Der Stechlin/Dreizehntes Kapitel
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Aber was war „recht bald“? Er rechnete hin und her und fand, daß der dritte Tag dem etwa entsprechen würde; das war „recht bald“ und doch auch wieder nicht zu früh. Und so ging er denn, als der Abend dieses dritten Tages da war, auf die Hallische Brücke zu, wartete hier die Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer- und Brandenburgerthor vorüber, bis an jene sonderbare Reichstagsuferstelle, wo, von mächtiger Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, riesiges Kaffeemädchen mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippschen Malzkaffee zu präsentieren. An dieser echt berlinisch-pittoresken Ecke stieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an das Kronprinzenufer zu Fuß zurückzulegen. Es war gegen acht, als er in dem Barbyschen Hause die mit Teppich überdeckte Marmortreppe hinauf stieg und die Klingel zog. Im selben Augenblick, wo Jeserich öffnete, sah Woldemar an des Alten verlegenem Gesicht, daß die Damen aller Wahrscheinlichkeit nach wieder nicht zu Hause waren. Aber eine Verstimmung darüber durfte [161] nicht aufkommen, und so ließ er es geschehen, daß Jeserich ihn bei dem alten Grafen meldete. „Der Herr Graf lassen bitten.“ Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder mal von Neuralgie Geplagten ein, der ihm, auf einen dicken Stock gestützt, unter freundlichem Gruß entgegenkam. „Aber Herr Graf,“ sagte Woldemar und nahm des alten Herrn linken Arm, um ihn bis an seinen Lehnstuhl und eine für den kranken Fuß zurechtgemachte Stellage zurückzuführen. „Ich fürchte, daß ich störe.“ „Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hoch willkommen. Außerdem hab’ ich strikten Befehl, Sie, coûte que coûte, festzuhalten; Sie wissen, Damen sind groß in Ahnungen, und bei Melusine hat es schon geradezu was Prophetisches.“ Woldemar lächelte. „Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn daß sie nun schließlich doch gegangen ist (natürlich zu den Berchtesgadens), ist ein Beweis, daß sie sich und ihrer Prophetie doch auch wieder einigermaßen mißtraute. Aber man ist immer nur klug und weise für andre. Die Doktors machen es ebenso; wenn sie sich selber behandeln sollen, wälzen sie die Verantwortung von sich ab und sterben lieber durch fremde Hand. Aber was sprech’ ich nur immer von Melusine. Freilich, wer in unserm Hause so gut Bescheid weiß wie Sie, wird nichts Überraschliches darin finden. Und zugleich wissen Sie, wie’s gemeint ist. Armgard ist übrigens in Sicht; keine zehn Minuten mehr, so werden wir sie hier haben.“ „Ist sie mit bei der Baronin?“ „Nein, Sie dürfen sie nicht so weit suchen. Armgard ist in ihrem Zimmer, und Doktor Wrschowitz ist bei ihr. Es kann aber nicht lange mehr dauern.“ „Aber ich bitte Sie, Herr Graf, ist die Comtesse krank?“ „Gott sei Dank, nein. Und Wrschowitz ist auch kein [162] Medizindoktor, sondern ein Musikdoktor. Sie haben von ihm rein zufällig noch nicht gehört, weil erst vorige Woche, nach einer langen, langen Pause, die Musikstunden wieder aufgenommen wurden. Er ist aber schon seit Jahr und Tag Armgards Lehrer.“ „Musikdoktor? Giebt es denn die?