Im Gottesländchen/Ein Ausflug nach Dondangen

In den Bergen bei Talsen Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Von Talsen nach Rohjen
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Ein Ausflug nach Dondangen.

Am 2. Juli nach Sonnenuntergang brachen wir, einer Einladung des Doktors O. folgend, nach dem 40 Werst ent­fernten Dondangen auf. Das feurige Abendrot leuchtete grell am Rande des Himmels, als wir durch die Straßen von Talsen und seiner kleinen rechtgläubigen Vorstadt, lettisch Kriewu rags, „Russenhorn“ genannt (weil die kleinen Häuser in Form eines Horns verliefen), auf die Landstraße hinausfuhren. Rechts lag Talsenhof am Wege. Die Chausseen befinden sich in Kurland in ausgezeichnetem Zustande. Daher ging unsere Fahrt schnell und gut vonstatten. Durch ebenes Land fahrend, erreichten wir bald das Gut Waldegahlen. Hier zweigte bei einem Kruge und einer Mühle die Straße nach Saßmacken ab. Waldegahlen gehört, gleich vielen anderen Gütern der Umgegend, einem Baron Fircks. Als etwas Besonderes wurde erzählt, daß beim Schloßteiche die Fische durch eine Glocke zur Futterstelle gerufen würden. Alsdann wimmele es dort am Ufer von Fischen. Nach kurzer Rast fuhren wir, schon bei eingetretener Dunkelheit, über das große, hochgelegene Moor, das sich von Waldegahlen bis zum Dondangenschen Gebiete hinzieht. Feuchte Nachtluft umwehte uns. In geschärftem Trabe ging es vorwärts. So manches kräftig gesungene Lied erschallte in die Nacht hinaus. Die Trockenlegung des großen Moores soll früher die Ursache eines Streites zwischen zwei hiesigen Großgrundbesitzern gewesen sein. Der Herr von W. habe einen großen Abzugsgraben bis zu den Besitzungen des Herrn von Z. führen lassen, wodurch dessen Felder sehr unter Wasser zu leiden gehabt hätten. Der Streit sei schließlich dadurch geschlichtet worden, daß der Herr von Z. den Kanal bis zu einem nahen See habe weiterführen lassen, so daß das Wasser einen Abfluß erhalten habe und die Trockenlegung des Moores sicher­gestellt [39] gestellt worden sei. Einige Ortsnamen schienen hier so recht zur umgebenden Natur zu passen, wie z. B. Puhnji, deutsch: Puhnen (die Strohscheunen oder modriger Boden), Spendji (die Schlammpiezker), Smudji (unausgewachsene Alante). Ungefähr auf halbem Wege zwischen Talsen und Dondangen, dort wo unsere Landstraße von der Erwahlen-Windauer gekreuzt wurde, machten wir um Mitternacht beim Lerchenkruge halt. Jetzt hatten wir das Dondangensche Gebiet bald erreicht. Es ging hinein in den Wald, der oft wersteweit den Weg säumte. Der letzte, blasse Abendschein hatte sich allmählich nach Osten gezogen und ging über ins Morgenrot, das uns stets heller und heller durch den Wald und die Haine entgegenleuchtete. Auf den Fluren fing es an sich zu regen und zu weben: der Morgennebel spann dort seine geheimnisvollen, weißen, seidenen Fäden. So fuhr man dahin durch Dondangens schweigende Wälder und Lichtungen. Beim Morgengrauen waren wir stiller geworden, bald nickte der eine und der andere ein. Auch ich lehnte mich zurück und versank in einen Halbschlummer. Wenn ich dann die Augen aufschlug, leuchtete mir das gespenstische Morgenrot entgegen, auf dem sich die Gegenstände am Saume das Himmels klar abhoben. Wir näherten uns Dondangen. Rechts bog ein Waldweg zur Schule ab, wo der alte Dünsberg, der lettische Dichterveteran, lebt und wirkt. Weiterhin schaute uns aus dem Gebüsche ein Rehbock verwundert entgegen, um gleich darauf, L.’s „Lord“ bemerkend, zu verschwinden. Gegen zwei Uhr morgens sahen wir am Rande einer kartoffelreichen Lichtung hinter mächtigen Laubbäumen eine weiße Kirche auftauchen, und bald fuhren wir durch eine mit zwei sehr großen, gemauerten Pfeilern versehene Pforte nach Dondangen hinein. Breite Alleen bildeten jetzt den Weg. Da fuhren wir auch schon zwischen den Gebäuden das Gutes hindurch: rechts lag der Krug, die Kirche, links zogen sich, grell im Morgenlichte blinkend, eine weiße Garten­mauer [40] und lange Steingebäude hin. Stille und Schweigen ringsum. Geradeaus sah man zwischen großen Bäumen sich etwas Weißes bewegen, als ob dort Waldesgeister in wirrem Gemenge durcheinanderwogten: es war der Nebel auf dem von Laubbäumen umschatteten Teiche. Bei der Apotheke, wo der Doktor wohnte, hatte unsere Nachtfahrt ein Ende.

