Hinter den Kulissen des Lebens

Textdaten
Autor: Maria Lazar
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Titel: Hinter den Kulissen des Lebens
Untertitel:
aus: Der Tag, 13. Oktober 1932, Seite 4-5
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1932
Verlag: Tag Verlag AG
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Quelle: ÖNB-ANNO
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Maria Lazar:
Hinter den Kulissen des Lebens[1]

Ein ungeheuerlicher, ein phantastischer Kampf wird hinter diesen Kulissen geführt, ein Kampf gegen Vernunft und Wirklichkeit. Dieser Kampf ist irrationell und irreal, er ist verzweifelt. Wird aber ein an sich verzweifelter Kampf, ein Kampf, der jeder Seite Blut und Tränen kostet, mit der ganzen Ekstase der unsterblichen Seele geführt, so muß er tragisch wirken. Die kranken Nerven, deren bis zum Wahnsinn gesteigerte Empfindsamkeit hier in ständigem Vibrieren Innen- und Außenwelt verbindet, sind nur Mittel, um das große Ziel des Kampfes zu zeigen: die überwindung der Einsamkeit. In dieser Sehnsucht, die trotz Krieg und Wucher in allen steckt, nicht nur in den großen Liebenden, sondern auch in Schulkindern und Pfründnern, vereinigt sich eine bis ins höchste gesteigerte Individualität mit der ganzen Welt. Die Grenzen fallen.

Sie fallen in diesem Buche Dirsztays zuerst zwischen den einzelnen, zwischen dem Attaché und dem rätselhaften Fremden, seinem Doppelgänger. Mit dem Zusammentreffen der beiden beginnt die schwindelnde, erdenunsichere Atmosphäre des Buches, es ist als würde alles auf einen bisher unbekannten seelischen Planeten verrückt, und ein Tollkühner wagt es, „das“ auszusprechen.

Mit der himmlischen Liebe mittelalterlicher Heiliger, der fanatischen Sucht ineinander aufzugehen, suchen der Attaché und der Fremde einander. Sie suchen den Bruder im anderen, in allen anderen, in allen Dingen der Welt. Und der elegante Attaché findet nach vielen mit französischen Brocken bespickten Tagebuchblättern zurück zum Stoßseufzer der leidenden Kreatur: „Ach, was hatte ich doch für große Not.“

Man kann vielleicht das in der Literatur immer wieder auftauchende Motiv des Doppelgängers als einen symbolischen Versuch zur Überwindung der Einsamkeit betrachten. Doch immer ist der Doppelgänger eine störende, eine gespenstische Erscheinung, die den eigentlichen Helden verfolgt. Der Attaché und der Fremde aber sind zwei gleichwertige Doppelgänger, jeder beschreibt die gleichen erschütternden Qualen, dieselben Visionen des Nichts, in Gestalt von glatten Kugeln, Köpfen ohne Gesichtern.

Wie der brave Attaché zum ersten Mal den anderen, den Bruder gesehen hat, hat er, ohne es zu wissen, auch sich selbst gesehen. Mit dem ganzen seelischen und sprachlichen Snobismus seiner Kaste suchte er sich, nein, den Attaché, den Beamten, den Bürger in sich zu behaupten. Und schildert er erschüttert die Begegnung. „…in seinem edlen, durch anscheinend furchtbare innere Kämpfe verstörten Wesen schien heute ein größerer Schmerz sich ausdrücken zu wollen, als ein Menschenherz zu ertragen vermag. Ich, der mit einer gewissen Beschämung an dieser Stelle konstatieren muß, daß es mir im ganzen bis dahin ziemlich gut gegangen, fühlte c'est absolument fou in jenem Augenblick beinahe etwas wie Neid auf die Qualen dieses Menschen.“

Mit einer Objektivität, wie sie bloß dem ganz großen Künstler eigen ist, hat der Dichter Schmerzen, die nur persönlichstes Erlebnis [...]

  1. „Der Unentrinnbare“, Roman von Viktor Dirsztay mit Zeichnungen von O. Kokoschka, Kurt Wolff Verlag, München.