Oberlandesgericht München - Klinische Sektion
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[1805]
17. StPO § 172; StGB § 168 (Klinische Sektion)
Die ohne Einwilligung des Verstorbenen oder seiner totensorgeberechtigten Angehörigen vorgenommene klinische Sektion (innere Leichenschau) ist rechtswidrig; sie ist gleichwohl nicht strafbar, solange sich die Leiche noch in der Obhut allein der (die Sektion veranlassenden) Klinik befindet.
OLG München, Beschl. v. 31. 5. 1976 – 1 Ws 1540/75
[1] Zum Sachverhalt: Am 2. 6. 1974 verstarb in der Universitätsklinik der 91-jährige Vater des Anzeigeerstatters F, ohne seit seiner Einlieferung am Vortage das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Der Beschuldigte Dr. B, der an diesem Tage als erster Dienstarzt tätig war, stellte den Tod fest und füllte die Todesbescheinigung aus. Unter II „Todesart“ kreuzte er die erste Zeile „natürlicher Tod“ an; unter Rubrik V „Todesursache“ füllte er handschriftlich die Frage unter a) (welche Krankheit oder Verletzung hat den Tod unmittelbar herbeigeführt?) aus mit „zerebraler Insult“. Die anderen in dieser Rubrik gestellten Fragen nach den weiter zugrundeliegenden Krankheiten bzw Verletzungen ließ er unausgefüllt. Am 4. 6. 1974 wurde die Leiche frühmorgens in das pathologische Institut, welches den Universitätskrankenhäusern als Leichenhaus dient, überstellt und dort am gleichen Vormittag durch den Beschuldigten Dr. P seziert, unterstützt durch den als ersten Präparator tätigen Beschuldigten O. Den Auftrag zur klinischen Sektion hatte der Beschuldigte Dr. B erteilt, indem er der Leiche den „Leichenschein für das pathologische Institut“ beigab mit der von ihm gestellten Diagnose; die Rubrik „Angehörige“ hatte er mit einem Fragezeichen versehen. Das Sektionsprotokoll des Beschuldigten Dr. P lautet im Ergebnis zur Todesursache: „Herzversagen mit Lungenödem bei frischer Hirnerweichung ...“. Bei der Sektion waren die wichtigen Organe der Brust-, Bauch- und Schädelhöhle zu Untersuchungszwecken entnommen und nach Verwendung von Gewebeproben für histologische Untersuchungen eingeäschert worden.
[2] Eine Einwilligung in die Sektion lag weder seitens des Verstorbenen noch seitens Angehöriger vor. In der Wohnung des Verstorbenen war vergeblich angerufen worden, da sich dort niemand befand. Am 4. 6. 1974 meldete sich der soeben aus Elba zurückgekehrte Ast. in der Klinik und wurde in das pathologische Institut verwiesen. Als er dort eintraf, wurde die Sektion bereits durchgeführt. Ob und in welcher Form er gegen diese dabei protestierte, ist Gegenstand widersprechender Angaben. Nach der Sektion wurde ihm die Leiche seines Vaters zur Bestattung überlassen. Der Ast. strebt die strafrechtliche Verfolgung der seiner Ansicht nach an der unerlaubten Obduktion der Leiche beteiligten Personen an. Sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte keinen Erfolg.
[3] Aus den Gründen: ... 2. In der Sache ist der Antrag jedoch nicht begründet. Gegen alle Beschuldigte besteht aus Rechtsgründen kein zur Anklageerhebung hinreichender Tatverdacht im Sinne einer der vom Ast. genannten oder sonst in Betracht kommenden Strafbestimmungen.
[4] a) Der Ast. geht davon aus, daß die Obduktion der Leiche seines Vaters rechtswidrig war. Hierin ist ihm zu folgen. Die Sektion war weder vom Gericht oder von der StA angeordnet noch, etwa aus seuchenpolizeilichen Gründen, gesetzlich vorgeschrieben. Außerhalb dieser Fälle wird die Sektion nach zutreffender, ganz überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum nur dann für zulässig erachtet, wenn die Einwilligung des Verstorbenen oder die Zustimmung der totensorgeberechtigten Angehörigen vorliegt. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, in dem die Leiche keineswegs „ausgeschlachtet“ wurde, d. h. Organe anderweitig nutzbar gemacht wurden, sondern die Sektion beschränkt blieb auf die zur zweifelsfreien Feststellung der Todesursachen erforderlichen Untersuchung (sog. innere Leichenschau oder klinische Sektion), deren Grenzen nicht überschritten wurden (vgl. hierzu Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, S. 70f.; Holzer, Obduktion, in: Der Arzt und seine Beziehung zum Recht [1971], S. 74ff.). Zu dieser Sektion gehört auch die Entnahme und Untersuchung der wichtigen inneren Organe, so daß eine getrennte juristische Betrachtung und Behandlung der bloßen Leichenöffnung einerseits und der Organentnahme andererseits als sachfremd unzulässig erscheint.