3. Juli. Um das alte Schloß von Dondangen hat sich ein Kranz von Sagen gebildet. Über seine Entstehung berichtet uns eine Sage folgendes : „Wo jetzt Schloß Dondangen liegt, war früher ein Berg. (Das war damals, als noch über die Liven und Tahmen in dieser Gegend ein König herrschte.) Einst hütete ein Knabe bei dem Berge Schweine. Plötzlich verschwand ihm der schwarze Eber. Der Knabe suchte ihn überall, konnte ihn aber nirgends finden. Gegen Abend kroch das Tier aus einem versteckten Loche am Fuße des Berges hervor und hatte sich so vollgefressen, daß es sich kaum weiter bewegen konnte. Von Neugier getrieben, kroch der Hüterjunge gleichfalls ins Loch tief hinein und gelangte in eine große Höhle mit Kornkasten und Ställen, in denen Pferde und Kühe standen, die aber alle ohne Leben waren. Hinter den Ställen erblickte er eine prächtige Burg. In den Zimmern saßen an gedeckten Tischen viele Menschen, aber auch diese waren ohne Leben. Als er am Abend zu Hause vom Gesehenen erzählte, glaubte ihm niemand. In der Nacht erschien ihm im Traume ein alter Mann und sagte, er solle am folgenden Tage wieder in die Höhle hineinkriechen, in die Burg gehen, auf den Turm steigen und die beiden dort hängenden Glocken läuten, sich aber gut merken, wie sie klängen. Der Knabe tat es, und die Glocken schienen ihm dun-dang[1] [41] zu klingen. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als sich die Burg aus der Tiefe erhob und Menschen und Tiere Leben erhielten. Der Knabe selbst aber wurde in einen Stein verwandelt. Lange noch wurde dieser aus dem Puischuberge bewahrt, und die Leute opferten dort im Sommer und Winter.“[2] So erzählt der Volksmund. Die Geschichte dagegen berichtet uns über den Ursprung des Schlosses anders. „Als die heid­nischen Kuren durch den semgallischen Bischof[3] Balduin von Alna 1230 die Taufe empfangen, und ihnen Freiheit der Person und ungestörter Besitz ihres Landes zugesichert worden[WS 1] war, fielen sie gar bald von dem Christentum, dessen innere Wahrheit sie noch nicht erkannt hatten, in das alte Heidentum zurück. Die Strafe für diesen Abfall folgte in dem eisernen Joche der Knechtschaft, das ihnen der Ordensmeister Diedrich von Grüningen auferlegte, welcher viele Burgen und nach Arndts Chronik 1249 auch das heutige Schloß Dondangen erbaute und daselbst eine starke Besatzung zurückließ." (Album kurl. Ansichten.) Seit 1252 gehörte Dondangen zum Stifte Pilten (dem Bischof von Kurland). Vom Anfange des 17. Jahr­hunderts bis 1711 war das Gut im Besitze der Familie Maydel, und seitdem gehört es den Osten-Sackens, die im 18. Jahrhundert in Europa als Diplomaten und Staats­männer eine hervorragende Stellung eingenommen haben, wo­von auch die Denkmäler in der Dondangenschen Kirche Zeug­nis ablegen.

