Der Stechlin/Siebenunddreißigstes Kapitel
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So kam Mitte März heran. Der Himmel war blau, Dubslav saß auf seiner Veranda, den kleinen Springbrunnen vor sich, und sah dabei das leichte weiße Gewölk ziehen. Vom Park her vernahm er den ersten Finkenschlag. Er mochte wohl schon eine Stunde so gesessen haben, als Engelke kam und den Doktor meldete. „Das ist recht, Sponholz, daß Sie kommen. Nicht um mir zu helfen (das ist immer schlimm, wenn einem erst geholfen werden soll), nein, um zu sehen, daß Sie mir schon geholfen haben. Diese Tropfen. Es ist doch was damit. Wenn sie nur nicht so schlecht schmeckten; ich muß mir immer einen Ruck geben. Und daß sie so grün sind. Grün ist Gift, heißt es bei den Leuten. Eigentlich eine ganz dumme Vorstellung. Wald und Wiese sind auch grün und doch so ziemlich unser Bestes.“ „Ja, es ist ein Spezifikum. Und ich bin froh, daß die Digitalis hier bei Ihnen mal wieder zeigt, was sie kann. Und bin doppelt froh, weil ich mich auf sechs Wochen von Ihnen verabschieden muß.“ „Auf sechs Wochen. Aber, Doktor, das is ja ’ne [422] halbe Ewigkeit. Haben Sie Schulden gemacht und sollen in Prison?“ „Man könnte beinahe so was denken. Denn so lange Gransee historisch beglaubigt dasteht, ist noch kein Doktor auf sechs Wochen weg gewesen, noch dazu ein Kreisphysikus. Eine Doktorexistenz gestattet solchen Luxus nicht. Wie lebt man denn hier? Und wie hat man gelebt? Immer Furunkel aufgeschnitten, immer Karbolwatte, immer in den Wagen gestiegen, immer einem alten Erdenbürger seinen Entlassungsschein ausgestellt oder einen neuen Erdenbürger geholt. Und nun sechs Wochen weg. Wie ich meinen Kreis wiederfinden werde… nu, vielleicht hat Gott ein Einsehen.“ „Er ist doch wohl eigentlich der beste Assistenzarzt.“ „Und vor allem der billigste. Der andre, den ich mir aus Berlin habe verschreiben müssen (ach, und so viel Schreiberei), der ist teurer. Und meine Reise kommt mir ohnedies schon teuer genug.“ „Aber wohin denn, Doktor?“ „Nach Pfäffers.“ „Pfäffers. Kenn’ ich nicht. Und was wollen Sie da? Warum? Wozu?“ „Meine Frau laboriert an einem Rheumatismus, hochgradig, schon nicht mehr schön. Und da ist denn Pfäffers der letzte Trumpf. Schweizerbad mit allen Schikanen und wahrscheinlich auch mit allen Kosten. Ein Granseer, der allerdings für Geld gezeigt werden kann, war mal an diesem merkwürdigen Ort und hat mir denn auch ’ne Beschreibung davon gemacht. Habe natürlich auch noch im Bädeker nachgeschlagen und unter anderm einen Fluß da verzeichnet gefunden, der Tamina heißt. Erinnert ein bißchen an Zauberflöte und klingt soweit ganz gut. Aber trotzdem eine tolle Geschichte, dies Pfäffers. Soweit es nämlich als Bad in Betracht kommt, ist es nichts als ein Felsenloch, ein großer Backofen, [423] in den man hineingeschoben wird. Und da hockt man denn, wie die Indianer hocken, und die Dämpfe steigen siedeheiß von unten herauf. Wer da nicht wieder zustande kommt, der kann überhaupt einpacken. Übrigens will ich für meine Person gleich mit hineinkriechen. Denn das darf ich wohl sagen, wer so fünfunddreißig Jahre lang durch Kreis Gransee hin und her kutschiert ist, mitunter bei Ostwind, der hat sich sein Gliederreißen ehrlich verdient. Sonderbar, daß der Hauptteil davon auf meine Frau gefallen ist.“ „Ja, Sponholz, in einer christlichen Ehe…“ „Freilich, Herr Major, freilich. Wiewohl das mit ‚christlicher Ehe‘ auch immer bloß so so ist. Da hatten wir, als ich noch Militär war, einen Compagniechirurgus, richtige alte Schule, der sagte, wenn er von so was hörte: ‚Ja, christliche Ehe, ganz gut, kenn’ ich. Is wie Schinken in Burgunder. Das eine is immer da, aber das andere fehlt.