Benutzer:Jowinix/Jekyll und Hyde
- Wunderbares Ereignis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In: Vom Fels zum Meer. Wilhelm Spemann, Stuttgart, Okt. 1887–Mär. 1888, Sp. 373–396 Michigan-USA*; Sp. 633–673 Michigan-USA* und Commons
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Advokat Mr. Utterson war ein Mann von rauhen Gesichtszügen, die selten durch ein Lächeln erhellt wurden; er war kalt, im Gespräch karg und verlegen, mit seinen Gefühlsäußerungen hielt er sehr zurück. Sein Aussehen war finster, obwohl er eine gewisse Liebenswürdigkeit besaß. Bei freundschaftlichem Zusammensein und wenn der Wein nach seinem Geschmack war, leuchtete etwas außerordentlich Menschenfreundliches aus seinen Augen, in der That etwas, das er in seinem Gespräch nicht zum Ausdruck brachte, das aber dennoch sich in den stillen Zügen dieses Nachtischgesichts sich ausprägte und öfter noch laut durch die Thaten seines Lebens bekundet wurde. Er war streng gegen sich selbst, trank Gin, wenn er allein war, um seinen Geschmack für Weingetränke zu ertöten, und obgleich das Theater seine Freude war, hatte er seit zwanzig Jahren mit keinem Fuß die Schwelle eines solchen überschritten. Dabei besaß er eine bewährte Toleranz für andere; mit Neid bewunderte er das hohe Maß von Geisteskraft, welches jene bei ihren Missethaten bewiesen. Bei Ausschreitungen war er eher geneigt, zu helfen, als anzuklagen. „Ich halte es mit Kains Ketzerei,“ pflegte er zu sagen, „ich lasse meinen Bruder seinen eigenen Weg zum Teufel gehen.“ Bei diesem Charakter hatte er häufig das Glück, die letzte achtbare Bekanntschaft und der letzte gute Einfluß in dem Leben solcher heruntergekommener Leute zu sein. Zu letzteren zeigte er, solange sie noch sein Haus betraten, keinen Schatten der Veränderung im Benehmen.
Dies war für Mr. Utterson ohne Zweifel eine leichte Kunst, da er sehr beliebt war; sogar seine Freundschaften schienen in einer ähnlichen Gutmütigkeit begründet zu sein. Das Zeichen eines bescheidenen Mannes, seinen Freundeskreis aus den Händen der Gelegenheit zu empfangen, war des Advokaten Weise. Seine Freunde bestanden in seinen Verwandten oder solchen Leuten, die er bereits lange Zeit kannte; seine Neigungen glichen dem Epheu, einem Erzeugnis der Zeit, der nach und nach erst feste Wurzel faßt. Solcher Art war zweifelsohne das Band, welches ihn mit Mr. Enfield, seinem entfernten Verwandten und wohl bekanntesten Manne der Stadt, verknüpfte. Es war für manche eine harte Nuß zum Knacken, was diese beiden aneinander fanden oder welche gemeinsamen Interessen sie hatten. Leute, welche sie bei ihrem Sonntagsspaziergange trafen, sagten aus, daß sie kein Wort miteinander sprachen, immer finster aussahen und wenn ihnen ein Freund begegnete, diesen als eine Erlösung betrachteten. Trotzdem betrieben die beiden Männer diese Ausflüge mit dem größten Eifer, betrachteten sie als ihre größte Freude in der Woche und ließen nicht nur alle Vergnügungen im Stich, sondern kümmerten sich auch nicht um Geschäftsangelegenheiten.
Bei einem dieser Ausflüge gerieten sie in eine Nebenstraße eines belebten Londoner Stadtteiles. Die Straße war schmal und verhältnismäßig ruhig, doch war an Wochentagen der Handel dort ein lebhafter. Die Einwohner waren anscheinend gut situiert, noch dabei auf bessere Lage spekulierend, legten sie kokett ihre Waren in das Schaufenster, daß diese gleich einer Reihe lächelnder Verkäuferinnen im höchsten Grade verlockend waren. – Selbst am Sonntage, wenn die Läden geschlossen waren und kein Verkehr in der Straße war, hob sie sich doch, gleich einem Feuer im Walde, von den unbedeutenden der Nachbarschaft ab; mit ihren frisch gemalten Fensterläden, den sauber polierten Messingschildern, der herrschenden Reinlichkeit und dem freundlichen Aussehen fiel sie den Spaziergängern gleich wohlthuend in die Augen.
Zwei Häuser von der Ecke an der linken Seite wurde die Reihe durch einen Hofeingang unterbrochen, und gerade an der Stelle erstreckte ein geschmackloses Blockhaus seinen Giebel auf die Straße. Es hatte zwei Stockwerke, zeigte keine Fenster, nur eine Thür im unteren Stockwerk, das obere bestand nur aus einem bemalten Mauerwerk, dessen Farben längst verblichen waren; das Ganze trug in jeder Beziehung den Stempel vollkommener Vernachlässigung. Die Thür, weder mit einer Glocke noch einem Klopfer versehen, war voller Risse. In diesem Schlupfwinkel suchten Bettler ihre Zuflucht und wetteiferten um das Unterkommen; auf den Treppenstufen boten Kinder ihre Waren feil, und in dem morschen Holz versuchten Schuljungen ihre Messer. Seit undenklichen Zeiten war aber niemand erschienen, um diese ungebetenen Gäste zu vertreiben oder ihrer Ausgelassenheit ein Ende zu machen.
Mr. Enfield und der Advokat gingen auf der anderen Seite der Straße, und als sie sich dem Eingange gegenüber befanden, erhob der erstere seinen Stock, darauf hinweisend.
„Hast du jemals diese Thür bemerkt?“ fragte er, und als sein Begleiter es bejahte, setzte er hinzu: „sie erweckt in mir die Erinnerung einer sonderbaren Geschichte.“
„Wirklich?“ sagte Mr. Utterson mit einem leichten Wechsel der Stimme, „und wie hängt das zusammen?“
„So höre: Es war dieser Weg,“ erwiderte Mr. Enfield, „es war gegen 3 Uhr an einem dunkeln Wintermorgen auf dem Nachhausewege von einem Orte, der am anderen Ende der Welt lag, und mein Weg führte mich durch einen Stadtteil, wo buchstäblich nur Lampen zu sehen waren. Ich ging Straße auf Straße, und alle Leute schliefen, Straße auf Straße war wie für eine Prozession erleuchtet, alles leer wie in der Kirche. Ich geriet schließlich in einen Geisteszustand, wo der Mensch horcht und horcht und sich nach dein Anblick eines Konstablers zu sehnen beginnt. Plötzlich wurde ich zweier Gestalten gewahr: die eine war ein kleiner Mann, der von Osten in schnellem Schritt daherkam, die andere ein Mädchen von ungefähr acht bis zehn Jahren, welche, so schnell es ihr möglich war, über die Straße lief. An der Ecke rannten nun die beiden aneinander; darauf erfolgte der entsetzliche Teil dieser Sache; denn der Mann trat unbarmherzig auf das Kind und ließ es schreiend am Boden liegen. Es hört sich nicht so schlimm an, aber es war schrecklich anzusehen. Der Mann gebildete sich nicht wie ein Mensch, sondern wie eine wilde Tigerkatze. Ich stieß ein lautes ‚Hallo‘ von mir, lief so schnell ich konnte, um den sauberen Herrn zu ergreifen,
und brachte ihn an den Ort der That zurück, wo sich bereits eine ganze Gruppe um das schreiende Kind gebildet hatte. Er war ganz ruhig dabei und setzte mir keinen Widerstand entgegen, warf mir aber einen so häßlichen Blick zu, daß mir der Schweiß ausbrach. Die herbeigeeilten Leute bestanden zumeist aus den Angehörigen des Kindes, und bald darauf erschien auch der Arzt, nach dem die Kleine geschickt worden war. Nach der Aussage des Arztes Sawbones stand es mit dem Kinde nicht so schlimm, es war nur durch die Angst so mitgenommen. Hiermit denkst du wohl, wäre die Sache abgethan gewesen. Aber es war noch ein merkwürdiger Umstand dabei, den ich erzählen muß. Ich hatte gegen diesen Menschen vom ersten Augenblick an einen Widerwillen, ebenso des Kindes Angehörige, was freilich kein Wunder war. Auffallend war jedoch des Doktors Benehmen; er war ein trockner, geschickter Mediziner, nicht alt, nicht jung, mit starkem Edinburgschen Dialekt und so beweglich wie eine Sackpfeife.
„Es ging ihm wie uns allen – immer wenn er meinen Gefangenen ansah, bemerkte ich, daß Sawbones blaß vor Wut wurde und Lust verspürte, ihn zu töten. Wir errieten gegenseitig unsere Gedanken, und da das Töten außer Frage war, thaten wir das Nächstbeste. Wir sagten dem Manne, daß wir ein solches Aufsehen von der Sache machen wollten, daß sein Name von einem Ende Londons bis zum anderen stinken würde. Wenn er irgend Freunde oder Kredit hätte, wollten wir sorgen, daß er sie verliere. Während der ganzen Zeit, als wir in der Hitze des Augenblickes solches hervorstießen, mußten wir die Weiber, so gut wir konnten, zurückhalten, denn sie waren wie die Furien, so wild. Niemals sah ich so viele haßerfüllte Gesichter, und dabei stand der Mann in der Mitte, mit einer Art finsterer, höhnischer Gleichgültigkeit – wenn auch furchtsam, das konnte ich sehen – aber wenn ich eine genaue Beschreibung davon machen soll, wie der leibhaftige Satan. – ‚Wenn Sie aus dieser Sache Nutzen ziehen wollen,‘ sagte er, ‚so bin ich natürlich hilflos. Kein Gentleman der nicht eine Scene zu vermeiden sucht,‘ fuhr er fort, ‚stellt mir euere Forderungen!‘ Wir forderten hundert Pfund für des Kindes Angehörige; er würde sich wohl gerne herausgezogen haben aus der Affaire, wenn nicht die Anwesenden ihn mit Unheil bedroht hätten, so daß er sich zuletzt darin fügte. Unsere nächste Sorge war, das Geld zu erhalten. Und kannst du dir denken, wohin er uns führte? Zu jener Thür, schnell zog er einen Schlüssel, ging hinein und kam bald mit zehn Pfund in Gold und einem Wechsel für die Bank von Coutto zurück, welcher zahlbar an den Ueberbringer und unterzeichnet mit einem Namen war, den ich nicht nennen kann, obwohl er sehr wichtig für diese Geschichte ist, der aber sehr wohl bekannt und oft gedruckt worden ist. Die Zahlen waren flüchtig geschrieben, aber die Unterschrift war wertvoll und unverfälscht. Ich nahm mir die Freiheit, diesem Manne zu erklären, daß die ganze Angelegenheit mir verdächtig vorkäme, um so mehr, da es im gewöhnlichen Leben wohl nicht vorkäme, daß ein Mensch um vier Uhr morgens in eine Kellerthüre ginge und dann wiederkehrte mit einem fremden Wechsel auf hundert Pfund. Er erwiderte gelassen und höhnisch: ‚Beruhigen Sie sich, ich bleibe bis die Bank geöffnet wird, und werde den Wechsel selbst einlösen.‘ So gingen wir, der Doktor, der Vater des Kindes und ich, mit unserem gemeinschaftlichen Freunde nach meiner Wohnung, wo wir den Nest der Nacht verbrachten. Am folgenden Tage gingen wir, nachdem wir gefrühstückt hatten, sämtlich nach der Bank. Ich gab den Wechsel selbst auf, indem ich sagte, daß ich allen Grund hätte, zu glauben, eine Fälschung liege hier vor. Aber nichts Derartiges, der Wechsel war echt.“
„Na nu,“ sagte Mr. Utterson.
„Ich sehe, du fühlst wie ich,“ entgegnete Mr. Enfield; „es ist eine sonderbare Geschichte, um so mehr, da dieser Mensch so abstoßend war, daß niemand etwas mit ihm zu thun haben wollte; der Aussteller aber des Wechsels ein Mann, der sehr vermögend und geachtet ist, und (was das Schlimmste ist) ein Mann, der, wie man sagt, Gutes thut. – Ich vermute, daß hierbei eine dunkle Vergangenheit im Spiele ist und ein ehrlicher Mann auf diese Weise seine Jugendstreiche büßen muß. Black Mail House (Haus der dunkeln Vergangenheit) nenne ich seit der Zeit das Gebäude mit der Thür, obwohl selbst das noch nicht alles genau erklärt,“ fügte er, in Nachsinnen verfallend, hinzu.
Aus diesem Brüten wurde er durch Mr. Utterson erweckt, der ihn fragte: „Und du weißt nicht, ob der Unterzeichner des Wechsels dort lebt?“
„Ist das denn eine passende Wohnung für ihn?“ entgegnete Mr. Enfield, „Ich habe aber seine Adresse aufgeschrieben, er wohnt in einem der anderen Viertel.“
„Und fragtest du niemals nach dem Platz mit der Thür,“ erkundigte sich Mr. Utterson.
„Nein, ich besitze zu viel Zartgefühl dazu. Ueber das Fragestellen denke ich überhaupt sehr streng, es sieht einer Gerichtssitzung gar zu ähnlich. Wenn du eine Frage stellst, so gleicht diese einem hingeworfenen Stein, der vom Gipfel des Berges heruntergeschleudert, andere mit sich reißend, weiter und weiter rollt und plötzlich einen guten alten Vogel (dasjenige, was man am wenigsten denkt) in seinem eigenen Neste trifft. Nein, ich habe es mir zur Regel gemacht, um so weniger zu fragen, je mehr mir eine Sache abenteuerlich erscheint.“
„Eine sehr gute Regel dies,“ sagte der Advokat.
„Jedoch habe ich den Platz selbst untersucht,“ fuhr Mr. Enfield fort. „Es hat kaum das Aussehen eines Hauses. Es hat keine andere Thür, und niemand geht dort ein noch aus, nur bisweilen der Mann meines Abenteuers. Vom ersten Stockwerk gehen drei Fenster nach dem Hof hin; diese sind stets geschlossen, aber dennoch rein. Dann ist ein Schornstein dort, welcher meistens raucht, woraus ich schließe, daß jemand dort wohnen muß. Ganz sicher ist es dennoch nicht, da die Hofgebäude so aneinander gebaut sind, daß es schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere anfängt.“
Das Paar ging eine Zeitlang schweigend weiter, dann wiederholte Mr. Utterson nochmals: „Enfield, das ist ein guter Grundsatz von dir.“
„Ja, das ist auch meine Meinung,“ lautete Enfields Antwort.
„Aber dennoch möchte ich einen Teil wissen,“ fuhr der Advokat fort; „kannst du mir den Namen des Mannes nennen, der das Kind trat?“
„Warum nicht,“ meinte Mr. Enfield, „ich sehe keinen Grund ein, weshalb ich ihn verschweigen sollte. Hyde war sein Name.“
„Hm! Wie sieht der Mann ungefähr aus?“ fragte Mr. Utterson.'
„Es fällt mir schwer, ihn zu beschreiben. In seiner Erscheinung liegt etwas Abstoßendes, etwas durchaus Mißfallendes, in einem Wort Verabscheuungswürdiges. Ich habe noch keinen zuvor gesehen, der mir so mißfiel, doch weiß ich kaum warum. Er muß irgendwie mißgestaltet sein, jedenfalls macht er den Eindruck eines verwachsenen Menschen, wiewohl ich die Stelle nicht anzugeben weiß. Er sieht ganz außergewöhnlich aus, und dennoch kann ich nichts Besonderes an ihm finden. Beim besten Willen kann ich ihn nicht beschreiben, das ist nicht etwa Gedächtnisschwäche, denn mir ist es, als stünde er mir vor Augen.“
Mr. Utterson ging wieder eine Weile stillschweigend weiter, sichtlich überlegend, und fragte schließlich: „Bist du auch sicher, daß er einen Schlüssel benutzte?“
„Aber mein lieber Freund ...“ begann Mr. Enfield ganz überrascht.
„Ja, ich weiß, es erscheint dir wunderbar; der Grund, weshalb ich nicht nach dem Namen des anderen Beteiligten frage, ist der, weil ich ihn bereits kenne. Du siehst, Richard, deine Geschichte ist schon bekannt, und wenn du in irgend einem Punkt von der Wirklichkeit abgewichen bist, thätest du gut, es zu verbessern.“
„Ich finde, du hättest mich warnen können,“ erwiderte der andere mit einem Anflug von Niedergeschlagenheit; „aber ich bin genau bei der Sache geblieben, wie du es nennst. Der Geselle hatte einen Schlüssel, oder vielmehr er hat ihn noch. Ich sah, daß er ihn vor einer Woche noch benutzte.“
Mr. Utterson seufzte tief, aber sagte kein Wort, und der junge Mann bemerkte dann: „Das ist wieder eine Lehre, daß man nichts sagen soll; ich schäme mich meiner plauderhaften Zunge. Laß uns das Gelübde thun, niemals auf dies Thema zurückzukommen.“
„Von ganzem Herzen,“ sagte der Advokat; „gib mir die Hand darauf, Richard.“
An jenem Abend kehrte Mr. Utterson in gedrückter Stimmung nach seiner Junggesellenwohnung heim und setzte sich zu Tisch, ohne den geringsten Appetit zu verspüren. Es war sonst seine Gewohnheit, am Sonntage nach beendeter Mahlzeit dicht bei dem Kaminfeuer zu sitzen, irgend ein trockenes Andachtsbuch vor sich auf dem Lesepult; wenn dann die Uhr der ganz nahe gelegenen Kirche Zwölf schlug, ging er bedachtsam und dankbaren Herzens zur Ruhe. In dieser Nacht jedoch nahm er, sobald sein Tisch abgeräumt wurde, ein Licht und ging in sein Arbeitszimmer. Dort öffnete er seinen Geldschrank, entnahm dem geheimsten Fach desselben ein Schriftstück, welches auf dem Umschlag die Aufschrift: „Dr. Jekylls letzter Wille“ trug, und setzte dann sich nieder, um mit umwölkter Stirn nochmals den Inhalt zu studieren. Der Wille war ein eigenhändiger, denn Mr. Utterson hatte, obwohl er ihn nun, da er einmal fertig war, verwahrte, seiner Zeit seinen Rechtsbeistand dazu verweigert. Das Testament enthielt nicht nur den Paragraphen, daß nach dem Ableben des Dr. Jekyll, N. D., D. C. L., L. L. D., F. R. S., alle Besitztümer und sein sämtliches Vermögen in die Hände seines Freundes und Wohlthäters Edward Hyde fallen solle, sondern auch noch den sonderbaren Satz, daß im Falle Jekyll verschwinden oder auf unerklärliche Weise drei Monate abwesend sein sollte, besagter Mr. Hyde ganz an Henry Jekylls Stelle träte, ohne jegliche Verzögerung und frei von allen Schulden und Verpflichtungen. Nur eine geringfügige Summe für des Doktors Haushalt solle er verpflichtet sein auszuzahlen. Dieses Schriftstück war dem Advokaten längst ein Dorn im Auge. Es beleidigte ihn sowohl vom Standpunkte des Advokaten als vom Standpunkte gesunder Vernunft; alles Phantastische erschien ihm unbescheiden. Bisher war es seine Unkenntnis über Mr. Hyde, die seinen Aerger verursacht; jetzt war gerade sein Kennen desselben, was ihn erregte. Er fand die Sache schon insofern arg, als Hyde nur ein Name für ihn war, von dem er weiter nichts erfahren konnte; ärger noch erschien sie ihm jetzt, wo er so Fluchwürdiges über jenen Menschen gehört; und aus dem unbestimmten Nebel, der ihn bisher verwirrte, erhob sich nun in deutlichen Zügen das Bild eines entschiedenen Gegners.
„Ich hielt die ganze Sache für eine Tollheit,“ sagte er, das gewichtige Papier in den Geldschrank zurücklegend, „doch nun muß ich fürchten, daß Schande dahinter verborgen ist.“
Nach diesem Selbstgespräch löschte er sein Licht aus, zog seinen großen Mantel an und ging nach Cavendish-Square, jener Citadelle der Mediziner, wo auch sein Freund, der berühmte Dr. Lanyon, wohnte und seine von allen Seiten herbeiströmenden Patienten empfing. „Wenn jemand mir nähere Auskunft geben kann,“ dachte Utterson, !so ist es Lanyon.“
Von dem ihm bekannten Diener wurde er feierlich bewillkommt, aber Utterson ließ sich zu keiner Verzögerung Zeit, sondern eilte sofort in das Speisezimmer, wo Lanyon allein bei einem Glase Wein saß. Der eben Genannte war ein Herr von kräftigem, gesundem Aussehen, mit einem stark geröteten Gesicht; sein Haar war frühzeitig weiß geworden, seine Bewegungen waren gewandt, dabei besaß er ein zwar ungestümes, doch entschiedenes Wesen. – Als Lanyon Mr. Uttersons ansichtig wurde, sprang er vom Stuhle auf und hieß ihn herzlich willkommen, ihm beide Hände entgegenstreckend. Die Genialität dieses Mannes erschien wohl etwas theatralisch, aber sie beruhte auf seinem wahren Gefühl. Diese beiden Männer waren alte Freunde, Schul- und Kollegienkameraden, sie achteten sich gegenseitig und, was nicht immer damit verbunden ist, erfreuten sich stets ihres Beisammenseins.
Nachdem die Freunde eine Weile harmlos geplaudert hatten, ging der Advokat zu jenem Thema über, welches seine Gedanken auf so unangenehme Weise in Anspruch nahm.