“ „Lieber Stechlin, es giebt alles. Also natürlich auch das. Und so sehr ich im ganzen gegen die Doktorhascherei bin, so liegt es hier doch so, daß ich dem armen Wrschowitz seinen Musikdoktor gönnen oder doch mindestens verzeihen muß. Er hat den Titel auch noch nicht lange.“ „Das klingt ja fast wie ’ne Geschichte.“ „Trifft auch zu. Können Sie sich denken, daß Wrschowitz aus einer Art Verzweiflung Doktor geworden ist?“ „Kaum. Und wenn kein Geheimnis…“ „Durchaus nicht; nur ein Kuriosum. Wrschowitz hieß nämlich bis vor zwei Jahren, wo er als Klavierlehrer, aber als ein höherer (denn er hat auch eine Oper komponiert), in unser Haus kam, einfach Niels Wrschowitz, und er ist bloß Doktor geworden, um den Niels auf seiner Visitenkarte los zu werden.“ „Und das ist ihm auch geglückt?“ „Ich glaube ja, wiewohl es immer noch vorkommt, daß ihn einzelne ganz wie früher Niels nennen, entweder aus Zufall oder auch wohl aus Schändlichkeit. In letzterem Falle sind es immer Kollegen. Denn die Musiker sind die boshaftesten Menschen. Meist denkt man, die Prediger und die Schauspieler seien die schlimmsten. Aber weit gefehlt. Die Musiker sind ihnen über. Und ganz besonders schlimm sind die, die die sogenannte heilige Musik machen.“ „Ich habe dergleichen auch schon gehört,“ sagte Woldemar. „Aber was ist das nur mit Niels? Niels ist doch an und für sich ein hübscher und ganz harmloser Name. Nichts Anzügliches drin.“ [163] „Gewiß nicht. Aber Wrschowitz und Niels! Er litt, glaub’ ich, unter diesem Gegensatz.“ Woldemar lachte. „Das kenn’ ich. Das kenn’ ich von meinem Vater her, der Dubslav heißt, was ihm auch immer höchst unbequem war. Und da reichen wohl nicht hundertmal, daß ich ihn wegen dieses Namens seinen Vater habe verklagen hören.“ „Genau so hier,“ fuhr der Graf in seiner Erzählung fort. „Wrschowitz’ Vater, ein kleiner Kapellmeister an der tschechisch-polnischen Grenze, war ein Niels Gade-Schwärmer, woraufhin er seinen Jungen einfach Niels taufte. Das war nun wegen des Kontrastes schon gerade bedenklich genug. Aber das eigentlich Bedenkliche kam doch erst, als der allmählich ein scharfer Wagnerianer werdende Wrschowitz sich zum direkten Niels Gade-Verächter ausbildete. Niels Gade war ihm der Inbegriff alles Trivialen und Unbedeutenden, und dazu kam noch, wie Amen in der Kirche, daß unser junger Freund, wenn er als ‚Niels Wrschowitz‘ vorgestellt wurde, mit einer Art Sicherheit der Phrase begegnete: ‚Niels? Ah, Niels. Ein schöner Name innerhalb unsrer musikalischen Welt. Und hoch erfreulich, ihn hier zum zweitenmale vertreten zu sehen.‘ All das konnte der arme Kerl auf die Dauer nicht aushalten, und so kam er auf den Gedanken, den Vornamen auf seiner Karte durch einen Doktortitel weg zu eskamotieren.“ Woldemar nickte. „Jedenfalls, lieber Stechlin, ersehen Sie daraus zur Genüge, daß unser Wrschowitz, als richtiger Künstler, in die Gruppe gens irrtabilis gehört, und wenn Armgard ihn vielleicht aufgefordert haben sollte, zum Thee zu bleiben, so bitt’ ich Sie herzlich, dieser Reizbarkeit eingedenk zu sein. Wenn irgend möglich, vermeiden Sie Beziehungen auf die ganze skandinavische Welt, besonders aber auf Dänemark direkt. Er wittert überall Verrat. Übrigens, wenn man auf seiner Hut ist, ist er ein feiner und gebildeter [164] Mann. Ich hab’ ihn eigentlich gern, weil er anders ist wie andre.