« Kapitel 10 Das vierte Buch Esra Kapitel 12 »
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[390] 1 In der zweiten Nacht sah ich einen Traum: Da stieg ein Adler[1] aus dem Meer[2] empor; der hatte zwölf[3] befiederte Flügel und drei Häupter[4]. 2 Und ich schaute, wie er seine Flügel über die ganze Erde ausbreitete, und wie alle Winde des Himmels auf ihn einbliesen, und ’die Wolken sich um ihn‘ sammelten. 3 Darnach schaute ich, wie aus seinen Flügeln Gegen-Flügel[5] entstanden, die wurden kleine und geringe Flüglein. 4 Die Häupter aber[6] schliefen; das mittlere [391] Haupt war größer als[7] die beiden anderen, aber schlief ebenso[8] wie sie. 5 Dann schaute ich, wie der Adler mit seinen Flügeln dahinflog, um über die Erde und ihre Bewohner die Herrschaft zu gewinnen. 6 Und ich schaute, wie alles unter dem Himmel ihm unterworfen ward, und niemand ihm widerstand, keines von allen Geschöpfen der Erde. 7 Dann schaute ich, wie sich der Adler auf seinen Krallen aufrichtete und zu seinen Flügeln also[9] sprach[10]: 8 Wachet ihr nicht alle mit einem Male, sondern schlafet jeder an seiner Stätte und wacht zu eurer Zeit[11]; 9 die Häupter aber sollen bis zuletzt warten. 10 Und ich schaute, daß diese Stimme nicht aus seinen Häuptern, sondern mitten aus seinem Leibe hervorging. 11 Ich zählte die Gegen-Flügel: sieh, es waren ihrer acht[12].

12 Dann schaute ich, wie der erste Flügel[13] auf der rechten Seite erwachte und über die ganze Erde regierte. 13 Als er aber regiert hatte, ging es mit ihm zu Ende: da war er verschwunden, so daß auch seine Stätte nicht zu sehen war. — Da erwachte der Zweite und regierte, und dieser hielt lange Zeit inne. 14 Als er aber regiert hatte, ging es mit ihm zu Ende, so daß er nicht mehr zu sehen war, wie der Vorige. 15 Und sieh, es erscholl eine Stimme, die zu ihm sprach: 16 Höre du, der du diese ganze Zeit hindurch die Erde behauptet hast; dies verkünde ich dir, bevor du nicht mehr sein wirst: 17 nach dir wird niemand so lange herrschen wie du, ja nicht einmal halb so lange! — 18 Dann richtete sich der Dritte empor und führte das Regiment wie seine Vorgänger; dann verschwand auch er. — 19 Und so erging’s auch den übrigen Flügeln allen[14], der Reihe nach das Regiment zu haben und dann zu verschwinden. — 20 Dann schaute ich, sieh, da erhoben sich zu ihrer Zeit auch die folgenden Flügel auf der rechten Seite[15], um das Regiment zu führen; unter ihnen waren einige, die es führten, aber sofort wieder verschwanden. 21 Andere aber von ihnen erhoben sich, aber behaupteten nicht das Regiment. — 22 Darnach schaute ich, da waren die zwölf Flügel verschwunden und zwei der Flüglein; 23 und am ganzen Leibe des Adlers war nichts mehr übrig als nur noch die ruhenden Häupter und sechs Flüglein.

24 Dann schaute ich, wie sich von den sechs Flüglein zwei trennten und ’sich unter das rechte Haupt begaben‘[16]; die übrigen vier beharrten an ihrem Ort. 25 Dann schaute ich, wie diese vier Gegen-Flügel [17] planten, sich aufzurichten und das Regiment zu führen. 26 Ich schaute, siehe da, der erste[18] von ihnen richtete sich auf, aber verschwand sofort wieder; 27 so auch der zweite: der verschwand noch rascher als der erste. 28 Dann schaute ich, wie auch die beiden übrigen planten, zur Herrschaft zu kommen. — 29 Während sie aber dies noch planten, siehe, da wachte das erste der ruhenden Häupter auf; es war das mittlere, das größer als die beiden anderen Häupter war. 30 Dann schaute ich, wie es[19] die beiden Häupter mit sich verband; 31 und siehe da, das Haupt mit seinen Verbündeten wandte sich und fraß die beiden Gegenflügel, die geplant hatten, zu herrschen. 32 Dies Haupt hielt die ganze Erde im Zaum und drangsalierte[20] ihre Bewohner mit großer Bedrängnis und führte die Herrschaft über den Erdkreis gewaltiger als alle Flügel vor ihm. 33 Darnach schaute ich und siehe, das mittlere Haupt war plötzlich verschwunden, ebenso wie vorher die Flügel. 34 So blieben nur [392] noch die beiden Häupter übrig; die herrschten nun selber über die Erde und ihre Bewohner. 35 Darnach schaute ich und siehe, das rechte Haupt verschlang das linke[21].