‘“ „Ja,“ sagte Dubslav, „diese richtigen alten Compagniechirurgusse, die hab’ ich auch noch gekannt. Blutige Cyniker, jetzt leider ausgestorben… Und in solchem Pfäfferschen Backofen wollen Sie sechs Wochen zubringen?“ „Nein, Herr von Stechlin, nicht so lange. Bloß vier, höchstens vier. Denn es strengt sehr an. Aber wenn man nu doch mal da ist, ich meine in der Schweiz und da herum, wo sie stellenweise schon italienisch sprechen, da will man doch schließlich auch gern in das gelobte Land Italia hineinkucken. Und da haben wir denn also, meine Frau und ich, vor, von diesem Pfäffers aus erst noch durch die Viamala zu fahren, den Splügen hinauf oder auf irgend einen andern Paß. Und wenn wir dann einen Blick in all die Herrlichkeit drüben hinein gethan haben, dann kehren wir wieder um, und ich für meine Person ziehe mir wieder meinen grauen Mantel an (denn [424] für die Reise hab’ ich mir einen neuen Paletot bauen lassen) und kutschiere wieder durch Kreis Gransee.“ „Na, Sponholz, das freut mich aber wirklich, daß Sie mal ’rauskommen. Und bloß wenn Sie durch die Viamala fahren, da müssen Sie sich in acht nehmen.“ „Waren Sie denn mal da, Herr Major?“ „Bewahre. Meine Weltfahrten, mit ganz schwachen Ausnahmen, lagen immer nur zwischen Berlin und Stechlin. Höchstens mal Dresden und ein bißchen ins Bayrische. Wenn man so gar nicht mehr weiß, wo man hin soll, fährt man natürlich nach Dresden. Also Viamala nie gesehen. Aber ein Bild davon. Im allgemeinen ist Bilderankucken auch nicht gerade mein Fall, und wenn die Museums von mir leben sollten, dann thäten sie mir leid. Indessen wie so der Zufall spielt, mal sieht man doch so was, und war da auf dem Viamala-Bilde ’ne Felsenschlucht mit Figuren von einem sehr berühmten Malermenschen, der, glaub’ ich, Böcking oder Böckling hieß.“ „Ah so. Einer, wenn mir recht ist, heißt Böcklin.“ „Wohl möglich, daß es der gewesen ist. Ja, sogar sehr wahrscheinlich. Nun sehen Sie, Doktor, da war denn also auf diesem Bilde diese Viamala, mit einem kleinen Fluß unten, und über den Fluß weg lief ein Brückenbogen, und ein Zug von Menschen (es können aber auch Ritter gewesen sein) kam grade die Straße lang. Und alle wollten über die Brücke.“ „Sehr interessant.“ „Und nun denken Sie sich, was geschieht da? Grade neben dem Brückenbogen, dicht an der rechten Seite, thut sich mit einem Male der Felsen auf, etwa wie wenn morgens ein richtiger Spießbürger seine Laden aufmacht und nachsehen will, wie’s Wetter ist. Der aber, der an dieser Brücke da von ungefähr ’rauskuckte, hören Sie, Sponholz, das war kein Spießbürger, sondern [425] ein richtger Lindwurm oder so was ähnliches aus der sogenannten Zeit der Saurier, also so weit zurück, daß selbst der älteste Adel, (die Stechline mit eingeschlossen,) nicht dagegen ankann, und dies Biest, als der herankommende Zug eben den Fluß passieren wollte, war mit seinem aufgesperrten Rachen bis dicht an die Menschen und die Brücke heran, und ich kann Ihnen bloß sagen, Sponholz, mir stand, als ich das sah, der Atem still, weil ich deutlich fühlte, nu noch einen Augenblick, dann schnappt er zu und die ganze Bescherung is weg.“ „Ja, Herr von Stechlin, da hat man bloß den Trost, daß die Saurier, so viel ich weiß, seitdem ausgestorben sind. Aber meiner Frau will ich diese Geschichte doch lieber nicht erzählen; die kriegt nämlich mitunter Ohnmachten. In Doktorhäusern ist immer was los.“ Dubslav nickte. „Und nur das eine möcht’ ich Ihnen noch sagen, Herr von Stechlin, mit der Digitalis immer ruhig so weiter, und wenn der Appetit nicht wieder kommt, lieber nur zweimal täglich. Und nie mehr als zehn Tropfen. Und wenn Sie sich unpaß fühlen, mein Stellvertreter ist von allem unterrichtet. Er wird Ihnen gefallen. Neue Schule, moderner Mensch; aber doch nicht zu viel davon (so wenigstens hoff’ ich) und jedenfalls sehr gescheit. An seinem Namen, – er heißt nämlich Moscheles, – dürfen Sie nicht Anstoß nehmen. Er ist aus Brünn gebürtig und da heißen die meisten so.