“ Der alte Graf behielt recht mit seiner Vermutung: Armgard hatte den Doktor Wrschowitz aufgefordert zu bleiben, und als bald danach Jeserich eintrat, um den Grafen und Woldemar zum Thee zu bitten, fanden diese beim Eintritt in das Mittelzimmer nicht nur Armgard, sondern auch Wrschowitz vor, der, die Finger ineinander gefaltet, mitten in dem Salon stand und die an der Büffettwand hängenden Bilder mit jenem eigentümlichen Mischausdruck von aufrichtigem Gelangweiltsein und erkünsteltem Interesse musterte. Der Rittmeister hatte dem Grafen wieder seinen Arm geboten; Armgard ging auf Woldemar zu und sprach ihm ihre Freude aus, daß er gekommen; auch Melusine werde gewiß bald da sein; sie habe noch zuletzt gesagt: „Du sollst sehen, heute kommt Stechlin.“ Danach wandte sich die junge Comtesse wieder Wrschowitz zu, der sich eben in das von Hubert Herkomer gemalte Bild der verstorbenen Gräfin vertieft zu haben schien, und sagte, gegenseitig vorstellend: „Doktor Wrschowitz, Rittmeister von Stechlin.“ Woldemar, seiner Instruktion eingedenk, verbeugte sich sehr artig, während Wrschowitz, ziemlich ablehnend, seinem Gesicht den stolzen Doppelausdruck von Künstler und Hussiten gab. Der alte Graf hatte mittlerweile Platz genommen, entschuldigte sich, mit der unglücklichen Stellage beschwerlich fallen zu müssen, und bat die beiden Herren, sich neben ihm niederzulassen, während Armgard, dem Vater gegenüber, an der andern Schmalseite des Tisches saß. Der alte Graf nahm seine Tasse Thee, schob den Cognac, „des Thees bessren Teil,“ mit einem humoristischen Seufzer beiseit und sagte, während er sich links zu Wrschowitz wandte: „Wenn ich recht gehört habe, – so ein bißchen [165] von musikalischem Ohr ist mir geblieben –, so war es Chopin, was Armgard zu Beginn der Stunde spielte…“ Wrschowitz verneigte sich. „Chopin, für den ich eine Vorliebe habe, wie für alle Polen, vorausgesetzt, daß sie Musikanten oder Dichter oder auch Wissenschaftsmenschen sind. Als Politiker kann ich mich mit ihnen nicht befreunden. Aber vielleicht nur deshalb nicht, weil ich Deutscher und sogar Preuße bin.“ „Sehr warr, sehr warr,“ sagte Wrschowitz, mehr gesinnungstüchtig als artig. „Ich darf sagen, daß ich für polnische Musiker, von meinen frühesten Leutnantstagen an, eine schwärmerische Vorliebe gehabt habe. Da gab es unter anderm eine Polonaise von Oginski, die damals so regelmäßig und mit so viel Passion gespielt wurde, wie später der Erlkönig oder die Glocken von Speier. Es war auch die Zeit vom ‚Alten Feldherrn‘ und von ‚Denkst du daran, mein tapferer Lagienka‘.“ „Jawohl, Herr Graff, eine schlechte Zeit. Und warr mir immerdarr eine besondere Lust zu sehen, wie das Sentimentalle wieder fällt. Immer merr, immer merr. Ich hasse das Sentimentalle de tout mon cœur.“ „Worin ich,“ sagte Woldemar, „Herrn Doktor Wrschowitz durchaus zustimme. Wir haben in der Poesie genau dasselbe. Da gab es auch dergleichen, und ich bekenne, daß ich als Knabe für solche Sentimentalitäten geschwärmt habe. Meine besondere Schwärmerei war ,König Renés Tochter‘ von Henrik Hertz, einem jungen Kopenhagener, wenn ich nicht irre…“ Wrschowitz verfärbte sich, was Woldemar, als er es wahrnahm, zu sofortigem raschen Einlenken bestimmte. „…König Renés Tochter, ein lyrisches Drama. Aber schon seit lange wieder vergessen. Wir stehen jetzt im Zeichen von Tolstoi und der Kreuzersonate.