„Ich vermute, Lanyon,“ sagte er, „du und ich, wir sind die beiden ältesten Freunde, welche Henry Jekyll hat?“
„Ich wünschte, seine Freunde wären jünger,“ bemerkte Dr. Lanyon, „doch verhält es sich wohl so. Doch wozu das? Ich sehe Jekyll jetzt selten.“
„So?“ meinte Utterson. „Ich dachte, ihr hättet doch das Band gemeinsamer Interessen?“
„Das war allerdings der Fall,“ lautete die Antwort; „aber seit länger denn zehn Jahren ist Henry Jekyll mir ein zu großer Phantast geworden, er ist sehr eigentümlich geworden; dennoch interessiere ich mich fernerhin für ihn um der alten Freundschaft willen, aber ich sehe diesen Mann nur äußerst selten. Solch unwissenschaftlicher Unsinn würde selbst Dämon und Phintias entzweit haben,“ fügte der Doktor plötzlich zornerrötend hinzu.
Dieser Gefühlsausbruch war für Mr. Utterson eine kleine Beruhigung; sie haben sich also nur über eine wissenschaftliche Frage entzweit, dachte er, und da er kein Mann voll wissenschaftlichen Eifers war, fügte er bei sich hinzu: „Also weiter nichts.“ Einige Sekunden ließ er seinen: Freunde Zeit, den Gleichmut wieder zu finden, dann stellte er jene Frage, um derentwillen er eigentlich gekommen war. „Hast du je seinen Schützling – Hyde getroffen?“
„Hyde?“ wiederholte Lanyon. „Nein, ich habe nie von ihm gehört.“
Das war alles, was der Advokat an Erkundigungen mit nach Hause nahm, woselbst angelangt, er sich auf dem Bette hin und her wälzte, bis der Morgen tagte. Es war für ihn eine unruhige Nacht, da sein Geist sich, fortwährend mit dieser Frage beschäftigte.
Die Kirchenuhr, welche ganz in der Nähe war, schlug sechs, und noch dachte Mr. Utterson über dieses Problem nach. Bis dahin war sein Verstand nur von der Sache berührt, jetzt aber begann seine Einbildungskraft ihn noch zu foltern, und wie er in der Dunkelheit der Nacht in dem mit Vorhängen versehenen Zimmer dalag, entrollte sich Mr. Enfields Erzählung in leuchtenden Bildern vor seinen Augen. Es war ihm, als sähe er nächtlicherweile eine durch unzählige Laternen erhellte Stadt, dann die Gestalt eines eilig daherschreitenden Mannes und ein Kind, welches, vom Arzt kommend, nach Hause lief; diese beiden begegneten sich, und jene Tigerkatze in Menschengestalt trat das Kind zu Boden und ging ungeachtet des Schreiens weiter; oder er sah ein Zimmer in einem reichen Hause, sein Freund lag im Traume lächelnd da; plötzlich wurde die Thür des Zimmers geöffnet, die Vorhänge des Bettes zurückgeschlagen, und ach! eine Gestalt stand dort, die den Schläfer weckte, und der Macht gegeben war über ihn, so daß er selbst zu jener späten Stunde aufstehen und nach den Befehlen jener Gestalt handeln mußte. Von diesen beiden Bildern wurde der Advokat die ganze Nacht verfolgt, und selbst wenn er ein wenig einschlief, war es nur, um die Erscheinung noch leiser durch die im Schlafe liegenden Häuser gleiten zu sehen, oder sie eilte schneller und schneller, fast schwindelerregend durch die langen erhellten Straßen, drückte an jeder Ecke ein Kind nieder und ließ es schreiend zurück. Und doch hatte die Gestalt des Mannes kein Gesicht, woran er ihn hätte erkennen können. Selbst im Traum konnte er das Gesicht nicht sehen, oder es war eines, welches vor seinen Augen verschwamm, so daß er hierdurch außerordentlich neugierig wurde, den wirklichen Mr. Hyde kennen zu lernen. Er dachte, wenn er ihn ein einziges Mal mit eigenen Augen sehen könnte, würde das ganze Geheimnis sich aufklären, wie es oft mit geheimnisvollen Dingen geht, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Vielleicht würde er dann den Grund für seines Freundes Interesse, resp. Knechtschaft diesem Manne gegenüber einsehen, sowie er auch die Ursache für die wunderbare Klausel des Testamentes zu finden hoffte. Es war immerhin der Mühe wert, ihn zu sehen, ihn, der so ohne jegliches Mitleid war; ein Gesicht, welches sich nur zu zeigen brauchte, um in des Advokaten Seele einen unnennbaren, endlosen Haß heraufzubeschwören.
Seit jener Zeit machte Mr. Utterson Jagd auf die Thür in der Nebenstraße. Vom frühen Morgen an bis spät in die Nacht hinein widmete er seine Mußestunden der steten Beobachtung und war auf diesem seinem erwählten Posten zu finden. Seine Absicht war, Mr. Hyde auf jeden Fall zu sehen.
Endlich wurde seine Ausdauer belohnt. Es war eine schöne Winternacht, die Straße so sauber und glatt wie ein Ballsaal; die Laternen, welche kein Wind bewegte, ließen jeden Gegenstand im genauen Umriß erkennen.
Zu dieser Stunde war dieses Nebenstraße, im Gegensatz zu dem Londoner Trubel, ringsumher einsam und still. Die alltäglichen Laute, aus den Häusern waren weithin hörbar, und der Tritt eines jeden Passanten kündete sich dem Lauscher lange zuvor schon an. Kaum stand Mr. Utterson einige Minuten auf seinem Posten, als er einen besonders leichten Schritt sich nähern hörte. Im Laufe seiner nächtlichen Patrouillen hatte er sich längst an den Eindruck gewöhnt, den der Schritt eines einzelnen Menschen, der noch eine ganze Strecke entfernt ist, hervorbringt, und wie derselbe sich plötzlich von dem tosenden Lärm der Stadt abhebt. Nie zuvor war seine Aufmerksamkeit so scharf und entschieden in Anspruch genommen, und ein überzeugendes Gefühl von Erfolg bemächtigte sich seiner, so daß er in den Eingang des Hofes zurücktrat.
Die schritte wurden, als sie das Ende der Straße erreichten, schneller und lauter. Der Advokat konnte von seinem Verstecke aus bald sehen, was für einen Menschen er vor sich hatte. Er war klein und einfach gekleidet; aber sein Blick berührte selbst aus dieser Entfernung den Beobachter schon unangenehm. Jener ging, um den Weg abzukürzen, schräg über die Straße, direkt auf die Thür zu, woselbst angelangt, er gleich einem Heimkehrenden den Schlüssel aus der Tasche zog.
Mr. Utterson trat hervor, und seine Schulter berührend, sagte er: „Ich vermute, Sie sind Mr. Hyde.“ Mr. Hyde fuhr erschreckt zurück, doch gewann er bald seine Fassung wieder, und ohne den Advokaten anzusehen, erwiderte er: „Das ist mein Name. Was wünschen Sie von mir?“
„Ich bin ein alter Freund von Dr. Jekyll – Mr. Utterson aus der Gauntstraße, von dem Sie wohl schon gehört haben werden – und da ich Sie hineingehen sehe, möchte ich Sie bitten, auch mir Einlaß zu gewähren.“
„Dr. Jekyll werden Sie nicht treffen, da er nicht zu Hause ist,“ versetzte Mr. Hyde, den Schlüssel einsteckend. Dann forschte er, ohne aufzusehen, weiter: „Woher kennen Sie mich?“
„Wollen Sie mir erst einen Gefallen erweisen?“ sagte Utterson.
„Mit Vergnügen,“ entgegnete der andere; „und was soll es sein?“
„Lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen,“ sagte der Advokat.
Mr. Hyde schien zu zögern, dann aber besann er sich und stellte sich mit einem trotzigen Gesicht dem Advokaten gegenüber; so starrte das Paar sich einige Sekunden lang an. „Nun werde ich Sie wieder erkennen,“ sagte Mr. Utterson, „es mag von Nutzen sein.“
„Ja,“ entgegnete Mr. Hyde, „es ist mir lieb, daß wir uns getroffen haben, und apropos! ich will Ihnen meine Adresse geben.“ Dabei nannte er mir die Nummer einer Straße in Soho.
„Guter Gott,“ dachte Mr. Utterson, „sollte er gleichfalls an das Testament gedacht haben?“ Er behielt jedoch seine Gedanken für sich und murmelte eine Anerkennung für die erhaltene Adresse.
„Und jetzt sagen Sie,“ sagte der andere, „woher kennen Sie mich?“
„Durch Beschreibung,“ war die Antwort.
„Wessen Beschreibung?“
„Wir haben gemeinsame Freunde,“ sagte Mr. Utterson.
„Gemeinsame Freunde?“ wiederholte Mr. Hyde ein wenig heiser. „Wer sind diese?“
„Jekyll zum Beispiel,“ äußerte der Advokat.
„Der hat es Ihnen sicher nicht gesagt!“ rief Mr. Hyde mit einem Ausbruch des Aergers aus. „Daß Sie lügen würden, glaubte ich allerdings nicht.“
„Halt!“ sagte Mr. Utterson, „das ist kein passender Ausdruck.“
Der andere brach in ein wildes Lachen aus, und im selben Augenblicke hatte er mit unglaublicher Hast die Thür aufgeschlossen und verschwand im Hause.
Als Mr. Hyde ihn verlassen hatte, blieb der Advokat einen Augenblick stehen, ein Bild innerer Unruhe. Darauf ging er langsam weiter, alle paar Schritte stehen bleibend, die Hand sich nachdenklich an die Stirn legend. Das Rätsel, welches ihn auf dem Wege beschäftigte, war ein solches, das selten gelöst wird. Mr. Hyde war klein und Zwerghaft, er machte den Eindruck eines verwachsenen Menschen, ohne jedoch eine namhafte Mißbildung zu besitzen, sein Lächeln berührte unangenehm. Dem Advokaten gegenüber hatte er sich mit einer seltsamen Mischung von Schüchternheit und Keckheit gezeigt, er sprach mit heiserer, gebrochener, etwas flüsternder Stimme. Alles nahm gegen ihn ein, aber keiner von den Punkten konnte den unbewußten Abscheu und Widerwillen erklären, womit Mr. Utterson ihn betrachtete. „Es steckt jedenfalls noch etwas anderes dahinter; wenn ich nur einen Namen dafür finden könnte,“ sagte der beunruhigte Herr. „Gott schütze mich! Der Mann macht kaum den Eindruck eines Menschen, er gleicht eher einem Affen, oder ist es der Abglanz einer verlorenen Seele, der sich so auf der sterblichen Hülle abmalt? – Das letztere glaube ich, denn oh! mein armer, alter Harry Jekyll, wenn ich jemals das Zeichen des Satans auf einer Stirn las, so ist es bei deinem neuen Freunde.“
Um die Ecke biegend, gelangte man auf einen großen Platz, der mit schönen alten Häusern bebaut war, die jetzt allerdings verfallen und von ihrem ehemalig guten Zustande heruntergekommen. Die Räume waren parzelliert und von Menschen aller Arten und Stände bewohnt. Die Einwohner bestanden aus Kartenzeichnern, Bauleuten, unterirdischen Advokaten und Agenten zweifelhafter Unternehmungen. Ein Haus jedoch, das zweite an der Ecke, war noch vollständig erhalten und machte, obwohl sonst im Dunkeln daliegend, nur von einer Laterne erhellt, den Eindruck eines reichen und vornehmen Hauses. Dort angelangt, blieb Utterson stehen und klopfte an die Thür. Ein gilt gekleideter älterer Diener öffnete ihm.
„Ist Dr. Jekyll zu Hause, Poole?“ fragte der Advokat.
„Ich werde nachsehen, Mr. Utterson,“ sagte Poole, indem er den Besucher in einen großen, hohen, gemütlichen Vorsaal führte, der nach Sitte der Landhäuser mit Fliesen belegt war. Derselbe war durch ein offenes, helles Kaminfeuer erwärmt und mit kostbaren Eichenmöbeln eingerichtet. „Wollen Sie hier bei dem Feuer verweilen, gnädiger Herr, oder soll ich Ihnen Licht in das Speisezimmer bringen?“
„Hier, danke,“ sagte der Advokat und trat näher an den Kamin, auf dessen Brüstung er sich stützte. Diese Halle, in der er jetzt allein gelassen wurde, war ein Lieblingsplatz seines Freundes, des Doktors, und Utterson selbst war gewohnt, davon als von dem angenehmsten Räume Londons zu sprechen. Aber in dieser Nacht schauderte sein Blut, Mr. Hydes Gesicht schwebte ihm stets vor Augen; er fühlte, was selten bei ihm vorkam, Widerwillen und Unlust am Leben. In dieser geistigen Gedrücktheit sah er das flackernde Feuer, welches sich auf den blanken Möbeln abspiegelte und seinen unstäten Schatten auf den Wänden abmalte, gleichsam als eine Drohung an. Er schämte sich seines erleichterten Aufatmens, als Poole bald wiederkehrte und ihm ankündigte, daß Dr. Jekyll ausgegangen wäre.
„Ich sah Mr. Hyde durch die alte, verfallene Thür hineingehen, Poole,“ sagte der Advokat; „ist das in der Ordnung, wenn Dr. Jekyll nicht zu Hause ist?“
„Ja, gnädiger Herr, Mr. Hyde hat einen Schlüssel,“ entgegnete der Diener.
„Ihr Herr scheint dem jungen Mann großes Vertrauen zu schenken,“ meinte Mr. Utterson nachdenklich.
„Dem ist allerdings so, gnädiger Herr,“ sagte Poole, „wir alle haben den Befehl erhalten, ihm zu gehorchen.“
„Soviel ich weiß, habe ich Mr. Hyde hier nie getroffen?“ sagte Utterson.
„Nein, ganz sicher nicht, gnädiger Herr; er speist hier nur zu Mittag,“ bemerkte der Diener. „Wir sehen ihn in diesem Teile des Hauses überhaupt sehr selten; Mr. Hyde kommt und geht meistens durch das Laboratorium.“
„Nun, dann gute Nacht, Poole!“
„Gute Nacht, Mr. Utterson.“
Der Advokat ging schweren Herzens heim.
„Armer Harry Jekyll,“ dachte er, „mein Gefühl sagt mir, daß er im trüben Wasser fischt. Er war wohl ausgelassen in seiner Jugend, doch das ist lange her; im Gesetze Gottes aber gibt es keine Verjährung. Es muß der Geist einer alten Sünde, der Krebs einer verborgenen Schande sein, und die Strafe kommt pede claudo, jahrelang nachdem die Sünde dem Gedächtnis entschwunden oder die Eigenliebe den Fehler beschönigt hat.“ Mit diesen Gedanken beschäftigt, blickte der Advokat auf seine eigene Vergangenheit zurück. In allen Winkeln seines Gedächtnisses suchte er, ob
er nicht irgend eine alte Schuld an das Licht fördern könnte. Seine Vergangenheit war durchaus tadellos, wenige Menschen konnten die Blätter ihres Lebens mit so geringer Furcht lesen; dennoch war er bis zum Staube gedemütigt durch seine vielen schlechten Handlungen, welche er begangen hatte; und doch war er in aufrichtiger Dankbarkeit erhoben durch die, welche er fast begangen hätte, aber noch rechtzeitig davor bewahrt worden war. Zu seinem vorhergehenden Gegenstand der Betrachtung sich wendend, überkam ihn ein Strahl der Hoffnung. „Wenn man nur etwas Näheres über diesen Mr. Hyde nachforschen könnte, so müßte man, nach seinem Blick Zu urteilen, dunkle Geheimnisse über ihn erfahren, im Vergleich zu denen des armen Jekylls schlimmste gewiß der reine Sonnenschein sind. Die Dinge können so nicht weiter gehen; ich friere bei dem Gedanken an dieses Geschäft, das sich gleich einem Diebe an Harrys Bett schleicht; armer Harry, welch ein Erwachen! – Und die Gefahr dabei; wenn dieser Hyde das Vorhandensein des Testamentes ahnt, wird er doch sicher ungeduldig nach der Erbschaft werden. Auf jeden Fall muß ich das Rollen des Rades hemmen, wenn Jekyll mich nur handeln läßt,“ fügte er hinzu, „wenn er mich nur handeln lassen wollte.“ Wieder war es ihm, als hätte er die sonderbaren Klauseln des Testamentes vor Augen.
Vierzehn Tage darauf wollte der Glückszufall, daß Dr. Jekyll seinen fünf oder sechs alten Bekannten, die sämtlich kluge Leute, sowie Kenner guten Weines waren, eines seiner so angenehmen Mittagessen gab. Mr. Utterson richtete es so ein, daß er noch zurückblieb, nachdem die übrigen bereits fortgegangen waren. Dieses war nun gerade nichts Neues, sondern ereignete sich häufig. Wo Utterson einmal beliebt war, war er sehr beliebt. Alle Gastgeber liebten es, den trockenen Advokaten noch zurück zu halten, wenn die leichtherzigen und losen Zungen den Fuß bereits wieder über die Schwelle gesetzt hatten, sie saßen gerne mit ihm, der so wenig aufdringlich war, und klärten so nach der vorangegangenen Ausgelassenheit und Fröhlichkeit ihre Gemüter in des Mannes reichem Schweigen. Dr. Jekyll machte von dieser Regel keine Ausnahme, und wie er nun an der anderen Seite des Kaminfeuers saß – ein großer, wohl geformter, gut aussehender Mann von fünfzig Jahren, mit einem leichten Anflug von Schlauheit im Gesicht, das jedoch daneben alle Zeichen der Fähigkeit und Freundlichkeit trug, konnte man in seinen Blicken lesen, daß er für Mr. Utterson eine aufrichtige, warme Freundschaft hegte.
„Ich wünsche mit dir zureden, Jekyll,“ begann der Advokat; „du erinnerst dich ja wohl deines Testamentes?“
Ein genauer Beobachter würde erraten haben, daß dieses Thema seinen Unwillen erregte, aber der Doktor ging leicht darüber hinweg: „Mein armer Utterson, es ist dein Unglück, einen solchen Klienten zu haben; ich sah niemals einen Menschen in solcher Verzweiflung, wie du es über mein Testament bist; es sei denn jener strenge Pedant Lanyon, der auf meine wissenschaftlichen Ketzereien, wie er es nannte, schalt. O, ich weiß, er ist ein guter Kollege – du brauchst gar nicht die Stirn zu runzeln – ein ausgezeichneter Kollege, und ich wünschte ihn öfter zu sehen, aber trotzdem ist er ein Pedant durch und durch, ein unwissender, geschwätziger Pedant. – Ich war niemals enttäuschter als durch Lanyon.“
„Du weißt, ich war nie damit einverstanden,“ fuhr Utterson rücksichtslos fort, das neue Thema ganz außer acht lassend.
„Mein Testament? Ja gewiß, das weiß ich,“ sagte der Doktor ein wenig scharf, „du hast es mir bereits gesagt.“
„Nun, ich sage dir das nochmals,“ entgegnete der Advokat, „ich habe etwas über den jungen Hyde in Erfahrung gebracht.“
Das große, schöne Gesicht Dr. Jekylls wurde blaß bis in die Lippen, und seine Blicke verdüsterten sich. „Ich habe keine Lust, noch mehr davon zu hören,“ sagte er, „ich dächte, wir hätten uns geeinigt, dieses Thema fallen zu lassen.
„Was ich von ihm hörte, war verabscheuungswürdig,“ sagte Utterson.
„Das ändert nichts, du verstehst meine Lage nicht,“ erwiderte der Doktor mit einer gewissen Unsicherheit des Benehmens, „ich bin in einer seltsamen, ganz eigentümlichen Lage. Es ist eine jener Angelegenheiten, die durch vieles Reden nicht besser werden.“
„Jekyll,“ sagte Utterson, „du kennst mich, ich bin ein Mann, auf den man bauen kann, erleichtere doch dein Herz im Vertrauen, und Zweifelsohne kann ich dich aus dieser Sache erlösen.“
„Mein guter Utterson,“ sagte der Doktor, „das ist wirklich über alle Maßen gut von dir, und ich kann kaum Worte finden, um dir meinen Dank auszudrücken. Ich glaube dir vollkommen, ich würde dir vor allen anderen vertrauen, noch mehr als mir selber, wenn ich die Wahl hätte; aber es ist wirklich nicht das, was du denkst, so schlimm ist es nun wirklich nicht. Nur um dein gutes Herz zu beruhigen, will ich dir das eine sagen, daß ich, sobald es mir gefällt, den Mr. Hyde ganz los werden kann. Ich gebe dir mein Wort darauf und danke dir nochmals, nur eine kleine Bitte, von der ich weiß, daß du sie erfüllen wirst,“ fügte ich noch hinzu; „dieses ist eine Privatangelegenheit, also lasse die Sache ruhen.“
Utterson blickte überlegend ins Feuer.
„Ich hege keinen Zweifel, du hast vollkommen recht,“ sagte er sich erhebend.
„Nun, da wir aber doch einmal die Angelegenheit berührt haben, so gibt es einen Punkt, den ich auf alle Fälle klarlegen möchte. Ich hege wirklich viel Interesse für den armen Hyde. Ich weiß, du hast ihn gesehen, er erzählte es mir, und ich fürchte, er war grob gegen dich. Dennoch nehme ich sehr großen Anteil an diesem jungen Mann, und wenn ich hinweggerückt bin, Utterson, so wünsche ich, daß du ihn verträgst und ihm zu seinen Rechten verhilfst. Ich glaube, du thätest es, wenn du alles wüßtest, und nur wäre ein Stein vom Herzen, wenn du mir das Versprechen geben wolltest.“
„Ich kann nicht sagen, daß ich ihn je mögen werde,“ sagte der Advokat.