“ Der Alte drückte mit allem seine Zustimmung aus, auch mit dem Namen, trotzdem dieser ihm quälende Erinnerungen weckte. Schon vor etlichen fünfzig Jahren habe er Musikstücke spielen müssen, die alle auf den Namen „Moscheles“ liefen. Aber das wolle er den Insichtstehenden nicht weiter entgelten lassen. Und nach diesen beruhigenden Versicherungen empfahl [426] sich Sponholz und fuhr zu weiteren Abschiedsbesuchen in die Grafschaft hinein. Am zweitfolgenden Tage brachen die Sponholzschen Eheleute von Gransee nach Pfäffers hin auf; die Frau, sehr leidend, war schweigsam, er aber befand sich in einem hochgradigen Reisefieber, was sich, als sie draußen auf dem Bahnhof angelangt waren, in immer wachsender Gesprächigkeit äußerte. Mehrere Freunde (meist Logenbrüder) hatten ihn bis hinaus begleitet. Sponholz kam hier sofort vom Hundertsten aufs Tausendste. „Ja, unser guter Stechlin, mit dem steht es so so… Baruch hat ihn auch gesehn und ihn einigermaßen verändert gefunden… Und Sie, Kirstein, Sie schreiben mir natürlich, wenn der junge Burmeister eintritt; ich weiß, er will nicht recht (bloß der Vater will) und soll sogar von ‚Hokuspokus‘ gesprochen haben. Aber dergleichen muß man leicht nehmen. Unwissenheit, Verkennungen, über so was sind wir weg; viel Feind’, viel Ehr’… Nur, es noch einmal zu sagen, der Alte drüben in Stechlin macht mir Sorge. Man muß aber hoffen; bei Gott kein Ding unmöglich ist. Und zu Moscheles hab’ ich Vertrauen; ihn auskultieren zu sehn, ist ein wahres Vergnügen für ’nen Fachmann.“ So klang, was Sponholz noch in letzter Minute vom Coupéfenster aus zum besten gab. Alles, am meisten aber das über den alten Stechlin Gesagte, wurde weitergetragen und drang bis auf die Dörfer hinaus, so namentlich auch bis nach Quaden-Hennersdorf zu Superintendent Koseleger, der seit kurzem mit Ermyntrud einen lebhaften Verkehr unterhielt und, angeregt durch die mit jedem Tage kirchlicher werdende Prinzessin, einen energischen Vorstoß gegen den Unglauben und die [427] in der Grafschaft überhandnehmende Laxheit plante. Koseleger sowohl wie die Prinzessin wollten zu diesem Zwecke beim alten Dubslav als ‚nächstem Objekt‘ einsetzen, und hielten sein Asthma für den geeignetsten Zeitpunkt. In einem Briefe der Prinzessin an Koseleger hieß es dementsprechend: „Ich will die gute Gesinnung des alten Herrn in nichts anzweifeln; außerdem hat er etwas ungemein Affables. Ich bin ihm menschlich durchaus zugethan. Aber sein Prinzip, das nichts Höheres kennt, als ‚leben und leben lassen‘, hat in unsrer Gegend alle möglichen Irrtümer und Sonderbarkeiten ins Kraut schießen lassen. Nehmen Sie beispielsweise diesen Krippenstapel. Und nun den Lorenzen selbst! Katzler, mit dem ich gestern über unsern Plan sprach, hat mich gebeten, mit Rücksicht auf die Krankheit des alten Herrn wenigstens vorläufig von allem Abstand zu nehmen, aber ich hab’ ihm widersprechen müssen. Krankheit (so viel ist richtig) macht schroff und eigensinnig, aber in bedrängten Momenten auch wiederum ebenso gefügig, und es sind wohl auch hier wieder gerade die Auferlegungen und Bitternisse, daraus ein Segen für den Kranken, und jedenfalls für die Gesamtheit unsres Kreises entspringen wird. Unter allen Umständen aber muß uns das Bewußtsein trösten, unsre Pflicht erfüllt zu haben.“ Es war eine Woche nach Sponholz’ Abreise, daß Ermyntrud diese Zeilen schrieb, und schon am andern Vormittage fuhr Koseleger, der mit der Prinzessin im wesentlichen derselben Meinung war, auf die Stechliner Rampe. Gleich danach trat Engelke bei Dubslav ein und meldete den Herrn Superintendenten. „Superintendent? Koseleger?