war, als das Schloß noch Leben hatte. Wir kamen zwei Treppen hoch in den Corridor links. „Nun bitte, treten’s a bissel daher. Da werden’s schauen in Lebensgröße das Bild eines Mannes, was hat gelebt zu München zur Zeit Ferdinand’s, und das Bild der Frau und das Bild des Sohnes zu dem Manne. Die Frau war wohlgestalt, der Mann hatte lange Haare im Gesichte und am ganzen Körper, der Sohn auch. Nachdem der Großherzog ein Gaudi hatte, wann er curiose Menschen sah, so hat er sich die Familie abmalen lassen.“

So sprach der Castellan, wie er vielleicht schon tausendmal gesprochen hatte. Ich hörte kaum auf ihn und sah starr in das Gesicht des alten Müncheners, in dieses Gesicht mit den langen ruppig büschelförmig stehenden Haaren, in dieses vollständige Affenpintschergesicht, aus dem doch Mund und Augen so sehr klug und gutmüthig hervortraten. Und der Sohn war das treue Abbild seines Vaters, nur einige Nummern kleiner. Wo hatte ich den Münchener schon gesehen? Ich durchlief die Reihen meiner Freunde, meiner Bekannten bis in die letzten Ausläufer – wilde Männer waren nicht darunter. Und doch, doch mußte mir diese Menschenbildung schon nahe getreten sein.

Wir reisten weiter. Gossensaß und Franzensfeste, Hochgall und Schwarzenstein. Alles sehr schöne Alpenbilder, aber sie traten nur neben, nicht vor jenes merkwürdige Menschenbild. Da sah ich in Taufers auf der Wirthstafel die „Gartenlaube“ liegen, umkreist in weitem Bogen von einem ganz schwarzen Manne mit einem kleinen weißen Tonsurfleckchen. Ich aber nahm das Blatt seiner Beunruhigung ruhig in die Hand und – merkwürdige Zickzacke der Erinnerung – ich wußte sofort, wohin ich den Münchener zu thun hatte.

Nach Hause zurückgekehrt, blätterte ich rückwärts die Jahrgänge der „Gartenlaube“ durch; ich brauchte nicht lange zu blättern, Jahrgang 1874, Seite 61, fand ich das getreue Conterfei des Müncheners, nur daß er hier Andrian Jestichew heißt, tief aus dem Innern Rußlands gebürtig ist und noch unter den Lebenden weilt. Genau wie Jestichew dort abgebildet ist, genau so sehen der alte Münchener und sein Sohn aus, alle haben sie ein äußerst kluges, gutmüthiges Affenpinschergesicht. Der Herr Verfasser jenes Artikels „Was uns die Waldmenschen erzählen“ giebt an, daß nach vielfachen Berichten dergleichen Waldmenschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gelebt haben, einen directen Beweis aber, wie ihn nur ein Bild bringen kann, hat der Herr Verfasser nicht liefern können, wenigstens nicht aus eigener Anschauung. Ich freue mich daher, ein solches eclatantes Beweisstück zwar nicht entdeckt, aber doch zur Sprache gebracht zu haben, denn wir haben es hier wiederum mit einer Thatsache zu thun, die im Vereine mit vielen anderen die Darwin-Häckel’sche Lehre vom Ursprunge des Menschengeschlechtes aus dem Gebiete der hohen Wahrscheinlichkeit immer mehr in das der Gewißheit hinüber trägt. Sonderbare Verkettung der Umstände! Jener Mann aus dem stolzen Fürstengeschlechte, welcher der Selbstüberhebung seiner Kaste einen so argen Ruck versetzte und in dreißigjähriger glücklicher Ehe mit der Bürgerstochter den Beweis von der Gleichheit des Menschengeschlechtes antrat, er ging, wenn auch unbewußt, noch einen Schritt weiter und lieferte uns ein Beweisstück dafür, daß das Menschengeschlecht im Gefühle seiner Würde gegen die sogenannten untergeordneten Geschöpfe nur ganz leise auftreten darf.