„Danach frage ich auch nicht,“ fiel Jekyll ein, seine Hand auf des anderen Arm legend, „ich verlange nur Gerechtigkeit und bitte dich, ihm um meinetwillen zu helfen, wenn ich nicht mehr bin.“
Utterson stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ja,“ sagte er dann, „ich verspreche es!“
Fast ein Jahr später, im Monat Oktober 18.., wurde ganz London durch ein mit besonderer Roheit vollführtes Verbrechen in Angst versetzt. Die Sache erregte um so mehr Aufsehen, als der Ermordete eine hohe Stellung eingenommen hatte. Was man Näheres darüber in Erfahrung brachte, war wenig, aber grauenerregend. Ein Dienstmädchen, welches allein in einem am Flusse liegenden Hause war, begab sich um 11 Uhr in ihre Kammer, um zu Bett zu gehen. Obgleich es kurz zuvor noch nebelig gewesen, war der Himmel bei Beginn der Nacht doch wolkenlos, und der volle Mond beleuchtete herrlich die kleine Gasse, auf die das Fenster ihres Zimmers hinausführte. Sie muß wohl romantisch angelegt gewesen sein, denn sie setzte sich auf ihren Koffer, der unmittelbar unter dem Fenster stand, und verfiel in träumerisches Nachdenken. Niemals (pflegte sie unter strömenden Thränen zu sagen, wenn sie jenes Erlebnis erzählte) hatte sie sich so im Frieden mit allen Menschen gefühlt und freundlicher über die Welt gedacht als in diesem Augenblick. So dasitzend, wurde sie eines älteren, schönen Herrn mit weißen Haaren ansichtig, welcher das Gäßchen entlang kam; von der anderen Seite her begegnete ihm ein anderer, sehr kleiner Herr, welchem sie zuerst wenig Beobachtung schenkte. Als sie in Sprachweite kamen (welches gerade unter des Mädchens Fenster geschah), verbeugte sich der ältere Herr und redete den anderen mit großer Höflichkeit an. Es machte nicht den Eindruck, als ob der Gegenstand seiner Frage von großer Wichtigkeit wäre; nach seiner Handbewegung zu urteilen, erkundigte er sich nur nach dem Wege; der Mond schien gerade auf sein Gesicht, als er sprach, und das Mädchen beobachtete dasselbe mit Wohlgefallen, denn es atmete Unschuld und freundliche Gemütsart, gepaart mit hoheitsvoller Würde und wohlbegründeter Selbstzufriedenheit. Dann schweifte ihr Blick zu dem anderen herüber, und sie war überrascht, in ihm Mr. Hyde zu erkennen, der einmal ihren Herrn besucht hatte und gegen den sie eine Abneigung besaß. Er hielt einen schweren Stock in der Hand, mit
welchem er spielte, aber er gab keinen Ton zur Antwort und hörte nur mit schlechtverhehlter Ungeduld zu, dann brach er plötzlich in einen Anfall von Wut aus, stampfte mit dem Fuße, schwenkte den Stock und gebärdete sich (nach des Mädchens Beschreibung) wie ein Verrückter. Der alte Herr trat mit etwas überraschter und verletzter Miene zurück; das brachte Mr. Hyde noch mehr auf, und er schlug ihn zu Boden. Im nächsten Moment trampelte er voll tierischer Wut sein Opfer mit Füßen, einen Sturm von Schlägen auf ihn herabhageln lassend, unter denen die Knochen hörbar zerbrachen und der Körper auf dem Straßendamm gleich einem Gummiball hüpfte. Angesichts dieser Schreckensscene fiel das Mädchen in Ohnmacht.
Es war zwei Uhr, als sie sich wieder erholt hatte und nach der Polizei rief. Der Mörder war längst verschwunden, aber sein Opfer lag unglaublich zugerichtet mitten in dem Gäßchen. Der Stock, mit welchem er die That vollführte, war, obgleich aus selten starkem, zähem Holz in der Mitte durchgebrochen unter der Anstrengung dieser entsetzlichen Grausamkeit; die eine zersplitterte Hälfte war in den Rinnstein gerollt – die andere war ohne Zweifel von dem Mörder mitgenommen. Eine Börse und eine goldene Uhr wurden bei dem Toten gefunden, aber keine Karten oder Papiere, mit Ausnahme eines gesiegelten und gestempelten Schreibens, welches er wahrscheinlich nach der Post hatte bringen wollen, und welches die Adresse von Mr. Utterson trug.
Dieses wurde dem Advokaten am nächsten Morgen, ehe er aufstand, durch einen Boten überbracht; er hatte es kaum gesehen und die näheren Umstände erfahren, als er feierlich ausrief: „Ich sage nichts, ehe ich den Leichnam gesehen; dies wird ein sehr ernster Fall sein. Warten Sie, bitte einen Augenblick, bis ich mich angezogen habe.“ Mit derselben ernsten Miene nahm er sein Frühstück zu sich und fuhr nach der Polizeistation, wohin die Leiche gebracht worden war. Sobald er in die Zelle trat, nickte er mit dem Kopfe.
„Ja,“ sagte er, „ich erkenne ihn. Ich bedaure, sagen zu müssen, daß dies Sir Danvers Carew ist.
„Guter Gott, Herr,“ rief der Beamte aus, „ist es denn möglich?“ und im nächsten Augenblicke leuchteten seine Augen voll professionellen Ehrgeizes. „Dies wird großen Aufruhr erregen,“ sagte er. „Vielleicht könnten Sie uns zu dem Menschen verhelfen,“ worauf er eingehend erzählte, was das Mädchen gesehen hatte, und zeigte dabei den zerbrochenen Stock.
Mr. Uttersons erster Gedanke war Mr. Hyde, und als ihm nun der Stock gezeigt wurde, erkannte er ihn, so zerbrochen und zersplittert er auch war, als den, welchen er vor einigen Jahren dem Henry Jekyll geschenkt hatte.
„Ist der Mörder eine Persönlichkeit von kleiner Gestalt?“ forschte er weiter.
„Besonders klein und bösartig aussehend nach des Mädchens Bericht,“ sagte der Polizeibeamte.
Mr. Utterson überlegte eine Weile, dann sagte er den Kopf erhebend: „Wenn Sie mit mir fahren wollen, glaube ich, Sie zu seinem Hause bringen zu können.“
Es war gegen neun Uhr des Morgens und der erste Nebel in der Jahreszeit. Eine große schokoladefarbige Wolkenmasse bedeckte gleichsam wie mit einem Mantel den ganzen Himmel, aber der Wind zerstreute hie und da die Gebilde des Nebels, so daß, wie die Droschke sich langsam von Straße zu Straße bewegte, Mr. Utterson einen mannigfachen Farbenwechsel in der Dämmerung sah; denn hier war es dunkel wie am späten Abend, dort wieder leuchtete ein brauner oder rötlichgelber Schein, gleich einer fernen Feuersbrunst, und hier wieder war der Nebel ganz zerteilt und ein schmaler Streifen Tageslicht sichtbar. Das elende Viertel Soho erschien unter diesen wechselnden Beleuchtungen, ungerechnet seiner schmutzigen Wege und unreinlichen Passanten, sowie den nicht ausgelöschten oder wieder angezündeten Laternen, die dieses Chaos zu erhellen versuchten, dem Advokaten wie eine jener sagenhaften Städte. Seine Gedanken waren von der dunkelsten Färbung, und wie er hin und wieder seinen Begleiter betrachtete, überkam ihn etwas von jenem Schrecken vor dem Gesetz und des Gesetzes Dienern, der bisweilen die ehrlichsten Menschen befällt.
Als die Droschke an dem bezeichneten Hause anlangte, teilte der Nebel sich etwas, und jetzt sah er eine Ginkneipe, ein gewöhnliches französisches Speisehaus, ein Laden, in dem die einzelnen Speisen für Pfennig zu haben waren und der Salat zwei Pfennig kostete; zerlumpte Kinder kauerten in dem Thorwege und Frauen der verschiedensten Nationalitäten gingen ein und aus, um dort ihren Morgentrunk zu nehmen. Im nächsten Augenblick war der Nebel wieder so dick wie Umbraerde und verhüllte ihm diesen unfreundlichen Anblick. Hier war das Heim des Jünglings Henry Jekylls, eines Mannes, welcher der Erbe einer viertel Million Sterling war.
Ein alte Frau mit elfenbeinartiger Gesichtsfarbe und silbergrauem Haar öffnete die Thür. Sie hatte einen bösen Ausdruck, der durch Scheinheiligkeit übertüncht war, aber ihr Benehmen war ein ausgezeichnetes. „Ja,“ sagte sie, „dies wäre Mr. Hydes Wohnung, aber er sei nicht zu Hause; er wäre in dieser Nacht spät heimgekommen und sei nach Verlauf von kaum einer Stunde wieder weggegangen; dies sei nichts Außergewöhnliches, da er überhaupt unregelmäßig lebe und oft abwesend wäre, z. B. habe sie ihn seit zwei Monaten erst gestern wiedergesehen.“
„Nun wohl,“ sagte der Advokat, „wir wünschen seine Zimmer zu sehen;“ und als die Frau erklärte, daß es unmöglich sei, fügte er hinzu: „Dann muß ich Ihnen wohl sagen, wer dieser Herr ist. Er ist der Inspekteur Newcomen von Scotland Yard.“
Schadenfreude leuchtete aus den Augen der Frau. „Ah!“ sagte sie, „er ist in Not! Was hat er gethan?“
Mr. Utterson und der Inspekteur wechselten Blicke. „Er scheint kein beliebter. Charakter zu sein,“ bemerkte der letztere. „Und nun, meine gute Frau, möchten wir uns gern ein wenig umsehen.“
In der ganzen Ausdehnung des Hauses, welches von niemand außer dieser alten Frau bewohnt war, hatte Mr. Hyde nur wenige Zimmer benutzt, aber diese waren mit Luxus und gutem Geschmack ausgestattet. Ein Kabinett war mit Wein angefüllt. Das Geschirr war von Silber, das Leinenzeug elegant; ein gutes Bild hing an der Wand, ein Geschenk (wie Utterson vermutete) von Henry Jekyll, der ein großer Kenner war. Die Teppiche hatten schöne Muster und Farben. In diesem Augenblick jedoch boten die Zimmer den Anblick dar, als ob sie erst kürzlich und in großer Hast durchwühlt worden wären. Anzüge lagen auf der Erde, von denen die Taschen umgekehrt waren; verschließbare Schubladen standen offen, und auf dem Herde lag ein Haufe grauer Asche, als ob viele Papiere verbrannt worden wären. Aus der heißen Asche nahm der Inspekteur den Ueberrest eines grünen Checkbuches, welches dem Feuer Widerstand geleistet hatte. Die andere Hälfte des Stockes wurde hinter der Thür gefunden, und da dieses seine Vermutungen bestätigte, war der Beamte hoch erfreut. Ein Besuch bei der Bank, wo mehrere tausend Pfund auf des Mörders Namen lagen, erhöhte seine Befriedigung.
„Sie können sich darauf verlassen,“ sagte er zu Mr. Utterson, „ich habe ihn in der Hand. Er muß den Kopf verloren haben, sonst hätte er den Stock nicht zurückgelassen, und vor allen Dingen hätte er das Checkbuch verbrannt. Geld ist Leben für den Menschen. Wir brauchen nur bei der Bank auf ihn zu warten und die mit seiner Unterschrift versehenen Wechsel herauszubringen.“
Das letzte jedoch war nicht so leicht ausführbar; denn Mr. Hyde hatte wenig Vertraute – selbst der Herr jenes Dienstmädchens hatte ihn nur zweimal gesehen; er war niemals photographiert worden, und die wenigen, welche ihn beschreiben konnten, waren sehr geteilter Ansicht, wie das bei oberflächlichen Beobachtern zu sein pflegt. Nur in einem Punkte stimmten sie überein, das war der Eindruck des Verwachsenseins, welchen der Flüchtling auf seine Beobachter machte.
Es war schon spät des Nachmittags, als Mr. Utterson sich vor Dr. Jekylls Thür einfand, wo er sofort von Poole empfangen und durch die Wirtschaftsräume über ein Stück Feld, welches einst ein Garten gewesen war, zu dem Gebäude geführt wurde, welches einfach unter dem Namen des Laboratoriums oder der Sektionsräume bekannt war. Der Doktor hatte das Haus von den Erben eines berühmten Wundarztes gekauft, und da er mehr chemisches als anatomisches Interesse besaß, hatte er die Bestimmung des Blockgebäudes
am Ende des Gartens verändert. Es war das erste Mal, daß der Advokat in diesem Teil der Wohnung seines Freundes empfangen wurde; und er betrachtete mit Neugierde das schwarzbräunliche fensterlose Gebäude und sah sich mit einem unmutigen Gefühl des Fremdseins um, indem er den Zuhörerraum überschritt, her einst mit den eifrigen Studenten angefüllt war, jetzt aber leer und ruhig dalag; die Tische waren mit chemischen Apparaten bedeckt, der Fußboden war in wirrem Durcheinander mit Packstroh bestreut und das Licht fiel schwach durch die umnebelte Kuppel. Am anderen Ende führten einige Stufen zu einer mit rotem Zeuge verhangenen Thür und durch diese wurde Mr. Utterson endlich in des Doktors Kabinett eingelassen. Es war ein großes Zimmer, ringsumher mit gläsernen Wandschränken ausgestattet. Unter anderen Sachen befand sich auch ein großer Spiegel, sowie ein Arbeitstisch dort; drei staubige, mit eisernen Stäben versehene Fenster führten auf den Hof. Das Feuer brannte im Kamin, auf dessen Sims eine Lampe gesetzt wurde, da selbst die Häuser mit dichtem Nebel angefüllt waren, und dort dicht bei dem Feuer saß Jekyll sterbenskrank aussehend. Er stand nicht auf, um seinen Besuch zu begrüßen, sondern hielt ihm nur seine kalte Hand hin und hieß ihn mit veränderter Stimme willkommen.
„Und nun,“ sagte Mr. Utterson, „hast du die Neuigkeit gehört?“
Der Doktor schauderte zusammen. „Ich hörte sie auf dem Platze ausrufen, als ich im Speisezimmer saß.“
„Auf ein Wort,“ begann der Advokat wieder, „Carew war mein Klient, du bist es auch, ich muß wissen, was ich zu thun habe. Du bist doch nicht auf die Tollheit verfallen, diesen Gesellen zu verbergen?“
„Utterson, ich schwöre bei Gott,“ rief der Doktor aus, „ich schwöre bei Gott, daß ich ihn nie wieder vor Augen sehen will. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich für diese Welt mit ihm abgerechnet habe. Es ist alles aus. Er bedarf meiner Hilfe nicht; du kennst ihn nicht, wie ich ihn kenne; er ist sicher – ganz sicher; achte auf meine Worte, man wird nie wieder etwas von ihm hören.“
Finster hörte der Advokat zu. Das fieberhafte Benehmen seines Freundes wollte ihm nicht gefallen. „Du scheinst seiner sehr gewiß zu sein,“ sagte er, „und in deinem Interesse will ich dir wünschen, daß du recht behieltest. Wird eine Untersuchung eingeleitet, so wird wohl auch dein Name dabei genannt werden.“
„Ich bin seiner ganz sicher,“ erwiderte Jekyll, „ich habe Gründe dafür, die ich nicht sagen kann. In einer Sache aber kannst du mir raten. Ich habe einen Brief empfangen und weiß nicht, ob ich ihn der Polizei übermitteln soll. Ich möchte ihn in deinen Händen lassen; du wirst weise urteilen, das ist sicher; ich habe ein großes Vertrauen zu dir.“
„Du fürchtest wohl, daß dieser zu seiner Entdeckung führen könnte?“ fragte der Advokat.
„Nein,“ sagte der andere, „es ist mir ganz gleichgültig, was aus Hyde wird, ich habe ganz mit ihm gebrochen. Ich dachte an meine eigene Stellung, welche die verhaßte Angelegenheit ein wenig gefährdet.“
Utterson besann sich eine Weile; er war überrascht über seines Freundes Selbstsucht und atmete dennoch erleichtert auf. „Nun,“ sagte er schließlich, „laß mich den Brief sehen!“
Der Brief war mit merkwürdig steiler Handschrift geschrieben und trug die Unterschrift „Edward Hyde“. Der Inhalt des Schriftstückes war, daß des Schreibers Wohlthäter Dr. Jekyll, dem er seit lange seine Wohlthaten so schlecht vergolten hatte, sich keine Sorge um seine Sicherheit zu machen brauche, da er Mittel zur Flucht habe, auf welche er ein festes Vertrauen setze. Dem Advokaten, gefiel der Brief insofern, als er ein besseres Licht auf diese freundschaftliche Beziehung warf, als er vermutet hatte, und er schämte sich sogar seines früheren Argwohns.
Hast du das Couvert noch?“ fragte er.
„Ich habe es verbrannt, ehe ich recht wußte, was ich that; aber es trug keinen Poststempel. Das Schreiben wurde so abgegeben.“
„Soll ich es behalten und darauf schlafen?“ fragte Utterson.
„Ich wünsche, daß du für mich handelst,“ war die Entgegnung. „Ich habe alles Vertrauen zu mir selber verloren.“
„Ich will es mir überlegen,“ meinte der Advokat. „Doch nun noch ein Wort: war es Hyde, der dir jene Klausel über das Verschwinden in deinem Testamente diktierte?“
Der Doktor schien von einer Schwäche befallen zu werden; er schloß fest den Mund und nickte bejahend.
„Ich wußte es,“ sagte Utterson, „er wollte dich ermorden; du bist ihm glücklich entronnen.“
„Ich habe, was weit mehr ist, eine Erfahrung gemacht. – O Gott, Utterson, welch eine Erfahrung habe ich gemacht!“ Und er bedeckte für einen Augenblick mit den Händen sein Gesicht.
Beim Hinausgehen wechselte der Advokat einige Worte mit Poole.
„Es wurde heute ein Brief hier abgegeben,“ sagte er, „wie sah der Bote aus?“
Aber Poole wußte gewiß, daß alles nur durch die Post gekommen war, und durch diese auch nur Empfehlungsschreiben.
Diese Auskunft erfüllte den Besucher von neuem mit Befürchtungen. Gewiß war der Brief durch die Thür des Laboratoriums gekommen, möglicherweise war er sogar in dem Kabinett geschrieben; und wenn dem so war, mußte die Angelegenheit anders angefaßt und mit desto größerer Vorsicht behandelt werden. „Neueste Nachrichten, Ermordung eines Parlamentmitgliedes!“ riefen die Zettelträger auf den Straßen. Das war der Begräbnisschmuck eines Freundes und Klienten, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß auch der Name eines anderen mit in den Strudel dieser Wandelgeschichte gerissen würde. Es war wenigstens eine kitzliche Entscheidung, welche er zu treffen hatte, und selbstvertrauend, wie er war, fing er an, sich nach einem guten Rat zu sehnen. Dieser war nicht so leicht zu finden, aber er konnte ihn doch suchen.
Bald nachher saß er mit Mr. Guest, seinem Vorgesetzten, am eigenen Herde; eine Flasche guten alten Weines, der lange tief verborgen im Keller seines Hauses gelegen, stand zwischen ihnen in einiger Entfernung vom Feuer. Der Nebel lagerte noch über der Stadt, und die Laternen leuchteten wie Feuerkugeln. Trotz dieser dampfigen Atmosphäre rollte das Leben und Treiben der Stadt wie gewöhnlich sich ab. Das Zimmer wurde durch das Feuer erhellt, die Farben der bemalten Fenster traten greller hervor, und die Sonne eines heißen Herbstnachmittags fing an, den Londoner Nebel zu zerstreuen. Allmählich wurde der Advokat mitteilsamer. Vor niemand hatte er weniger Geheimnisse als vor Mr. Guest, wußte aber auch, daß dieser sie für sich behielt. Guest war oft in Geschäftsangelegenheiten bei dem Doktor gewesen; er kannte Poole; es war kaum möglich, daß er nicht gehört haben sollte, wie vertraut Mr. Hyde in dem Hause gewesen war; daraus konnte er Vermutungen ziehen. War es nicht ebensogut, wenn er ihm den Brief zeigte, der das Geheimnisvolle der Sache aufklärte? und vor allen Dingen war Guest ein großer Kenner der Handschriften, er konnte vielleicht den natürlichen und pflichtgemäßen schritt leicht herausfinden. Außerdem war der Gelehrte ein guter Ratgeber; er würde kaum dieses seltsame Schriftstück lesen, ohne eine Bemerkung fallen zu lassen, und durch diese – dachte Mr. Utterson – würde ihm vielleicht sein künftiger Weg vorgezeichnet sein.
„Es ist eine traurige Sache mit Sir Danvers,“ sagte er.
„Ja, gewiß. Es hat viel Aufsehen erregt,“ entgegnete Guest, „der Mensch war natürlich verrückt.“
„Ich würde gern ihre Ansicht darüber hören,“ erwiderte Utterson. „Ich habe hier ein Schriftstück von ihm; es bleibt unter uns, denn ich weiß kaum, was ich thun soll, es ist wenigstens eine sehr unangenehme Angelegenheit. Aber hier ist es; ganz nach ihrem Geschmack: der Autograph eines Mörders!“
Guests Augen leuchteten, und er setzte sich sofort hin und studierte den Brief mit Leidenschaft. „Nein,“ sagte er, „verrückt ist der nicht; aber es ist eine merkwürdige Handschrift.“
„Und auf jeden Fall ist der Schreiber erst recht merkwürdig,“ fügte der Advokat hinzu.
Da kam gerade der Diener mit einem Billet.
„Ist das von Dr. Jekyll?“ forschte der Gelehrte. „Ich glaubte, die Handschrift zu erkennen. Ist es eine Privatangelegenheit, Mr. Utterson?“
„Nur eine Einladung zum Mittagessen. Weshalb wünschen Sie es zu sehen?“ „Einen Augenblick. Ich danke Ihnen, Mr. Utterson,“ und der Gelehrte legte die beiden Schreiben nebeneinander und verglich sie voller Eifer. Dankend gab er dann die beiden Schriftstücke zurück und setzte hinzu: „Ein sehr interessanter Autograph!“ Einen Augenblick kämpfte Mr. Utterson mit sich selber. „Weshalb dieser Vergleich, Guest?“ forschte er dann plötzlich.
