Benutzer:Methodios/Die Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland

Otto Steinecke: Die Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland. Ein Beitrag zu der Geschichte der evangelischen Kirche Deutschlands, Bernhard Mühlmann's Verlagsbuchhandlung, Erster Teil, Halle 1905

I. Begriff und Name der Diaspora

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S. 3:

Diaspora ist in der Heiligen Schrift der technische Ausdruck für die Gesamtheit der Juden, die sich außerhalb Palästinas unter den Heiden hin und her zerstreut aufhielten. In der Neuzeit versteht man darunter jede unter Andersgläubigen wohnende Minderheit.

Die Brüdergemeine bezeichnet mit Diaspora unter Anlehnung an neutestamentliche Stellen wie 1. Petri 1, 1, 1. Kor. 1, 12, jedoch unter teilweiser Umbiegung des biblischen Begriffs eine ihr eigentümliche Einrichtung. Sie sieht es nämlich als ihren Beruf an, hier und da in der evangelischen Christenheit des europäischen Festlandes zerstreute und des inneren Haltes bedürftige Seelen auf den rechten Weg zu leiten, sie in der Liebe zu Christo zu befestigen und, ohne sie von ihrer Kirche zu trennen, durch Gemeinschaftseinrichtungen unter sich und mit der Brüdergemeine näher zu verbinden. Der weite Kreis dieser innerhalb der evangelischen Kirche zerstreuten und mit der Brüdergemeine verbundenen Christen wird die Diaspora der Brüdergemeine genannt; die einzelnen Glieder heißen Diasporageschwister und die von der Brüdergemeine gestellten Pfleger Diasporaarbeiter. Demnach versteht die Brüdergemeine unter ihrem Diasporawerk „die Pflege von christlichen Gemeinschaften und Freundeskreisen, die innerhalb verschiedener Kirchen zerstreut wohnen und mit ihr in Glaube und Liebe verbunden sind". „Die Mitglieder dieser Gemeinschaften bleiben unbeschadet ihrer Verbindung mit der Brüdergemeine Mitglieder der Landeskirche, in deren Mitte sie stehen." Die Brüdergemeine [4] will durch ihre Diasporaarbeit das lebendige persönliche Herzenschristentum und die christliche Herzensgemeinschaft innerhalb der Landeskirchen wecken und pflegen. Die lebendigen Glieder der Kirche sollen dadurch gemehrt, gestärkt und gehoben werden. Ausdrücklich wird betont: „Die Brüdergemeine will durch ihre Diasporatätigkeit der gesamten christlichen Kirche einen Dienst erweisen, will sie bauen helfen, indem sie die lebendigen Glieder der Kirche sammelt, im Glauben befestigt und durch Gemeinschaftspflege in der Liebe wie in der Heiligung fördert." (Anmerkung 1: Kirchenordnong für die evangelische Bruder-Unität in Deutschland vom Jahre 1901. S. 58. 47. Erlaß der Generalsynode der Brüdergemeine vom Jahre 1899. § 110.)

Der Name Diaspora tritt in der Brüdergemeine im allgemeinen erst seit 1749 auf. Er war zwar schon früher vereinzelt in Gebrauch (Anmerkung 2: Der Bericht des Amtshauptmanns von Görlitz vom 3. April 1737 z. B. redet von „Unziemlichkeiten herrnhutisch Gesinnter in der Diaspora". Vergl. Körner, Die kursächsische Staatsregierung dem Grafen Zinzendorf und Herrnhut gegenüber. Leipzig 1878, S. 41.), wurde aber auf der Synode zu London in der Sitzung vom 22. September 1749 zum ersten Male in einer amtlichen [...] der Brüdergemeine angewendet. Anfangs mehr in lokalem Sinne verstanden erhielt der Ausdruck allmählich seine jetzige Bedeutung, nämlich Gesamtheit der außerhalb der Brüderorte wohnenden zur Landeskirche gehörigen Freunde der Brüdergemeine. Vor 1749 — und teilweise auch nachher — hieß es dafür: auswärtige Geschwister oder Brüder nach dem Fleisch; daneben auch hier und da: Stiefbrüder, Cousins, Gesellschaften aus allerlei Gegenden, die aufmerken, verbundene Häuflein, verbundene Gesellschaften, auswärtige Geschwister und Freunde.

