Der Stechlin/Achtundzwanzigstes Kapitel

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Achtundzwanzigstes Kapitel.


     Am andern Morgen traf man sich beim Frühstück. Es war ziemlich spät geworden, ohne daß Dubslav, wie das sonst wohl auf dem Lande Gewohnheit ist, ungeduldig geworden wäre. Nicht dasselbe ließ sich von Tante Adelheid sagen. „Ich finde das lange Wartenlassen nicht gerade passend, am wenigsten Personen gegenüber, denen man Respekt bezeigen will. Oder geh’ ich vielleicht zu weit, wenn ich hier von Respektbezeigung spreche?“ So hatte sich Adelheid zu Dubslav geäußert. Als nun aber die Barbyschen Damen wirklich erschienen, bezwang sich die Domina und stellte all die Fragen, die man an solchem Begrüßungsmorgen zu stellen pflegt. In aller Unbefangenheit antworteten die Schwestern, am unbefangensten Melusine, die bei der Gelegenheit dem alten Dubslav erzählte, daß sie nicht umhin gekonnt hätte, sich die Bibel an ihr Bett zu legen.

     „Und mit der Absicht, drin zu lesen?“

     „Beinah’. Aber es wurde nichts daraus. Armgard plauderte so viel, freilich auf meinen Wunsch. Ich hörte von der Treppe her immer die Uhr schlagen und las dabei beständig das Wort ‚Museum‘. Aber das war natürlich schon im Traum. Ich schlief schon ganz fest. Und heute früh bin ich wie der Fisch im Wasser.“

     Dubslav hätte dies gern bestätigt, dabei nach einem Spezialfisch suchend, der so recht zum Vergleich für Melusine [343] gepaßt hätte. Die Blicke seiner Schwester aber, die zu fragen schienen „hast du gehört?“ ließen ihn wieder davon abstehn, und nachdem noch einiges über den großen Oberflur und seine Bilder und Schränke gesprochen worden war, wurde, genau wie vor einem Vierteljahr[WS 1], wo Rex und Czako zu Besuch da waren, ein Programm verabredet, das dem damaligen sehr ähnlich sah: Aussichtsturm, See, Globsow; dann auf dem Rückwege die Kirche, vielleicht auch Krippenstapel. Und zuletzt das „Museum.“ Aber manches davon war unsicher und hing vom Wetter ab. Nur den See wollte man unter allen Umständen sehn. Engelke wurde beauftragt, mit Plaids und Decken vorauszugehn und ein paar Leute zum Wegschaufeln des Schnees mitzunehmen, lediglich für den Fall, daß die Damen vielleicht Lust bezeigen sollten, die Sprudel- und Trichterstelle genauer zu studieren. „Und wenn wir auf unserm Hofe keine Leute haben, so geh’ ins Schulzenamt und bitte Rolf Krake, daß er aushilft.“

     Melusine, die dieser Befehlserteilung zugehört hatte, war überrascht, in einem märkischen Dorfe dem Namen „Rolf Krake“ zu begegnen, und erfuhr denn auch alsbald den Zusammenhang der Dinge. Sie war ganz enchantiert davon und sagte: „Das ist hübsch. Aller aufgesteifter Patriotismus ist mir ein Greuel, aber wenn er diese Formen annimmt und sich in Humor und selbst in Ironie kleidet, dann ist er das beste was man haben kann. Ein Mann, der solchen Beinamen hat, der lebt, der ist in sich eine Geschichte.“ Dubslav küßte ihr die Hand, Adelheid aber wandte sich demonstrativ ab; sie wollte nicht Zeuge dieser ewigen Huldigungen sein. „Wenn man ein alter Major ist, ist man eben ein alter Major und nicht ein junger Leutnant. Dubslav ist zwanzig, aber zwanzig Jahr a. D.“

     Es war gegen zehn, als man aufbrach, um zunächst auf den Aussichtsturm zu steigen, und nachdem man von [344] der obersten Etage her die Waldlandschaft, die sich auch in ihrem Schneeschmuck wundervoll ausnahm, gebührend bewundert und dann den Abstieg glücklich bewerkstelligt hatte, passierte man den Schloßhof mit der Glaskugel, um über den Dorfplatz fort in die nach dem See hinunterführende große Straße einzubiegen. Auf dem Dorfplatze war alles winterlich still, nur vor dem Kruge standen drei Menschen: Engelke, der die Schneeschipper vorausgeschickt hatte, mit seinen Plaids über den Arm, neben ihm Schulze Kluckhuhn und neben diesem Gendarm Uncke, das Karabinergewehr über die Schulter gehängt.