[5] Für diese weder zum Zwecke der Demonstration noch der Organnutzung vorgenommene Sektion haben die unmittelbar beteiligten Beschuldigten im gegebenen Falle gewichtige und aus medizinischer Sicht einleuchtende Gründe anführen können. Es ging entgegen der Annahme des Ast. offenbar tatsächlich nur um die sichere Feststellung der Todesursache. Dr. B hatte insofern nur eine Vermutung aussprechen können, da ihm die Krankheitsgeschichte und Vorbehandlung unbekannt waren, ebenso wie die zur Bewußtlosigkeit des Patienten führenden Umstände. Oft gewinnt in solchen Fällen die sichere nachträgliche Feststellung der Todesursache nebst der ihr zugrundeliegenden Krankheiten bzw Verletzungen große Bedeutung, sei es aus versicherungsrechtlichen, zivilrechtlichen oder auch strafrechtlichen Gründen, u. a. auch zum Schutz der behandelnden Ärzte und Krankenanstalten.
[6] Gleichwohl ist die Sektion auch in diesen Fällen rechtlich unzulässig, wenn nicht der Verstorbene wirksam eingewilligt hat oder, bei Fehlen seiner Erklärung, die totensorgeberechtigten Angehörigen zustimmen. An einer gesetzlichen Regelung fehlt es; jedoch ist dieser Grundsatz gewohnheitsrechtlich anerkannt (vgl. Geilen, JZ 71, 43ff. m. w. Nachw.; Ponsold, Lehrbuch, S. 70; Bohne, Das Recht zur klinischen Leichensektion, in: Festg. f. R. Schmidt, S. 105ff.; Trockel, Die Rechtswidrigkeit klinischer Sektionen [Neue Kölner rechtswissenschaftliche Abhandlungen 1957, Heft 10], und MDR 1969, 811; LG Bonn, JW 1928, S 2294f.; RG 64, 313). Die Leiche eines Menschen ist niemandes „Sache“, also kein tauglicher Gegenstand für die zivilrechtlichen Herrschaftsverhältnisse des Besitzes oder Eigentums. Nach allgemeiner, tradierter Vorstellung wirkt die unantastbare Menschenwürde der Person über deren Tod hinaus und duldet keinen Eingriff in den Leichnam gegen das insofern als fortwirkend empfundene Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen. Fehlt es an einer einwilligenden Erklärung des Verstorbenen zu einer Sektion, tritt an seine Stelle – allerdings in sehr begrenztem Umfange – der zur Totensorge berechtigte Angehörige; er hat die Befugnis und die Pflicht, Modalitäten der Bestattung zu regeln und zur Gewährleistung einer würdigen Bestattung Eingriffe fremder, unbefugter Personen abzuwehren. Da dieses im einzelnen dogmatisch umstrittene Totensorgerecht als Ausfluß der über den Tod hinaus zu achtenden Menschenwürde begriffen wird, lehnt die überwiegende Meinung die Abwägung gegen etwa überragende Rechtsgüter (Forschung, Heilung anderer Personen usw.) ab (hierzu vgl. Forkel, JZ 74, 596f.).
[7] Auf diese Rechtslage hinzuweisen besteht Veranlassung, da die auch vorliegend als unzulässig anzusehende Obduktion der Leiche anscheinend im Rahmen einer ständigen Übung der östlichen Universitätskliniken lag. Auch wenn, wie nachfolgend darzulegen ist, eine strafrechtliche Verfolgung aus Rechtsgründen ausgeschlossen erscheint, dürfte für die Verantwortlichen doch die Gefahr einer disziplinarrechtlichen Ahndung oder – bzw. auch – bei entsprechender Fallgestaltung zivilrechtliche Schadensersatzansprüche zu besorgen sein. Ist die Todesursache für das behandelnde Krankenhaus beim Tode des Patienten so wenig gesichert wie im vorliegenden Falle, wird eine mitwirkende „unnatürliche“ Todesursache bei sorgfältiger Überlegung nicht von der Hand zu weisen sein, so daß dann durch entsprechende Ausfüllung der Todesbescheinigung eine gerichtsmedizinische Sektion veranlaßt und auf diese Weise dem berechtigten Aufklärungsbedürfnis Genüge getan werden kann, ohne daß es dann auf die Einwilligung der Angehörigen noch ankommt.
