« Zehntes Kapitel Der Stechlin Zwölftes Kapitel »
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Nach dem „Eierhäuschen“.
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Elftes Kapitel.


     Die Barbys, der alte Graf und seine zwei Töchter, lebten seit einer Reihe von Jahren in Berlin und zwar am Kronprinzenufer, zwischen Alsen- und Moltkebrücke. Das Haus, dessen erste Etage sie bewohnten, unterschied sich, ohne sonst irgendwie hervorragend zu sein (Berlin ist nicht reich an Privathäusern, die Schönheit und Eigenart in sich vereinigen), immerhin vorteilhaft von seinen Nachbarhäusern, von denen es durch zwei Terrainstreifen getrennt wurde; der eine davon ein kleiner Baumgarten, mit allerlei Buschwerk dazwischen, der andre ein Hofraum mit einem zierlichen malerisch wirkenden Stallgebäude, dessen obere Fenster, hinter denen sich die Kutscherwohnung befand, von wildem Wein umwachsen waren. Schon diese Lage des Hauses hätte demselben ein bestimmtes Maß von Aufmerksamkeit gesichert, aber auch seine Fassade mit ihren zwei Loggien links und rechts ließ die des Weges Kommenden unwillkürlich ihr Auge darauf richten. Hier, in eben diesen Loggien, verbrachte die Familie mit Vorliebe die Früh- und Nachmittagsstunden und bevorzugte dabei, je nach der Jahreszeit, mal den zum Zimmer des alten Grafen gehörigen, in pompejischem Rot gehaltenen Einbau, mal die gleichartige Loggia, die zum Zimmer der beiden jungen Damen gehörte. Dazwischen lag ein dritter großer Raum, der als Repräsentations- und zugleich als Eßzimmer [140] diente. Das war, mit Ausnahme der Schlaf- und Wirtschaftsräume, das Ganze, worüber man Verfügung hatte; man wohnte mithin ziemlich beschränkt, hing aber sehr an dem Hause, so daß ein Wohnungswechsel oder auch nur der Gedanke daran, so gut wie ausgeschlossen war. Einmal hatte die liebenswürdige, besonders mit Gräfin Melusine befreundete Baronin Berchtesgaden einen solchen Wohnungswechsel in Vorschlag gebracht, aber nur um sofort einem lebhaften Widerspruche zu begegnen. „Ich sehe schon, Baronin, Sie führen den ganzen Lennéstraßenstolz gegen uns ins Gefecht. Ihre Lennéstraße! Nun ja, wenn’s sein muß. Aber was haben Sie da groß? Sie haben den Lessing ganz und den Goethe halb. Und um beides will ich Sie beneiden und Ihnen auch die Spreewaldsammen in Rechnung stellen. Aber die Lennéstraßenwelt ist geschlossen, ist zu, sie hat keinen Blick ins Weite, kein Wasser, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn ich in unsrer Nische sitze, die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und sehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigranwerk der Ausstellungsparktürmchen schimmert, was will Ihre grüne Tiergartenwand dagegen?“ Und dabei wies die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug, und die Baronin gab sich zufrieden.

     Ein solcher Abend war auch heute; die Balkonthür stand auf, und ein kleines Feuer im Kamin warf seine Lichter auf den schweren Teppich, der durch das ganze Zimmer hin lag. Es mochte die sechste Stunde sein und die Fenster drüben an den Häusern der andern Seite standen wie in roter Glut. Ganz in der Nähe des Kamins saß Armgard, die jüngere Tochter, in ihren Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußspitze leicht auf den Ständer gestemmt. Die Stickerei, daran sie bis dahin [141] gearbeitet, hatte sie, seit es zu dunkeln begann, aus der Hand gelegt und spielte statt dessen mit einem Ballbecher, zu dem sie regelmäßig griff, wenn es galt, leere Minuten auszufüllen. Sie spielte das Spiel sehr geschickt, und es gab immer einen kleinen hellen Schlag, wenn der Ball in den Becher fiel. Melusine stand draußen auf dem Balkon, die Hand an die Stirn gelegt, um sich gegen die Blendung der untergehenden Sonne zu schützen.

     „Armgard,“ rief sie in das Zimmer hinein, „komm; die Sonne geht eben unter!“

     „Laß. Ich sehe hier lieber in den Kamin. Und ich habe auch schon zwölfmal gefangen.“

     „Wen?“

     „Nun natürlich den Ball.“

     „Ich glaube, du fingst lieber wen anders. Und wenn ich dich so dasitzen sehe, so kommt es mir fast vor, als dächtest du selber auch so was. Du sitzt so märchenhaft da.“

     „Ach, du denkst immer nur an Märchen und glaubst, weil du Melusine heißt, du hast so was wie eine Verpflichtung dazu.“

     „Kann sein. Aber vor allem glaub’ ich, daß ich es getroffen habe. Weißt du, was?“

     „Nun?“

     „Ich kann es so leicht nicht sagen. Du sitzt zu weit ab.“

     „Dann komm und sag es mir ins Ohr.“

     „Das ist zu viel verlangt. Denn erstens bin ich die ältere, und zweitens bist du’s, die was von mir will. Aber ich will es so genau nicht nehmen.“

     Und dabei ging Melusine vom Balkon her auf die Schwester zu, nahm ihr das Fangspiel fort und sagte, während sie ihr die Hand auf die Stirn legte: „Du bist verliebt.“

[142]      „Aber Melusine, was das nun wieder soll! Und wenn man so klug ist wie du… Verliebt. Das ist ja gar nichts; etwas verliebt ist man immer.“

     „Gewiß. Aber in wen? Da beginnen die Fragen und die Finessen.“

     In diesem Augenblicke ging die Klingel draußen, und Armgard horchte.