“ [428] „Ja, gnäd’ger Herr. Superintendent Koseleger. Er sieht sehr wohl aus, und ganz blank.“ „Was es doch für merkwürdige Tage giebt. Heute, (du sollst sehn), ist wieder so einer. Mit Moscheles fing’s an. Sage dem Herrn Superintendenten, ich ließe bitten.“ „Ich komme hoffentlich zu guter Stunde, Herr von Stechlin.“ „Zur allerbesten, Herr Superintendent. Eben war der neue Doktor hier. Und eine Viertelstunde, wenn’s mit dem „praesente medico“ nur ein ganz klein wenig auf sich hat, muß solche Doktorgegenwart doch wohl noch nachwirken.“ „Sicher, sicher. Und dieser Moscheles soll sehr gescheit sein. Die Wiener und Prager verstehn es; namentlich alles, was nach der Seite hin liegt.“ „Ja,“ sagte Dubslav, „nach der Seite hin,“ und wies auf Brust und Herz. „Aber, offen gestanden, nach mancher andern Seite hin ist mir dieser Moscheles nicht sehr sympathisch. Er faßt seinen Stock so sonderbar an und schlenkert auch so.“ „Ja, so was muß man unter Umständen mit in den Kauf nehmen. Und dann heißt es ja auch, der Major von Stechlin habe mehr oder weniger einen philosemitischen Zug.“ „Den hat der Major von Stechlin auch wirklich, weil er Unchristlichkeiten nicht leiden kann und Prinzipienreitereien erst recht nicht. Ich gehöre zu denen, die sich immer den Einzelfall ansehn. Aber freilich, mancher Einzelfall gefällt mir nicht. So zum Beispiel der hier mit dem neuen Doktor. Und auch mein alter Baruch Hirschfeld, den der Herr Superintendent mutmaßlich kennen werden, auch der gefällt mir nicht mehr so recht. Ich hielt große Stücke von ihm, aber – vielleicht daß sein [429] Sohn Isidor schuld ist – mit einem Mal ist der Pferdefuß ’rausgekommen.“ „Ja,“ lachte Koseleger, „der kommt immer mal ’raus. Und nicht bloß bei Baruch. Ich muß aber sagen, das alles hat mit der Rasse viel, viel weniger zu schaffen, als mit dem jeweiligen Beruf. Da war ich eben bei der Frau von Gundermann…“ „Und da war auch so was?“ „In gewissem Sinne, ja. Natürlich ein bißchen anders, weil es sich um etwas Weibliches handelte. ‚Stütze der Hausfrau‘. Und da bändelt sich denn leicht was an. Eben diese ‚Stütze der Hausfrau‘ war bis vor kurzem noch Erzieherin, und mit Erzieherinnen, alten und jungen, hat’s immer einen Haken, wie mit den Lehrern überhaupt. Es liegt im Beruf. Und der Seminarist steht oben an.“ „Ich kann mich nicht erinnern,“ sagte Dubslav, „in unserer Gegend irgend was gröblich Verletzliches erlebt zu haben.“ „O, ich bin mißverstanden,“ beschwichtigte Koseleger und rieb sich mit einem gewissen Behagen seine wohlgepflegten Hände. „Nichts von Vergehungen auf erotischem Gebiet, wiewohl es bei den Gundermanns, (die gerad’ in diesem Punkte viel heimgesucht werden,) auch diesmal wieder, ich möchte sagen diese kleine Nebenform angenommen hatte. Nein, der große Seminaristenpferdefuß, an den ich bei meiner ersten Bemerkung dachte, trägt ganz andere Signaturen: Unbotmäßigkeit, Überschätzung und infolge davon ein eigentümliches Bestreben, sich von den Heilsgütern loszulösen, und die Befriedigung des inneren Menschen in einer falschen Wissenschaftlichkeit zu suchen.“ „Ich will das nicht loben; aber auch solche ‚falsche Wissenschaftlichkeit‘ zählt, dächt ich, in unserer alten Grafschaft zu den allerseltensten Ausnahmen.“ „Nicht so sehr als Sie vermuten, Herr Major, [430] und aus Ihrer eigenen Stechliner Schule sind mir Klagen kirchlich gerichteter Eltern über solche Dinge zugegangen. Allerdings Altlutheraner aus der Globsower Gegend. Indessen so lästig diese Leute zu Zeiten sind, so haben sie doch andrerseits den Ernst des Glaubens und finden, wie sie sich in einem Skriptum an mich ausgedrückt haben, in der Krippenstapelschen Lehrmethode diesen Ernst des Glaubens arg vernachlässigt.