     „Da treffen wir ja die ganze hohe Obrigkeit,“ sagte Dubslav. „Engelke kann ich auch mitrechnen, der regiert mich, is also eigentlich die Feudalitätsspitze.“

     Während dieser Worte waren die Herrschaften an die Gruppe herangetreten.

     „Freut mich, daß ich Sie treffe, Kluckhuhn. Ich denke Sie begleiten uns… Frau Gräfin, darf ich Ihnen hier unsern Dorfherrscher vorstellen? Schulze Kluckhuhn, alter Vierundsechziger.“

     Und nun ordnete sich der Zug. Dubslav und Uncke schlossen ab, Woldemar, Armgard und Tante Adelheid hielten die Mitte; Melusine schritt voran, Rolf Krake neben ihr.

     „Ich bin froh,“ sagte Melusine, „Sie bei dieser Partie mit dabei zu sehn. Der alte Herr von Stechlin hat mir schon von Ihnen erzählt und daß Sie vierundsechzig mit dabei gewesen. Und ich weiß auch Ihren Namen; das heißt den zweiten. Und ich darf sagen, ich freue mich immer, wenn ich so was Hübsches höre.“

     „Ach, Rolf Krake,“ lachte Kluckhuhn. „Ja, Frau Gräfin, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen. Das heißt, von ‚Schaden‘ darf ich eigentlich nicht reden, den hab’ ich nicht so recht davon gehabt; ich bin [345] nicht mal angeschossen worden. Und doch is so was billig, wenn’s erst losgeht.“

     „Ja, Schulze Kluckhuhn, unsereinem ist so was leider immer verschlossen oder, wie die Leute hier sagen, verpurrt. Und doch ist das das eigentliche Leben. So immer bloß einsitzen und ein bißchen Charpie zupfen, das ist gar nichts. Mit dabei sein, das macht glücklich. Es war aber trotzdem wohl ein eigenes Gefühl, als Sie da so von Düppel nach Alsen ’rüberfuhren und das unheimliche Schiff, der Rolf Krake, so dicht daneben lag.“

     „Ja, das war es, Frau Gräfin, ein ganz eigenes Gefühl. Und mitunter erscheint mir der Rolf Krake noch im Traum. Un is auch nicht zu verwundern. Denn Rolf Krake war wie ein richtiges Gespenst. Und wenn solch Gespenst einen packt, ja, da ist man weg…. Und dabei bleib’ ich, Frau Gräfin, sechsundsechzig war nicht viel und siebzig war auch nicht viel.“

     „Aber die großen Verluste…“

     „Ja, die Verluste waren groß, das ist richtig. Aber Verluste, Frau Gräfin, das is eigentlich gar nichts. Natürlich wen es trifft, für den is es was. Aber ich meine jetzt das, was man dabei so das Moralische nennt; und darauf kommt es an, nicht auf die Verluste, nicht auf viel oder wenig. Wenn einer eine Böschung ’rauf klettert und nu steht er oben und schleicht sich ’ran, immer mit ’nem Pulversack und ’nem Zünder in der Hand und nu legt er an und nu fliegt alles in die Luft und er mit. Und nu ist die Festung oder die Schanze offen. Ja, Frau Gräfin, das ist was. Und das hat unser Pionier Klinke gethan. Der war moralisch. Ich weiß nicht, ob Frau Gräfin mal von ihm ’gehört haben, aber dafür leb’ ich und sterb’ ich: immer bloß das Kleine, da zeigt sich’s, was einer kann. Wenn ein Bataillon ’ran muß un ich stecke mitten drin, ja, was will ich da machen? Da muß ich [346] mit. Und baff, da lieg’ ich. Und nu bin ich ein Held. Aber eigentlich bin ich keiner. Es ist alles bloß ‚Muß‘ und solche Mußhelden giebt es viele. Das is, was ich die großen Kriege nenne. Klinke mit seinem Pulversack, ja, der war bloß was Kleines, aber er war doch groß. Und ebenso (wenn er auch unser Feind war) dieser Rolf Krake.“

     So ging historisch-retrospektiv das Gespräch an der Tete, während Dubslav und Uncke, die den Zug abschlossen, mit ihrem Thema mehr in der Gegenwart standen.