Es ist nicht ersichtlich, warum 1749 der Name gewechselt und aus welchem Grunde gerade die Bezeichnung Diaspora gewählt wurde. Man könnte vermuten, daß die Änderung mit der veränderten kirchenpolitischen Lage der Brüdergemeine zusammenhing. Denn bis dahin gehörten Zinzendorfs Anhänger zur Landeskirche, und die außerhalb der Brüderorte wohnenden Freunde der Brüdergemeine lebten unter Christen, die Glieder derselben kirchlichen Gemeinschaft wie die Brüdergemeine waren. Seit den vierziger Jahren des achtzehnten [5] Jahrhunderts bildete jedoch die Brüdergemeine eine selbständige kirchliche Genossenschaft. Von nun ab waren die außerhalb der Brüderorte befindlichen Freunde der Brüdergemeine unter Christen zerstreut, die von ihr kirchlich geschieden waren und sich zu einer andern kirchlichen Gemeinschaft rechneten. Dieser veränderten Sachlage trug, wenngleich unausgesprochen, der veränderte Name Rechnung.

Die Neuerung fand vorerst wenig Anklang. Obwohl die Synoden dabei beharrten, wurde doch noch 1761 (Anmerkung 1: Protokoll der Diasporakonferenz vom 30. Juli 1761.) geklagt, daß das Wort Diaspora schwer verständlich sei und oft falsch ausgesprochen werde. Der richtige deutsche Ausdruck sei auswärtige Geschwister; dieser sei vorzuziehen. 1782 wurde auch ein dementsprechender Beschluß gefaßt. Trotzdem blieb die Bezeichnung Diaspora, ja sie verdrängte die andern und wurde allgemein gültig.

II. Zinzendorfs Ansichten über die Diaspora

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1. Das Diasporawerk Zinzendorfs Lebensaufgabe

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[5] Während der Name Diaspora erst spät auftauchte, wurde die Diasporatätigkeit selbst sehr früh in Angriff genommen. Ja man kann sagen, daß das, was die Brüdergemeine unter Diasporaarbeit versteht, Zinzendorf von Anfang an als seine Lebensaufgabe, als das Ziel seiner Bestrebungen für das Reich Gottes vorgeschwebt hat.

Denn daß die Gründung und die Bildung Herrnhuts und der Brüdergemeine so, wie sich beides schließlich gestaltet hat, nicht in des Grafen Absicht gelegen hat, ist bekannt. (Anmerkung 2: Zinzendorf habe, so wird behauptet, bei der Gründung Herrnhuts das Gemeinschaftsleben nicht auf das religiöse Leben beschränkt. Er habe es vielmehr von der Religion auf alle Beziehungen des Lebens übergehen lassen, und dies beweise seine katholische Sinnesart. Allein die Einheit, die die Brüdergemeine zeitweise nicht nur in religiöser, sondern auch in wirtschaftlicher und kommunaler Beziehung bildete, war gegen Zinzendorfs Sinn und ohne seine Absicht entstanden. Als er Herrnhut eine Verfassung gab, unterschied er sehr klar und genau zwischen den zur politischen Gemeinde gehörigen Einwohnern und dem in ihrer Mitte befindlichen freien religiösen Vereine. Beide deckten sich auch im Anfang nicht völlig. „Die Verschmelzung bürgerlicher Kommunalordnung und geistlicher Gemeineinrichtung, wie solche den Ortsgemeinen eigentümlich ist, widerspricht Zinzendorfs Anschauungen. Vgl. J. Müller, Zinzendorf als Erneuerer der alten Brüderkirche. Leipzig 1900. S. 25. Wetzer und Weites Kirchenlexikon. Freiburg 1901. S. 1979. Steinecke, Zinzendorf und der Katholizismus. Halle 1902.) Er [6] beteuert, daß er bei der ganzen Entwicklung Herrnhuts der „leidende Teil" gewesen sei (Anmerkung 1: Synodalkonferenz London 1751.) Die Opposition der Feinde und Gegner habe die Brüdergemeine zu einer selbständigen Religionsgesellschaft gemacht, nicht aber der Freunde, und am wenigsten seine eigene Arbeit, Fleiß und Bemühung. „Denn die ist allezeit dagegen gewesen." (Anmerkung 2: Jüngerhausdiarium vom 15. Juli 1751.) „Ich bin nicht dazu berufen, eine Religion zu stiften", führt er aus, „aber ich sehe, daß eine wird, und es muß eine sein." (Anmerkung 3: Synode Bethel 1756.) Ja als er einmal bemerkt, daß in der Brüdergemeine wenig Kenntnis der mährischen Kirche vorhanden sei, wird ihm von den Seinen vorgehalten, dies käme daher, weil er selbst ein Feind der mährischen Sekte sei. (Anmerkung 4: Synode Marienborn 1745.)