     „Wie du dich verrätst,“ lachte Melusine. „Du horchst und willst wissen, wer kommt.“

     Melusine wollte noch weiter sprechen, aber die Thür ging bereits auf und Lizzi, die Kammerjungfer der beiden Schwestern, trat ein, unmittelbar hinter ihr ein Gersonscher Livreediener mit einem in einen Riemen geschnallten Karton. „Er bringt die Hüte,“ sagte die Kammerjungfer.

     „Ah, die Hüte. Ja, Armgard da müssen wir freilich unsre Frage vertagen. Was doch wohl auch deine Meinung ist. Bitte, stellen Sie hin. Aber Lizzi, du, du bleibst und mußt uns helfen; du hast einen guten Geschmack. Übrigens ist kein Stehspiegel da?“

     „Soll ich ihn holen?“

     „Nein, nein, laß. Unsre Köpfe, worauf es doch bloß ankommt, können wir schließlich auch in diesem Spiegel sehen… Ich denke, Armgard, du läßt mir die Vorhand; dieser hier mit dem Heliotrop und den Stiefmütterchen, der ist natürlich für mich; er hat den richtigen Frauencharakter, fast schon Witwe.“

     Unter diesen Worten setzte sie sich den Hut auf und trat an den Spiegel. „Nun, Lizzi, sprich.“

     „Ich weiß nicht recht, Frau Gräfin, er scheint mir nicht modern genug. Der, den Comtesse Armgard eben aufsetzt, der würde wohl auch für Frau Gräfin besser passen; – die hohen Straußfedern, wie ein Ritterhelm, und auch die Hutform selbst. Hier ist noch einer, fast ebenso und beinah noch hübscher.“

[143]      Beide Damen stellten sich jetzt vor den Spiegel; Armgard, hinter der Schwester stehend und größer als diese, sah über deren linke Schulter fort. Beide gefielen sich ungemein und schließlich lachten sie, weil jede der andern ansah, wie hübsch sie sich fand.

     „Ich möchte doch beinah glauben…“ sagte Melusine, kam aber nicht weiter, denn in eben diesem Augenblicke trat ein in schwarzen Frack und Escarpins gekleideter alter Diener ein und meldete: „Rittmeister von Stechlin.“

     Unmittelbar darauf erschien denn auch Woldemar selbst und verbeugte sich gegen die Damen. „Ich fürchte, daß ich zu sehr ungelegener Stunde komme.“

     „Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Um wessentwillen quälen wir uns denn überhaupt mit solchen Sachen? Doch bloß um unsrer Gebieter willen, die man ja (vielleicht leider) auch noch hat, wenn man sie nicht mehr hat.“

     „Immer die liebenswürdige Frau.“

     „Keine Schmeicheleien. Und dann, diese Hüte sind wichtig. Ich nehm es als eine Fügung, daß Sie da gerade hinzukommen; Sie sollen entscheiden. Wir haben freilich schon Lizzis Meinung angerufen, aber Lizzi ist zu diplomatisch; Sie sind Soldat und müssen mehr Mut haben; Armgard sprich auch; du bist nicht mehr jung genug, um noch ewig die Verlegene zu spielen. Ich bin sonst gegen alle Gutachten, namentlich in Prozeßsachen (ich weiß ein Lied davon zu singen) aber ein Gutachten von Ihnen, da laß ich all meine Bedenken fallen. Außerdem bin ich für Autoritäten, und wenn es überhaupt Autoritäten in Sachen von Geschmack und Mode giebt, wo wären sie besser zu finden als im Regiment Ihrer Kaiserlich Königlichen Majestät von Großbritannien und Indien? Irland laß ich absichtlich fallen und nehme lieber Indien, woher aller gute Geschmack [144] kommt, alle alte Kultur, alle Shawls und Teppiche, Buddha und die weißen Elefanten. Also antreten, Armgard; du natürlich an den rechten Flügel, denn du bist größer. Und nun, lieber Stechlin, wie finden Sie uns?“

     „Aber meine Damen…“

     „Keine Feigheiten. Wie finden Sie uns?“

     „Unendlich nett.“

     „Nett? Verzeihen Sie, Stechlin, nett ist kein Wort. Wenigstens kein nettes Wort. Oder wenigstens ungenügend.“

     „Also schlankweg entzückend.“

     „Das ist gut. Und zur Belohnung die Frage: wer ist entzückender?“

     „Aber Frau Gräfin, das ist ja die reine Geschichte mit dem seligen Paris. Bloß, er hatte es viel leichter, weil es drei waren. Aber zwei. Und noch dazu Schwestern.“

     „Wer? Wer?“

     „Nun, wenn es denn durchaus sein muß, Sie, gnädigste Frau.“

     „Schändlicher Lügner. Aber wir behalten diese zwei Hüte. Lizzi, gieb all das andre zurück. Und Jeserich soll die Lampen bringen; draußen ein Streifen Abendrot und hier drinnen ein verglimmendes Feuer, – das ist denn doch zu wenig oder, wenn man will, zu gemütlich.“

     Die Lampen hatten draußen schon gebrannt, so daß sie gleich da waren.