[8] b) Einer vertiefenden Erörterung der Zulässigkeit klinischer Sektionen bedarf es zur Entscheidung über den Klageerzwingungsantrag jedoch nicht, da entgegen der Ansicht des Ast. der Tatbestand der allein in Betracht kommenden Strafvorschrift des § 168 StGB (Störung der Totenruhe) nicht gegeben ist. § 168 StGB bestraft die unbefugte „Wegnahme“ einer Leiche oder von Leichenteilen aus dem „Gewahrsam des Berechtigten“. Ein solcher Gewahrsamsbruch liegt bei Maßnahmen der Klinik, in deren ärztlichen Obhut der Patient verstirbt, schon begrifflich nicht vor, da die Klinikleitung vorerst selbst alleiniger Gewahrsamsinhaber im Sinne dieser Strafvorschrift ist. Das Gesetz verwendet den Ausdruck „Gewahrsam“ – zur Abgrenzung etwa von anderen Herrschaftsverhältnissen wie Besitz usw. – zur Kennzeichnung einer unmittelbaren, tatsächlichen Herrschaft, also der Möglichkeit faktischer Verfügung bzw. Einwirkung auf einen Gegenstand. Als Tathand- [1806] lung der Wegnahme im Sinne des § 168 StGB ist daher, entsprechend dem insofern übereinstimmenden Wortverständnis der Laienwelt, die durchaus räumlich zu verstehende Entfernung der Leiche oder von Leichenteilen aus der tatsächlichen Herrschaftsgewalt, eben aus dem Gewahrsam zu verstehen, abgesehen von der gesetzlichen Einschränkung, daß es sich um den Gewahrsam eines Berechtigten handeln muß.
[9] Die tatsächliche Herrschaft über die Leiche, in Anbetracht der besonderen Rechtsnatur dieses Gegenstandes richtiger als Bewahrung oder Obhut zu bezeichnen, liegt entsprechend den auch räumlich vorherrschenden Verhältnissen allein bei der Klinikleitung, bis die Leiche anderen Personen, etwa den Angehörigen, ausgefolgt ist. Ob und wie lange gegebenenfalls dieser tatsächlich zu verstehende, originäre Gewahrsam an der Leiche berechtigt ist, hat dahingestellt zu bleiben, da jedenfalls ein Gewahrsamsbruch durch die Klinikleitung und die ihren Anweisungen entsprechenden Ärzte nicht gegeben sein kann, so daß für die Strafbarkeit nach § 168 StGB bei Verfügungen der Klinik über die Leiche kein Raum ist.
[10] Es geht nicht an, statt dessen bereits die Angehörigen des Verstorbenen, denen kraft des gewohnheitsrechtlichen Totensorgerechts der Gewahrsam zusteht, auch schon als Inhaber des Gewahrsams anzusehen; eine solche Fiktion hieße den Gewahrsamsbegriff gründlich verkennen und den eindeutigen Gesetzeswortlaut mißverstehen. Wer keine tatsächliche Macht auszuüben vermag, sondern nur einen rechtlichen Anspruch auf Einräumung einer solchen Macht besitzt, hat keinen Gewahrsam. Daran ändert nichts der Umstand, daß die gewöhnliche Begriffsbestimmung des Gewahrsams als „Sachherrschaft“ wegen der einer Leiche mangelnden Sachnatur nicht wörtlich, sondern sinngemäß anwendbar ist. Aus dem Zweck des § 168 StGB ergibt sich keine andere Auslegung des Gewahrsamsbegriffs. Wenn wegen der besonderen Rechtsverhältnisse bezüglich der menschlichen Leiche nicht Eigentum oder Besitz der Erben als schutzwürdige Rechtsgüter im Sinne der Strafvorschrift anzusehen sind, sondern das Pietätsgefühl der Hinterbliebenen und der Allgemeinheit, so ändert dies nichts daran, daß der Gesetzgeber eben nicht bereits jede Beeinträchtigung des Pietätsgefühls der Angehörigen in § 168 StGB unter Strafe stellt, sondern eben nur die unbefugte Wegnahme der Leiche oder von Leichenteilen. Es gibt keine triftigen Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Gesetzgeber sich über die Bedeutung des Gewahrsamsbegriffs