2. Sein Herz ist auf Gemeinschaft gerichtet

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Für die Äußere Mission, worin er so vieles und so großes geleistet hat, begeisterte er sich allerdings schon als Knabe und als Jüngling. Doch sandte er erst seit 1732 Heidenboten aus.

Hingegen Seelen innerhalb der Christenheit zu wecken, zu sammeln und durch Gemeinschaftspflege zu stärken, war von Kind auf sein Trachten. Dem entsprangen seine Ordensstiftungen als Knabe. Dem dienten seine religiösen Freundschaften als Jüngling. Das erstrebte er durch seine erbaulichen Versammlungen als Justizrat. Das bezweckte der Bund der vier Brüder, den er mit Rothe, Schäfer und Wattewille schloß. Darin war er der geistige Sohn Speners. Damit trat er in die Fußtapfen seiner Verwandten in Ebersdorf und Laubach. (Anmerkung 5: J.Müller a.a.O. S. llff.) Sein eigentliches Ideal war das der „Christus Verkündigung an das Volk", und „sein Plan, religiöse Gemeinschaften ins Leben zu [7] rufen, nahm in seinem innern und äußern Leben eine hervor- ragende Rolle ein. (Anmerkung 1: B. Becker, Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit. Leipzig 1900. S. 487, 150.)

Daher ist sein „Herz auf Gemeinschaft gerichtet". (Anmerkung 2: Schreiben an die Brüder in Berlin vom 10. August 1738.) Sein „Sinn ist, an allen Orten Gemeinen Christi zu machen". (Anmerkung 3: Synode Ebersdorf 9. Juni 1739.) „Er will die Konnexion mit allen Kindern Gottes in allen Religionen nach Joh. 17 durchsetzen, es koste, was es wolle." (Anmerkung 4: Schreiben vom 15. Dezember 1749.) „Ich habe", sagt er 1745, (Anmerkung 5: Konferenz Marienborn 1745.) „den irenischen Gedanken, daß alle Kinder Gottes in allen Verfassungen eins sind und eins treiben. Seit dreißig Jahren ist es mein Augenmerk gewesen, daß alle im Herrn miteinander eins werden möchten." Bekannt ist sein Ausspruch: „Ich konstatiere kein Christentum ohne Gemeinschaft."

Als Zweck hat er dabei im Auge, „aller Welt Christum zu verkündigen, wo er noch nicht bekannt ist", (Anmerkung 6: Konferenz Berlin 1738.) oder genauer, die Theologie vom Versöhnungsopfer Christi, von der durch sein Blut erworbenen Erlaubnis, heilig zu leben, und von der Gnade der Jüngerschaft Jesu zu insinuieren." (Anmerkung 7: Synode Gotha 1740. Religion gebraucht Zinzendorf im Sinne von Konfession, Sonderkirche.) „Das Verdienst und das Blut Christi sei unter alle Religionen zu bringen."

Um so allenthalben Seelen zu wecken, zu sammeln und zu pflegen oder, wie wir im modernen Sinne sagen würden, Evangelisation und Gemeinschaftspflege zu treiben, war Zinzendorf unablässig persönlich bemüht. Mit Wort und Schrift war er unaufhörlich tätig und dehnte seine Arbeit nach allen Himmelsrichtungen hin aus. Daraus entwickelte sich die Diaspora der Brüdergemeine, deren allererste Anfänge sich an seine Person und seine Bekanntschaften anknüpften ; auch wo sich später der Brüdergemeine ein Arbeitsgebiet eröffnete, lassen sich häufig die ersten Berührungen auf den Grafen zurückführen.