     „Und nun schließen Sie die Balkonthür, Jeserich, und sagen Sie’s Papa, daß der Herr Rittmeister gekommen. Papa ist nicht gut bei Wege, wieder die neuralgischen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da sind, so thut er ein übriges. Sie wissen, Sie sind sein [145] Verzug. Man weiß immer, wenn man Verzug ist. Ich wenigstens hab’ es immer gewußt.“

     „Das glaub’ ich.“

     „Das glaub’ ich! Wie wollen Sie das erklären?“

     „Einfach genug, gnädigste Gräfin. Jede Sache will gelernt sein. Alles ist schließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ‚Verzug oder Nichtverzug‘ praktisch näherzutreten.“

     „Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, sage dem Herrn von Stechlin (ich persönlich getraue mich’s nicht), daß wir in einer halben Stunde fort müssen, Opernhaus, ‚Tristan und Isolde‘. Was sagen Sie dazu? Nicht zu Tristan und Isolde, nein zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen, im selben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich seh’ es Ihnen an, Sie kamen nicht so bloß um ‚five o’clock tea’s‘ willen, Sie hatten es besser mit uns vor. Sie wollten bleiben…“

     „Ich bekenne…“

     „Also getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie großmütig sind und Verzeihung üben, versprechen Sie, daß wir Sie bald wiedersehen, recht, recht bald. Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es Jeserich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, – dem Papa werd’ ich sagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub ober sonst was.“

* * *

     Während Woldemar nach diesem abschließenden Gespräch mit Melusine die Treppe hinabstieg und auf den nächsten Droschkenstand zuschritt, saß der alte Graf in seinem Zimmer und sah, den rechten Fuß auf einen Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenster auf den Abendhimmel. [146] Er liebte diese Dämmerstunde, drin er sich nicht gerne stören ließ (am wenigsten gern durch vorzeitig gebrachtes Licht), und als Jeserich, der das alles wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu bringen, sondern nur um ein paar Kohlen aufzuschütten.

     „Wer war denn da, Jeserich?“

     „Der Herr Rittmeister.“

     „So, so. Schade, daß er nicht geblieben ist. Aber freilich, was soll er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht interessanter. Armgard und nun gar erst Melusine, ja, da geht es, da redet sich’s schon besser, und das wird der Rittmeister wohl auch finden. Aber so viel ist richtig, ich spreche gern mit ihm; er hat so was Ruhiges und Gesetztes und immer schlicht und natürlich. Meinst du nicht auch?“

     Jeserich nickte.

     „Und glaubst du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er was vorhat?“

     „Glaub’ ich auch, Herr Graf.“

     „Na, was glaubst du?“

     „Gott, Herr Graf…“

     „Ja, Jeserich, du willst nicht ’raus mit der Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkst du dir die Sache?“

     Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen nichts übrig blieb, als seinerseits fortzufahren. „Natürlich paßt Armgard besser, weil sie jung ist; es ist so mehr das richtige Verhältnis, und überhaupt, Armgard ist sozusagen dran. Aber, weiß der Teufel, Melusine…“

     „Freilich, Herr Graf.“

     „Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die. Wie denkst du dir nun [147] den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen? Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?“

     „Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie – vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das is all eins. Mit unsrer Lizzi is es gerad’ ebenso wie mit Gräfin Melusine. Wenn man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn is es wieder so. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe sie selig, die sagte auch immer: ‚Ja, Jeserich, was du dir bloß denkst; wir sind eben ein Rätsel.‘ Ach Gott, sie war ja man einfach, aber das können Sie mir glauben, Herr Graf, so sind sie alle.“

     „Hast ganz recht, Jeserich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an. Und ich freue mich, daß du das auch so scharf aufgefaßt hast. Du bist überhaupt ein Menschenkenner. Wo du’s bloß her hast? Du hast so was von ’nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?“

     „Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu thun hat und immer Silber putzen muß.“

     „Ja, Jeserich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht frei machen…“

     „Nein, so mein’ ich es ja auch nich, Herr Graf, und bin ja auch fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, ‚man gehört so halb wie mit dazu‘, – dafür bin ich. Und manche sollen ja auch halb mit dazu gehören… Aber ein bißchen anstrengend is es doch mitunter, und man is doch am Ende auch ein Mensch…“

     „Na höre, Jeserich, das hab’ ich dir doch noch nicht abgesprochen.“

     „Nein, nein, Herr Graf. Gott, man sagt so was bloß. Aber ein bißchen is es doch damit…“