Das Schloß lag am schon erwähnten Teiche, längs dessen Ufer sich eine alte Ahorn- und Silberweidenallee [42] hinzog, während die Wellen des Teiches im Uferschilfe und Gebüsche zerrannen. Über eine Brücke, die über den Schloßgraben führte, gelangte man zu dem in viereckiger Form angelegten, weißgetünchten Gebäude mit einem hübschen Erker (Vorbau) an der einen Seite. Früher hat das Schloß auch eine Hauskapelle enthalten, die aber seit dem letzten Brande des Schlosses nicht wieder hergestellt worden ist. Das Gebäude hat öfters durch Feuer gelitten. Daher erscheint es, wie mit einem Verhängnis belastet. Dieser Umstand wird auch mit der Sage von der grünen Jungfrau in Verbindung gebracht. Sie ist etwas in der Art eines Schloßgeistes oder einer Fee, die hier ungesehen ihr Wesen treibe und nur dann und wann den Menschen erscheine. So z. B. soll sie dem Besitzer die Geburt seines ältesten Sohnes melden, außerdem erscheinen, wenn dem Schlosse und seinen Bewohnern Gefahr droht. Auch vor dem letzten Brande habe sie sich auf den Schloßmauern ge­zeigt. Bei diesem Brande sei die ganze innere Einrichtung des Schlosses vernichtet worden. Jetzt hat es daher an mehre­ren Stellen dicke Schutz- oder Brandmauern erhalten. Auf der Rückseite des Schloßgebäudes sahen wir ein Paar Steine aus der Mauer ragen. Von ihnen erzählt die Sage, daß auf dem einen während des Baues des Schlosses der Architekt, ein Ausländer, seine Schnupftabaksdose gehalten habe (?); auf dem anderen dagegen habe einst eine Birke gestanden, in betreff deren dem ersten Schloßherrn, einem Herrn von Maydel geweissagt worden sei, daß er nicht eher einen Leibeserben er­halten werde, als bis man für diesen aus den Zweigen der Birke eine Wiege anfertigen könne[4]. Tatsächlich hat nach dem Album kurl. Ansichten seit dem Anfange des 17. Jahrhun­derts nie ein direkter Erbe der Familien Maydel und Osten-Sacken [43] das Gut überkommen. Erst im 19. Jahrhundert ist in Dondangen der erste Majoratserbe geboren worden, und alsdann das Holz der erwähnten Birke teilweise zur Herstellung einer Wiege für dieses Kind benutzt worden. Im früheren Schloßgraben schwammen Schwäne. Der Schloßpark blieb für die Familie des Besitzers reserviert. Verwalter des Schlosses war ein Baron Gr. Von anderen Gebäuden in der Nähe wären zu erwähnen: ein Lazarett, die Schule, das Gemeindehaus und eine Brauerei.

Von Dondangen unternahm ich eine Wanderung zu den 2 Meilen entfernten Blauen Bergen, die sich parallel dem Baltischen Meere und dem Rigaschen Meerbusen hinziehen. Ich schlug den Weg nordostwärts nach Mellßillen (Schwarzwald) ein. (Sonst führten von Dondangen noch 2 Wege zum Meere: nach Irben und Gipken.) Das Wetter war schön: Sonnenschein bei wenig bewölktem Himmel und erfrischendem Winde. Bis zum Pastorate führte eine schöne Lauballee, darauf kamen Wiesen und Felder und schöner Wald. Wohlgemut schritt ich dahin, denn am Ende meines Weges hoffte ich das liebe Meer zu erblicken. Die Gegend war eben, wenig hügelig. Bei einem Kreuzwege schlug ich den Weg nach Ahschenhof (Bockshof) ein. Gehöfte gab es dort sehr wenige. Nach dem Pastorate war Ahschenhof der nächste nennenswerte Ort. Weiterhin sah man zur Linken hinter einer freien Ebene schöne, bewaldete Anhöhen sich erheben: das waren die Blauen Berge (auch Puischu- (Knaben-) oder Schlieterberge genannt). Dort lag am belaubten Bergabhange das Gut Blomecken. Die Felder in dieser Gegend waren mit Steinblöcken wie besät. Ein riesiger Stein stand aufrecht