Magnus Hirschfeld/Die Transvestiten, 189–192

Magnus Hirschfeld. Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichem casuistischen und historischen Material. — 2. Auflage. — Verlag »Wahrheit« Ferdinand Spohr, Leipzig, 1925. — 562 S. [1. Aufläge: 1910]. S. 189–192.

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Da vor und nach Krafft-Ebing und vor allem von ihm selbst homosexuelle Männer und Frauen, bei denen — um mich der Worte des grossen Wiener Psychiaters zu bedienen — „auch das ganze psychische Sein der abnormen Geschlechts-empfindung entsprechend geartet ist“, zahlreich beschrieben sind, dürfte es genügen, wenn wir hier zum Vergleich mit unseren Hauptfällen I—XVII je ein Beispiel eigener Beobachtung analoger Erscheinungen bei einem homosexuellen Mann und einer ebenso veranlagten Frau anführen.

Zu den Fällen, die in den letzten Jahren einiges Aufsehen erregten, gehörte der tragische Selbstmord eines etwa dreissigjährigen Mannes in Breslau, welcher unter der Spitzmarke: „Ende einer männlichen Braut” im Dezember. 1906 durch die Presse ging. Es handelte sich um einen
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Menschen, der in Rio de Janeiro als Sohn eines deutschen Arztes und einer Brasilianerin geboren war, er war erblich erheblich belastet, seine Mutter starb in einer Irrenanstalt, in der sich sein älterer Bruder auch jetzt noch befindet. Von Hause aus vermögend, war er nach Paris gegangen, wo er alsbald als „Comtesse de Paradeda“ die Rolle einer sehr eleganten jungen Dame spielte. Er gründete sich einen vornehmen Hausstand, hielt sich Dienerschaft, Equipage, sah viele Gäste bei sich, ohne dass jemand sein wahres Geschlecht ahnte. Da ereilte ihn sein Schicksal, indem er sich leidenschaftlich in einen schlichten deutschen Lehrer verliebte, der sich zur Erlernung der französischen Sprache in Paris aufhielt. Dieser von der gewinnenden, geistsprühenden Art, vielleicht auch von dem Reichtum und der Liebe der Comtesse angezogen, verlobte sich schliesslich mit ihr. Als er am 28. Oktober 06 nach seiner Heimatstadt zurückkehrte, folgte sie ihm. Zeitweise war ihm schon vorher vor ihrer stürmischen Zuneigung etwas „unheimlich“ geworden; in Breslau aber verstärkten seine Freunde und Verwandten diese Empfindung in ihm; sie erkundigten sich nach dem Vorleben der Braut und erfuhren schliesslich von ihrem nach Deutschland zurückgekehrten Stiefvater, dass er zwar einen Stiefsohn namens Alfred, aber keine Stieftochter Alma besitze. Inzwischen nahm ihre Leidenschaft zu dem Lehrer immer heftigere Formen an, sie liess ihn nicht aus den Augen, verfolgte ihn mit grenzen- loser Eifersucht und drohte, sie würde ihn töten, falls er das Verlöbnis lösen würde. Als er sich darauf tatsächlich zurückzog, versuchte sie mit Gewalt in seine Wohnung einzudringen. Jetzt legte sich die Kriminalpolizei ins Mittel. Am 6. Dezember 06, begab sich ein Kriminalkommissar in ihre Wohnung, fand aber zunächst keinen Anlass zum Einschreiten vor. Sie war sehr erregt und verlangte einen Nervenarzt, den sie bereits früher wegen „Herzbeklemmungen“ consultiert hatte. Selbst behindert, schickte dieser einen Assistenzarzt, der eine genauere Körperuntersuchung vornehmen wollte. Die Patientin weigerte sich. Als am folgenden Tage der Nervenarzt persönlich kam, fand er sie in tiefster Verzweiflung, weil ihr Bräutigam sich von ihr getrennt, sie verlassen