Diese Diasporaarbeit entsprach Zinzensdorfs Sinn. Gegen [8] die Geimeindeorte war er anfänglich etwas eingenommen (Anmerkung 1: Spangenberg, Leben des Grafen Zinzendorf. S. 1558.) und sträubte sich gegen die Einrichtung neuer Gemeinden, die er unmutig „Aftergemeinen" nannte. (Anmerkung 2: Synode Gotha 1740.) Anders aber mit Bezug auf die Diaspora. Da möchte er überall Seelen geweckt und gesammelt sehen. „Ich wünsche", sagt er, „daß sich der Heiland in allen Städten und Dörfern Priester erwecke, d. i. Menschen, die seinem Willen dienen, an ihn glauben und sich ihm einleiben, ihn kennen lernen, . . . sein zu sein, Menschen nach seinem Herzen, eine Fackel oder ein Wachslichtchen, wenn's nur ein Licht ist, das da brennet." „Solch ein Häuflein, wo es hier und da ist in der Welt, ist einem süß, lieblich und venerabel. Er ist ja auch für die verstreuten Kinder Gottes gestorben, daß er sie leiblich und geistlich zusammenbringe, in einem Leibe oder in einer Seele, zur Herzensreligion und zu einem Salz der Erde. Da läßt sich gar keine Entschuldigung anführen, warum es hier oder da nicht so sein könnte." (Anmerkung 3: Einige Reden auf den Reisen. Rede vom 23. November 1757. Barby 1768. S. 32.)

Diese erweckten Seelen sollen untereinander eins sein. „Die Rede ist nicht von Formen und Zeremonien, von Annehmung gewisser Gewohnheiten und von dem Durcheinanderkonfindieren dessen, was man nennt ländlich sittlich, sondern die Rede ist von Herzen, worinnen alle Kinder Gottes ähnlich sein müssen. Darum ist mir so sehr viel daran gelegen, daß sich der Heiland überall immer mehr treue Menschen zuziehen mag." (Anmerkung 4: Reisereden. A. a. 0. S. 33.)

Das Recht zu solchem Zusammenschließen zu gegenseitiger Erbauung weist er aus der Bibel, den Schriften Luthers und den Schmalkaldischen Artikeln nach. (Anmerkung 5: Aufsatz von den christlichen Gesprächen. Züllichau 1735. S. llff.) „Warum halten die Stillen im Lande nicht besser zusammen?" fragt er und gelangt zu dem Schluß: „Es ist billig und recht, daß die aus einem Samen geboren sind, sich fest zusammenschließen als Glieder eines Leibes, und dieses nicht nur in zeitlicher Notdurft und wirklichen Liebesbezeugungen, sondern insonderheit durch das Band des vereinigten Gebets." (Anmerkung 6: Theologische Bedenken. Büdingen 1742. S. 17.)

3. Seine Stellung zur Kirche

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[9] Um diese Grundsätze und Bestrebungen Zinzendorfs recht zu würdigen, müssen wir uns seine Stellung zur evangelischen Kirche vergegenwärtigen.

Der Stifter der Brüdergemeine war im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen sehr ökumenisch gesinnt. Wir können diese Sinnesart schon bei seinem Verkehr mit den Jansenisten beobachten. (Anmerkung 1: Vgl. Steinecke, Zinzendorfs Bildungsreise. Halle 1900. S. 77 ff.) Seine spätere Beschäftigung mit der Geschichte der böhmischen Brüder hat ihn darin wahrscheinlich noch bekräftigt; gerade ihr Universalismus gefiel ihm.

Jede Religion, behauptet er, habe „etwas Gutes", und da müsse der Heiland Gnade geben, nur das Gute an ihnen zu sehen. (Anmerkung 2: Generalsynode Bethel 1756.) Zwar von der katholischen Kirche fühlte er sich grundsätzlich geschieden. Die katholische Religion habe „von oben her etwas Satanisches", (Anmerkung 3: Synode Hirschberg 1743.) ein Urteil, das um so mehr in die Wagschale fällt, als der Graf konfessionell weitherzig mit vielen Katholiken, weil „sie in die Wunden Jesu verliebt waren", Freundschaft geschlossen hatte. (Anmerkung 4: Vgl. Steinecke, Zinzendorf und der Katholizismus. Halle 1902. S. 6ff.)

Die lutherische und die reformierte Religion hingegen seien „Meisterstücke des Heilands und beide notwendig". (Anmerkung 5: Ausspruch vom 15. Juni 1750.) Er verglich — in etwa an Lessings bekannte Fabel von den drei Ringen erinnernd — die lutherische, die reformierte und die mährische Konfession mit drei weißen Bogen; jeder Bogen trage einen besonderen Stempel, sei aber unbeschrieben, und es komme darauf an, was der Besitzer des Bogens, der einzelne Christ, durch seinen Lebenswandel darauf schreibe. (Anmerkung 6: Konferenz Marienbom 1745.)