“ „Sehr warr, sehr warr,“ sagte der rasch wieder beruhigte [166] Wrschowitz und nahm nur noch Veranlassung, energisch gegen die Mischung von Kunst und Sektierertum zu protestieren. Woldemar, großer Tolstoischwärmer, wollte für den russischen Grafen eine Lanze brechen, aber Armgard, die, wenn derartige Themata berührt wurden, der Salonfähigkeit ihres Freundes Wrschowitz arg mißtraute, war sofort aufrichtig bemüht, das Gespräch auf harmlosere Gebiete hinüberzuspielen. Als ein solches friedeverheißendes Gebiet erschien ihr in diesem Augenblicke ganz eminent die Grafschaft Ruppin, aus deren abgelegenster Nordostecke Woldemar eben wieder eingetroffen war, und so sprach sie denn gegen diesen den Wunsch aus, ihn über seinen jüngsten Ausflug einen kurzen Bericht erstatten zu sehen. „Ich weiß wohl, daß ich meiner Schwester Melusine (die voll Neugier und Verlangen ist, auch davon zu hören) einen schlechten Dienst damit leiste; Herr von Stechlin wird es aber nicht verschmähen, wenn meine Schwester erst wieder da ist, darauf zurückzukommen. Es braucht ja, wenn man plaudert, nicht alles absolut neu zu sein. Man darf sich wiederholen. Papa hat auch einzelnes, das er öfter erzählt.“ „Einzelnes?“ lachte der alte Graf, „meine Tochter Armgard meint ,vieles‘.“ „Nein, Papa, ich meine einzelnes. Da giebt es denn doch ganz andre, zum Beispiel unser guter Baron. Und die Baronin sieht auch immer weg, wenn er anfängt. Aber lassen wir den Baron und seine Geschichten, und hören wir lieber von Herrn von Stechlins Ausfluge. Doktor Wrschowitz teilt gewiß meinen Geschmack.“ „Teile vollkommen.“ „Also, Herr von Stechlin,“ fuhr Armgard fort. „Sie haben nach diesen Erklärungen unsers Freundes Wrschowitz einen freundlichen Zuhörer mehr, vielleicht sogar einen begeisterten. Auch für Papa möcht ich mich [167] verbürgen. Wir sind ja eigentlich selber märkisch oder doch beinah’ und wissen trotzdem so wenig davon, weil wir immer draußen waren. Ich kenne wohl Saatwinkel und den Grunewald, aber das eigentliche brandenburgische Land, das ist doch noch etwas andres. Es soll alles so romantisch sein und so melancholisch, Sand und Sumpf und im Wasser ein paar Binsen oder eine Birke, dran das Laub zittert. Ist Ihre Ruppiner Gegend auch so?“ „Nein, Comtesse, wir haben viel Wald und See, die sogenannte mecklenburgische Seenplatte.“ „Nun das ist auch gut. Mecklenburg, wie mir die Berchtesgadens erst neulich versichert haben, hat auch seine Romantik.“ „Sehr warr. Habe gelesen Stromtid und habe gelesen Franzosentid…“ „Und dann glaub ich auch zu wissen,“ fuhr Armgard fort, „daß Sie Rheinsberg ganz in der Nähe haben. Ist es richtig. Und kennen Sie’s? Es soll so viel Interessantes bieten. Ich erinnere mich seiner aus meinen Kindertagen her, trotzdem wir damals in London lebten. Oder vielleicht auch gerade deshalb. Denn es war die Zeit, wo das Carlylesche Buch über Friedrich den Großen immer noch in Mode war, und wo’s zum Guten Ton gehörte, sich nicht bloß um die Terrasse von Sanssouci zu kümmern, sondern auch um Rheinsberg und den Orden de la générosité. Lebt das alles noch da? Spricht das Volk noch davon?