„Die Handschriften gleichen sich sehr, in manchen Punkten sind sie ganz ähnlich, nur verschieden gesenkt.“
„Etwas verstellt,“ meinte Utterson.
„Ja, Sie haben recht, ein wenig verstellt.“
„Ich wollte von diesem Billette hier nicht sprechen, wie ^ie wissen,“ sagte der Advokat.
„Nein, gewiß,“ sagte Guest. „Ich verstehe das wohl.“
Aber kaum war Mr. Utterson in jener Nacht allein, als er das Schriftstück in seinen Geldschrank schloß, wo es von jener Zeit an ruhen blieb. „Was,“ dachte er, „Henry Jekyll fälscht für einen Mörder!“
Und bei dem Gedanken erstarrte ihm das Blut in den Adern.
Die Zeit verging; Tausende von Pfunde wurden als Belohnung ausgesetzt, denn der Tod des Sir Danvers wurde als öffentliche Beleidigung betrachtet; aber Mr. Hyde war den Nachforschungen der Polizei entgangen, als ob er niemals existiert hätte.
Ueber seine Vergangenheit erfuhr man manches, jedoch nur Schlechtes. Es kamen Geschichten von seiner Grausamkeit ans Licht, von seiner Hartherzigkeit und Leidenschaftlichkeit; man sprach von seinem lasterhaften Leben, seinen sonderbaren Gefährten, von dem Haß, der ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde; aber nichts wurde über sein jetziges Verbleiben kund. Seit jener Zeit, wo er am Tage des Mordes sein Haus in Soho verließ, war er spurlos verschwunden. Mr. Utterson erholte sich allmählich von seiner Aufregung und fand seine Gemütsruhe wieder. Der Tod des Sir Danvers war nach seiner Meinung reichlich gesühnt durch Mr. Hydes Verschwinden. Da jetzt dieser schlechte Einfluß entfernt war, begann ein neues Leben für Dr. Jekyll. Er gab seine Zurückgezogenheit auf, erneuerte die Beziehungen zu seinen Freunden und wurde wieder ihr vertrauter Gast und Unterhalter. War er stets seiner Wohlthaten halber bekannt, so lobte man jetzt auch seine Religiosität. Er war stets geschäftig, ließ sich viel sehen und that Gutes, wo er konnte. Sein Gesicht wurde Heller und freundlicher, und zwei Monate hindurch lebte der Doktor in Frieden. Am 8. Januar hatte Utterson eine kleine Mittagsgesellschaft bei dem Doktor mitgemacht; auch Lanyon war dort gewesen. Der Blick des Gastgebers war von einem zum anderen gewandert, gerade wie in den alten Zeiten, wo diese drei unzertrennliche Freunde waren. Am 12. jedoch und wieder am 14. blieb die Thür dem Advokaten verschlossen. Der Doktor sei an das Haus gebunden und sähe niemand, sagte Poole.
Er versuchte es nochmals am 15., doch wurde er wieder abgewiesen. Da er aber in den letzten zwei Monaten seinen Freund fast täglich gesehen hatte, fiel ihm dessen erneuerte Vorliebe für die Einsamkeit schwer aufs Herz. An: 5. Tage war Mr. Guest bei ihm zu Mittag, und am 6. ging er zu Dr. Lanyon.
Dort wurde er wenigstens nicht abgewiesen; aber als er in das Zimmer trat, war er entsetzt über das veränderte Aussehen des Doktors. Das Zeichen des Todes war auf seiner Stirn zu lesen. Der blühende Mann war bleich geworden, sein Fleisch abgefallen; er war sichtlich elender und älter geworden; und doch waren es weniger die Zeichen eines physischen Uebels, die des Advokaten Aufmerksamkeit erregten, als vielmehr der Blick seines Auges und die Art des Benehmens, welches ein tiefes Gemütsleiden zu verraten schien. Es war unwahrscheinlich, daß der Arzt sich vor dem Tode fürchtete, und doch war Utterson schließlich versucht, es zu glauben. „Ja,“ dachte er, „er ist ein Arzt, er muß seinen Zustand am besten kennen, und weiß, daß seine Tage gezählt sind, und das Wissen muß mehr sein, als er ertragen kann.“ Und doch sagte er mit großer Ruhe und Festigkeit, als Mr. Utterson eine Bemerkung über sein elendes Aussehen fallen ließ, daß er ein dem Tode geweihter Mensch sei. „Ich habe einen Anfall gehabt,“ sagte er, „von dein ich mich nie wieder erholen werde. Es ist nur eine Frage der Zeit. Das Leben war angenehm, ich liebte es nur zu sehr. Ich denke bisweilen, wenn wir alles wüßten, würden wir froh sein, hinweggerückt zu werden.“ „Jekyll ist auch krank,“ bemerkte Utterson. „Hast du ihn gesehen?“ Lanyons Gesichtsausdruck veränderte sich, und indem er zitternd die Hände ausstreckte, sagte er mit lauter, unsicherer Stimme: „Ich will von Dr. Jekyll nichts mehr sehen, noch hören; ich habe ganz mit ihm gebrochen und bitte dich, mir jegliche Erklärung über einen, den ich als tot betrachte, zu ersparen.“ „Still, still!“ sagte Mr. Utterson; und nach einer Pause fuhr er fort: „Kann nichts in der Sache gethan werden? Wir sind drei alte Freunde, Lanyon; wir werden keine anderen mehr erwerben.“ „Nichts kann geschehen,“ entgegnete Lanyon, „frage ihn selbst!“ „Er will mich nicht sehen,“ sagte der Advokat. „Ich bin nicht erstaunt darüber,“ war die Antwort. „Eines Tages, Utterson, nach meinem Tode wirst du die Sachlage vielleicht verstehen. Ich darf es dir jetzt nicht sagen. Wenn du Zeit hast, um über andere Dinge mit mir zu sprechen, dann bleibe ich ja hier, kannst du aber dies verhaßte Thema nicht vermeiden, dann gehe lieber weg, denn ich kann es nicht ertragen, davon zu reden.“ Sobald Utterson zu Hause anlangte, schrieb er an Jekyll, indem er sich darüber beklagte, daß er nie angenommen worden sei, und erkundigte sich genauer nach dem unglückseligen Bruch mit Lanyon. Der nächste Tag brachte ihm eine lange, sehr pathetisch klingende, stellenweise geheimnisvolle Antwort. Die Erzürnung mit Lanyon war nicht mehr gut zu machen. „Ich tadele unseren alten Freund nicht,“ schrieb Jekyll, „aber ich teile seine Ansicht, daß wir uns nicht wieder sehen dürfen. Ich null fortan ein durchaus zurückgezogenes Leben führen; du darfst nicht überrascht darüber sein, noch an meiner Freundschaft Zweifeln, wenn meine Thür selbst dir verschlossen bleibt. Du mußt es ertragen,' wenn ich meine eigenen dunkeln Wege gehe. Ich muß eine Strafe tragen und bin einer Gefahr ausgesetzt, die ich dir nicht nennen darf. Wenn ich der größte Sünder bin, bin ich auch der größte Dulder. Niemals habe ich geglaubt, daß es so unmenschliche Leiden und Schrecken auf dieser Welt gäbe; und du kannst mir nur insofern dies Los erleichtern, als du mein Schweigen respektierst.“ Utterson war darüber höchst erschrocken. Der schlechte Einfluß Hydes war entschwunden, der Doktor war zu seinen alten Gewohnheiten und Freunden Zurückgekehrt; eine Woche zuvor noch schien es, als solle er ein fröhliches und ehrenvolles Alter genießen. Doch plötzlich hatte nicht nur Freundschaft, sondern auch Gemütsruhe und der ganze Halt seines Lebens Schiffbruch gelitten. Ein so großer überraschender Umschwung ' ließ auf Geistesgestörtheit schließen; «doch nach Lanyons Äeußerungen und Benehmen mußte der Grund tiefer liegen.
Eine Woche später wurde Dr. Lanyon bettlägerig und kaum vierzehn Tage darauf starb er. – Nachdem das Begräbnis, das Mr. Utterson sehr traurig gestimmt hatte, vorüber war, verschloß er die Thür seines Geschäftszimmers, und dort, allein bei me- lancholischer Beleuchtung sitzend, nahm er ein versiegeltes Schreiben seines toten Freun- des zur Hand. „Privatsache: nur zu eigenen Händen des J. G. Utterson, und im Falle er vor mir sterben sollte, soll dieses Papier ungelesen verbrannt werden.“ Der Ad- vokat fürchtete sich vor dein Inhalt. „Ich habe heute schon einen Freund begraben,“ dachte er, „sollte dieses mich den zweiten kosten?“ Doch er bezwang seine Furcht und brach das Siegel auf. Inliegend fand er noch ein Couvert mit der Aufschrift: „Erst nach dem Tode oder Verschwinden von Henry Jekyll zu öffnen.“ Utterson traute kaum seinen Augen. Wieder das Wort „Verschwinden“, wie in dem un- klugen Testament, welches er längst dem Verfasser zurückgegeben hatte; wirklich auch hier das Wort „Verschwinden“ im Zusammenhang mit Henry Jekylls Namen. (Schluß folgt.)
Wunderbares Ereignis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Von Robert Louis Stevenson. (Schluß.) Im Testament war es Hydes böser Ratschlag; aber was konnte es hier, von Lanyon geschrieben, bedeuten? Er wurde von großer Neugierde befallen und wollte das Verbot nicht achten und sofort das ganze Geheimnis im vollen Umfange erfahren; aber die Ehre seines Standes und das Andenken an seinen verstorbenen Freund trugen den Sieg davon, und das Schreiben ruhte fortan in dem verborgensten Fache seines Geldschrankes. Es ist zweierlei, Neugierde ertöten, oder sie nur bezwingen. Es ist sehr zweifelhaft, ob Utterson von jenem Tage an sich noch in gleichem Maße des Zusammenseins mit seinem überlebenden Freunde erfreute. Wohl dachte er gut von ihm, aber sein Herz war voll Unruhe und Furcht. Allerdings ging Utterson hin, um ihn zu besuchen; aber in Wahrheit war er vielleicht froh, abgewiesen zu werden: vielleicht zog er es eher vor, in der frischen Luft. umgeben vom Lärm der Stadt, einige Worte mit Poole zu wechseln, als in jenem freiwilligen Kerker empfangen zu werden, um dort zu sitzen und mit dem unerforschlichen Einsiedler zu reden. Wie es schien, zog der Doktor sich mehr und mehr in das Kabinett über dem Laboratorium zurück, wo er bisweilen sogar schlief; er war schlechter Laune, war schweigsam geworden, vernachlässigte seine Lektüre; es machte den Eindruck, als sei er gemütskrank. Utterson
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Bearbeitengewöhnte sich so an diesen alltäglichen Bescheid, daß er nach und nach die Anzahl seiner Besuche verringerte.
An einem Sonntag, als Mr. Utterson seinen gewohnten Spaziergang mit Mr. Enfield unternahm, führte ihr Weg sie wieder einmal durch jene Nebenstraße und in der Höhe der bewußten Thür anlangend, richteten sie ihre Blicke dorthin.
„Jene Geschichte hat wenigstens ihr Ende erreicht.“ bemerkte Enfield. „Wir werden Hyde wohl niemals wiedersehen.“
„Hoffentlich nicht,“ sagte Utterson. „Habe ich dir schon erzählt, daß ich ihn einmal gesehen und dein abstoßendes Gefühl geteilt habe?“
„Es wäre unmöglich, das eine vom anderen zu trennen,“ entgegnete Enfield. „Und für welch einen Esel mußt du mich gehalten haben, da ich nicht wußte, daß jene eine Hinterthür zu Dr. Jekylls Wohnung ist. Wenn ich es herausfand, war es teilweise deine eigene Schuld.“
„So, du hast es wirklich herausgefunden?“ sagte Utterson. „Wenn dem so ist, so laß uns nach dem Hof gehen und einen Blick nach seinen Fenstern werfen. Um dir die Wahrheit zu gestehen, ich bin in Sorge um den armen Jekyll; und es ist mir, als müßte es ihm ein wohlthuendes Gefühl sein, wenn hier außerhalb einer seiner Freunde steht.“
Der Hof war sehr kühl und ein wenig feucht. Die Dämmerung war hier frühzeitig hereingebrochen, obgleich der Himmel weiterhin noch durch die untergehende Sonne erhellt wurde. Das mittlere der drei Fenster stand zur Hälfte auf, und an demselben sah Utterson den Dr. Jekyll sitzen, die frische Luft mit einer unendlichen Traurigkeit, gleich einem verzweifelten Gefangenen, einatmend.
„Was! Jekyll!“ rief er ans. „Ich hoffe, es geht dir besser!“
„Ich bin sehr schwach, Utterson,“ erwiderte der Doktor traurig, „sehr schwach. Gott sei Dank, es wird wohl nicht lange mehr dauern.“
„Du sitzest zu viel zu Hause,“ sagte der Advokat. „Du solltest herunterkommen und einen Spaziergang wie Mr. Enfield und ich machen. (Das ist mein Vetter – Mr. Enfield – Dr. Jekyll.) Komm doch heraus, nimm deinen Hut und gehe mit uns spazieren.“
„Das ist sehr freundlich,“ seufzte der andere. „Ich würde es gern thun; aber nein, nein, nein, es ist ganz unmöglich, ich wage es nicht. Doch bin ich sehr erfreut, dich zu sehen, Utterson; es gewährt mir wirklich großes Vergnügen; ich möchte dich und Mr. Enfield gern heraufnötigen; aber dieser Ort ist wirklich nicht dazu geeignet.“
„Dann,“ sagte der Advokat gutmütig, „ist es das beste, wir bleiben hier stehen und sprechen so mit dir.“
„Das wollte ich gerade vorschlagen,“ entgegnete der Doktor mit einem Lächeln. Kaum hatte er jedoch diese Aeußerung gethan, als das Lächeln aus seinem Gesicht wich, um einem Ausdruck des Entsetzens und der Verzweiflung Platz zu machen, welcher das Blut der beiden untenstehenden Herren zum Erstarren brachte. Sie sahen ihn nur für einen Augenblick, da das Fenster zugeworfen wurde; aber dieser Augenblick genügte, und sie verließen, ohne ein Wort zu sprechen, den Hof. Stillschweigend überschritten sie dann die Straße, und erst als sie in einen benachbarten Durchgang gelangten, sah Mr. Utterson seinen Begleiter an. Beide waren blaß und ihre Gesichter noch von Entsetzen erfüllt.
„Gott behüte uns. Gott behüte uns,“ sagte Mr. Utterson. Mr. Enfield nickte nur ernst mit dem Kopfe und ging wieder in tiefem Schweigen weiter.
Mr. Utterson saß eines Nachmittage am Kaminfeuer. als er durch Pooles Erscheinung
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Bearbeitenüberrascht wurde. – „In aller Welt, Poole, was führt Sie her?“ rief er aus; und ihn genauer betrachtend, fügte er hinzu: „Was fehlt Ihnen, ist der Doktor krank?“
„Mr. Utterson,“ sagte der Diener, „irgend etwas ist bei uns nicht in Richtigkeit.“
„Setzen Sie sich, und hier haben Sie ein Glas Wein,“ sagte der Advokat. „Und nun nehmen Sie sich Zeit und sagen Sie mir, was Sie drückt.“
„Ach, gnädiger Herr,“ erwiderte Poole, „Sie kennen ja die Eigentümlichkeit des Doktors, sich einzuschließen. Nun hat er sich wieder eingeschlossen, und das ist mir nicht lieb – ich versichere Ihnen bei meinem Leben, es ist mir sehr unlieb. Mr. Utterson, ich fürchte ...“
„Nun, mein guter Manu,“ sagte der Advokat, „drücken Sie sich deutlich aus; was fürchten Sie?“
„Ich fürchte mich schon seit einer ganzen Woche,“ fuhr Poole, die Frage kaum beachtend, fort, „jetzt kann ich es nicht mehr ertragen. Des Dieners Erscheinung stand im Einklang mit seinen Worten; er sah schrecklich elend aus, und seit dem Augenblick, wo er zuerst seinen Kummer mitteilte, hatte er seine Augen nicht wieder zu dem Advokaten erhoben, selbst jetzt noch hielt er das Glas Wein unberührt in der Hand, und seine Augen hafteten am Fußboden. „Ich kann es nicht mehr ertragen,“ wiederholte er.
„Lassen Sic es gut sein,“ sagte der Advokat, „ich sehe wohl, daß etwas Besonderes vorgefallen sein muß; versuchen Sie nur, es mir zu erzählen.“
„ Ich glaube, daß böses Spiel im Gange gewesen ist,“ sagte Poole mit heiserer Stimme.
„Böses Spiel!“ rief der Advokat erschreckt und ein wenig gereizt aus. „Welch ein böses Spiel? Mensch, was meinen Sie denn eigentlich damit?“
„Ich wage nichts zu sagen, gnädiger Herr,“ lautete die Antwort; „aber wollen Sie selbst mitkommen und sich davon überzeugen?“
Mr. Uttersons einzige Antwort bestand darin, daß cr sofort Hut und Mantel ergriff. Mit Staunen gewahrte er das erleichterte Aufatmen Pooles, der den Wein noch unberührt gelassen hatte, als er sich anschickte, ihm zu folgen.
Es war eine rauhe, kalte Märznacht; der Mond war blaß und lag auf dem Rücken, als wenn der Wind ihn umgestoßen hätte. Der Wind erschwerte jegliches Gespräch und trieb dem Wanderer das Blut ins Gesicht. Die Straßen waren wie leergefegt, so ungewöhnlich menschenleer glaubte Mr. Utterson jenen Teil Londons noch nie gesehen zu haben. Er wünschte, es möchte anders sein, denn nie zuvor hatte er so den sehnlichsten Wunsch, einige seiner Mitmenschen zu sehen, empfunden. Soviel er auch dagegen anging, er konnte sich nicht des Gefühles erwehren, daß ein großes Unglück geschehen sei. Der ganze Platz, an welchem sie eben anlangten, war windig und staubig, und die dünnen Bäume im Garten wurden heftig vom Sturm geschüttelt. Poole, der bisher einige Schritte vorausgegangen war, blieb mitten auf der Straße stehen und nahm, ungeachtet des schneidend kalten Wetters, seinen Hut ab und wischte sich mit einem roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Aber trotz seines eiligen Gehens waren diese Schweißtropfen nicht durch die Anstrengung, sondern durch die tödliche Angst hervorgebracht, denn sein Gesicht war leichenblaß und seine Stimme heiser und gebrochen.
„Endlich sind wir angelangt, gnädiger Herr,“ sagte er, „und Gott gebe, daß es nicht so schlimm steht!“
„Amen. Poole,“ sagte der Advokat.
Darauf klopfte der Diener vorsichtig an; die Thür wurde halb geöffnet, und eine Stimme von innen fragte: „Sind Sie es, Poole?“
„Es ist alles in Ordnung,“ gab Poole zurück, „öffnet die Thür!“ Als sie die Vorhalle, die hell erleuchtet war, betraten, brannte das Feuer lustig im Kamin, um den sich sämtliche Dienstboten männlichen und weiblichen Geschlechtes wie eine Herde Schafe versammelt hatten. Bei Mr. Uttersons Anblick brach die Haushälterin in klägliches Wimmern und die Köchin stieß ein lautes „Gott sei Dank!“ aus, indem sie auf den Advokaten zulief, als wollte sie ihn umarmen.
„Was soll das bedeuten? Ihr alle hier?“ sagte der Advokat in strengem Ton. „Das ist ja merkwürdig und unziemlich; euer Herr würde durchaus nicht damit einverstanden sein.“
„Sie fürchten sich,“ sagte Poole.
Tiefes Schweigen folgte; keiner wagte, einen Einwand zu machen; nur die Köchin erhob unter lautem Schluchzen ihre Stimme.
„Haltet Euere Zunge!“ sagte Poole mit vor Erregung zitternder Stimme, die den Zustand seiner eigenen Nerven nur zu deutlich erkennen ließ; und wirklich, als das Mädchen so plötzlich ihre laute Klage erhoben hatte, richteten sich alle Blicke mit
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BearbeitenGespanntheit ans die ins Innere führende Thür. „Und nun,“ fuhr Poole, sich an den Küchenjungen wendend, fort, „gib mir ein Licht, denn wir wollen sofort der Sache auf den Grund gehen.“ Dann bat er Mr. Utterson, ihm durch den kleinen Hintergarten zu folgen.
„Gnädiger Herr,“ sagte er, „gehen Sie so leise wie irgend möglich. Ich wünsche, daß Sie hören, ohne gehört zu werden. Wenn er Sie hinein ruft, so leisten Sie der Aufforderung keinenfalls Folge.“
Bei dieser unerwarteten Bestimmung wurden Mr. Uttersons Nerven dermaßen erschüttert, daß er fast jegliches Gleichgewicht verlor; doch er sammelte sich bald und folgte dein Diener durch das Laboratoriumgebäude und jenen mit Instrumenten und Flaschen angefüllten Raum bis zu dem Fuße der kleinen Treppe. Hier gab Poole ihm ein Zeichen, stehen zu bleiben und zu horchen, während er selbst das Licht fortsetzte und mit zitternder Hand an die mit rotem Zeuge bekleidete Thür des Kabinettes klopfte.
„Mr. Utterson ist hier, gnädiger Herr; er wünscht Sie zu sehen,“ rief er, noch einmal den Advokaten durch ein Zeichen zum Horchen auffordernd.