4. Man soll sich nicht von der Kirche trennen

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Während selbst eine Lichtgestalt wie Tersteegen der Kirche im allgemeinen kühl gegenüberstand, nahm Zinzendorf zu ihr eine freundliche Haltung ein und sah in ihr im Gegensatz zu den Sektierern (Anmerkung 7: Daß Zinzendorf die herkömmliche Terminologie ändert und statt von Kirchen von Sekten redet, ist kein Beweis für sein sektiererisches Verhalten.) eine göttliche Einrichtung, die man als solche achten und ehren müsse. „Gott hat gewisse Ordnungen festgestellt. Daher muß man sich in die evangelischen Kirchenanstalten fügen, obwohl sie manchmal nicht passen. Man darf [10] sich nicht trennen, keine Sektiererei treiben und soll seine Ordnung nicht andern aufdringen." (Anmerkung 1: Diarium von Herrnhut vom 20. Oktober 1734.)

„Einer jeden ordentlichen Einrichtung gebührt Ehre und Respekt, weil alle menschliche eingerichtete Verfassung von Gott eingerichtet oder geduldet ist. So sind Gottes Kinder nicht allein nicht dazu gesetzt, eingerichtete Verfassungen zu bestürmen oder gar auf eine heimliche und schleichende Weise zu verderben, sondern sie haben in ihrem Gemüt eine Art von Ehrerbietung vor allem, was sich ordentlich eingerichtet hat." (Anmerkung 2: Konferenz Lindsey 1753.)

Es liegt auch gar kein Grund vor, sich von der Kirche zu trennen. Denn „in den Religionen als Religion ist nichts zu finden, was offenbar gegen die Heilige Schrift ist, außer in der katholischen. In den anderen Religionen kann jemand ein Kind Gottes sein und ihm kein Zweifel an der Seligkeit einfallen, wenn ihn nicht ein anderer oder ein Buch daran konfus macht." (Anmerkung 3: Synode Marienborn 3. Dezember 1740. Religion = Konfession.) Und wenn wirklich hier oder da Schäden vorliegen, so ist dies immer noch keine Ursache, sich von der Kirche abzuwenden. „Wie wollte ich es unserer lieben Kirche gönnen", versichert er, „daß die an ihr hangenden Schlacken vollends abgebrannt würden. Wenn sich aber das Gold davon abgehet, was wird dann übrig bleiben? Darum laßt uns die Versammlungen nicht verlassen, ob wir noch so wichtige Gründe zu haben meinen, auf daß wir sie nicht ärgern." (Anmerkung 4: Schreiben vom 27. Februar 1722.) Er beruft sich dafür auf das Beispiel des Herrn. „Jesus war ein Subalterner in der jüdischen Kirche. Er wußte, daß seine Religion verderbt war, und blieb doch darin, wollte nicht einmal haben, daß man sie verachtete." (Anmerkung 5: Synode Gotha 1740.)

Da Zinzendorf in dieser Weise grundsätzlich zugunsten der Kirche Stellung nahm, wollte er auch durch seine auf Weckung und Pflege der Gläubigen abzielende Tätigkeit die evangelische Kirche nicht beeinträchtigt wissen. Die Brüdergemeine sollte vielmehr ihre Dienerin sein, gleichsam ein freier Verein, der inmitten der Kirche zu ihrem Besten arbeite. Die in der Christenheit innerlich erfaßt und gesammelt würden, sollten [11] nicht an ihrer Kirche irre gemacht werden. Als er den Brüdern in Berlin schreibt, daß sein Herz auf Gemeinschaft gerichtet sei, fügt er sofort hinzu: „Aber in heiliger Ordnung. Unter den Lutherischen eine mährische Brüdergemeine aufzurichten, die Seelen von ihren Verfassungen, Lehren abzuziehen, dies ist nie mein Sinn und Erkenntnis gewesen." (Anmerkung 1: Brief vom 10. August 1738. Theologische Bedenken. S. 158.) Er wirft die Frage auf: „Soll man die aufgeweckten Seelen — also auch die, die durch seine und seiner Gehilfen Tätigkeit in der Diaspora erweckt werden — an ihrer Religion stutzig machen?" Seine Mitarbeiter, namentlich Dober, sind nicht abgeneigt, die Frage zu bejahen. Er aber erklärt entschieden: „Nein. Ich hätte gerne, daß jede Seele in ihrer Religion bliebe und die Gaben des Geistes nach Maß ihrer Religion empfinge. Dies ist der Brüder Sinn, daß" sie niemand an seiner Religion stutzig machen." (Synode Ebersdorf 9. Juli 1739.) Wie er es im allgemeinen „nicht für gut hält, daß Leute aus ihrer Religion heraus zu einer anderen gezogen werden", (Anmerkung 3: Synode Hirschberg 1743.) so sieht er es im besonderen „für einen erstaunlichen Verlust für den Heiland und für die Religionen an, wenn die Brüdergemeine viele hübsche Leute aus der Religion zöge", so daß es ihm gewiß mit seiner Beteuerung ernst ist, er wolle „sich nicht dazu hergeben, daß Leute aus Zwietracht mit ihrer Religion zur Brüdergemeine kämen." (Anmerkung 4: Synode Marienborn 1745.)