da, was sich bei seiner Höhe sonderbar ausnahm. Die Gegend erschien wenig bewohnt. Der folgende größere Ort war Muhnendorf. Was hier auffiel, war der schöne Tannenwald, der den Weg säumte und sich wundervoll vom blauen Himmel abhob. [44] Darauf näherte ich mich auf einer freien, ansteigenden Bodenerhebung, wo Felder den Wald am Wege ablösten, dem großen Wiedeldorfe, [5] dessen Gehöfte allmählich am Horizonte aufstiegen. Hinter dem Dorfe erblickte ich das Meer, das ganz nahe zu sein schien; doch hatte ich bis zum Strande noch 7 Werst zu gehen. Der Weg machte eine Biegung und führte in schräger Richtung weiter. Über der Gegend, in die ich jetzt gelangte, lag ein eigener Reiz. Vom Wiedeldorfe, das aus vielen zerstreut liegenden Gesinden, einem stattlichen Schulhause und einer hochgelegenen Windmühle be­stand, nahm ich bei einem steinwallumgrenzten Friedhofe Ab­schied. Die Landstraße führte in eine höchst romantische Schlucht hinab, wo im Schatten hoher Tannen und Laubbäume, welche die steilen und recht ansehnlichen Bergwände bedeckten, ein leise plätschernder Bach in steinigem Bette dahinfloß. Unten auf dem Grunde umfing den Wanderer eine ange­nehme Kühle, da die Sonne von den Bäumen verdeckt wurde. Am Fuße dieser schönen Partie der Blauen Berge lief die Landstraße in einen großen, herrlichen Wald hinein, wo sie eine schnurgerade Richtung annahm. Zuerst bildeten hier den Wald am Wege schlanke Tannen, dann weite Strecken lichter Birken, darauf die lieben Fichten, die wiederum anderen Baum­arten Platz machten. Der Abend nahte. Die Schatten der Bäume fielen über den Weg. Kein Haus war wersteweit zu sehen. Ringsum nur schöner Wald. In der Ferne klang es lieblich: eine Herde mit Glöcklein versehener Kühe befand sich auf dem Heimwege nach Seehof, einem nahen Gute. Hier hatte ich die einzige Begegnung mit einem Weibe, das noch den alten Dondangenschen (tahmischen) Dialekt sprach, der jetzt seinem Aussterben nahe ist. Für einen, der Schriftlettisch [45] spricht, ist dieser Dialekt nach dem witebskischen Lettisch wohl der unverständlichste. Ich mußte sehr genau hinhören, um die verschluckt, gestoßen und hastig hervorgebrachten Worte der guten Seele zu verstehen. Diese Mundart scheint besonders reich an gebrochenen und gestoßenen Lauten zu sein. [6] Am Ende des schönen Waldweges bog ich nach links ab. Durch Fichtenwald, vorüber an einem Bächlein, über große Wiesen, wo Heu gemäht wurde und es sehr stark nach der See „roch“, deren Rauschen ich zu vernehmen glaubte, gelangte ich zum hier sehr breiten, heimatlichen Dünenwalde, wo sich bald das wogende Meer vor meinen Blicken auftat. Dort setzte ich mich bei den Dünen hin und schaute hinaus auf die bewegte, schäumende Flut. Traulich klang mir das Rauschen der Wellen. Die goldene Sonne neigte sich dem Horizonte zu und sandte ihre letzten Strahlen über das Meer. Der Wind wiegte über mir die Wipfel der Fichten. Ringsum winkten gar heimlich die duftigen, weißen Strandnelkchen. Am Ufer flatterten Möwen. Es ward mir so wohl, so traut zumute. Ich dachte an so manches, was dem Herzen teuer war, an die selige Zeit der Kindheit, wo der Knabe am Rigaschen Strande oft mit Sehnsucht hinausgeschaut hatte nach den fernen Bergen und den in blassem Duste verschwimmenden Gestaden Unterkurlands. Jetzt war sein Sehnen in Erfüllung gegangen, jetzt weilte ich an jenem fernen Strande, wo sich schon bald die Fluten des Heimatmeeres, des Rigaschen Busens, mit denen des großen Baltischen Meeres vereinigten.