Eine Stimme von innen antwortete in kläglichem Ton:
„Sage ihm, ich könnte niemand sehen.“
„Ich danke Ihnen, gnädiger Herr,“ sagte Poole mit einem Anflug von Triumph in der Stimme, und das Licht aufnehmend, führte er Mr. Utterson über das Stück Feld zurück in die Küche, wo das Feuer ausgegangen war und die Kessel auf der Erde standen.
„Gnädiger Herr,“ sagte er, Mr. Utterson ins Gesicht blickend, „war das meines Herrn Stimme?“
„Sehr verändert scheint sie mir wirklich,“ erwiderte der Advokat erbleichend, ihn gleichfalls scharf ansehend.
„Verändert? Ja, gewiß, das finde ich auch,“ sagte Poole. „Bin ich denn nicht zwanzig Jahre im Hause, um mich jetzt über meines Herrn Stimme zu täuschen? Nein, gnädiger Herr; mein Herr ist beseitigt worden; es muß vor acht Tagen geschehen sein, wo wir ihn den Namen Gottes so laut ausrufen hörten; und wer jetzt statt seiner dort ist, und weshalb er dort bleibt, das ist eine himmelschreiende Sache, Mr. Utterson.“
„Das ist eine sehr seltsame Geschichte, Poole, es klingt ja fast unglaublich,“ sagte Mr. Utterson, nachdenklich an seinen Fingern kauend. „Angenommen, es verhielte sich so, wie Sie denken, und Dr. Jekyll wäre ermordet, was könnte den Mörder veranlassen, sich noch dort aufzuhalten? Das ist nicht wahrscheinlich; es widerstreitet der gesunden Vernunft.“
„Sir sind ein schwer zu befriedigender Mann, Mr. Utterson, aber es wird mir doch noch gelingen, Sie zu überzeugen,“ sagte Poole. „Diese ganze Woche hindurch – denken Sie nur – hat er, oder es, genug – das lebende Wesen in jenem Kabinett Tag und Nacht nach einer Medizin verlangt, die es nicht erlangen konnte.
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BearbeitenEs war bisweilen seine, meines Herrn, Gewohnheit, seine Befehle auf einen Zettel Papier zu schreiben und diesen auf die Treppenstufen zu werfen. – Diese ganze Woche hindurch hatten wir nichts anderes, nichts als solche Zettel und eine verschlossene Thür. Die zum Mittagessen hergerichteten Speisen mußten verderben, da sich niemand danach umsah. Jeden Tag, und oft zwei- bis dreimal nm Tage, wurden Befehle und Klagen auf diese Weise laut, und ich mußte zu allen berühmten Chemikern in der ganzen Stadt eilen. Jedesmal, wenn ich das Verlangte brachte, bekam ich den erneuten Befehl, dasselbe zurückzubringen, da es nicht richtig sei, und zugleich die Adresse einer anderen Firma. Dieses Mittel ist sicher zu schlechten Zwecken verwandt, gnädiger Herr.“
„Haben Sie eines dieser Papiere bei sich?“ fragte Mr. Utterson.
Poole fühlte in seine Tasche und holte einen zerknitterten Zettel hervor, welchen der Advokat, sich nahe zu dem Lichte beugend, aufmerksam untersuchte. Der Inhalt lautete: „Dr. Jekyll sendet Messrs. Maw seilte besten Empfehlungen. Er versichert hiermit, daß das Mittel unrein und für seine gegenwärtigen Zwecke unbrauchbar ist. Im Jahre 18– hat Dr. J. einen großen Vorrat dieses Mittels von Messrs. Maw empfangen. Er bittet jetzt möglichst sorgsam nachsuchen m wollen, und wenn noch etwas von derselben Sorte vorhanden sein sollte, es ihm sofort zu schicken. Geldkosten kommen gar nicht in Betracht. Den Wert, den dieses Mittel für Dr. Jekyll hat, kann kaum jemand ermessen.“ So weit war dieser Brief ganz ruhig gehalten; aber hier brach, mit einem plötzlichen Absatz der Feder, des Schreibers ganze Leidenschaft durch. „Um Gottes willen,“ fügte er hinzu, „besorgen Sie mir das alte Mittel!“
„Dies ist ein seltsames Schreiben,“ sagte Mr. Utterson, und in scharfem Tone fragte er dann: „Wie kamen Sie dazu, es zu öffnen?“
„Der Mann bei Maws, dem ich es gab, wurde böse und warf es mir an den Kopf,“ entgegnete Poole.
„Wissen Sie gewiß, daß dies des Doktors Handschrift ist?“ fragte der Advokat.
„Dem Anschein nach sah es so aus,“ sagte der Diener, und mit veränderter Stimme fortfahrend, fügte er hinzu: „Aber was will eine Handschrift sagen; ich habe ihn gesehen.“
„Sie haben ihn gesehen?“ wiederholte Mr. Utterson. „Erzählen Sie doch.“
„Gern,“ gab Poole zurück. „Es war an dieser Stelle. Ich betrat, vom Garten her kommend, das Auditorium. Anscheinend hatte er sich heraus geschlichen, um sich nach diesem Gift, oder was es sonst ist, umzusehen, denn die Thür des Kabinettes stand offen, und dort am anderen Ende des Zimmers stand er und kramte zwischen den Instrumenten. Als ich eintrat, blickte er auf, stieß einen Schrei aus und flüchtete in das Kabinett. Ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen; aber das Haar stand mir zu Berge. Gnädiger Herr, wenn das mein Herr war, weshalb trug er eine Maske vor dem Gesicht? Wenn es mein Herr war, weshalb schrie er auf und lief davon? Ich habe ihm lange genug gedient. Und dann ...“
Poole hielt inne und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
„Es sind das lauter merkwürdige Umstände,“ sagte Mr. Utterson, „aber ich glaube, nun klar darin zu sehen. Ihr Gebieter, Poole, ist von einer jener schrecklichen Krankheiten befallen, die den Patienten quälen und ihn mißbilden; daher rührt seine veränderte Stimme, davon seine Maske her, so wie das Vermeiden seiner Freunde; daher sein Eifer, dieses Mittel zu finden, durch welches der Aermste einige Hoffnung der Wiederherstellung erlangt – Gott gebe, daß er nicht enttäuscht werde! Das ist meine Erklärung; sie ist traurig genug, Poole, und das Herz blutet mir, wenn ich daran denke; aber sie ist einfach und zusammen hängend und befreit uns von allen absonderlichen Vermutungen.“
„Gnädiger Herr,“ sagte der Diener blaß werdend, „jenes Geschöpf war nicht mein Herr, und das ist die Wahrheit. Mein Herr“ – hier sah er sich ringsum und begann zu flüstern – „ist ein großer, stattlicher Mann, und dieses Wesen glich eher einem Zwerge.“ Utterson versuchte einen Einwand. „Oh!“ rief Poole aus, „glauben Sie, ich kenne meinen Herrn nach zwanzig Jahren noch nicht? Glauben Sie, daß ich ihn nicht erkenne, wenn er in der Thür erscheint, wo ich ihn doch täglich sah? Nein, gnädiger Herr, dieses maskierte Wesen war keineswegs Dr. Jekyll – Gott weiß, wer es war, aber Dr. Jekyll war es nicht. Es ist meine innerste Ueberzeugung, daß ein Mord verübt worden ist.“
„Poole,“ erwiderte der Advokat, „wenn Sie das sagen, wird es meine Pflicht sein, mir Gewißheit darüber zu verschaffen. So gerne ich auch die Gefühle Ihres Herrn schonen möchte, so sehr ich auch durch jenes Schreiben in Verlegenheit gesetzt bin, welches anscheinend beweist, daß er noch am Leben ist, so halte ich es doch für meine Pflicht, jene Thür zu erbrechen.“
„Ah, Mr. Utterson, das ist ein Wort,“ rief der Diener aus.
„Und jetzt kommt die zweite Frage,“
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Bearbeitensetzte Utterson hinzu! „Wer wird das Werk vollführen?“
„Wer sonst als Sie und ich, gnädiger Herr?“ lautete die schnelle Antwort.
„Das ist sehr gut gesagt,“ entgegnete der Advokat, „und was auch danach kommen mag, ich werde es mir zur Aufgabe stellen, daß Sie nichts dabei verlieren.“
„Dort in dem Vorplatz ist eine Axt,“ fuhr Poole fort, „und Sie können für sich das Küchenschüreisen nehmen.“
Der Advokat nahm dieses rohe, aber gewichtige Instrument in die Hand und ließ es balancieren. „Wissen Sie, Poole,“ sagte der Advokat aufblickend, „daß Sie und ich uns in eine gefahrvolle Lage bringen?“
„Das können Sie in der That sagen, gnädiger Herr?“ sagte der Diener.
„Es ist gut, wenn wir dann aufrichtig gegeneinander sind,“ sagte der andere; „wir beide denken mehr, als wir gesagt haben; wir wollen frei von der Leber reden. Haben Sie diese maskierte Gestalt erkannt?“
„Jenes Wesen, gnädiger Herr, ging so schnell und war so vermummt, daß ich kaum darauf schwören könnte. Aber wenn Sie glauben, daß es Mr. Hyde war, – so muß ich sagen, nach meiner Ueberzeugung war er es. Das Wesen hatte seine Gestalt, dieselbe schnelle, behende Art und Weise; und wer anders könnte durch die Laboratoriumsthür gekommen sein? Sie erinnern sich wohl noch, gnädiger Herr, daß er zur Zeit des Mordanfalls den Schlüssel noch bei sich hatte. Aber das ist nicht alles. Ich weiß nicht, Mr. Utterson, ob Sie jemals Mr. Hyde getroffen haben?“
„Ja,“ sagte der Advokat, „ich habe ihn einmal gesprochen.“
„Dann müssen Sie, gleich wie wir, wissen, daß dieser Herr etwas Eigenartiges an sich hatte – etwas Abstoßendes –, ich kann es nicht so genau beschreiben; aber es wurde einem eisig kalt dabei zu Mute.“
„Ich gebe zu, daß ich etwas Aehnliches empfand,“ sagte Mr. Utterson.
„Ganz recht, gnädiger Herr. Als das maskierte Geschöpf wie ein Affe zwischen den Chemikalien herum sprang und dann in das Kabinett entschlüpfte, lief es eiskalt über meinen Rücken. Oh! ich weiß, daß dies noch kein Beweis ist, so viel habe ich auch gelernt; aber nach meinem Gefühl gebe ich Ihnen mein heiliges Wort, es war Mr. Hyde.“
„Ja, ja,“ sagte der Advokat, „ich hege dieselben Befürchtungen. Böses fürchtete ich stets, Böses konnte nur aus dieser Bekanntschaft entspringen. Ach, ich glaube Ihnen vollkommen, ich glaube, daß der arme Henry getötet worden ist und ich glaube, daß sein Mörder – zu welchem Zweck, mag Gott allein wissen – noch in dem Zimmer bei seinem Opfer haust. Nun wohl, wir wollen Rache üben. Rufen Sie Bradshaw.“
Der Hausknecht erschien, als er gerufen wurde, doch sah er sehr bleich und erregt aus.
„Nimm dich zusammen, Bradshaw,“ sagte der Advokat, „dieser Verdacht liegt sehr schwer auf euch allen; aber es ist jetzt unsere Absicht, dem Dinge ein Ende zu machen. Poole und ich wollen uns den Eintritt in das Kabinett mit Gewalt erzwingen. Wenn alles in Ordnung ist, so sind meine Schultern breit genug, um die Verantwortung auf sich zu nehmen. Sollte indessen etwas vorgefallen sein, oder der Missethäter durch die Hinterthür versuchen, die Flucht zu ergreifen, so ist es zweckmäßig, daß du mit einem Gehilfen, bewaffnet mit guten Stöcken, um jene Ecke gehst und ihr eueren Posten bei der Thür des
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BearbeitenLaboratoriums einnehmt. Wir geben euch zehn Minuten Zeit, um euere Stellung zu besetzen.“
Als Bradshaw ging, sah der Advokat nach seiner Uhr. „Und nun, Poole, wollen wir an unsere Arbeit gehen,“ sagte er, das Schüreisen unter den Arm nehmend und das kleine Stück Gartenland überschreitend. Der Mond war hinter den Wolken ver: schwunden, und tiefes Dunkel trat ein. Der Wind kam nur stoßweise in jenen mit Gebäuden umschlossenen Raum und wehte die Flamme des Lichtes, das sie trugen, hin und her, bis sie in den großen Hörsaal traten, in welchen: sie sich ruhig niederließen und warteten. In der Ferne hörten sie das Getöse der Stadt, und in der Nähe wurde die Stille nur durch hin und her gehende Fußtritte im Kabinett unterbrochen.
„So geht es alle Tage, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole; „ach, und den größten Teil der Nacht ebenfalls. Nur wenn ein neues Mittel vom Chemiker kommt, tritt eine Unterbrechung em. Es ist ein häß- liches Gefühl, einen solchen Feind dort zu wissen. Mir ist es, als würde bei jedem seiner Schritte Blut vergossen. Aber horchen Sie nochmals, ein wenig näher, bitte – horchen Sic mit Herz und Ohren, und sagen Sie mir, ob das des Doktors Schritt ist?“ Die Schritte waren leicht und mit einem gewissen sonderbaren Schwung; ob- gleich fic sich nur langsam weiter bewegten, waren sie doch sehr verschieden von Henni Jekylls schwerein, lautem Schritt. Utterson seufzte. „Hören Sie nie etwas anderes?“ fragte er. Poole nickte. „Einmal,“ sagte er, „ein mal hörte ich jenes Wesen weinen.“ „Weinen? Wie meinen Sie das?“ fragte der Advokat voller Schrecken und Entsetzen.
„Es weinte wie eine Frau oder eine verlorene Seele,“ sagte der Diener. „Ich ging mit so schwerem Herzen davon, daß ich auch hätte weinen können.“ Doch nun war die Frist von zehn Minuten verstrichen. Poole holte die Axt unter einem Bündel Stroh hervor, und das Licht wurde auf den nächsten Tisch gesetzt, um zu diesem Angriff zu leuchten. Mit verhaltenen! Atem näherten sie sich der Stelle, wo die gleichmäßigen Schritte immer noch in der Stille der Nacht zu hören waren.
„Jekyll,“ rief Utterson mit lauter Stimme, „ich verlange dich zu sehen.“
Er wartete einen Augenblick; aber da er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: „Ich warne dich, unser Verdacht ist erregt, und ich will und werde dich sehen, wenn nicht im guten, dann im bösen, wenn nicht mit deiner Genehmigung, dann durch rohe Gewalt!“ „Utterson,“ sagte die Stimme, „um Gottes willen habe Barm- herzigkeit!“ „Ah, das ist nicht Jekylls Stimme – es ist H» ^ ^ “rief UlK'lso» aus. ^ „'runter mit der Thür, ^ Poole.“ Poole schwang die Axt über seine Schulter; der Streich erschütterte das Gebäude, und die rotbekleidete Thür schwankte in ihren Angeln. Ein Schrei der Angst und des Entsetzens wurde aus dem Kabinett hörbar. Wieder und wieder erdröhnte die Thür unter den Schlägen; aber das Holz war zäh und die Angeln gut gearbeitet. Erst beim fünften Schlage gaben die Schlösser nach, und die Thür fiel nach innen ans den Fußteppich. Die Sieger entsetzten sich selbst über ihren eigenen Aufruhr und die darauf folgende Stille. Sie standen einen Augenblick still und blickten hinein. Da lag das Kabinett vor ihren Augen, erhellt von einer ruhig brennenden Lampe; ein lustiges Feuer brannte und knisterte auf dem Herde, der Kessel summte seine eintönige Melodie; einige Schubladen standen offen, die Papiere auf dem Geschäftstisch waren geordnet, und dicht bei dem Feuer standen die Sachen zur Bereitung des Thees. Wenn nicht die Glasschränke voller Chemikalien gewesen wären, würde man geneigt sein, es für das ruhigste, gemütlichste Zimmer zu halten. Doch mitten im Zimmer lag der Körper eines sich noch windenden und zuckenden Mannes. Sie näherten sich auf den Fußspitzen, kehrten ihn auf den Rücken und erblickten das von Edward Hyde.
Seine Kleidungsstücke waren viel zu groß für ihn; sie waren für des Doktors Größe berechnet; die Züge seines Gesichtes guckten noch, aber das Leben war entflohen. Utterson erkannte
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Bearbeitendurch die zerbrochene Phiole in seiner Hand und den starken Geruch von Blausäure, womit die Luft geschwängert war, daß er die Leiche eines Selbstmörders vor sich hatte. „Wir sind sowohl zum Retten als zum Strafen zu spät gekommen. Hyde ist vor seinen Richter getreten; es bleibt uns nur noch übrig, die Leiche Ihres Herrn zu suchen.“
Der bei weitem größte Teil des Gebäudes wurde durch den Hörsaal, der fast den ganzen Raum einnahm und durch Oberlicht erhellt wurde, sowie durch das Kabinett, dessen Fenster auf den Hof hinaus sehen, ausgefüllt. Ein Gang verband den Hörsaal nut der Thür in der Nebenstraße, und nut dieser war das Kabinett durch eine zweite Treppe verbunden. Außerdem befanden sich noch einige kleine, dunkle Kabinette und ein geräumiger Keller dort. Alle diese Räume durchsuchten sie ganz genau. Die Kabinette bedurften nur eines flüchtigen Ueberblickes, denn sie waren leer und staubig, da sie lange ungeöffnet ge- blieben waren. Der Keller war mit altem Gerümpel angefüllt, das noch von Jekylls Vorgänger, dem Chirurgen, stammte. Als sie diese Thür öffneten, überzeugten sie sich bald, daß jegliches weitere Suchen dort vergeblich sei, da die Spinngewebe, die jahrelang mn Eingang gesessen hatten, ihnen entgegenfielen. Nirgends war eine Spur von Henry Jekyll zu entdecken, weder tot noch lebend.
Poole stampfte auf die Fliesen des Ganges. „Er muß hier begraben sein,“ sagte er, auf den Schall horchend. „Oder er muß entflohen sein,“ sagte Utterson und untersuchte die Thür, die nach der Nebenstraße führte. Sie war verschlossen; und dicht dabei, am Boden liegend, fanden sie den bereits verrosteten Schlüssel.
„Er sieht nicht aus, als ob er benutzt worden wäre,“ bemerkte der Advokat. „Benutzt!“ wiederholte Poole. „Sehen Sie denn nicht, gnädiger Herr, daß er Zerbrochen ist, als ob ihn jemand mutwillig zerstampft hätte?“ „Ja,“ fuhr Utterson fort, „und beide Bruchstellen sind ebenfalls verrostet.“ – Verdutzt sahen sich die beiden Männer an. „Das geht über meinen Verstand, Poole,“ sagte der Advokat. „Laß uns in das Kabinett zurück gehen.“
Sie stiegen die Treppe wieder herauf und unterwarfen das Kabinett einer noch eingehenderen Prüfung, noch einmal einen entsetzten Blick auf dm Toten werfend. Auf einem Tisch fanden sich noch Ueberreste einer chemischen Arbeit; mehrere Häufchen eines weißen Salzes lagen auf gläsernen Unterschälchen, wie für ein Experiment vorbereitet, das der unglückliche Mensch noch hatte vornehmen wollen. „Das ist dieselbe Ware, die ich ihm immer gebracht habe,“ sagte Poole, und während er dies sagte, kochte der Kessel mit schreckenerregendem Geräusch über. Dies führte sie an den Herd, an den ein Lehnstuhl ganz nahe herangerückt war und wo die Sachen zum Thee bereit standen, der Zucker sogar schon in der Taste. Mehrere Bücher lagen auf dem Pult und eines lag offen auf dem Tisch. Utterson war verwundert, ein heiliges Werk, für welches Jekyll oftmals seine besondere Vorliebe ausgesprochen hatte, zu finden, das aber in seiner eigenen Handschrift mit Randbemerkungen versehen war, die empörende Lästerungen enthielten. Das Nächste, was ihnen im Verlauf der Untersuchung in die Augen fiel, war der große Wandspiegel, in welchen sie mit Entsetzen blickten. Er war so gestellt, daß sie nur den rosigen Schein von den Dächern, sowie das sich in den Glasthüren der Schränke hundertfältig wiederspiegelnde Feuer sahen.
„Dieser Spiegel hat wohl seltsame Dinge gesehen, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole.
„Und sicher nichts Seltsameres, als er selber ist,“ entgegnete der Advokat im selben Ton. „Denn was wollte Jekyll –“ er erschrak über dies Wort, überwand aber seine Schwäche und setzte hinzu: „wozu kann ihn Jekyll benutzt haben?“
„Wer kann das wissen!“ sagte Poole. Dann wandten sie sich zu dem Arbeitstisch. Zwischen den dort liegenden Papieren lag obenauf ein Schreiben, das in des Doktors Handschrift Mr. Uttersons Adresse trug. Der Advokat erbrach das Siegel, und mehrere Einlagen fielen zur Erde. Das erste Blatt war ein Testament, in derselben absonderlichen Weise versaht wie dasjenige, welches er ihm vor sechs Monaten wieder zugestellt hatte; es sollte im Falle seines Todes als Testament gelten, im Falle seines Verschwindens als Geschenk; nur statt des Namens Edward Hyde fand der Advokat zu seinem großen Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson gesetzt. Er blickte auf Poole, dann wieder auf das Papier, und zuletzt haftete sein Blick auf dem toten Missethäter, der auf dem Teppich ausgestreckt lag.
„Mein Kopf ist mir ganz wirr,“ sagte er, „er hat es all diese Tage vor seinen Augen gehabt; er hatte keinen Grund mich zu mögen: er hätte wütend sein müssen, seine Stelle durch einen anderen ausgefüllt zu sehen, und doch hat er das Testament nicht vernichtet.“
Dann nahm er das zweite Schreiben zur Hand; es war eine kurze Notiz, und das Datum stand obenan.