“ „Nein, Comtesse, das ist alles fort. Und überhaupt, von dem großen König spricht im Rheinsbergischen niemand mehr, was auch kaum anders sein kann. Der große König war als Kronprinz nur kurze Zeit da, sein Bruder Heinrich aber fünfzig Jahre. Und so hat die Prinz-Heinrichzeit beklagenswerterweise die Kronprinzenzeit ganz erdrückt. Aber beklagenswert doch nicht in allem. Denn [168] Prinz Heinrich war auch bedeutend und vor allem sehr kritisch. Was doch immer ein Vorzug ist.“ „Sehr warr, sehr warr,“ unterbrach hier Wrschowitz. „Er war sehr kritisch,“ wiederholte Woldemar. „Namentlich auch gegen seinen Bruder, den König. Und die Malcontenten, deren es auch damals schon die Hülle und Fülle gab, waren beständig um ihn herum. Und dabei kommt immer was heraus.“ „Sehr warr, sehr warr…“ „Denn zufriedene Hofleute sind allemal öd und langweilig, aber die Frondeurs, wenn die den Mund aufthun, da kann man was hören, da thut sich einem was auf.“ „Gewiß,“ sagte Armgard. „Aber trotzdem, Herr von Stechlin, ich kann das Frondieren nicht leiden. Frondeur ist doch immer nur der gewohnheitsmäßig Unzufriedene, und wer immer unzufrieden ist, der taugt nichts. Immer Unzufriedene sind dünkelhaft und oft boshaft dazu, und während sie sich über andre lustig machen, lassen sie selber viel zu wünschen übrig.“ „Sehr warr, sehr warr, gnädigste Comtesse,“ verbeugte sich Wrschowitz. „Aber, wollen verzeihn, Comtesse, wenn ich trotzdem bin für Frondeur. Frondeur ist Krittikk, und wo Guttes sein will, muß sein Krittikk. Deutsche Kunst viel Krittikk. Erst muß sein Kunst, gewiß, gewiß, aber gleich danach muß sein Krittikk. Krittikk ist wie große Revolution. Kopf ab aus Prinzipp. Kunst muß haben ein Prinzipp. Und wo Prinzipp is, is Kopf ab.“ Alles schwieg, so daß dem Grafen nichts übrig blieb, als etwas verspätet seine halbe Zustimmung auszudrücken. Armgard ihrerseits beeilte sich, auf Rheinsberg zurückzukommen, das ihr trotz des fatalen Zwischenfalls mit „Kopf ab“, im Vergleich zu vielleicht wiederkehrenden Musikgesprächen, immer noch als wenigstens ein Nothafen erschien. [169] „Ich glaube,“ sagte sie, „neben manchem andern auch mal von der Frauenfeindschaft des Prinzen gehört zu habe. Er soll – irre ich mich, so werden Sie mich korrigieren – ein sogenannter Misogyne gewesen sein. Etwas durchaus Krankhaftes in meinen Augen oder doch mindestens etwas sehr Sonderbares.“ „Sehr sonderbarr,“ sagte Wrschowitz, während sich, unter huldigendem Hinblick auf Armgard, sein Gesicht wie verklärte. „Wie gut, lieber Wrschowitz,“ fuhr Armgard fort, „daß Sie, mein Wort bestätigend, für uns arme Frauen und Mädchen eintreten. Es giebt immer noch Ritter, und wir sind ihrer so sehr benötigt. Denn wie mir Melusine erzählt hat, sind die Weiberfeinde sogar stolz darauf, Weiberfeinde zu sein, und behandeln ihr Denken und Thun als eine höhere Lebensform. Kennen Sie solche Leute, Herr von Stechlin? Und wenn Sie solche Leute kennen, wie denken Sie darüber?“ „Ich betrachte sie zunächst als Unglückliche.