Es wurde Abend. Die Gegend, wo ich mich befand, war unbewohnt. Daher ging ich längs dem sandigen Ufer nach links zu. Bald mußte ich auf einem Bretterstege einen [46] breiten, dunklen Bach überschreiten, der hier ins Meer floß. Weiterhin waren am Ufer Schutzwälle aus Sand und Strauchgeflecht errichtet, hinter denen meist die Kartoffel gebaut wurde. Diese Kartoffelfelder vor den Dünen bilden eine Eigentümlichkeit des Dondangenschen Strandes. Auf einem Dünenhügel lag recht nahe am Ufer ein einsames Fischergehöft. Als ich an die kleine Gartenumzäunung, hinter der ein paar dürstige Gewüchse tut sandigen Boden wurzelten, herantrat, bemerkte ich auf der kleinen Haustreppe ein Mädchen. Ich redete sie auf lettisch an, sie jedoch antwortete mir in einer fremden Sprache. Aus dem Worte „ei moista“, das ich von Dorpat (Jurjew) her kannte, schloß ich, daß sie finnischen Stammes sein müsse. Wie ich gleich darauf erfuhr, war sie von der Kurland schräg gegenüberliegenden Insel Osel, die zum estnischen Sprachgebiet gehört, herübergekommen, um sich hier eine Stelle zu suchen. Bei den schlichten Fischersleuten fand ich herzliche Aufnahme. In einem Zimmer, das zugleich Fremden-, Speise- und Schlafzimmer vorstellte, stand in der Ecke vor einem zum Teil mit Glas, zum Teil mit Brettern verdeckten zur See gehenden Fensterlein ein Tisch, wo dem fremden Gaste Milch, Grobbrot, Butter und Butten (Flundern [7]) vorgesetzt wurden, was ihm unter Gesprächen mit den freundlichen Menschen trefflich mundete. Nach Riga seien sie auch gefahren, und zwar zum Markte, um Fische zu verkaufen. Überall wohnen hier am Strande, mit Letten vermischt, Liven, die letzten Reste eines Volkes, das einst vor Jahrhunderten in der Geschichte unserer Heimat keine geringe Rolle gespielt und vielleicht die Urbevölkerung von Kur- und Livland gebildet hat. Bei Irben am Baltischen Meere haben sie sich zahlreicher und reiner erhalten. In Mellßillen sollen sie die Hälfte der Einwohner bilden. [47] Auf meine Frage, ob meine Wirtsleute nicht auch Liven wä­ren, erwiderte man mir stolz: „Wir sind Letten!“ Ihr schlech­tes Lettisch jedoch schien darauf hinzuweisen, daß sie von Liven abstammten. Dieses kleine Völkchen geht nämlich immer mehr in die Letten auf. Da sie mit den Esten stammverwandt sind, erklären sich daraus ihre nahen Beziehungen zu den Öselern. Am Dondangenschen Strande wohnen auch rechtgläubige Letten (und Liven), die ihre Kirche in Domesnäs haben. In der Abenddämmerung ging ich noch ein wenig am Strande umher. Es wurde rasch dunkel. Schön rauschte das Meer. Drüben über der Flut flimmerte das 3 Meilen entfernte Leuchtfeuer von Domesnäs; auch dasjenige auf der kleinen poetisch-einsam im Meere gelegenen Insel Runö glaubte ich zu unterscheiden. Von den guten Wirten wurde mir für die Nacht eine warme Schlafstätte auf dem Heuboden eines kleinen Stallhäuschens angeboten. Zum ersten Mal im Leben schlief ich so nahe am Meere. Die Fischersleute hatten mir von einem Schlosse erzählt, das einst hier am Strande vorzeiten gestanden. Der Schloßherr sei ein wüster Gesell gewesen, der die Seefahrer geplündert und gemordet und die ganze Umgegend in Schrecken gesetzt habe. Aber die Strafe des Himmels sei nicht ausgeblieben, und das Schloß mit seinen Bewohnern plötzlich in die See versunken, wo es sich noch bis zum heutigen Tage befinde. Diese grause Mär beschäftigte meine Gedanken, während ich oben lag und dem Rauschen des Meeres lauschte, das mich gar bald in süßen Schlummer sang.