36 Da hörte ich eine Stimme, die zu mir sprach: Blicke gerade aus[22] und betrachte genau, was du schaust. 37 Da schaute ich, siehe da, es kam wie ein Löwe, der aus dem Walde mit Gebrüll hervorstürzt[23]; ich hörte, wie er Menschenstimme gegen den Adler von sich ließ. Er sprach aber also: 38 Höre, du Adler, so will ich zu dir reden. Der Höchste spricht zu dir: 39 Du bist ja das letzte der vier Tiere, die ich bestimmt hatte, daß sie in meiner Welt herrschen sollten, und daß durch sie das Ende meiner Zeiten kommen sollte. 40 ’Du aber‘, das vierte, das gekommen ist, ’hast‘[24] alle früheren Tiere überwunden,

’du hast‘ die Welt mit großem Schrecken,
’du hast‘[25] die ganze Erde mit schwerer Drangsal beherrscht;
’du hast‘[26] den Erdkreis so lange Zeit mit Trug bewohnt
41 und die Erde nicht mit Wahrheit gerichtet:
42 denn du hast die Sanftmütigen bedrückt
und die Friedfertigen vergewaltigt;
du hast die Wahrhaftigen gehaßt
und die Lügner geliebt;
du hast den Fruchtbringenden[27] die ’Burgen‘[28] zerstört
und denen, die dir nichts Böses gethan, die Mauern eingerissen. —
43 Aber dein Frevel ist vor den Höchsten,
deine Hoffart vor den Allmächtigen gekommen[29].
44 Da sah der Höchste seine Zeiten an:
siehe, sie waren zu Ende,
und seine Äonen: sie waren voll[30].
45 Darum wirst du Adler verschwinden
samt deinen schrecklichen Flügeln,
deinen bösartigen Flüglein,
deinen ruchlosen Häuptern,
deinen grausamen Klauen[31]
und deinem ganzen frevlerischen Leib!

46 So wird die ganze Welt, von deiner Gewalt befreit, erleichtert aufatmen, um dann des Gerichtes und der Gnade ihres Schöpfers zu harren[32].


  1. Hes. 17,3. Jer. 48,40. 49,22. Die bei diesen Visionen angeführten Stellenangaben sollen nicht ohne Weiteres bedeuten, daß 4 Esra daraus geschöpft hat, sondern zunächst nur, daß sie etwas Ähnliches bedeuten.
  2. Dan. 7,3.
  3. Auch Dan. 10-12 scheint 12 Könige Javans zu zählen.
  4. Vier Flügel und vier Häupter Dan. 7,6.
  5. ἀντιπτέρυξ Volkmar; πτέρυξ = βασιλεύς, ἀντιπτέρυξ = ἀντιβασιλεύς.
  6. Über nam vgl. zu 4,34. Derselbe Gebrauch von nam im Folgenden 11,21. 12,15.27.34. 13,45.
  7. Griech. Konstruktion.
  8. Lat sed et ipsa, d. h. κεφαλή.
  9. dicens = λέγων = לֵאמֹר.
  10. misit vocem = ἀφῆκε φωνήν = וַיִתֵּן קוֹל.
  11. κατὰ καιρόν.
  12. Daß die Zahl der Gegenflügel erst hier nachgeholt wird, befremdet; vielleicht gehörten die Gegenflügel nicht von Anfang an zum Stoff.
  13. una penna = ἓν πτερόν· vgl. V. 26 und Offenb. Joh. 13,3; im hebr. Original הַכָּנָף הֳאֶחָד.
  14. D. h. denen der rechten Seite.
  15. et ipsae a dextera parte ist sachlich unmöglich; es sind nicht die Flügel der rechten, sondern der linken Seite, die jetzt auftreten. Das Sätzchen muß also Glosse sein.
  16. Syr iverunt et steterunt. Im Lateinischen scheint das folgende Verbum hier fälschlich eingedrungen zu sein.
  17. subalares = contrariae pennae = ἀντιπτέρυγες oder (nach Volkmar) ὑποπτέρυγες, Unterflügel.
  18. Vgl. V. 12.
  19. Lat complexa est; das femin. wegen des griech. κεφαλή.
  20. Syr humiliavit, Aeth vexavit.
  21. Bisher eine mysteriös eingekleidete Beschreibung der Geschichte; von nun an folgt eine Beschreibung der Zukunft.
  22. נֶגְדְּךָ.
  23. נֵעוֹר.
  24. Syr tu autem ... devicisti; vgl. Arm Ar².
  25. Syr invaluisti super saeculum; vgl. Ar¹.² Arm.
  26. Syr inhabitasti.
  27. τῶν ἐπιδιδόντων v. Wilamowitz, wohl = פֹרִיִּים.
  28. Syr (Aeth Ar¹.² Arm) arces.
  29. Jes. 37,29.
  30. Konstruktion wie 9,20.32. Der Sinn ist: die vorher festgestellte Zeit war verflossen; ebenso Gal. 4,4: ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου.
  31. In der nachfolg. Erklärung haben die Klauen keine besondere Bedeutung; der Verf. schaltet mit dem Stoff also ziemlich frei.
  32. D. h. nach den Weltreichen kommt das Reich Gottes.
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