“ „Das ist recht.“ „Und zum zweiten als Kranke. Der Prinz, wie Comtesse schon ganz richtig ausgesprochen haben, war auch ein solcher Kranker.“ „Und wie äußerte sich das? Oder ist es überhaupt nicht möglich, über das Thema zu sprechen?“ „Nicht ganz leicht, Comtesse. Doch in Gegenwart des Herrn Grafen und nicht zu vergessen auch in Gegenwart von Doktor Wrschowitz, der so schön und ritterlich gegen die Misogynität Partei genommen, unter solchem Beistande will ich es doch wagen.“ „Nun, das freut[WS 1] mich. Denn ich brenne vor Neugier.“ „Und will auch nicht länger ängstlich um die Sache herumgehen. Unser Rheinsberger Prinz war ein richtiger Prinz aus dem vorigen Jahrhundert. Die jetzigen sind [170] Menschen; die damaligen waren nur Prinzen. Eine der Passionen unsers Rheinsberger Prinzen – wenn man will, in einer Art Gegensatz von dem, was schon gesagt wurde – war eine geheimnisvolle Vorliebe für jungfräuliche Tote, besonders Bräute. Wenn eine Braut im Rheinsbergischen, am liebsten auf dem Lande, gestorben war, so lud er sich zu dem Begräbnis zu Gast. Und eh’ der Geistliche noch da sein konnte (den vermied er), erschien er und stellte sich an das Fußende des Sarges und starrte die Tote an. Aber sie mußte geschminkt sein und aussehen wie das Leben.“ „Aber das ist ja schrecklich,“ brach es beinahe leidenschaftlich aus Armgard hervor. „Ich mag diesen Prinzen nicht und seine ganze Fronde nicht. Denn die müssen ebenso gewesen sein. Das ist ja Blasphemie, das ist ja Gräberschändung, – ich muß das Wort aussprechen, weil ich so empört bin und nicht anders kann.“ Der alte Graf sah die Tochter an, und ein Freudenstrahl umleuchtete sein gutes altes Gesicht. Auch Wrschowitz empfand so was von unbedingter Huldigung, bezwang sich aber und sah, statt auf Armgard, auf das Bild der Gräfin-Mutter, das von der Wand niederblickte. Nur Woldemar blieb ruhig und sagte: „Comtesse, Sie gehen vielleicht zu weit. Wissen Sie, was in der Seele des Prinzen vorgegangen ist? Es kann etwas Infernales gewesen sein, aber auch etwas ganz andres. Wir wissen es nicht. Und weil er nebenher unbedingt große Züge hatte, so bin ich dafür, ihm das in Rechnung zu stellen.“ „Bravo, Stechlin,“ sagte der alte Graf. „Ich war erst Armgards Meinung. Aber Sie haben recht, wir wissen es nicht. Und so viel weiß ich noch von der Juristerei her, in der ich, wohl oder übel, eine Gastrolle gab, daß man in zweifelhaften Fällen in favorem entscheiden muß. Übrigens geht eben die Klingel. An bester [171] Stelle wird ein Gespräch immer unterbrochen. Es wird Melusine sein. Und so sehr ich gewünscht hätte, sie wäre von Anfang an mit dabei gewesen, wenn sie jetzt so mit einem Male dazwischen fährt, ist selbst Melusine eine Störung.“ Es war wirklich Melusine. Sie trat, ohne draußen abgelegt zu[WS 2] haben, ins Zimmer, warf das schottische Cape, das sie trug, in eine Sofa-Ecke und schritt, während sie noch den Hut aus dem Haare nestelte, bis an den Tisch, um hier zunächst den Vater, dann aber die beiden andern Herren zu begrüßen. „Ich seh’ euch so verlegen, woraus ich schließe, daß eben etwas Gefährliches gesagt worden ist. Also etwas über mich.“ „Aber, Melusine, wie eitel.