geirrt haben könnte und hierunter im Falle des § 168 StGB auch schon einen bloßen Rechtsanspruch verstanden wissen wollte, der sich zu einem tatsächlichen Obhutsverhältnis noch nicht konkretisiert hat. Vielmehr liegt es auf der Hand, daß der Gesetzgeber es aus guten Gründen für hinreichend gehalten haben mag, allein den tatsächlichen Gewahrsam des Berechtigten an der Leiche mit den Mitteln des Strafrechts gegen unbefugte Wegnahmen zu schützen, nicht jedoch allgemein das Totensorgerecht der Angehörigen, welche die Leiche (noch) nicht in ihrer Obhut haben. Der Senat folgt daher auch der überwiegend vertretenen Meinung, daß die Leitung der Klinik, in welcher der Patient verstirbt, bis zur Aushändigung der Leiche an die Totensorgeberechtigten nicht nur tatsächlicher, sondern auch berechtigter Gewahrsamsinhaber ist im Sinne des § 168 StGB; denn nach dem auch insoweit offenbaren Sinn der Strafvorschrift soll die Leiche auch in der Obhut der Klinik gegen den Zugriff unbefugter Personen geschützt sein (Bockelmann, Strafrecht des Arztes, S. 106f.; Ponsold, Lehrbuch, S. 70; Kohlhaas, Medizin und Recht 1969, 118; Heinitz, in: Rechtliche Fragen der Organtransplantation, Berlin 1970, S. 23f.; Heimann-Trosien, in LK, 9. Aufl., § 168 StGB Rdnrn. 9, 10; Trockel, aaO; Bohne, aaO, S. 130 m. Nachw.; Schönke-Schröder, § 168 StGB, Rdnr. 4; anderer Ansicht von Bubnoff, GA 1968, 76; Gribbohm, JuS 71, 201; Welzel, Lehrbuch [1969], § 56 II 1, der jedoch klinische Sektionen aus anderen Gründen in keinem Falle für rechtswidrig hält; LG Bonn, JW 1928, 2294ff., ebenso aus anderen Gründen eine Strafbarkeit verneinend; Dreher, 36. Aufl., § 168 StGB Anm 2 B).
[11] Da die Anwendbarkeit der Strafvorschriften des Diebstahls und des Gewahrsamsbruchs ohnehin nicht in Betracht kommen, schließt sich der Senat der bisherigen Judikatur (RG 64, 313f.; LG Bonn, JW 1928, 2294) und der ganz überwiegenden Ansicht im Schrifttum an, daß die klinische Sektion der Leiche auch ohne Einwilligung des Verstorbenen und ohne Zustimmung der totensorgeberechtigten Angehörigen keinen Straftatbestand erfüllt, mag sie auch rechtlich unzulässig sein. Dies bedeutet nicht auch schon die Feststellung einer der Schließung harrenden Lücke des Strafrechts; mag der Ast. die durch Einwilligung nicht gedeckte Leichenöffnung und Einäscherung der zur Untersuchung entnommenen inneren Organe als unerträgliches, ja „ungeheuerliches“ Vergehen gegen die Totenwürde ansehen, so entspricht diese Überzeugung doch nach Ansicht des Gesetzgebers nicht den im Volke herrschenden Wertanschauungen. Dies ergibt sich auch aus der vom Senat herangezogenen juristisch-medizinischen Literatur.
[12] Aus den voranstehenden Gründen ist es auch zutreffend, daß die StA eine Verfolgung der Beschuldigten wegen Vergehen der Beleidigung abgelehnt hat. Es ist offensichtlich, daß den Beschuldigten fernlag, den Ehrgefühlen eines Angehörigen des Verstorbenen mit Mißachtung zu begegnen, indem sie die Sektion anordneten bzw durchführten. Auch den beschuldigten Präparator O trifft insofern kein berechtigter Vorwurf; nach dem Ergebnis der Ermittlungen stellt sich sein Verhalten gegenüber dem Ast. nicht als ehrverletzend dar ... Fehlt es am Tatbestand einer Beleidigung, so kann auch nicht das Gefühl der Kränkung und die davon wieder als ausgehend empfundene gesundheitliche Störung die Grundlage für einen strafrechtlichen Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) sein.