„O Poole,“ rief der Advokat, „er war noch heute hier und am Leben. Er kann nicht in einer so kurzen Zeit abgethan worden sein; er muß noch leben, er muß entflohen sein! Und doch, weshalb entflohen? und wohin? und können wir in dem Falle unser Werk eingestehen? O, wir müssen vorsichtig sein; ich fürchte, daß wir sonst noch Ihren Herrn in Unannehmlichkeiten verwackeln können.“
„Warum lesen Sie es nicht, gnädiger Herr?“ fragte Poole. „Weil ich Befürchtungen hege,“ erwiderte der Advokat feierlich. „Gott gebe, daß ich keine Ursache dazu habe!“ Damit nahm er den Brief und las folgendes: „Mein lieber Utterson, wenn dies in Deine Hände fällt, werde ich verschwunden sein, unter welchen Umständen, kann ich nicht vorher sehen; aber mein Verstand und all die Nebenumstände meiner namenlosen Lage sagen mir, daß das Ende mir sicher und nahe ist. So gehe denn und lese erst Lanyons Bericht, welchen er mir versprach in Deine Hände Zu legen, und willst Du mehr erfahren, dann lies die Berichte Deines unwürdigen und unglücklichen Freundes Henry Jekyll.“ „Es war doch noch ein drittes Schreiben da?“ fragte Utterson. „Hier, gnädiger Herr,“ sagte Poole, und reichte ihm ein ansehnliches, gesiegeltes Paket. Der Advokat steckte es in die Tasche. „Ich sage nichts von diesem Papier. Wenn Ihr Herr tot oder entflohen ist, wollen wir wenigstens seinen guten Namen retten. Es ist jetzt 10 Uhr; ich muß nach Hause gehen und die Dokumente in aller Ruhe durchlesen; aber ich werde um Mitternacht wieder zurück sein, und dann wollen wir nach der Polizei schicken.“
Sie gingen fort und verschlossen hinter sich die Thür des Hörsaales. Utterson entfernte sich, die erstaunten Dienstboten noch am Feuer Zurücklassend, um in seinem Arbeitszimmer diese beiden Berichte zu lesen, welche ihm jetzt das ganze Geheimnis aufklären sollten.
Vor vier Tagen, am 2. Januar, empfing ich durch die Abendpost einen eingeschriebenen Brief von meinem Kollegen und alten Schulkameraden Henry Jekyll. Ich war darüber aufs höchste überrascht, da wir eigentlich bis dahin nie miteinander korrespondiert hatten; ich hatte ihn gestern noch gesehen und mit ihm gespeist. Soviel ich auch darüber nachdachte, es fiel mir nichts von der am Tage zuvor gehabten Unterredung ein, das ein solches Schreiben veranlaßt haben konnte. Der Inhalt vermehrte noch mein Staunen; denn folgendermaßen lautete der Brief:
10. Dezember 18– „Lieber Lanyon, – Du bist einer meiner ältesten Freunde; und obgleich wir uns bisweilen über wissenschaftliche Fragen gestritten haben, kann ich mich doch, wenigstens von meiner Seite, keines Bruches unserer Freundschaft erinnern. Wohl niemals, wenn Du zu mir gesagt hättest: iJekyll, mein Leben, meine Ehre, mein Alles hängt von Dir ab/ hätte ich gezaudert, Dir mein ganzes Vermögen, ja selbst meine linke Hand zu opfern, um Dir zu helfen. Lanyon, mein Leben, meine Ehre, mein Verstand hängt von Deiner Barmherzigkeit ab; wenn Du mir diese Nacht nicht beistehst, bin ich verloren. Aus dieser Vorrede könntest Du schließen, daß ich etwas Unehrenhaftes von Dir verlange. Urteile selbst. „Ich wünsche, daß Du jede andere Beschäftigung für diese Nacht aufschiebst
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Bearbeiten– selbst wenn Du an das Bett eines Kaisers gerufen werden solltest; nimm, falls Dein Wagen nicht gerade zur Hand sein sollte, eine Droschke und fahre mit diesem Briefe direkt nach meinem Hause. Mein Diener, Poole, hat seine Befehle erhalten; Du wirst von ihm und einem Schlosser empfangen werden. Die Thür meines Kabinettes muß dann erbrochen werden, und Du sollst allein hineingehen. Dort öffne den Glasschrank (Buchstabe linker Hand und, falls er verschlossen sein sollte, mit Gewalt, und nimm die vierte Schublade von oben, oder (was dasselbe ist) die dritte von unten mit dem sämtlichen Inhalt heraus. So nieder- gedrückter Stimmung, wie ich bin, stehe ich eine wahre Todesangst aus, Dich falsch zu dirigieren; aber selbst wenn ich im Irrtum bin, kannst Du das richtige Schubfach an dem Inhalt: einige Pulver, eine Phiole und ein Notizbuch erkennen. Diese Schublade bitte ich Dich, genau so, wie sie da ist, mit Dir nach Cavendish Square zu nehmen.
„Dies ist der erste Teil Deiner Dienstleistung: nun zum Zweiten. Wenn Du alles pünktlich ausführst, kannst Du längst vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Nicht nur aus Furcht vor einem jener Zwischenfälle, die weder verhindert, noch vorhergesehen werden können, sondern auch, weil eine späte Stunde, wenn Deine Dienerschaft zu Bett ist, die geeignetste zur weiteren Ausführung Deiner Aufgabe ist, setze ich Dir diese Frist. Um Mitternacht mußt Du allein in Deinem Sprechzimmer sein und eigenhändig einen Mann, der sich Dir in meinem Namen vorstellen wird, einlassen. In seine Hände übergibst Du die aus meinem Kabinett mitgenommene Schublade. Hiermit hast Du Deine Aufgabe erfüllt und Dir meinen wärmsten Dank erworben. Fünf Minuten später wirst Du, sofern Du auf einer Erklärung bestehst, ein- sehen, daß alles dies von der größten Wichtigkeit ist; und wenn Du nur einen dieser Punkte außer acht läßt, Du Dein Gewissen mit meinem Tode oder dem Schiffbruch meiner Vernunft beschwerst.
„So vertrauensvoll ich auch bin, zittert doch mein Herz und meine Hand bei dem bloßen Gedanken einer Fehlbitte. Denke an mich zu dieser Stunde, wo ich an einem fremden Orte, unter dem Druck einer nahen Verzweiflung, die keine Phantasie sich ausmalen kann, leide. Und doch, wenn Du meine Anordnungen genau befolgst, wird in Kürze mein Kummer, wie Nebel vor der Sonne, verschwinden. Hilf mir, lieber Lanyon, und rette Deinen Freund H. J.
„P. S. Ich hatte dies Schreiben bereits versiegelt, als ein neuer Schreck mich erfüllte. Es ist möglich, daß es heute bereits zu spät ist und dieser Brief erst morgen in Deine Hände gelangt. In diesen: Falle sichre meinen Auftrag im Laufe des nächsten Tages aus, zu einer Zeit, die Dir am besten paßt, und erwarte meinen Boten in der, darauffolgenden Mitternacht. Vielleicht ist es dann schon zu spät; und wenn jene Nacht ohne besonderes Ereignis verstreicht, wirst Du zum letztenmal gesehen haben Deinen Henry Jekyll.“ Nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, war ich überzeugt, daß mein Kollege den Verstand verloren habe; aber bis dieses untrüglich festgestellt wurde, hielt ich es für meine Pflicht, seinen Bitten nachzu- kommen. Sowenig mir die Sachlage ver- ständlich war, so wenig konnte ich auch über die Wichtigkeit dieser Angelegenheit urteilen; und eine so dringende Bitte konnte ich nicht, ohne die schwerste Verantwortung auf mich zu laden, von der Hand weisen. Ich stand sofort auf, nahm einen Wagen und fuhr nach Jekylls Haus. Der Diener erwartete meine Ankunft; er hatte mit mir zugleich einen eingeschriebenen Brief mit den nötigen Befehlen erhalten, worauf er sofort nach einem Schlosser und Zimmer- mann schickte. Die Handwerker kamen, während wir noch sprachen, und wir gingen gemeinsam nach dem Operationshörsaal des alten Dr. Denman, von wo – wie du zweifellos wissen wirst – das Kabinett am leichtesten zu erlangen ist. Die Thür war sehr stark, das Schloß vortrefflich ge- arbeitet. Der Zimmermann versicherte, es würde ihm viel Arbeit und Mühe kosten, wenn Gewalt angewendet werden müßte, und der Schlosser verzweifelte fast daran. Der letztere war jedoch ein kräftiger Mensch, und nach zweistündiger Arbeit war die Thür geöffnet. Der mit ^ bezeichnete Schrank war unverschlossen; ich nahm die Schublade heraus, füllte und verdeckte sie mit Stroh, band sie in ein Tuch und nahm sie mit nach Cavendish Square. Hier fuhr ich fort, den Inhalt genauer zu prüfen. Die Pulver waren sorgsam verpackt; aber nicht mit der Sorgfalt eines Chemikers, so daß es klar war, sie waren für Jekylls Privatgebrauch bestimmt. Ich öffnete eines der Papiere und fand darin eine Masse, die nach meiner Meinung ein einfaches, weißes Kristallsalz zu sein schien. Die Phiole, der ich hierauf meine Auf- merksamkeit zuwandte, war Zur Hälfte mit einer Flüssigkeit von blutroter Farbe an- gefüllt, die einen starken Geruch verbreitete und aus Phosphor und einem flüssigen Aether zusammengesetzt schien. Die übrigen Ingredienzien konnte ich nicht erraten. Das Buch bestand aus einfachen Notizen, wenig mehr als nur Daten. Diese nahmen eine Periode von mehreren Jahren ein; aber vor fast einem Jahr schlossen sie plötz- lich ganz ab. Hier und dort war eine einfache Bemerkung den: Datum Zugefügt; meistens nur das einfache Wort „doppelt“, welches ungefähr sechsmal unter verschie- denen hundert Aufzeichnungen vorkam. Ein- mal stand ziemlich am Anfang der Liste, mit vielen Ausrufunqszeichen versehen, die Notiz: „Gänzliches ÄMingen!!!“ Alles dieses konnte, obgleich es meine Neugierde erregte, mir keine genaue Auskunft geben. Hier war eine Phiole mit einer Flüssig- keit, dort ein Salz und die Spuren eines Experimentes, das (wie so viele von Henry Jekylls Versuchen) zu keinem Resultat ge- führt hatte. Wie konnte die Anwesenheit dieser Sachen in meinem Haufe das Leben, die Ehre oder Vernunft meines abenteuer- lichen Kollegen gefährden? Wenn sein Bote doch nach dem einen Orte gehen konnte, weshalb nicht auch nach dem an- deren? Und selbst ein Hindernis ange- nommen, weshalb sollte dieser Herr von mir heimlich empfangen werden? Je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr ge- wann ich die Ueberzeugung, daß ich es hier mit einem Anfall von Geistesgestört- heit zu thun hätte. Meine sämtlichen Dienstboten schickte ich zu Bett und lud dann einen alten Revolver, um so eine Waffe Zur eigenen Verteidigung Zur Hand zu haben.
Kaum hatte die Zwölfte Stunde ge- schlagen, als der Klopfer leise an die Thür schlug. Ich ging selbst hin und fand einen Mann von kleiner Gestalt, der an den Pfeilern der Halle umher schlich. „ Kommen Sie von Dr. Jekyll? “ fragte ich. „Ja,“ gab er zur Antwort mit ver- wirrter Miene. Ich forderte ihn auf, näher zu treten, und als er dies that, warf er noch einen scheuen Blick auf den dunklen Platz. Ein Konstabler mit seinen stets wachsamen Augen war in der Nähe, und bei seinem Anblick, bemerkte ich, schrak mein Besucher zusammen und beeilte sich mehr. Diese Wahrnehmung – muß ich ge- stehen – berührte mich unangenehm, und als ich ihn: in das erleuchtete Sprechzimmer folgte, hielt ich meine Hand auf der Waffe. Hier konnte ich ihn wenigstens deutlich sehen. Er war mir bisher noch nie vor Augen getreten, das war sicher. Wie ich bereits gesagt habe, war er klein; außer- dem fiel mir der unangenehme Ausdruck seines Gesichtes auf, mü seiner merkwür- digen Zusammensetzung von muskulöser Beweglichkeit und anscheinender körperlichen Schwäche. Doch am meisten mißfiel nur die Unruhe, in die man durch seine Ge- genwart versetzt wurde. Er schien eine unnatürliche Macht zu besitzen, so daß bei seinem Anblick einem das Blut in den Adern erstarrte. Damals hielt ich es für unüberwindlichen, persönlichen Abscheu und wunderte mich nur, daß ich so schnell dazu kam; aber seitdem habe ich eingesehen, daß die Ursache weit tiefer lag und edlerer Natur war als persönlicher Haß. Dieser Mensch, der von: ersten Augen- blick an, sozusagen, eine mit Abscheu gemischte Neugierde in mir wachgerufen hatte, war in einer Weise gekleidet, die sonst die Lachlust in mir erregt haben würde. Seine Kleidungsstücke, obwohl aus guten: Stoff, waren ihn: nach jeder Richtung viel zu weit. – Die Hosen schlotterten um seine Beine und waren unten aufgerollt, damit sie nicht den Fußboden berührten. Die Taille des Rockes hing weit auf die Hüften herab, und der Kragen fiel ihm weit auf die Schultern herunter. Merkwürdigerweise reizte diese sonderbare Tracht mich nicht zum Lachen. Es lag in der
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Bearbeitenganzen Erscheinung dieses Mannes etwas ganz Absonderliches, etwas, was einen fesselte, überraschte und doch abstieß. Zu dem Interesse, welches die Natur und der Charakter dieses Menschen in mir erregt hatten, gesellte sich nun noch die Neugierde, seinen Stand und Beruf, seine Originalität, sein Leben kennen zu lernen. „Haben Sie es gefunden?“ fragte er, „haben Sie es gefunden?“ und seine Ungeduld war so groß, daß er mich am Arm faßte und schütteln wollte. Ich stieß ihn zurück, indem es mich bei seiner Berührung kalt überlief. „Gemach, mein Herr, Sie vergessen, daß ich bis jetzt noch nicht das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft habe. Bitte, nehmen Sie Platz.“ Ich ging ihm mit gutem Beispiel voran und setzte mich auf meinen gewöhnlichen Stuhl, ihn, soviel es mir zu dieser späten Stunde, bei den vorhergehenden Ereignissen und dem Entsetzen, das ich vor meinem Besucher empfand, möglich war, mit derselben Gebärde dazu einladend, wie ich es meinen Patienten gegenüber Zu thun pflege.
„Verzeihung, Dr. Lanyon,“ sagte er ganz höflich. „Ihre Aeußerung ist sehr wohl begründet; doch meine Ungeduld ließ mich gegen die Höflichkeit verstoßen. – Ich komme im Auftrage Ihres Kollegen, Dr. Jekyll, in einer Geschäftsangelegenheit; und ich verstand ...“ Er machte eine Pause und legte seine Hand an den Hals, woraus ich ersehen konnte, daß er einen Hustenanfall unterdrückte. – „Ich verstand, eine Schublade...“
Aber jetzt bekam ich Mitleid mit seinem Zustande, oder auch mit meiner stets wachsenden Neugierde.
„Dort ist das Gewünschte, mein Herr,“ sagte ich, auf die Schublade Zeigend, die noch verdeckt hinter dem Tisch auf der Erde stand.
Er sprang darauf zu, hielt dann inne und legte die Hand auf sein Herz. Ich konnte bei der krampfhaften Bewegung seiner Kinnbacken seine Zähne knirschen hören, und sein Gesicht sah so verstört aus, daß ich für sein Leben und seine Vernunft fürchtete.
„Beruhigen Sie sich,“ sagte ich. Er wandte sich zu mir mit einem grauenhaften Lächeln, und mit verzweifelter Energie riß er das Tuch von der Schublade weg. Beim Anblick des Inhaltes stieß er einen erleichterten Seufzer aus, so daß ich verblüfft dasaß. Im nächsten Augenblick fragte er mit wohl beherrschter Stimme: „Haben Sie vielleicht ein chemisches, in Grade geteiltes Glas zur Hand?“
Mit einiger Anstrengung stand ich von meinem Platze auf und gab ihm das Verlangte.
Er dankte mir mit freundlichem Kopfnicken, maß einige Grade der roten Tinktur ab und fügte eines der Pulver hinzu. Die Mischung, welche zuerst von rötlicher Farbe war, wurde, als die Kristalle schmolzen, intensiver und brauste dann plötzlich dampfend auf. Einen Augenblick darauf legte sich die Aufwallung und machte einer schönen purpurroten Farbe Platz, die sich allmählich in wässeriges Grün verlief. Mein Gast, der diesen Verwandlungen mit aufmerksamen Augen gefolgt war, lächelte, setzte das Glas auf den Tisch, wandte sich zu mir und sah mich prüfend an. „Und nun,“ sagte er, „bleibt mir noch eines übrig. Wollen Sie Weisheit lernen? Wollen Sie sich belehren lassen? Wollen Sie mich mit diesem Glase in der Hand, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Hause gehen lassen? Oder hat die Neugierde schon zu viel Macht über Sie gewonnen? Ueberlegen Sie genau Ihre Antwort, denn wie Sie entscheiden, so soll es geschehen. Wenn Sie es wünschen, verlasse ich Sie, und Sie sind nicht reicher oder weiser als zuvor, es sei denn, daß man einen Dienst, den Sie einem armen Menschen in verzweifelter Lage erwiesen, als eine Bereicherung der Seele betrachten kann. Im anderen Falle, wenn Sie es wünschen, werden Sie neue Erfahrungen auf dem Gebiete der Wissenschaft machen, und ein neuer Weg zu Ruhm und Ehre steht Ihnen offen. Hier im nächsten Augenblick, in diesem Zimmer sollen Sie etwas sehen, das selbst den Unglauben des Satans bekehren müßte.“
„Mein Herr,“ sagte ich, eine Kaltblütigkeit heuchelnd, die ich in Wirklichkeit keineswegs besaß, „Sie sprechen in Rätseln und dürfen sich infolgedessen nicht wundern, wenn ich Ihren Worten wenig Glauben schenke! Aber ich bin zu weit gegangen in diesen mir unerklärlichen Dienstleistungen, daß ich nun auch den Endzweck derselben erleben muß.“
„Gut dann,“ sagte mein Gast. „Lanyon, denken Sie an Ihr Versprechen; denn was jetzt folgt, gehört zu unserem Berufsgeheimnis. Sie haben stets nur engherzigen und materiellen Ansichten gehuldigt, haben die Tugenden der übersinnlichen Medizin verleugnet und so oft die Ihnen Überlegeneren verhöhnt, – jetzt sehen Sie!“ Er führte das Glas Zum Munde und leerte es auf einen Zug aus. Ein Schrei folgte; er schwankte, taumelte; mit weit geöffnetem Munde und starrblickenden Augen klammerte er sich an den Tisch fest; und als ich noch so hin sah, schien es mir, als veränderte sich sein Aussehen, – sein Gesicht färbte sich dunkler, und seine Gestalt verschmolz und nahm andere Formen an – und im nächsten Augenblick sprang ich entsetzt auf und lehnte mich an die Wand, die Arme wie Zur Abwehr gegen dieses Wunder ausstreckend.
„O Gott!“ rief ich aus, „o Gott!“ denn vor meinen Augen, bleich und zit- ternd, einer Ohnmacht nahe und mit den Händen um sich greifend, gleich einem vom Tode Erstandenen, stand – Henry Jekylll Unmöglich kann ich es über das Herz bringen, alles das aufzuführen, was er mir in der nächsten Stunde erzählte. Ich sah, was ich sah, hörte, was ich hörte, und bin bis ins innerste Hen dadurch ge- troffen. Auch jetzt, nachdem diese Erschei- nung aus meinen Augen verschwunden, frage ich mich, ob ich daran glaube, und weiß keine Antwort dafür. Mein Leben ist zu Grunde gerichtet, der Schlaf flieht mich und tödlicher Schreck und Entsetzen erfüllt mich Tag und Nacht. Ich fühle, daß meine Tage gezählt sind und daß ich bald sterben muß, und doch werde ich im Unglauben sterben! Die moralische Schänd- lichkeit, welche jener Mensch, obwohl unter Thränen der Reue, mir klarlegte, lastet noch immer schwer auf meinem Herzen, und nur mit Schaudern denke ich daran. Ich will Dir nur eines sagen, und das (ich weiß nicht, ob Du es entschuldigen wirst) ist mehr als genug. Die Kreatur, die sich in jener Nacht in mein Haus schlich, war bekannt, nach Jekylls eigenem Geständnis, unter dem Namen Hyde, nach welchen: an allen Enden des Landes gefahndet wurde, da er der Mörder von Carew war. Hastie Lanyon.