“ „Nun, dann also nicht über mich. Aber über wen? Das wenigstens will ich wissen. Von wem war die Rede?“ „Vom Prinzen Heinrich. Aber von dem ganz alten, der schon fast hundert Jahre tot ist.“ „Da konntet Ihr auch was Besseres thun.“ „Wenn du wüßtest, was uns Stechlin von ihm erzählt hat, und daß er – nicht Stechlin, aber der Prinz – ein Misogyne war, so würdest du vielleicht anders sprechen.“ „Misogyne. Das freilich ändert die Sache. Ja, lieber Stechlin, da kann ich Ihnen nicht helfen, davon muß ich auch noch hören. Und wenn Sie mir’s abschlagen, so wenigstens was Gleichwertiges.“ „Gräfin Melusine, was Gleichwertiges giebt es nicht.“ „Das ist gut, sehr gut, weil es so wahr ist. Aber dann bitt’ ich um etwas zweiten Ranges. Ich sehe, daß Sie von Ihrem Ausfluge erzählt haben, von Ihrem Papa, von Schloß Stechlin selbst oder von Ihrem Dorf und Ihrer Gegend. Und davon möcht’ ich auch hören, wenn es auch freilich nicht an das andre heranreicht.“ „Ach, Gräfin, Sie wissen nicht, wie bescheiden es mit [172] unserm Stechliner Erdenwinkel bestellt ist. Wir haben da, von einem Pastor abgesehen, der beinah’ Sozialdemokrat ist, und des weiteren von einem Oberförster abgesehen, der eine Prinzessin, eine Ippe-Büchsenstein geheiratet hat…“ „Aber das ist ja alles großartig…“ „Wir haben da, von diesen zwei Sehenswürdigkeiten abgesehen, eigentlich nur noch den ‚Stechlin‘. Der ginge vielleicht, über den ließe sich vielleicht etwas sagen.“ „Den ‚Stechlin‘? Was ist das? Ich bin so glücklich, zu wissen“ (und sie machte verbindlich eine Handbewegung auf Woldemar zu) „ich bin so glücklich, zu wissen, daß es Stechline giebt. Aber der Stechlin! Was ist der Stechlin?“ „Das ist ein See.“ „Ein See. Das besagt nicht viel. Seen, wenn es nicht grade der Vierwaldstätter ist, werden immer erst interessant durch ihre Fische, durch Sterlet oder Felchen. Ich will nicht weiter aufzählen. Aber was hat der Stechlin? Ich vermute, Steckerlinge.“ „Nein, Gräfin, die hat er nun gerade nicht. Er hat genau das, was Sie geneigt sind am wenigsten zu vermuten. Er hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnisvolle Beziehungen, und nur alles Gewöhnliche, wie beispielsweise Steckerlinge, hat er nicht. Steckerlinge fehlen ihm.“ „Aber, Stechlin, Sie werden doch nicht den Empfindlichen spielen. Rittmeister in der Garde!“ „Nein, Gräfin. Und außerdem, den wollt’ ich sehen, der das Ihnen gegenüber zuwege brächte.“ „Nun dann also, was ist es? Worin bestehen seine vornehmen Beziehungen?“ „Er steht mit den höchsten und allerhöchsten Herrschaften, deren genealogischer Kalender noch über den Gothaischen hinauswächst, auf du und du. Und wenn es [173] in Java oder auf Island rumort oder der Geiser mal in Doppelhöhe dampft und springt, dann springt auch in unserm Stechlin ein Wasserstrahl auf, und einige (wenn es auch noch niemand gesehen hat), einige behaupten sogar, in ganz schweren Fällen erscheine zwischen den Strudeln ein roter Hahn und krähe hell und weckend in die Ruppiner Grafschaft hinein. Ich nenne das vornehme Beziehungen.“ „Ich auch,“ sagte Melusine. Wrschowitz aber, dessen Augen immer größer geworden waren, murmelte vor sich hin: „Sehr warr, sehr warr.“
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