Reichsgericht - Anreizung zum Klassenkampf: Regierung keine Klasse
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95. Was ist für den Thatbestand des im §. 130 St.G.B.'s vorgesehenen Deliktes unter „Klassen der Bevölkerung“ zu verstehen? Kann dieses Thatbestandsmerkmal dadurch erfüllt werden, daß festgestellt wird, es sei zu Gewaltthätigkeiten gegen die „Regierung“ oder gegen die „Regierenden“ angereizt worden?
Auf Revision des Angeklagten ist das Urteil aufgehoben und die Sache in die Vorinstanz zurückverwiesen worden.
Aus den Gründen:
Das angefochtene Urteil erachtet für erwiesen, daß Angeklagter in öffentlicher Versammlungen in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Anhänger der sozialdemokratischen Partei zu Gewaltthätigkeiten gegen die Regierung angereizt hat, und hat auf solchen Thatbestand den §. 130 St.G.B.'s angewendet. Diese Entscheidung ruht auf unrichtiger Gesetzesanwendung.
Die Verbotsnorm des §. 130 St.G.B.'s untersagt die öffentliche Anreizung „verschiedener Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegeneinander“. Nun mag es statthaft sein, die Anhänger der „sozialdemokratischen Partei“ insofern als Bevölkerungs- [294] klasse zu bezeichnen, als die fragliche Partei ausschließlich oder überwiegend die Verteidigung der Interessen der lohnarbeitenden Klassen, also spezifische Klasseninteressen verfolgt, und man sonach thatsächlich die „Partei“ mit der sie ausfüllenden sozialen „Klasse“ (Arbeiterstand, Proletariat oder dgl.) zu identifizieren sich im konkreten Falle für befugt halten darf. Keinesfalls ist aber der Begriff „Regierung“ dazu geeignet, unter das Thatbestandsmerkmal der „Klasse der Bevölkerung“ untergeordnet zu werden. Unter „Regierung“ versteht man im gemeinen Sprachgebrauch die Ausübung oder Inhabung staatlicher Herrschaftsrechte, d. h. entweder die Organe oder die Funktionen, in denen oder durch welche die Staatsgewalt in die Erscheinung tritt. Es bedarf keiner Ausführung, daß dieser staatsrechtliche Begriff, sowenig wie der der „Obrigkeit“ oder des „Regimentes“ oder des „Staates“ schlechthin, mit den vom §. 130 St.G.B.'s vorausgesetzten Bevölkerungsklassen etwas gemein hat. Die Rechtsauffassung der Vorinstanz wird dadurch nicht annehmbarer, daß man, wie dies das Urteil versucht, das Wort „Regierung“ mit „Regierenden“ vertauscht, die „Regierenden“ als „Leiter und Erhalter des Staatswesens“ bestimmt, und nunmehr nach Anleitung der amtlichen Motive zum Strafgesetzbuche diejenige „Mehrheit von Personen“ gefunden zu haben glaubt, welche wegen „gleicher Lebensstellung oder Übereinstimmung der Ansichten, Zwecke oder Interessen“ als klassenmäßig verbundener Volksteil aufgefaßt und daraufhin in Gegensatz zu anderen Volksteilen gebracht werden kann. Nach Wortsinn wie Ursprung des dem französischen Gesetze vom 9. September 1835 Art. 8 entlehnten Ausdruckes „Klassen der Bevölkerung“ – „classes de la société“ – kann darüber nicht wohl ein Zweifel obwalten, daß man unter dem fraglichen Ausdrucke wesentlich die auf dem Boden der Gesellschaft emporgewachsenen, nach Besitz und Beruf, Beschäftigung und Gewerbe, Bildung und Herkommen geschiedenen natürlichen Gliederungen des Volksorganismus hat begreifen wollen. Im Interesse des sozialen Friedens sollen die sozialen Gegensätze nicht durch Verhetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen gegeneinander aufgeregt und verschärft werden. In diesem Sinne sind die „Regierenden“ schlechterdings keine gesellschaftliche Klasse mit besonderen Klasseninteressen. Wären sie dies, so müßte sich auch umgekehrt eine unter den §. 130 St.G.B.'s fallende Anreizung der „Regierenden“ [295] gegen die „Regierten“ zu Gewaltthätigkeiten denken lassen, was zu offenbarer Absurdität führt. Die „Regierenden“, d. h. die Träger der Regierungsgewalt oder Staatsgewalt, sind in einem absolut monarchischen Staate der Landesherr, bezw. die von ihm eingesetzten obersten Regierungsbehörden; in ein konstitutionell-monarchischen Staate könnte man Fürst und Volksvertretung, in einer demokratischen Republik das ganze Volk als Inhaber der Souveränität und regierenden Gewalt, also als „Regierende“ bezeichnen. Der Ausdruck „Regierung“, wie „Regierende“ trägt gerade den Charakter einer „vagen Abstraktion“ ohne „faßbare äußere Gestaltung“ in sich, welche die amtlichen „Motive“ ausdrücklich als zur Erfüllung des Thatbestandes des §. 130 St.G.B.'s unbrauchbar verwerfen.
Möglich wäre es, daß dem Vorderrichter dunkel der Begriff der „Beamten“ vorgeschwebt und er diese unter den „Regierenden“ gemeint hat. Von den Beamten oder Staatsdienern erscheint es begrifflich nicht ausgeschlossen, sie als durch gemeinsamen Beruf, gleichartige Besoldung, ähnliche intellektuelle wie soziale Schichtung verbundene Bevölkerungsklasse in Gegensatz zu den nicht im Staatsdienst und Staatssolde befindlichen anderen Klassen der Gesellschaft zu stellen. Indessen fallen die Begriffe „Regierende“ und „Beamte“ nicht ohne Weiteres zusammen. Es genügt, an die verschiedenartigen Träger des Richteramtes nach deutschem Gerichtsverfassungsgesetz zu denken, um darzuthun, daß es zahlreiche Beamtenklassen giebt, welche man niemals als „Regierende“, als Inhaber oder Träger einer „Regierungsgewalt“ bezeichnen wird, und daß umgekehrt die „Regierenden“ im letzteren Sinne nicht Beamtenqualität zu haben brauchen. Ob im übrigen dem Angeklagten wirklich der soziale Gegensatz zwischen Beamten und Nichtbeamten und die Verhetzung der einen Klasse gegen die andere im Sinne gelegen hat, bedarf jedenfalls erneuter Prüfung und Feststellung. Was Angeklagter nach Maßgabe der vorinstanzlichen Feststellungen sagen wollte und gesagt hat, war die Ankündigung und Androhung eines gewaltsamen Umsturzes der bestehenden Staatsordnung, einer revolutionären Auflehnung gegen Gesetz und Obrigkeit, eines gewaltsamen Widerstandes gegen die Organe der Staatsgewalt. Gegen derartige Provokationen richten sich die Normen der §§. 110. 111, eventuell der §§. 85. 86 St.G.B.'s., nicht aber §. 130 St.G.B.'s.