Ich war im Jahre 18– geboren, besaß ein großes Vermögen, hatte die besten Talente, war von der Natur zum Fleiß angelegt, genoß die Achtung der besten meiner Kameraden und hatte mithin Aussicht auf eine ehrenvolle, glänzende Karriere. Mein schlimmster Fehler war ein gewisses ungeduldiges, lebhaftes Temperament, das sonst das Glück vieler ausmacht, mir aber fiel es zur Last, da ein herrschsüchtiges Verlangen mich trieb, den Kopf hoch zu tragen, und wenn ich mich öffentlich zeigte, eine stolze Miene zur Schau Zu tragen. So kam es, daß ich meine Vergnügungen vor anderen verbarg, und als ich in die Jahre kam, wo man Zu überlegen beginnt, und ich mich in der Welt umsah, um Fortschritte in meinem Beruf zu machen, war ich bereits ein vollständiges Doppelwesen. Viele Männer würden die kleinen Ausschweifungen, deren ich mich schuldig machte, sogar gutgeheißen haben; aber von den erhabenen Lebensansichten, die ich mir gebildet hatte, betrachtete und verbarg ich sie mit dem peinlichsten Schamgefühl. Es war demnach mehr meine rechtliche Natur als meine Fehler, die mich zu dem machte, was ich war, und die mich tiefer als die Mehrzahl der Menschen unter diesem Doppeleinfluß des Guten und Bösen, das nun doch einmal beides im Menschen liegt, leiden ließ. Hierdurch geriet ich in beständiges Nachdenken über das harte Gesetz des Lebens, welches seine Wurzel in der Religion hat und einen am häufigsten zur Verzweiflung führt. Obwohl “ich solch ein Doppelwesen hatte, war ich doch kein Heuchler; auf beiden Seiten blieb ich vollkommen ernst; ich war nicht mehr mein eigenes Selbst, wenn ich allen Zwang von nur warf und in Schande geriet, als wenn ich vor aller Augen arbeitete, um die Wissenschaft zu fördern und die Sorgen und Leiden der Menschheit zu mildern. So ereignete es sich, daß meine wissenschaftlichen Studien, die gänzlich auf das Mystische und Übersinnliche hinführten, ein grelles Streiflicht auf diese meine inneren Kämpfe warfen. Mit jedem Tag und von beiden Seiten, der moralischen
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Bearbeitensowohl als der wissenschaftlichen, kam ich mehr und mehr zu jener Ueberzeugung, deren teilweise Entdeckung mich einen so entsetzlichen Schiffbruch erleiden ließ, daß der Mensch nicht ein Wesen ist, sondern aus zweien besteht. Ich sage zwei, weil meine Wissenschaft nicht weiter als bis zu diesem Punkte reicht. Andere werden mir folgen und mich auf diesem Gebiete überflügeln, indem sie beweisen, daß der Mensch eigentlich aus einer Unmenge von- einander unabhängiger, unter sich verschie- dener Wesen besteht. Ich für meinen Teil schritt nur in einer Richtung vorwärts. Von der moralischen Seite lernte ich in meiner eigenen Person dies absolute Doppel- wesen des Menschen kennen. Ich sah ein, daß wenn von den beiden Naturen, die ich an mir bewußt war, man sagen konnte, daß ich aufrichtig die eine sei, es darin bestand, weil ich in gleicher Weise die an- dere auch war, und frühzeitig, schon ehe ich meine wissenschaftlichen Entdeckungen machte, sing ich an, die Möglichkeit eines solchen Wunders zu glauben. Ich dachte mit Vergnügen über das Problem nach, diese beiden Naturen voneinander loszu- trennen. Wenn jede in einem eigenen - Körper wohnen könnte, sagte ich mir, würde das Leben befreit sein von allem, das uns jetzt unerträglich ist. Der böse Teil des Menschen könnte seinen eigenen Weg gehen, befreit von dem Streben und den Gewissensbissen seines besseren Zwillingsbruders; und der Gerechte könnte seinen Pfad aufwärts verfolgen, das Gute, nach dem er strebte und worin er seine Freude fand, thun, ohne länger der Schande und Neue durch sein schlechteres Selbst ausgesetzt zu sein. War es doch der Fluch der Menschheit, daß diese beiden Wesen so eng verbunden waren, und die so ungleichen Zwillinge im Inneren jedes Einzelnen gegeneinander kämpften. Nun war die Frage, wie konnte man diese Naturen trennen?
So weit war die Sache gediehen, als ein Streiflicht von der Seite des Laboratoriums her darauf schien. Ich war mehr denn je zu der Ueberzeugung gelangt, daß der anscheinend so feste Körper, in dem wir wandeln, von geheimnisvoller Durchsichtigkeit ist. Es gab. sichere Mittel, die das fleischliche Gebilde zerstreuten, wie der Wind die Vorhänge eines Pavillons zurückgeht. Aus zwei guten Gründen will ich nicht näher in das Wissenschaftliche meiner Beichte eingehen. Erstens, weil ich die 'Erfahrung machte, daß die ganze Bürde und Last des Lebens doch stets auf unseren Schultern ruht, und wer sie versucht abzuwerfen, zu dem kehrt sie in verstärktem, doppelt qualvollem Maße zurück; zweitens, -weil, ach! meine Erzählung zeigt es nur zu deutlich, meine Entdeckungen unvoll- kommen waren. Genug denn damit, daß ich nicht allein in meinem Körper Mächte .entdeckte, die meinen Geist bedrückten, sondern auch auf ein Mittel sann, diese Mächte zu entthronen, um sie in eine zweite menschliche Gestalt gekleidet in die Welt zu senden. Diese letztere wäre nicht weniger natürlich, denn sie trüge den Stempel der schlechtesten Eigenschaften meiner Seele.
Ich zögerte lange, ehe ich diese Theorie in der Praxis ausführte. Es war mir wohl bewußt, daß ich den Tod daran haben konnte; denn ein Mittel, welches das Innerste des Menschen so sehr er- schütterte und veränderte, konnte leicht durch den geringsten Tropfen, der Zu viel ge- nommen wurde, oder durch das kleinste Versehen in der Mischung, jenen unsterb- lichen Teil, den ich verändern wollte, ganz vernichten. Aber die Versuchung, eine so eigentümliche und weitgehende Entdeckung zu reeller Ausführung zu bringen, besiegte alle Bedenken. Schon längst hatte ich meine Tinktur bereitet; ich beeilte mich, von einer berühmten chemischen Firma in Menge ein besonderes Salz zu erhalten, welches, wie ich durch meine Experimente wußte, die letzte dazu erforderliche Ingre- dienz war. In einer unseligen Nacht mischte ich diese Elemente, sah, wie sie in dem Glase kochten und dampften, und als die Aufwallung sich gelegt, trank ich mit tapferem Mut die ganze Portion aus. Wahre Folterqualen folgten: ein Knir- schen in allen Knochen, tödliche Uebelkeit und eine Geistesangst, wie sie kaum in der Stunde der Geburt oder des Todes em- pfunden werden kann. Allmählich ließen diese Qualen nach, und ich kam Zu mir, wie einer, der aus schwerer Krankheit er- wacht. Es lag etwas Fremdartiges in meinen Gefühlen, etwas unbeschreiblich Neues, und daher unendlich Wohlthuendes. Ich fühlte mich jünger, leichter, glücklicher; im Inneren war ich mir einer großen Un- ruhe bewußt, ein Strom ungeordneter Ge- fühle trieb sich gleich einem Mühlrad in mir herum, eine Trennung von allen, Pflichten, eine unbekannte, aber nicht un- schuldige Freiheit der Seele. Vom ersten Augenblick dieses neuen Lebens erkannte ich, daß ich schlechter, Zehnmal so schlecht als ehedem war; ich war der Sklave meiner bösen Leidenschaften, doch dieser Gedanke entzückte und berauschte mich in diesem Augenblick. In: Gefühle der geistigen Frische streckte ich die Hände aus und wurde hierbei plötzlich gewahr, daß ich an Gestalt verloren hatte.
Damals war noch kein Spiegel in meinem Zimmer; der jetzt – wo ich dieses schreibe – neben nur stehende wurde erst später, und zwar aus Anlaß dieser Trans- formationen hierher gebracht. Aus der Nacht ward Morgen, und aus diesem, so düster er auch war, ward fast schon Tag; aber die sämtlichen Bewohner des Hauses lagen noch in tiefem Schlummer. So ent- schloß ich mich voller Hoffnung und Triumph, wie ich war, in dieser neuen Gestalt mich bis in mein Schlafzimmer zu wagen. Ich durcheilte den Garten, wo – wie es nur schiel: – der Himmel voll Verwunderung auf mich nieder sah. War ich doch die erste Kreatur dieser Art, die sein immer waches Auge erschaute. Ich schlich durch die Gänge, ein Fremder in meinem eigenen Hause, und als ich in mein Zimmer trat, sah ich zum erstenmal die volle Erscheinung Edward Hydes.
An dieser Stelle kann ich nur theoretisch sprechen, indem ich nicht sage, was ich weiß, sondern was ich für das Wahrscheinlichste halte. Die schlechtere Hälfte meiner Natur, auf welche ich ja jetzt diese neu entdeckte Kraft verwandt hatte, war weniger ansehnlich und entwickelt als die gute, die ich soeben verlassen hatte. Im Laufe meines Lebens, welches trotz allem durch alle Jahrzehnte ein Streben nach Tugend und Selbstbeherrschung gewesen, war das Schlechte nicht so ausgebildet und weniger verlebt; daher, glaube ich, kam es, daß Edward Hyde so viel kleiner, behender und jünger war als Henry Jekyll. Wie das Gute aus dem Angesicht des einen leuchtete, so war die Bosheit klar und deutlich in den Zügen des anderen zu lesen. Das Böse, welches, wie ich noch glaube, die tödliche Seite des Menschen ist, hatte seinem Körper den Eindruck der Verwachsenheit aufgedrückt; und doch betrachtete ich mein Spiegelbild keineswegs mit Abneigung, sondern bewillkommnete es eher. Dies war ich ja auch selbst. Es war jenes Gefühl daher wohl ganz natürlich und menschlich. In meinen Augen schien es ein lebhafteres geistiges Gepräge zu haben, auch war es ausgeprägter und einheitlicher, als das veränderliche Wesen, das ich bisher mein eigen genannt hatte. Insofern war ich auch zweifellos im Recht. Wenn ich Edward Hyde war, bemerkte ich, daß jeder bei der ersten Begegnung einen unwillkürlichen Schauder empfand. Dies rührte, wie ich annehme, davon her, daß alle Menschen, mit denen wir Zusammenkommen, aus Gutem und Bösem bestehen; doch Edward Hyde war der einzige auf der Welt, der nur Böses in sich barg.
Nur einige Augenblicke blieb ich so vor dem Spiegel stehen, das zweite, richtigere Experiment mußte noch versucht werden, ich mußte noch erfahren, ob ich meine Identität ganz verloren und deswegen bei Tagesanbruch aus meinem Hause, das nicht länger mein eigen war, fliehen mußte. In mein Kabinett zurückeilend, bereitete und leerte ich noch einmal diesen Trank, machte wieder dieselben Leiden durch, und kam zu mir mit dem Charakter, der Gestalt und den Gesichtszügen Henry Jekylls.
In jener Nacht war ich zu dem verhängnisvollen Scheidewege gelangt. Hätte ich meine Entdeckung in edlerem Sinne weiter verfolgt, hätte ich die Experimente unter guten und frommen Eingebungen vollführt, so hätte alles anders kommen müssen, und von diesen Qualen des Todes und der Geburt wäre ich als Engel erstanden anstatt als Bösewicht. Der Trank hatte keinen Einfluß auf den Charakter; er war an sich weder teuflisch noch himmlisch; er erschütterte gleichsam die Thüren meines Gefängnisses, und das, was zur Zeit in mir war, kam gleich den Gefangenen von Philippi zum Vorschein. Zu jener Zeit schlummerte meine Tugend; das Böse in nur, durch den Ehrgeiz wachgerufen, ergriff bereitwilligst und eiligst die Gelegenheit
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Bearbeitenund das dadurch hervorgebrachte Wesen war Edward Hyde. Obwohl ich von nun an Zwei Charaktere, sowie zwei Gestalten besaß, war mein eines Wesen ganz böse, während das andere noch der alte Henry Jekyll blieb, jenes ungereimte Gebilde, an dessen Umgestaltung und Verbesserung ich bereits verzweifelt war. Mein Werk war also ganz nach der schlechten Seite hin ausgeschlagen.
Selbst zu jener Zeit hatte ich noch nicht meine Abneigung gegen das trockene Leben des Studiums überwunden. Ich war bisweilen noch heiter aufgelegt und meine Vergnügungen waren Zum wenigsten unwürdig; da ich nicht nur wohlbekannt und hochgestellt war, sondern auch schon zu den älteren Herren zählte, wurde diese Unbündigkeit meines Lebens mir täglich unwillkommener. Von dieser Seite nun wurde ich durch meine neue Macht versucht, bis ich in Sklaverei verfiel. Ich brauchte nur das Mittel Zu trinken, um sofort den Körper des Professors abzulegen, gleich einem dicken Mantel, und den Edward Hydes anzunehmen. Bei dieser Wahrnehmung lächelte ich, es schien mir zur Zeit humoristisch, und ich traf meine Vorkehrungen mit der größten Sorgfalt. Ich kaufte und möblierte jenes Haus in Soho, wo Hyde durch die Polizei aufgespürt wurde. Als Haushälterin nahm ich eine Kreatur, von der ich wohl wußte, daß sie verschwiegen sei und keine Bedenken tragen würde. Auch kündete ich meinen Dienstboten an, daß ein Mr. Hyde (welchen ich beschrieb) volle Freiheit und Macht in meinem Hause auf dem Square haben solle. Um Unfällen vorzubeugen, kam ich sogar in meinem zweiten Charakter als Besuch und machte mich so im Hause bekannt. Zunächst setzte ich jenes Testament auf, das so sehr Deinen Unwillen erregte, damit, wenn mich als Dr. Jekyll etwas befiel, ich ohne pekuniären Verlust Edward Hyde sein konnte. Indem ich mich so allerseits sicher gestellt, fing ich an aus den seltsamen Vorrechten meiner Lage Nutzen zu ziehen.
Schon früher hat es Männer gegeben, die sich Schurken mieteten, welche ihre Verbrechen vollführen mußten, während ihre eigene Person und Ruf ungefährdet blieb. Ich war der erste, der es so mit seinen Vergnügungen machte, der erste, der einen Augenblick sich in voller Ehrbarkeit zeigen konnte, um im nächsten Augenblick gleich einem Schulknaben diese Bande abzustreifen und die Freiheit in vollen Zügen zu genießen.
Ich war in dieser undurchdringlichen Kleidung vollkommen sicher. Denke doch nur – ich existierte ja nicht einmal. Ich hatte nur nötig, in die Thür meines Laboratoriums Zu flüchten; in ein bis zwei Minuten konnte ich meinen Trank der stets bereit stand, mischen und leeren; und was Hyde auch immer begangen haben mochte, so schwand er doch in nichts zusammen, wie ein Hauch auf dem Spiegel; statt seiner erstand ein Mann, der ruhig des Mitternachts bei seiner Lampe über den Studien saß, ein Mann, der über jeglichen Verdacht, der laut wurde, lächeln konnte, und sein Name war Henry Jekyll.
Die Vergnügungen, denen ich nachjagte, waren, wie ich bereits sagte, keine meiner Stellung würdige; aber in den Händen Edward Hydes wurden sie bald zu Abscheulichkeiten. Wenn ich von solchen Ausflügen heimkehrte, wunderte ich mich hinterher oft selbst über meine Verderbtheit. Jenes Wesen, das ich aus meiner Seele hervorgerufen, war durchaus bösartig und schurkenhaft; sein ganzes Thun, sowie seine Gedanken drehten sich nur um seine eigene Person; mit tierischer Lust fand er sein Vergnügen in den Qualen anderer, er war unbarmherzig wie ein Stein. Henry Jekyll war bisweilen entsetzt über Edward Hydes Thaten; aber die ganze Lage war so verschieden von den allgemeinen Gesetzen, daß sein Gewissen sich dabei beruhigte. Es war doch Hyde und nur Hyde allem, der alle Schuld trug. Jekyll war nicht schlechter geworden, er erwachte unverändert zu seinen guten Eigenschaften und bemühte sich sogar nach Möglichkeit, das durch Hyde verübte Böse wieder gut zu machen. ^>o schlummerte sein Gewissen ein.
In die Einzelheiten der Schandthaten, welche ich so duldete (denn jetzt selbst kann ich es nicht zugeben, daß ich sie vollführte), will ich nicht weiter eingehen. Ich möchte nur die folgenden Momente, die zu meiner Strafe führten, angeben. Ein Akt der Grausamkeit, an einem Kinde verübt, erregte den Aerger eines Vorübergehenden, den ich am nächsten Tage als Deinen Verwandten erkannte; der Arzt und des Kindes Angehörige waren auf seiner Seite; einige Augenblicke fürchtete ich sogar für mein Leben und zuletzt, um ihre nur zu gerechte Entrüstung Zu besänftigen, mußte Hyde sie zu jener Thür führen und ihnen einen auf den Namen Henry Jekyll lautenden Wechsel geben. Diese Gefahr war in Zukunft leicht beseitigt, indem ich bei einer anderen Bank auf Edward Hydes Namen Geld hinterlegte; bei den Unterschriften verstellte ich meine Handschrift und glaubte mich so vor jeder Entdeckung sicher. Etwa Zwei Monate vor dem Mordanfall auf Sir Danvers, als ich wieder auf eines meiner Abenteuer aus gewesen und spät nach Hause gekommen war, erwachte ich am nächsten Tage mit fremdartigen Gefühlen. Vergebens sah ich mich um, vergebens erkannte ich die vornehme Zimmereinrichtung meines Hauses; vergebens musterte ich die Bettvorhänge und den Mahagonirahmen; mir war zu Mut, als sei ich nicht an dem Ort, wo ich mich befand, sondern in dem kleineren Zimmer in Soho, wo ich gewohnt war, in dem Körper Edward Hydes zu schlafen. Ich lächelte über mich selber und in meinen psychologischen Betrachtungen grübelte ich über diesen Zusammenhang nach und versank darüber wieder in Halbschlummer. Als ich erwachte, fiel mein Blick auf meine Hand. Henry Jekylls Hand war, wie Du oft bemerkt haben wirst, in Form und Gestalt, wie der Beruf es mit sich bringt, breit und fest, doch weiß und hübsch, während die auf der Bettdecke ruhende Hand, welche ich deutlich genug, trotz der gelblichen Beleuchtung eines Londoner Morgens, erkennen konnte, mager, rauh, knöcherig, von dunkler Farbe und mit starren Haaren bewachsen war. Es war die Hand von Edward Hyde.
Eine halbe Minute lang starrte ich dieses Wunder an, dann durchfuhr mich ein tödlicher Schreck, und aus dem Bette springend, eilte ich an den Spiegel. Bei dem Anblick, der sich mir darbot, überlief es mich eiskalt. Als Henry Jekyll ging ich zu Bett, als Edward Hyde war ich erwacht. Wie war das zu erklären? fragte ich mich, und dann mit erneutem Schrecken – wie konnte es wieder geändert werden? Es war nicht mehr früh am Morgen; die Bediensteten waren längst aufgestanden, alle meine Mittel waren im Kabinett – es war eine weite Reife bis dahin, zwei Treppen herunter, durch den Hinteren Durchgang, über den offenen Hofplatz und durch den anatomischen Hörsaal. Ich konnte wohl mein Gesicht verhüllen; aber was nutzte das, da auch die Gestalt verändert war. Doch dann erinnerte ich mich plötzlich, daß meine Diener schon gewohnt waren, mich in dieser meiner zweiten Gestalt aus und ein gehen Zu sehen. Ich kleidete mich gleich darauf so gut, wie es ging, an, indem ich Kleidungsstücke meiner eigenen Größe anzog, eilte schnell durch das Haus, wo Bradshaw mich anstarrte und erschreckt zurückfuhr, sich anscheinend wundernd, Mr. Hyde zu dieser ungewöhnlichen Stunde und in diesem Aufzuge zu sehen. Zehn Minuten später sah Dr. Jekyll in seiner wirklichen Gestalt am Frühstückstisch. Mein Appetit war allerdings gering. Dieser unerklärliche Vorfall schien, gleich dem babylonischen Finger, mit deutlichen Buchstaben meine Strafe auf die Wand zu malen; und ernster als je dachte ich über die Folgen nach, die diese Doppelexistenz für mich haben konnte. Derjenige Teil von mir, der durch meine Macht hervorgebracht werden konnte, war in letzter Zeit zu sehr genährt worden; es schien mir auch, als ob Edward Hyde an Gestalt gewonnen hätte und (wenn ich diese Gestalt angelegt) glaubte ich mein Blut kräftiger durch die Adern strömen zu fühlen. Ich fing an zu fürchten, daß, wenn es lange so weiter ginge, meine eigentliche Natur ganz unterliegen würde, die Macht der freiwilligen Umwandlung mir genommen und ich ganz Edward Hydes Charakter behalten müßte. Die Wirkung des Trankes schien nicht immer gleich Zu sein; einmal ziemlich zu Anfang war mir die Sache ganz mißglückt. Von der Zeit an mußte ich die Portion verdoppeln, und einmal mit der größten Todesgefahr sogar verdreifachen. Diese unsicheren Zustände werfen jetzt ihren Schatten auf meine Seele. Angesichts dieses Vorfalles wurde ich zu der Bemerkung geführt, daß im Anfang die Schwierigkeit darin lag, den Körper Dr. Jekylls abzulegen, doch jetzt diese auf der anderen Seite läge. Dies alles sprach dafür, daß ich nach und nach mein besseres Selbst verlor
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Bearbeitenund allmählich ganz das schlechte Wesen wurde.