     „Is mir lieb, Uncke, Sie mal wieder zu treffen. Seit Rheinsberg hab’ ich Sie nicht mehr gesehn. Ich denke mir, Torgelow is nu wohl schon im besten Gange. So wie Bebel. Ich kriege natürlich jeden Tag meine Zeitung, aber es is mir immer zu viel und das große Format und das dünne Papier. Da kuck’ ich denn nich immer ganz genau zu. Hat er denn schon gesprochen?“

     „Ja, Herr Major, gesprochen hat er schon. Aber nich viel. Un war auch kein rechter Beifall. Auch nich mal bei seinen eignen Leuten.“

     „Er wird wohl die Sache noch nicht recht weg haben. Ich meine das, was sie jetzt das Parlamentarische nennen. Das schad’t aber nichts und ist eigentlich egal. Wichtiger is, wie sie hier in unserm Ruppiner Winkel, in unserm Rheinsberg-Wutz über ihn denken. Sind sie denn da mit ihm zufrieden?“

     „Auch nicht, Herr Major. Sie sagen, er sei zweideutig.“

     „Ja, Uncke, so heißt es überall. Das is nu mal so, das is nicht zu ändern. In Frankreich heißt es immer gleich ‚Verrat‘ und hier sagen sie ‚zweideutig‘. Da war auch einer von uns, den ich nicht nennen will, von dem hieß es auch so…“

     „Von dem hieß es auch so. Ja, Herr Major. Und Pyterke, der immer gut Bescheid weiß, der sagte mir schon [347] damals in Rheinsberg: ‚Uncke, glauben Sie mir, da hat sich der Herr Major eine Schlange an seinem Busen groß gezogen.‘ “

     „Kann ich mir denken; klingt ganz nach Pyterke. Der spricht immer so gebildet. Aber is es auch richtig?“

     „Is schon richtig, Herr Major. Herr Major denken immer das Gute von ’nem Menschen, weil Sie so viel zu Hause sitzen und selber so sind. Aber wer so ’rum kommt wie ich. Alle lügen sie. Was sie meinen, das sagen sie nich und was sie sagen, das meinen sie nich. Is kein Verlaß mehr; alles zweideutig.“

     „Ja, so rund ’raus, Uncke, das war früher, aber das geht jetzt nicht mehr. Man darf keinem so alles auf die Nase binden. Das is eben, was sie jetzt ‚politisches Leben‘ nennen.“

     „Ach, Herr Major, das mein’ ich ja gar nicht. Das Politische… Jott, wenn einer sich ins Politische zweideutig macht, na, dann muß ich ihn anzeigen, das is Dienst. Darum gräm’ ich mich aber nich. Aber was nich Dienst is, was man so bloß noch nebenbei sieht, das kann einen mitunter leid thun. So bloß als Mensch.“

     „Aber, lieber Uncke, was is denn eigentlich los? Wenn man Sie so hört, da sollte man ja wahrhaftig glauben, es ginge zu Ende… Nu ja, in der Welt draußen da klappt nich immer alles. Aber so im Schoß der Familie…“

     „Jott, Herr Major, das is es ja eben. In diesem Schoß der Familie, da is es ja gerad’ am schlimmsten. Und sogar in dem jüdischen Schoß, der doch immer noch der beste war.“

     „Beispiele, Uncke, Beispiele.“

     „Da haben wir nu hier, um bloß ein Beispiel zu geben, unsern guten alten Baruch Hirschfeld in Gransee. Frommer alter Jude…“

     „Kenn’ ich. Kenn’ ich ganz gut, beinah’ zu gut. [348] Nu, der hat ’nen Sohn und mit dem is er mitunter verschiedner Meinung. Aber dagegen is doch nicht viel zu sagen; das is in der ganzen Welt so. Der Alte hängt noch am Alten und der Junge, nu, der is eben ein Jungscher und bramarbasiert ein bißchen. Ich weiß nicht recht, zu welcher Partei er sich hält, er wird aber wohl für Torgelow gestimmt haben. Nu, mein Gott, warum nicht? Das thun jetzt viele. Daran muß man sich gewöhnen. Das is eben das Politische.“

     „Nein, Herr Major. Herr Major wollen verzeihn, aber bei diesem Isidor is es nicht das Politische. Komme ja jeden dritten Tag hin und seh’ den Alten in seinem Laden und höre, was er da redt und redt. Und der Junge redt auch und redt immer ‚von’s Prinzip‘. Das Prinzip is ihm aber egal. Er will bloß mogeln und den Alten an die Wand drücken. Und das ist das, was ich das Zweideutige nenne.“