“ Dubslav wiegte den Kopf hin und her, und hätte trotz allen Respekts vor dem Vertreter einer kirchlichen Behörde wahrscheinlich ziemlich scharf und spitz geantwortet, wenn ihm nicht alles, was er da hörte, gleichzeitig in einem heiteren Licht erschienen wäre. Krippenstapel, sein Krippenstapel, er, der den alten Fritzen so gut wie den Katechismus, aber den Katechismus auch reichlich so gut wie den alten Fritzen kannte, – Krippenstapel, sein großartiger Bienenvater, sein korrespondierendes Mitglied märkisch-historischer Vereine, die Seele seines ‚Museums‘, sein guter Freund, dieser Krippenstapel sollte den ‚Ernst des Glaubens‘ verkannt haben, bei ihm sollte der Seminaristenhochmut zu gemeingefährlichem Ausbruch gekommen sein. Wohl entsann er sich, in eigenster Person (was ihn in diesem Augenblick ein wenig verstimmte) gelegentlich sehr ähnliches gesagt zu haben. Aber doch immer nur scherzhaft. Und wenn zwei dasselbe thun, so ist es nicht mehr dasselbe. Traf dieser Satz je zu, so hier. Er erhob sich also mit einiger Anstrengung von seinem Platz, ging auf Koseleger zu, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Herr Superintendent, so wie Sie’s da sagen, so kann es nicht sein. Von richtigen Altlutheranern giebt es hier überhaupt nichts, und am wenigsten in Globsow; die glauben sozusagen gar nichts. Ich wittere da was von Intrigue. Da stecken andere dahinter. Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß ’rausgekommen, aber bei meinem alten Krippenstapel [431] ist er nicht ’rausgekommen und wird auch nicht ’rauskommen, weil er überhaupt nicht da ist. Meinen alten Krippenstapel, den kenn’ ich.“ Koseleger, Weltmann, wie er war, lenkte rasch ein, sprach von Konventiklerbeschränktheit und gab die Möglichkeit einer Intrigue zu. „Natürlich wird es einem schwer, in diesem Erdenwinkel an derlei Dinge zu glauben, denn ‚Intrigue‘ zählt ganz eminent zu den höheren Kulturformen. Intrigue hat hier in unserer alten Grafschaft, glaub’ ich, noch keinen Boden. Aber andrerseits ist es doch freilich wahr, daß heutzutage die Verwerflichkeiten, ja selbst die Verbrechen und Laster, nicht bloß im Gefolge der Kultur auftreten, sondern umgekehrt ihr voranschreiten, als beklagenswerte Herolde falscher Gesittung! Bedenken Sie, was wir neuerdings in unsern Äquatorialprovinzen erlebt haben. Die Zivilisation ist noch nicht da und schon haben wir ihre Gräuel. Man erschauert, wenn man davon liest und freut sich der kleinen und alltäglichen Verhältnisse, drin der Wille Gottes uns gnädig stellte.“ Nach diesen Worten, die was von einem guten Abgang hatten, erhob sich Koseleger und der Alte, seinerseits seinen Arm in den des Superintendenten einhakend, „um sich“, wie er sagte, „auf die Kirche zu stützen“, begleitete seinen Besuch bis wieder auf die Rampe hinaus und grüßte noch mit der Hand, als der Wagen schon über die Bohlenbrücke fuhr. Dann wandte er sich rasch an Engelke, der neben ihm stand, und sagte: „Engelke, schade, daß ich mit dir nicht wetten kann. Lust hätt’ ich. Heute kommt noch wer, du wirst es sehn. Eine Woche lang läßt sich keine Katze blicken, aber wenn unser Schicksal erst mal ’nen Entschluß gefaßt hat, dann kann es sich auch wieder nicht genug thun. Man gewinnt dreimal das große Los oder man [432] stößt sich dreimal den Kopp. Und immer an derselben Stelle.“ Es schlug zwölf, als Dubslav vom Portal her wieder den Flur passierte. Dabei sah er nach dem Hippenmann hinauf und zählte die Schläge. „Zwölf“, sagte er, „und um zwölf ist alles aus und dann fängt der neue Tag an. Es giebt freilich zwei Zwölfen, und die Zwölf, die da oben jetzt schlägt, das is die Mittagszwölf. Aber Mittag! … Wo bist du Sonne geblieben!