4. Juli. Des Morgens in der Frühe, die goldene Sonne war eben der Flut entstiegen, nahm ich Abschied vom gastlichen Fischergehöft, pflückte im Dünenwalde ein Sträußchen Nelken und wanderte heimwärts. Im großen Walde zwitscherten die Vöglein munter ihr Morgenlied, Eich­kätzchen sprangen über den Weg, im Gebüsch lagerte noch ein [48] wenig der Nebel. Frischen Mutes gelangte ich bald zur Schlucht bei den Bergen, wo mir eine Quelle aus dem Gestein Willkommen zumurmelte. Weiterhin traf ich kleine Mägdlein, die sich festen Schrittes zur Kirche nach Dondangen begaben, denn es war ein Sonntag. Die wohlhabenden Bauern fuhren in eigenen Wagen dorthin; gegen zwanzig solcher Gefährte rollten an mir vorüber. Die Mägdlein waren klug: meilen­weit gingen sie barfuß, ihr Fußzeug und Gesangbuch in einem Tüchlein mit sich tragend; vor Dondangen zogen sie ihre Stiefel an und erschienen so in vollem Sonntagsstaate im Gotteshause.

Vom Amtmann Kp. erfuhren wir, daß Dondangen das größte Gut Kurlands sei, da es 15 andere Güter mit 300 Gesinden um­fasse und der Dondangensche Wald einen Flächenraum von ungefähr 17 Quadratmeilen einnehme. Die alten, berühmten Urwälder jedoch, die durch ihren Reichtum an Tieren bekannt waren — noch bis ins 18. Jahrhundert hinein hat es hier z. B. viele Biber gegeben —, seien jetzt fast ganz verschwun­den. Oft sollen hier Waldbrände vorkommen. — Von In­teresse war ein Besuch der Kirche. Beim Altare fallen sofort die in die Wand eingelassenen Denksteine der Erbherren von Dondangen, lauter Osten-Sackens, auf. Gewöhnlich ist auf einem jeden Steine ein Reliefportrait der betreffenden Persönlichkeit zu sehen. Einige stammen aus alter Zeit. Unter dem Bildnis einer älteren Dame lasen wir: „Anna Sybilla von der Osten-Sacken, vermählte Präsidentin und Starostin von Maydell, Erbfrau der Herrschaft Dondangen und der Güter Zierau, — Puhnen etc. Ein ihres Geschlechts würdiges Muster von ungeheuchelter Gottesfurcht, reiner Tugend und von wahrer edelmütiger Gesinnung.“ Unter einem anderen Bildnis wird die dort verewigte Persönlichkeit als ein „erhebendes und ewig nachahmungswürdiges Beispiel“ gefeiert. Dieselbe, ein Ewald von Osten-Sacken, war „Seiner Königlichen [49] Majestät und der Durchlauchtigen Republik Pohlen außerordentlicher Gesandter am K. Schwedischen Hofe, würklicher Kurländischer Canzler und regierender Oberrath, Starost zu Pilten, Erbherr der Herrschaft Dondangen und der Güter Groß- und Alt-Bathen, Gulben etc.“ Schade nur, daß hier keine Jahreszahlen angeführt waren. (Ein Ewald v. O.-S. starb, wie wir im „Alb. kurl. Ansichten“ angegeben finden, 1718). Auf dem Platze vor dem Altare stand in der Mitte der Kirche ein Marmordenkmal: eine Säule mit einer Urne, an der das Profil eines edlen Gesichts in Relief zu sehen war. Darunter las man in lateinischer Sprache die mit goldenen Lettern gesetzte Inschrift: Principi de Sacken, unius re­gis Poloniae, unius electoris Saxoniae et duorum Borussiae regum amico, nato 13 nov. 1726, mortuo 3 dec. 1795, marito optimo posuit uxor nunquam поп memor. Semper bonos nomenque tuum laudesque manebunt.“[8] Nach dem „Alb. kurl. Ans.