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habe. Als der Arzt darauf bestand, eine Untersuchung vorzunehmen, bat ihn Paradeda einen Moment zu warten und begab sich ins Nebenzimmer, aus dem sie jedoch in knapp einer halben Minute zurückkehrte, um mit den Worten: „nun bitte schön, Herr Doktor“ dem Arzt gegenüber Platz zu nehmen. Unmittelbar darauf machte sich aber schon die entsetzliiche Wirkung des Giftes bemerkbar, welches sie im Nebenzimmer genommen hatte. Sie schrie laut auf und verfiel in convulsivische Zuckungen; bereits nach einer Minute war der Tod eingetreten. Der Kriminalkommissar, der gerade mit einem Haftbefehl eintrat, fand sie als Leiche vor. Der Tote stellte sich als männlichen Geschlechts heraus, Brüste, Hüften und Perücke waren unecht: Ein Journalist, der, als der sensationelle Vorfall bekannt wurde, in der Wohnung des Verstorbenen erschien, gibt folgenden anschaulichen Bericht: „Es scheint, dass diesem Paradeda von der Natur Eigenheiten verliehen waren, die ihn direkt dazu prädestinierten, eine Rolle als Weib zu spielen. So mass seine Taillenweite nur 52. Zentimeter, sein zierlicher Fuss 32 Zentimeter; die Damen werden die Bedeutung dieser Zahlen einzuschätzen wissen. „Tante Didi“, wie er von dem Töchterlein der Wirtin angeredet wurde, besass in jeder Beziehung einen vornehmen Geschmack, und ein Blick in das Boudoir, vor allem aber in den mit den allerkostbarsten Toiletten gefüllten Schrank, zeigen, dass es der Pseudo-Komtesse auch nicht an Mitteln gefehlt hat, den verwöhnten Ansprüchen zu genügen. Eine helle, leichte Robe ist vollständig aus irischer Handstickerei gefertigt; ihr Wert soll über 3000 Francs betragen. Wir sahen ferner eine weissseidene Bluse mit handgearbeiteter, feiner Spachtelspitze, ein zartes Spitzentaschentuch, das in seiner Feinheit als ein kleines Kunstwerk der Handstickerei angesehen werden darf, weiterhin einen prächtigen Fächer mit künstlerisch ausgeführter Elfenbeinschnitzerei, zartrosafarbene, seidene Jupons, gleichfalls mit kostbaren Spitzen besetzt, und viele andere Sachen, wie sie nur eine Dame von Distinktion und Geschmack zu tragen pflegt. Von gleicher Eleganz war die Fussbekleidung, die in goldfarbenen Halbschuhen, schwarzen Lackschuhen und seidenen Pantoffieln bestand. Die silbernen Toilettengegenstände,
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wie Haarbürsten etc., tragen unter einer Krone das Monogramm „A. P.“ Auch alle Hilfsmittel der Kosmetik waren auf dem Toilettentisch zu finden. Sie besass neben anderen gesellschaftlichen Talenten vor allem ein hervorragendes Erzählertalent, und wer im ersten Moment ihres Anblicks vielleicht etwas stutzig wurde, dem schwand sofort jedes Bedenken, wenn sie den Mund auftat und brasilianische Geschichten oder Episoden aus der Pariser Gesellschaft erzählte. Man konnte, so wird uns erzählt, stundenlang zuhören und jeder Besuch schied in denı Bewusstsein, einen genussreichen Abend verlebt zu haben. Sie war nicht nur in weiblichen Handarbeiten, in der Herstellung künstlicher Blumen, im Garnieren von Damenhüten usw., sehr geschickt, man erfreut sich nicht nur an ihrem verhältnismässig guten Klavierspiel, — auch „ihre“ Kenntnisse in Küchenangelegenheiten waren erstaunlich und die Pensionswirtin hat manche gute Lehre aus diesen Kenntnissen schöpfen dürfen. Von Interesse für die Charakteristik des Verstorbenen dürfte es noch sein, dass auf seinen Wunsch der grün tapezierte Salon seiner Wohnung rosafarbene Tapete erhielt und die gleichfalls grünen Plüschmöbel mit rosa Satin überzogen werden mussten, weil ihm diese Farbentönung sympathischer war.“

Auch das weibliche Seitenstück, was ich zu diesem männlichen Paradigma anführen will, hat die Oeffentlichkeit insofern interessiert, als es sich um die erste Frau handelt, die unseres Wissens in Berlin die offizielle Erlaubnis erhalten hat — nicht nur in ihrer Häuslichkeit und im Geschäft, sondern auch auf der Strasse — Männerkleider tragen zu dürfen. Im Ausland, besonders in Frankreich ist dies, wie wir im nächsten Kapitel noch näher ausführen werden, bereits öfter behördlich gestattet worden. Das Nähere über den Fall ergibt sich aus dem Gutachten, das von dem Kollegen Karl Abraham und mir verfasst wurde, um ihr Gesuch zu unterstützen.