“ All dem weiter nachhängend, wie er jetzt öfter that, kam er an seinen Kaminplatz und nahm eine Zeitung in die Hand. Er sah jedoch kaum drauf hin und beschäftigte sich, während er zu lesen schien, eigentlich nur mit der Frage, „wer wohl heute noch kommen könne“, und dabei neben andren Personen aus seiner Umgebung auch an Lorenzen denkend, kam er zu dem Schlußresultat, daß ihm Lorenzen „mit all seinem neuen Unsinn“ doch am Ende lieber sei als Koseleger mit seinen Heilsgütern, von denen er wohl zwei-, dreimal gesprochen hatte. „Ja, die Heilsgüter, die sind ganz gut. Versteht sich. Ich werde mich nicht so versündigen. Die Kirche kann was, is was, und der alte Luther, nu der war schon ganz gewiß was, weil er ehrlich war und für seine Sache sterben wollte. Nahe dran war er. Eigentlich kommt’s doch immer bloß darauf an, daß einer sagt, ‚dafür sterb’ ich‘. Und es dann aber auch thut. Für was, is beinah’ gleich. Daß man überhaupt so was kann, wie sich opfern, das ist das Große. Kirchlich mag es ja falsch sein, was ich da so sage; aber was sie jetzt ‚sittlich‘ nennen (und manche sagen auch ‚schönheitlich‘, aber das is ein zu dolles Wort), also was sie jetzt sittlich nennen, so bloß auf das hin angesehn, da is das persönliche sich einsetzen und für was sterben können [433] und wollen doch das Höchste. Mehr kann der Mensch nich. Aber Koseleger. Der will leben.“ Und während er noch so vor sich hin seinen Faden spann, war sein gutes altes Faktotum eingetreten, an das er denn auch ohne weiteres und bloß zu eignem Ergötzen die Frage richtete: „Nich wahr, Engelke?“ Der aber hörte gar nichts mehr, so sehr war er in Verwirrung, und stotterte nur aus sich heraus: „Ach Gott, gnäd’ger Herr, nu is es doch so gekommen.“ „Wie? Was?“ „Die Frau Gemahlin von unserm Herrn Oberförster…“ „Was? Die Prinzessin?“ „Ja, die Frau Katzler, Durchlaucht.“ „Alle Wetter, Engelke… Da haben wir’s. Aber ich hab’ es ja gesagt, ich wußt’ es. Wie so ’n Tag anfängt, so bleibt er, so geht es weiter… Und wie das hier durcheinander liegt, alles wie Kraut und Rüben. Nimm die Zudecke weg, ach was Zudecke, die reine Pferdedecke; wir müssen eine andre haben. Und nimm auch die grünen Tropfen weg, daß es nicht gleich aussieht wie ’ne Krankenstube… Die Prinzessin… Aber rasch, Engelke, flink… Ich lasse bitten, ich lasse die Frau Oberförsterin bitten.“ Dubslav rückte sich, so gut es ging, zurecht; im übrigen aber hielt er’s in seinem desolaten Zustande doch für besser, in seinem Rollstuhl zu bleiben, als der Prinzessin entgegen zu gehn oder sie durch ein Sicherheben von seinem Sitz mehr oder weniger feierlich zu begrüßen. Ermyntrud paßte sich seinen Intentionen denn auch an und gab durch eine gemessene Handbewegung zu verstehen, daß sie nicht zu stören wünsche. Gleich danach legte sie den rechten Arm auf die Lehne eines nebenstehenden Stuhles und sagte: „Ich komme, Herr von [434] Stechlin, um nach Ihrem Befinden zu fragen; Katzler (sie nannte ihn, unter geflissentlichster Vermeidung des allerdings plebejen „mein Mann“, immer nur bei seinem Familiennamen) hat mir von Ihrem Unwohlsein erzählt und mir Empfehlungen aufgetragen. Ich hoffe, es geht besser.“ Dubslav dankte für so viel Freundlichkeit und bat, das um ihn her herrschende Übermaß von Unordnung entschuldigen zu wollen. „Wo die weibliche Hand fehlt, fehlt alles.