Zwischen diesen beiden Naturen mußte ich jetzt wählen, das fühlte ich. Meine beiden Wesen hatten ein und dasselbe Gedächtnis; aber alle anderen Tätigkeiten waren verschieden. Jekyll, welcher bisweilen tief fühlte und von edler Gesinnung war, dann aber wieder lüsternen Begierden sich hingab, nahm regen Anteil an Hydes Vergnügungen und Abenteuern; Hyde jedoch hatte keinerlei Interesse für Jekyll, oder er erinnerte sich seiner nur, wie der Räuber sich der Höhle erinnert, die ihm bei der Verfolgung Zuflucht gewährt. Jekyll hatte mehr als das Interesse eines Vaters. Hyde besaß mehr als eines Sohnes Gleichgültigkeit. Ganz Jekyll zu werden, hieß allen diesen Reizen, die ich heimlich lange genährt und in letzter Zeit auch in vollen Zügen genossen, entsagen; ganz Hyde zu werden/hieß allen meinen wissenschaftlichen Bestrebungen und Entdeckungen entsagen und fortan verachtet und freundlos in der Welt Zu stehen. Der Gewinn möchte ungleich erscheinen; aber es fiel noch etwas anderes in die Wagschale. Während Jekyll unter den sich selbst auferlegten Entbehrungen litt, würde Hyde sich dessen nicht einmal bewußt sein, was er verloren hatte. So seltsam nun meine Lage war, das Resultat war ein ganz alltägliches; dieselben Entschlüsse, die jeder der Versuchung erlegene reumütige Sünder faßt, gewannen bei mir die Oberhand; dennoch erging es mir wie den meisten Menschen: ich erwählte den besseren Teil und hatte nachher nicht die Kraft beständig zu bleiben.
Ja, ich gab dem ältlichen unbefriedigten Doktor, der von seinen Freunden umgeben, ehrliche Hoffnungen hegte, den Vorzug; und sagte der Freiheit, der unbeschränkten Jugend, dem leichten Schritt, den kräftigen Pulsschlägen und heimlichen Vergnügen, deren ich mich in Hydes Gestalt erfreut hatte, ein entschiedenes Lebewohl. Ich traf diese Wahl vielleicht mit unbewußtem Vorbehalt, denn ich gab weder das Haus in Soho auf, noch vernichtete ich Edward Hydes Kleidungsstücke, die noch in meinem Kabinett lagen. Zwei Monate lang blieb ich jedoch meinem Entschlüsse treu; zwei Monate hindurch führte ich ein ernsteres, strengeres Leben denn je zuvor und erfreute mich des besten Gewissens. Aber die Zeit verwischte meine Befürchtungen, das Lob der Wissenschaft wurde mir alltäglich; ich wurde von einem Sehnen und Verlangen erfaßt, als wenn Hyde nach Freiheit strebte, und schließlich in einer schwachen Stunde mischte ich wieder den geheimnisvollen Trank und schluckte ihn herunter.
Wohl kein Trunkenbold, wenn er mit sich selbst über seine Laster rechtet, erkennt unter tausend Fällen einmal die Gefahren, denen er sich in seiner rohen Gefühllosigkeit unterzieht; ebenso hatte ich, solange ich meine Lage auch schon durchdacht, die vollständige moralische Gefühllosigkeit und Bereitwilligkeit zu allen bösen Handlungen, die den Charakter Edward Hydes ausmachten, nicht in rechtem Maße erkannt. Und doch sollte ich hierdurch gestraft werden. Der Teufel in mir war lange in mir gefesselt, jetzt kam er hervor wie ein brüllender Löwe. Als ich den Trank nahm, war ich mir noch weit zügelloserer Neigung zum Bösen, als je vordem, bewußt. So muß die unselige Ungeduld in meiner Seele entstanden sein, mit der ich der höflichen Anrede eines unglücklichen Opfers lauschte; ich erkläre wenigstens, daß bei Gott kein Mensch, der seiner gesunden Sinne mächtig ist, ein so schweres Verbrechen aus solch unbedeutendem Anlasse hätte vollbringen können, und daß ich mit keiner geringeren Unüberlegtheit schlug als ein krankes Kind, das sein Spielzeug zerbricht. Aber ich hatte mich freiwillig aller dieser aufrechthaltenden Gefühle beraubt, durch welche selbst die schlechtesten Menschen den Versuchungen mit einiger Sündhaftigkeit begegnen, und in meiner Lage war die Versuchung gleichbedeutend mit dem Fall.
Der böse Geist erwachte sofort in mir und wütete. Mit wahrer Wollust mißhandelte ich den widerstandslosen Körper; jeder einzelne Schlag war mir ein Entzücken, und erst als Ermüdung eintrat, wurde ich von plötzlichem Entsetzen erfaßt. Ich sah mein Leben verloren und floh von dem Schauplatze der That, indem ich zugleich triumphierte und Zitterte; mein Durst nach dem Bösen war befriedigt und gestillt, mein Leben jedoch in größter Gefahr. Ich lief nach dein Hause in Soho, um doppelt sicher zu gehen, vernichtete ich meine Papiere; dann setzte ich meinen Weg durch die hellerleuchteten Straßen fort, noch immer in derselben geteilten Stimmung, indem ich noch mit meinem Verbrechen liebäugelte, leichtsinnig andere für die Zukunft erfand, und doch wieder eilte ich so schnell wie möglich weiter, um der Verfolgung zu entgehen. Hyde hatte noch einen Sang auf den Lippen, als er den Trank bereitete, und trank dem Ermordeten zu. Die Qualen der Umgestaltung waren kaum vorüber, als Henry Jekyll voll Dankbarkeit und Reue auf die Kniee sank und seine Hände im Gebet zu Gott erhob. Der Schleier der Selbsttäuschung zerriß und ich sah mein Leben als ein einheitliches an. Ich verfolge seinen Lauf von den Tagen der Kindheit an, wo ich noch von meinem Vater an der Hand geführt wurde, und weiter durch die selbstverleugnenden Werke meines Berufes, um wieder und wieder mit jenem Schreckensabend zu enden. Ich hätte laut schreien mögen, mit Thränen und Gebeten suchte ich die schrecklichen Laute, die mein Gedächtnis nur immer wieder vorbrachte, Zu bekämpfen und zu besänftigen; und doch drängte sich selbst in meine Gebete das häßliche Gesicht meiner Bosheit. Als die Heftigkeit der Gewissensbisse sich legte, folgte ein freudiges Gefühl; jetzt war der Weg mir vorgezeichnet. Hyde hatte sich nun unmöglich gemacht; ob ich wollte oder nicht, ich war an meinen besseren Teil gebunden. Ach, wie erfreut war ich darüber! mit welcher bereitwilligen Demut beugte ich mich von neuem den Schranken des natürlichen Lebens! mit welch aufrichtiger Entsagung verschloß ich die Thür, durch welche ich so oft ein und aus gegangen, den Schlüssel warf ich zu Boden und zertrat ihn mit den Füßen.
Am nächsten Tage kam die Nachricht, daß der Mordanfall gesehen worden sei, Hydes Schuld aller Welt bekannt und das Opfer eine von jedermann hochgeachtete Persönlichkeit war. Es war nicht allein ein Verbrechen, sondern auch ein tragisches Ereignis. Ich war froh, es Zu erfahren, froh, auf diese Weise mein besseres Selbst gestützt und von den schrecken des Schafotts behütet zu wissen. Jekyll war nun meine einzige Zuflucht; Hyde brauchte sich nur einen Augenblick sehen zu lassen, und alle Hände würden sich erheben, um ihn einzusaugen und zu töten.
Durch meinen künftigen Lebenswandel wollte ich die Vergangenheit wieder gutmachen, und ich kann wohl sagen, daß es mir auch einigermaßen gelang. Du weißt selbst, wie sehr ich mich in den letzten Monaten des vorigen Jahres bemühte, die Leiden meiner Mitmenschen zu lindern. Du weißt, daß ich sehr viel für andere that, und daß die Tage ruhig, beinahe glücklich für mich verliefen. Auch kann ich nicht sagen, daß dieses Leben voller Wohlthun und Unschuld mir überdrüssig geworden wäre, vielmehr erfreute ich mich desselben täglich mehr. Doch unter dem Fluch des Doppelwesens litt ich noch immer, und das Schlechte in nur, das so lange in Ketten gelegen, rang nach Freiheit. Nicht etwa, daß ich wieder Hydes Gestalt hätte annehmen wollen – der bloße Gedanke daran machte mich schaudern – nein, es lag in meiner eigenen Person, daß ich wieder versucht wurde, gegen das gute Gewissen Zu handeln, und wie jeder gewöhnliche Sünder miterlag ich schließlich. Jede Sache erreicht schließlich ihr Ende, das größte Maß läuft auch einmal über; dieser plötzliche Umschwung zerstörte mein inneres Gleichgewicht. Doch war ich nicht beunruhigt darüber, es schien so natürlich, gleich wie in den alten Tagen, wo ich noch nicht meine Entdeckung gemacht hatte. Es war ein schöner, klarer Tag im Monat Januar, naß, wo der Frost aus der Erde gewichen; aber der Himmel war wolkenlos, und Regent-Park bildete ein Gemisch von winterlichen Bildern und süßen Frühlingslüften. Ich saß in der Sonne auf einer Bank, das tierische Element versuchte mich, die besseren Gefühle schlummerten; sie versprachen nachfolgende Buße, aber hatten noch keinen reellen Anfang damit gemacht. Nach allem kam ich zu der Ueberzeugung, daß ich gleich meinen Nächsten sei, und dann lächelte ich, indem ich mich mit anderen Menschen verglich. Wie viel besser war ich, der ich den guten Willen auch durch Thaten bezeugte, als jene, die in den Tag hinein lebten, und deren Nachlässigkeit oft all Faulheit, selbst au Grausamkeit grenzte. Im selben Augenblick dieser Selbstverherrlichung wurde ich von Todesangst und Schaudern erfaßt; doch
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Bearbeitengingen diese Leiden bald vorüber und ließen mich in einer Ohnmacht zurück. Als ich mich von dieser erholte, war eine Veränderung der Stimmung in mir vorgegangen; ich fühlte eine größere Keckheit und Verachtung der Gefahr, sowie eine Trennung von allen Verpflichtungen. Ich blickte auf mich nieder; die Kleidungsstücke hingen formlos um meine zusammengeschrumpften Glieder; die auf meinen Knieen liegende Hand war rauh und behaart. Ich war wieder einmal Edward Hyde. Kurz zuvor noch war ich der Achtung aller Leute gewiß, war reich und beliebt – zu Hause wartete das Mittagessen auf mich – und jetzt war ich der Abscheu der Menschheit, verfolgt, heimatlos, ein bekannter Mörder, reif für den Galgen.
Meine Sinne schwankten, aber verließen mich nicht ganz. Mehr als einmal habe ich bemerkt, daß in meinem zweiten Charakter meine geistigen Fähigkeiten sich mehr auf einen Punkt konzentrierten; daher kam es, daß, wo Jekyll in entscheidenden Momenten den Kopf hängen ließ, Hyde ihn aufrecht behielt. Meine Mittel waren in einem der Wandschränke meines Kabinettes. Wie war es möglich, sie zu erlangen? Das war das Rätsel, welches ich, den Kopf mit den Händen stützend, zu lösen trachtete. Die Thür des Laboratoriums hatte ich verschlossen; wenn ich mein Haus beträte, würden mich meine eigenen Diener an den Galgen schleppen. Ich sah ein, daß es mir nur mit Hilfe eines anderen gelingen könne, und dachte dabei an Lanyon. Wie konnte ich ihn erreichen? wie ihn überreden? selbst wenn ich der Verfolgung in den Straßen aus dem Wege ging, wie konnte ich zu ihm gelangen? Und wie konnte ich, ein Unbekannter, unwillkommener Gast, den berühmten Physiker überreden, das Arbeitszimmer seines Kollegen Dr. Jekyll zu berauben. Dann fiel mir ein, daß von meinem eigentlichen Wesen die Handschrift nur geblieben, und da dieser Hoffnungsstrahl mich erhellte, lag der Weg, den ich einzuschlagen hatte, offen vor mir.
Darauf ordnete ich meine Kleidung so gut, wie es ging, rief einen Fiaker an und fuhr nach der Portlandstraße in ein Hotel, dessen Namen mir gerade einfiel. Bei meiner Erscheinung, welche allerdings komisch genug war, so traurig das Los desjenigen auch sein mochte, der sie trug, konnte der Rosselenker sein Lachen nicht zurückhalten. Ich knirschte mit den Zähnen vor Wut, und das Lächeln verschwand – zu seinem Glück – aus seinem Gesicht, glücklicher noch für mich, denn sonst hätte ich ihn im nächsten Augenblicke von seinem Sitze gerissen und gewürgt. Als ich das Gasthaus betrat, sah ich mich mit so düsterer Miene um, daß die Kellner darüber erschraken; nicht einen Blick wechselten sie miteinander in meiner Gegenwart, nahmen gemessen meine Befehle hin, führten mich in ein abseits gelegenes Zimmer und brachten mir die Schreibutensilien. Hyde in Lebensgefahr war mir etwas Neues; er war von Furcht erfüllt, als Mörder gestempelt und dürstete nach anderen bösen Thaten. Doch die Kreatur war schlau; er bezwang mit großer Energie seine Wut, verfertigte seine beiden wichtigen Briefe an Lanyon und Poole; um ganz sicher zu gehen, ließ er sie einschreiben.
Dann saß er den ganzen Tag auf seinem Zimmer, an den Nägeln kauend, nahm sein Mittagsmahl allein ein, nur die Furcht in seiner Gesellschaft. Der Kellner war ihm gegenüber sichtlich niedergedrückt. Als die Nacht hereinbrach, nahm er eine geschlossene Droschke und wurde durch alle Straßen der Stadt gefahren. Er, sage ich stets, denn ich kann nicht ich sagen. Jene Ausgeburt der Hölle trug kaum etwas Menschliches an sich; nichts als Furcht und Haß lebte in diesem Menschen. Zuletzt glaubte er, der Kutscher habe Verdacht geschöpft, und entließ daher die Droschke, um sich zu Fuß weiter zu wagen. In seinen schlecht passenden Kleidern zog er die Beobachtung der nächtlichen Passanten auf sich, während in seiner Seele die beiden vorgenannten Leidenschaften gleich einem Sturme wüteten. Er schritt eilig von Furcht gejagt dahin, mit sich selber redend; indem er die entlegensten Gassen benutzte, zählte er die Minuten, welche noch bis zur Mitternacht fehlten. Einmal redete ihn eine Frau an, die, wie ich glaube, ihm eine Schachtel Streichhölzer zum Verkauf anbot; er warf sie ihr ins Gesicht und entfloh.
Als ich, bei Lanyon angelangt, wieder zu mir kam, berührte mich das Entsetzen, welches mein alter Freund vor mir empfand, auf das traurigste; doch war es nur ein Tropfen im Meer gegen das Grauen, mit dem ich der letzten Stunden gedachte. Ein Wechsel war in meiner Seele vorgegangen. Es war nicht länger die Furcht vor dem Galgen, sondern der Abscheu, Hyde zu sein, der mich quälte. Halb träumend hörte ich Lanyons Strafpredigt an, halb träumend kam ich zu Hause und in mein Bett. Ich verfiel nach den Erlebnissen des Tages in festen tiefen Schlaf, den selbst nicht die Schreckensbilder, die mich umgaukelten, zu zerstören vermochten. Am anderen Morgen fühlte ich mich schwach, aber dennoch. erfrischt. Ich fürchtete und haßte noch die in mir schlummernde Bestie, und hatte keineswegs die entsetzlichen Gefahren vergessen, denen ich preisgegeben war; aber ich war froh, zu Hause zu sein, in der Nähe meines Trankes. Dankbarkeit erfüllte mein Herz so sehr, daß ich mich selbst der Hoffnung hingab.
Ich schlenderte nach dem Frühstück auf dem Hof umher und erquickte mich an der schönen Luft, als ich wieder von jenen unbeschreiblichen Gefühlen, die den Wechsel meines Wesens ankündeten, überfallen wurde. Ich hatte nur gerade Zeit in mein Kabinett zu flüchten, ehe ich mit den wütenden Leidenschaften Hydes wieder behaftet war. Dieses Mal brauchte ich die doppelte Portion, um mein eigentliches Selbst wiederzugewinnen, und ach! sechs Stunden darauf saß ich voll Betrübnis am Feuer, denn die Schmerzen kehrten abermals zurück, und ich mußte nochmals mein Mittel anwenden. Kurz, von jenem Tage an konnte ich nur mit größter Anstrengung und unter fortwährender Benutzung meines Trankes das Aussehen Dr. Jekylls tragen. Zu allen Tages- und Nachtzeiten wurde ich von diesen Schauern erfaßt, wenige Minuten, nur brauchte ich zu schlummern, um stets als Hyde zu er- wachen. Unter der Anstrengung und Schlaflosigkeit wurde mein eigentliches Wesen schmächtig, wie vom Fieber verzehrt, schwach an Geist und Körper und ich kannte nur einen Gedanken: die Furcht vor meinem schlechteren Selbst. Aber im Schlaf, oder wenn die Wirkung der Medizin nachließ, wurde ich fast spurlos (denn die Schmerzen der Umbildung schwanden nach und nach) zu Mr. Hyde. Meine Phantasie verfolgte mich mit Schreckgestalten, mein Herz war von grundlosem Haß erfüllt, und der Körper schien kaum stark genug, dies alles zu ertragen. Hydes Macht wuchs mit Jekylls Schwäche. Der Haß, der diese beiden Wesen trennte, war bei beiden gleich groß. Jekyll hatte nun die volle Mißgestalt dieser Kreatur, die ihm bis zum Tode folgte und teilweise das Bewußtsein mit ihm teilte, gesehen. Abgesehen von diesen fesselnden Banden, die ihn zur größten Verzweiflung führten, dachte er an Hyde nicht allein als an etwas aus der Hölle stammendes, sondern er hielt ihn auch für unorganisch. Es war schauerlich, daß dieses Unwesen Sprache und Stimme hatte, daß dieser unvollkommene Staub Miene und Gebärden, ja die Macht zu sündigen hatte. Und dieses Ungeheuer war mit ihn: enger als ein Weib verbunden, ach, enger als sein eigenes Auge; es lag in seinem Fleisch, er fühlte es sich regen und nach der Geburt streben. In jeder schwachen Stunde, im leisesten Schlummer lehnte es sich gegen ihn auf und verdrängte ihn aus dem Leben. Hydes Haß gegen Jekyll war anderer Natur. Seine Furcht vor dem Galgen brachte ihn dazu, Jekyll als seine Ausflucht zu benutzen; aber er fluchte dieser Notwendigkeit, fluchte der Abhängigkeit, in die er geraten, und vergalt den ihm entgegengebrachten Haß in doppeltem Maße. Daher der Schabernack, den er mir spielte, indem er Lästerungen in meiner Handschrift auf die Seiten meiner Bücher verzeichnete, meine Bücher verbrannte, und das Bild meines Vaters vernichtete. Hätte er den Tod nicht so sehr gescheut, würde er sich umgebracht haben, um auch mich Zu vernichten. Aber seine Lust am Leben war erstaunlich, ja noch mehr, ich, der ich krank bin und bei dem bloßen Gedanken an ihn friere, ich bemitleide ihn, wenn ich an dieses leidenschaftliche Festhalten denke und seine Angst sehe, die ihn ereilt, daß ich einen Selbstmord begehen könne.
Es wäre nutzlos, auch fehlt mir entsetzlicherweise die Zeit, um diesen Bericht weiter fortzusetzen. Niemand hat ja solche Leiden ausgestanden, das mag genügen; und selbst diese brachten durch die Gewohnheit – nein nicht dies Wort dafür – eine gewisse Unempfindlichst, eine Vertrautheit
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Bearbeitenmit der Verzweiflung in meine Seele und meine Strafe hätte wohl noch jahrelang gedauert, wenn nicht jene Verlegenheit mich befallen, die mich nun ganz meines eigentlichen Selbsts und meiner Natur beraubt. Mein Salzvorrat, den ich nie erneuert, schmolz allmählich Zusammen. Ich ließ mir frischen Vorrat holen und mischte den Trank; die Aufwallung und der erste Farbenwechsel erfolgten, doch der zweite schon nicht; ich trank alles aus, aber ohne Erfolg. Du wirst durch Poole erfahren, wie ich ganz London danach durchsuchte, aber vergebens; und ich bin jetzt überzeugt, daß der erste Vorrat unlauter war, und daß diese unwissentliche Unreinheit dem Trank solche Kraft verlieh.
Ueber eine Woche ist seitdem vergangen und ich beende diese Erklärungen unter dem Einfluß des letzten alten Pulvers. Das ist also das letzte Mal, daß Henry Jekyll seiner eigenen Gedanken mächtig ist, oder sein eigenes – jetzt so traurig verändertes – Gesicht im Spiegel sehen kann. Noch darf ich zögern, dieses Schreiben zu Ende zu bringen; denn wenn mein Bericht bis jetzt noch der Zerstörung entging, verdanke ich es meiner Klugheit und dem Glückszufall. Wenn die Umgestaltung mich bei dem Schreiben überkäme, würde Hyde es in Stücke zerreißen. Ist aber einige Zeit darüber verstrichen und habe ich es beiseite gelegt, hält seine wunderbare Selbstsucht und die Beschränkung des Augenblicks ihn wohl nochmals von dieser Handlung seiner öffentlichen Wut ab. Und wirklich hat ihn schon das Verderben, das uns beiden droht, etwas geändert und niedergebeugt. Eine halbe Stunde hierauf weiß ich, daß ich wieder und für immer die Gestalt dieses rohesten Wesens angelegt haben werde; dann sitze ich schaudernd und weinend in meinem Stuhl, oder gehe mit der spannendsten, fürchterlichsten Aufmerksamkeit in diesem Zimmer auf und ab, um auf jeden verdächtig scheinenden Laut Zu horchen. Wird Hyde auf den: Schafott sterben? Oder wird er den Mut finden, sich im letzten Augenblicke selbst zu erlösen? Gott weiß es, mir ist es gleich. Dies ist meine eigentliche Todesstunde, und was folgt, betrifft einen anderen, nicht mich. Jetzt, wie ich die Feder niederlege und diese Beichte versiegele, ist das Leben des unglücklichen Henry Jekyll beendet.