“ war das ein Karl von der Osten-Sacken, der 1763 in Wien zum Reichsgrafen des heiligen römischen Reiches, 1786 in den preußi­schen Fürstenstand erhoben worden und als preußischer Kriegsminister gestorben ist. Daneben hat auch die Gemahlin selbst ein kleineres Denkmal erhalten, aber ohne jegliche Inschrift, nur mit ihrem Portrait versehen. Schön ist es, wenn man seine Toten ehrt, und wie uns der edle Menschenfreund Baron Schlippenbach berichtet, so hat es in Dondangen gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode gute, edle Herren gegeben; doch dünkt mich, gehören solche Marmordenkmäler nicht in den Kirchenraum zwischen dem Altare und den Bänken für die [50] Gemeindeglieder. Der Kirchturm war nicht sehr hoch. Von den beiden oben hängenden Glocken war eine aus der „civi­tas Piltensis“ (der „Landschaft“ oder dem „Staate Pilten“) vom Jahre 1735 und trug die Inschrift: „Bene dicamus Domino“ (Laßt uns den Herrn preisen). Bei dem Ausblicke von oben traf das Auge nur Wald. Die Kirche besitzt eine mächtige Orgel, die sehr schöne Töne in den Kirchenraum hinaussendet. — 5. Juli. Das kurländische deutsche Sprichwort: „Früh gesattelt, spät geritten, — das sind die kurischen Sitten“ wurde an diesem Tage zur Wahrheit, nur daß statt „gesattelt“ — „angespannt“ und statt „geritten“ — „gefahren“ stehen müßte. Daran war das Kartenspiel schuld, dem einige Reisegefährten über die Maßen ergeben waren. Erst gegen Abend brachen wir auf, um nach Talsen zurückzufahren. Die Sonne neigte sich immer mehr dem Untergange zu und verschwand bald hinter Wald und Hain, wobei sie das herrliche Abendrot aufleuchten ließ. Wald und Wiese hüllten sich in Dämmerung, und die ersten Sterne erglänzten am Himmel. Rasch ging es dahin, schon in der Abendkühle. Bei einer Eiche, die mit weißem Moose behangen war, was eigen aus­sah, wurde halt gemacht. Dann fuhren wir wieder, bald in dunkler Nacht, weiter. In der Mitte des Weges hielten wir im Lerchenkruge nochmals längere Rast. Hier stimmte F., ein Livländer aus der Wolmarschen Gegend, so manches melodische Volkslied an, was unseren Wegegenossen Herrn C. sehr freute, da einige reizende Melodien ihm, dem Talsener Kinde, fremd waren. In tiefdunkler Nacht langten wir in Talsen an.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wordeu
  1. Dondangen heißt auf lettisch Dundanga, das wohl auf Duhndanga oder Duondanga zurückgeht, was „Schilfwiese“ bedeutet. Duonis: Schilf; duhnji (ein Plural): Schlamm, Seegras.
  2. Siehe: Bienemann, Livländisches Sagenbuch. 1897, No. 177 I, wo sich eine Übersetzung der Sage nach der großen lettischen Märchen- und Sagensammlung von Lerch-Puschkaitis findet. Wir haben sie verkürzt wiedergegeben.
  3. Richtiger „durch den päpstlichen Legaten“; vgl. Arbusow, Grundriß der Geschichte Liv-, Est- u. Kurlands, 1890. S. 26.
  4. Vgl. dazu die Sage von der grünen Jungfrau bei Bienemann.
  5. In der Nähe dieses Ortes hat sich ein 1837 ins Meer abgelassener, hochgelegener See befunden.
  6. In einem Hefte der „Ssähta, dabba un passaule" (Hof, Natur und Welt) hat Fr. Karkluwalks, ein Sohn der Dondangenschen Gegend, in Form von Gedichten sehr gelungene Proben dieser Mundart veröffentlicht.
  7. Die großen, fetten Dondangenschen Butten genossen früher einen weitverbreiteten Ruf.
  8. „Dem Fürsten von Sacken, dem Freunde eines Königs von Polen, eines Kurfürsten von Sachsen und zweier Könige von Preußen, geb. d. 13. Nov. 1726, gest. d. 3. Dez. 1795, dem besten Gatten hat (dieses Denkmal) die stets sein gedenkende Gemahlin gesetzt. Ewig werden deine Ehre, dein Namen und dein Lob bleiben.“