“ Er fuhr so noch eine Weile fort, in allerlei Worten und Wendungen, wie sie ihm von alter Zeit her geläufig waren; eigentlich aber war er wenig bei dem, was er sagte, sondern hing ausschließlich an dem halb Nonnen-, halb Heiligenbildartigen ihrer Erscheinung, das durch einen großen, aus mattweißen Kugeln bestehenden Halsschmuck samt Elfenbeinkreuz, noch gesteigert wurde. Sie mußte jedem, auch dem Kritischsten, auffallen, und Dubslav, der – so sehr er dagegen ankämpfte – ganz unter der Vorstellung ihrer Prinzessinnenschaft stand, vergaß auf Augenblicke Krankheit und Alter und fühlte sich nur noch als Ritter seiner Dame. Daß sie stehen blieb, war ihm im ersten Augenblicke störend, bald aber war es ihm recht, weil ihm einleuchtete, daß ihr „Bild“ erst dadurch zu voller Wirkung kam. Ermyntrud selbst war sich dessen auch voll bewußt und Frau genug, auf diese Vorzüge nicht ohne Not zu verzichten. „Ich höre, daß Doktor Sponholz, den ich als Arzt sehr schätzen gelernt habe, seine Kranken, während er in Pfäffers ist, einem jungen Stellvertreter anvertraut hat. Junge Ärzte sind meist klüger als die alten, aber doch weniger Ärzte. Man bringt außerdem dem Alter mehr Vertrauen entgegen. Alte Doktoren sind wie Beichtiger, vor denen man sich gern offenbart. Freilich können sie den geistlichen Zuspruch nicht voll ersetzen, der in jeder ernstlichen Krankheit doch das [435] eigentlich Heilsame bleibt. Ärzte selbst – ich hab’ einen Teil meiner Jugend in einem Diakonissenhause verbracht – Ärzte selbst, wenn sie ihren Beruf recht verstehn, urteilen in diesem Sinne. Sogenannte Medikamente sind und bleiben ein armer Notbehelf; alle wahre Hilfe fließt aus dem Wort. Aber freilich, das richtige Wort wird nicht überall gesprochen.“ Dubslav sah etwas unruhig um sich her. Es war ganz klar, daß die Prinzessin gekommen war, seine Seele zu retten. Aber woher kam ihr die Wissenschaft, daß seine Seele dessen bedürftig sei? Das verlohnte sich doch in Erfahrung zu bringen, und so bezwang er sich denn und sagte: „Gewiß, Durchlaucht, das Wort ist die Hauptsache. Das Wort ist das Wunder; es läßt uns lachen und weinen, es erhebt uns und demütigt uns, es macht uns krank und macht uns gesund. Ja es giebt uns erst das wahre Leben hier und dort. Und dies letzte höchste Wort, das haben wir in der Bibel. Daher nehm’ ich’s. Und wenn ich manches Wort nicht verstehe, wie wir die Sterne nicht verstehn, so haben wir dafür die Deuter.“ „Gewiß. Aber es giebt der Deuter so viele.“ „Ja,“ lachte Dubslav, „und wer die Wahl hat, hat die Qual. Aber ich persönlich, ich habe keine Wahl. Denn genau so wie mit dem Körper, so steht es für mich auch mit der Seele. Man behilft sich mit dem, was man hat. Nehm’ ich da zunächst meinen armen, elenden Leib. Da sitzt es mir hier und steigt und drückt und quält mich, und ängstigt mich, und wenn die Angst groß ist, dann nehm’ ich die grünen Tropfen. Und wenn es mich immer mehr quält, dann schick’ ich nach Gransee hinein, und dann kommt Sponholz. Das heißt, wenn er gerade da ist. Ja, dieser Sponholz ist auch ein Wissender und ein ‚Deuter‘. Sehr wahrscheinlich, daß es klügere und bessere giebt; aber in Ermangelung [436] dieser besseren muß er für mich ausreichen.“ Ermyntrud nickte freundlich und schien ihre Zustimmung ausdrücken zu wollen. „Und,“ fuhr Dubslav[WS 1] fort, „ich muß es wiederholen, genau so wie mit dem Leib, so auch mit der Seele. Wenn sich meine arme Seele ängstigt, dann nehm’ ich mir Trost und Hilfe, so gut ich sie gerade finden kann. Und dabei denk’ ich dann, der nächste Trost ist der beste. Den hat man am schnellsten, und wer schnell giebt, der giebt doppelt. Eigentlich muß man es lateinisch sagen. Ich rufe mir Sponholz, weil ich ihn, wenn benötigt, in ziemlicher Nähe habe; den andern aber, den Arzt für die Seele, den hab’ ich glücklicherweise noch näher und brauche nicht mal nach Gransee hineinzuschicken. Alle Worte, die von Herzen kommen, sind gute Worte, und wenn sie mir helfen (und sie helfen mir), so frag’ ich nicht viel danach, ob es sogenannte ‚richtige‘ Worte sind oder nicht.