Es liegt in dem Wesen der christlichen Religion begründet,

daß jede kirchliche Gemeinschaft danach trachtet, sich auf

Kosten anderer von ihr für irrig gehaltener kirchlicher und

religiöser Gesellschaften auszubreiten. Zinzendorf verzichtete

den Landeskirchen gegenüber auf jede aggressive Tätigkeit.

Ebensowenig begnügte er sich damit, zu ihnen eine kühle, gleich-

gültige Stellung einzunehmen, sondern er setzte sich die Auf-

gabe, in ihrer Mitte zu ihren Gunsten zu arbeiten. Waren

auch seine Freunde zunächst geneigt, mehr nach Art der

Sektierer gegen die Landeskirchen feindlich aufzutreten, so

gelang es ihm doch stets, sie zu sich herüberzuziehen. So wurde

denn als Grundsatz anerkannt: „Wir wollen mit aller Treue in

den Tropis arbeiten, daß die Seelen darinnen bleiben und selig


[12] werden."[1] „In der Gehilfenschaft in den Religionen gebe uns

der Heiland ein gehorsames Dienerherz gegen den geringsten

Pfarrer, der uns braucht, gegen den geringsten Schulmeister,

dem wir arbeiten helfen."[2]


Weit entfernt, die in der Diaspora durch die Boten der

Brüdergemeine Erweckten ohne Bedenken in die Gemeinde ein-

zureihen oder ihnen den Eintritt auch nur nahe zu legen, wurde

im Gegenteil beschlossen, „keine Leute aus der Diaspora in die

Brüdergemeine aufzunehmen, solange sie in der Diaspora

wohnten".[3] Statt dessen wurde erwartet und ausdrücklich der

Wunsch ausgesprochen, daß die Erweckten trotz ihrer freund-

lichen Beziehungen zur Brüdergemeine in ihrer Landeskirche

blieben. „Die Konservation der erweckten Seelen an ihren

Orten soll menagiert werden", beschließt die Synode von

Marienborn,[4] und bei einer andern Gelegenheit wird betont:

„Der Heiland hat uns dazu gesetzt, treue Religionsleute zu sein.

Wir sind nicht dazu gesetzt, daß wir die Lutheraner aufheben

machen."[5] Der Graf weist darauf hin, daß man in der Landes-

kirche den gleichen göttlichen Segen wie in der Brüdergemeine

haben könne. „Am Abendmahl in Gotha kann man ebensowohl

die Kräfte der zukünftigen Welt fühlen als in Marienborn,

und beim Handauflegen des Generalsuperintendenten kann man

eben den Segen haben, als wenn ich selbst es tue."[6] Immer

wieder ermahnt er die Diasporageschwister, daß sie auch nach

ihrer Erweckung durch die Brüdergemeine in ihrer Landes-

kirche verharren möchten. „Achtet euern Beruf nicht gering",

redet er die nach Hermhut gepilgerten Diasporageschwister an.

„Seht's vor eure Sphäram an. Seid in der Gemeine, als wenn ihr

in einem Kabinett oder Lusthaus auf dem Schoß der Mutter

säßet. Aber wenn ihr das Auge auf das Ganze richtet, auf des

Heilands seine Erde und Menschen, so denket, ich will meine

Religion nicht vergessen und dessen wozu sie meiner Seele


[13]

  1. 1) Synode Zeist 1746. Tropus gleichbedeutend mit Konfession, Landeskirche.
  2. 2) Synode Marienborn 1745.
  3. 3) Generalsynode Bethel 1756.
  4. 4) 1740.
  5. 5) Pilgergemeinde 17. Juni 1747.
  6. 6) Synode Gotha 12. Juni 1740.