* * *

     Armgard, Woldemar und Tante Adelheid hatten die Mitte genommen. Als sie bis in die Nähe der Seespitze gekommen waren, immer unter einem verschneiten Buchen- und Eichengange hin, wurden sie durch ein Geräusch wie von brechenden kleinen Ästen aufmerksam gemacht, und ihr Auge nach oben richtend, gewahrten sie, wie zwei Eichhörnchen über ihnen spielten und in beständigem Sichhaschen von Baum zu Baum sprangen. Die Zweige knickten, und der Schnee stäubte hernieder. Armgard mochte sich von dem Schauspiel nicht trennen, lachte, wenn die momentan verschwundenen Tierchen mit einem Male wieder zum Vorschein kamen und gab ihre Beobachtung erst auf, als die Domina, nicht direkt unfreundlich, aber doch ziemlich ungeduldig und jedenfalls wie gelangweilt, zu ihr bemerkte: „Ja, Comtesse, die springen; es sind eben Eichhörnchen.“ Einige Minuten später hatten alle die [349] Bank erreicht, von der aus man den besten Blick auf den zugefrorenen See hatte. Das Eis zeigte sich hoch mit Schnee bedeckt, aber in seiner Mitte war doch schon eine gefegte Stelle, zu der vom Ufer her eine schmale, gleichfalls freigeschaufelte Straße hinüberführte. Engelke legte die Decken über die Bank, und die Damen, die von dem halbstündigen und zuletzt etwas ansteigenden Wege müde geworden waren, nahmen alle drei Platz, während sich Rolf Krake und Uncke wie Schildhalter zu beiden Seiten der Bank aufstellten. Dubslav dagegen plazierte sich in Front und machte, während er einen landläufigen Führerton anschlug, den Cicerone. „Hab’ die Ehr’, Ihnen hier die große Sehenswürdigkeit von Dorf und Schloß Stechlin zu präsentieren, unsern See, meinen See, wenn Sie mir das Wort gestatten wollen. Alle möglichen berühmten Naturforscher waren hier und haben sich höchst schmeichelhaft über den See geäußert. Immer hieß es: ‚es stehe wissenschaftlich fest‘. Und das ist jetzt das Höchste. Früher sagte man: ‚es steht in den Akten‘. Ich lasse dabei dahingestellt sein, wovor man sich tiefer verbeugen muß.“

     „Ja,“ sagte Melusine, „das ist nun also der große Moment. Orientiert bin ich. Aber wie das mit allem Großen geht, ich empfinde doch auch etwas von Enttäuschung.“

     „Das ist, weil wir Winter haben, gnädigste Gräfin. Wenn Sie die offene Seefläche vor sich hätten und in der Vorstellung stünden: ‚jetzt bildet sich der Trichter und jetzt steigt es herauf‘, so würden Sie mutmaßlich nichts von Enttäuschung empfinden. Aber jetzt! Das Eis macht still und duckt das Revolutionäre. Da kann selbst unser Uncke nichts notieren. Nicht wahr, Uncke?“

     Uncke schmunzelte.

     „Im übrigen seh’ ich zu meiner Freude – und das verdanken wir wieder unserm guten Kluckhuhn, der an alles denkt und alles vorsieht – daß die Schneeschipper [350] auch ein paar ihrer Pickäxte mitgebracht haben. Ich taxiere das Eis auf nicht dicker als zwei Fuß, und wenn sich die Leute dran machen, so haben wir in zehn Minuten eine große Lune, und der Hahn, wenn er nur sonst Lust hat, kommt aus seiner Tiefe herauf. Befehlen Frau Gräfin?“

     „Um Gottes willen, nein. Ich bin sehr für solche Geschichten und bin glücklich, daß die Familie Stechlin diesen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur hat jetzt den See überdeckt; da werd’ ich mich also hüten, irgend was ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich.“

     Adelheid war bei diesen Worten immer gerader und länger geworden und rückte mit Ostentation von Melusine weg, mehr der Banklehne zu, wo, halb wie das gute Gewissen, halb wie die göttliche Weltordnung, Uncke stand und durch seine bloße Gegenwart den Gemütszustand der Domina wieder beschwichtigte. Nur von Zeit zu Zeit sah sie fragend, forschend und vorwurfsvoll auf ihren Bruder.

     Dieser wußte genau, was in seiner Schwester Seele vorging. Es erheiterte ihn ungemein, aber es beunruhigte ihn doch auch. Wenn diese Gefühle wuchsen, wohin sollte das führen? Die Möglichkeit einer schrecklichen Scene, die sein Haus mit einer nicht zu tilgenden Blame behaftet hätte, trat dabei vor seine Seele.

     Der Himmel hatte aber ein Einsehn. Schon seit einer Viertelstunde lag ein grauer Ton über der Landschaft und plötzlich fielen Flocken, erst vereinzelte, dann dicht und reichlich. Den Weg bis Globsow fortzusetzen, daran war unter diesen Umständen gar nicht mehr zu denken, und so brach man denn auf, um ins Schloß zurückzukehren. Auch auf einen Besuch in der Kirche, weil es da zu kalt sei, wurde verzichtet.


Anmerkungen (Wikisource)

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  1. Vorlage: Vieteljahr