“ Ermyntrud richtete sich höher auf; ihr bis dahin verbindliches Lächeln war sichtlich in raschem Hinschwinden. „Überdies,“ so schloß Dubslav seine Bekenntnisrede, „was sind die richtigen Worte? Wo sind sie?“ „Sie haben Sie, Herr von Stechlin, wenn Sie sie haben wollen. Und Sie haben sie nah, wenn auch nicht in Ihrer unmittelbarsten Nähe. Mich persönlich haben diese Worte während schwerer Tage gestützt und aufgerichtet. Ich weiß, er hat Feinde, voran im eignen Lager. Und diese Feinde sprechen von ‚schönen Worten‘. Aber soll ich mich einem Heilswort verschließen, weil es sich in Schönheit kleidet? Soll ich eine mich segnende Hand zurückweisen, weil es eine weiche Hand ist? Sie haben Sponholz genannt. Unser Superintendent liegt wohl weit über diesen hinaus und wenn es nicht eitel und vermessen wäre, würd’ ich eine gnäd’ge Fügung darin [437] zu sehn glauben, daß er an diese sterile Küste verschlagen werden mußte, gerade mir eine Hilfe zu sein. Aber, was er an mir that, kann er auch an andern thun. Er hat eben das, was zum Siege führt; wer die Seele hat, hat auch den Leib.“ Unter diesen Worten war Ermyntrud von ihrem Stuhl an Dubslav herangetreten und neigte sich über ihn, um ihm, halb wie segnend, die Stirn zu küssen. Das Elfenbeinkreuz berührte dabei seine Brust. Sie ließ es eine Weile da ruhen. Dann aber trat sie wieder zurück, und sich zweimal unter hoheitsvollem Gruß verneigend, verließ sie das Zimmer. Engelke, der draußen im Flur stand, eilte vorauf, ihr beim Einsteigen in den kleinen Katzlerschen Jagdwagen behilflich zu sein. Als Dubslav wieder allein war, nahm er das Schüreisen, das grad’ vor ihm auf dem Kaminstein lag, und fuhr in die halb niedergebrannten Scheite. Die Flamme schlug auf und etliche Funken stoben. „Arme Durchlaucht. Es ist doch nicht gut, wenn Prinzessinnen in Oberförsterhäuser einziehn. Sie sind dann aus ihrem Fahrwasser heraus und greifen nach allem möglichen, um in der selbstgeschaffenen Alltäglichkeit nicht unterzugehn. Einen bessern Trostspender als Koseleger konnte sie freilich nicht finden; er gab ihr den Trost, dessen er selber bedürftig ist. Im übrigen mag sie sich aufrichten lassen, von wem sie will. Der Alte auf Sanssouci, mit seinem ‚nach der eignen Façon selig werden‘, hat’s auch darin getroffen. Gewiß. Aber wenn ich euch eure Façon lasse, so laßt mir auch die meine. Wollt nicht alles besser wissen, kommt mir nicht mit Anzettelungen, erst gegen meinen guten Krippenstapel, der kein Wässerchen trübt, und nun gar gegen meinen klugen Lorenzen, der euch alle in die Tasche steckt. An ihn persönlich wagen sie sich nicht ’ran, und da kommen sie nun zu mir und wollen mich umstimmen und denken, weil ich krank bin, [438] muß ich auch schwach sein. Aber da kennen sie den alten Stechlin schlecht, und er wird nun wohl seinen märkischen Dickkopf aufsetzen. Auch sogar gegen Ippe-Büchsenstein und die Elfenbeinkugeln, die ja schon der reine Rosenkranz sind. Und es wird auch noch so was. Eigentlich bin ich übrigens selber schuld. Ich habe mir durch den prinzeßlichen Augenaufschlag und die vier Kindergräber im Garten zu sehr imponieren lassen. Aber es fällt doch allmählich wieder ab, und ein Glück, daß ich meinen Engelke habe.“ Vor Erregung war er aus seinem Rollstuhl aufgestanden und drückte auf den Klingelknopf. „Engelke, geh zu Lorenzen und sag ihm, ich ließ ihn bitten. Der soll dann aber heut auch der letzte sein… Denke dir, Engelke, sie wollen mich bekehren!“ „Aber, gnäd’ger Herr, das is ja doch das beste.“ „Gott, nu fängt der auch noch an.“
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