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Gartenlaube 1897 Heft 01 Korrekturen

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Nr. 1.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


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Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

Auf den Bergen lag dichter bläulicher Herbstnebel; er schien liebkosend festgehalten zu werden in den unzähligen Wipfeln der Buchen und Eichen und verflüchtigte sich erst zu einem dünnen zarten Schleier, als die Wälder zurücktraten, um den Häusern des Städtchens Platz zu lassen. Die kleine norddeutsche Residenz zog sich reinlich und niedlich, als habe eine Kinderhand sie soeben der Spielzeugschachtel entnommen, in die Ebene hinunter. Ueber ihr, stolz und frei auf einem Kegel erbaut, thronte das herzogliche Schloß mit seinem stumpfen Turm und dem mächtigen Flügelbau. Die herrlichen weiten Gärten, die mählich in den Wald übergingen, stiegen abwärts bis zum Schloßplatz, an dem die Wohnungen der Hofbeamten, das Herrenhaus der Domäne, der Marstall, das Theaterchen, die Hofkirche und der Gasthof lagen. Erst hier begann die eigentliche Stadt. Schnurgerade Straßen, mit alten dichtbelaubten Kastanien besetzt, führten zum Marktplatz. Oben standen noch einige stattliche villenartige Gebäude, hier unten herrschten die kleinen Bürgerhäuser vor, und allmählich wurden es gar Hütten. Aus den Regionen des Hofes gelangte man in die Regionen, wo sich das geschäftliche Leben abspielte, das in Ackerbau und Viehzucht gipfelte, demzufolge die Residenz einen fast dörflichen Anstrich in ihrem centralen Teile bot und weder für ein patentes Schuhwerk noch für verwöhnte Nasen etwas Anziehendes hatte.

Oben „am Schloß“, wie die Leute stolz den schöneren Teil ihrer Vaterstadt nannten, war es desto feiner. Die Natur hatte hier verschwenderisch ihre Reize ausgestreut, und wer diesen Glanzpunkt des Städtchens heute am verschleierten Herbstmorgen gesehen hätte, dort überragt von nebelumwallten Bergen, hier von dem Schlosse, über dessen Terrassen die Ranken des wilden Weines ihre Purpurbanner flattern ließen, dessen weiße Mauern aus dem bunten Herbstlaube der Gärten auftauchten, der würde den guten Stadtkindern von Breitenfels gern zugestehen, daß ihr Städtlein von hoher Poesie umgeben sei, wozu übrigens die fast spukhafte Einsamkeit und Verlassenheit, die hier herrschte, nicht wenig beitrug. Wie traumverloren sah das Schloß auf den Platz herab. Die meisten Fenster waren verhangen, nur nach der Waldseite, nach Süden hinaus, schien der mittlere Stock bewohnt und war es auch. Dort verbrachte die alte verwitwete Herzogin ein einsames Leben in Gesellschaft zweier Hofdamen, einer älteren und einer jungen, eines weißhaarigen, von der Gicht geplagten Kammerherrn sowie verschiedener Möpse und zärtlich geliebter Papageien. Die Kammerfrauen und Lakaien brauchten keinen Puder für ihr Haar, es war vom Alter weiß geworden. Der Leibkutscher wackelte sogar schon ein wenig mit dem Kopfe, und der Viererzug der Durchlauchtigsten Herzogin, welcher jeden Nachmittag


Susel.
Nach einem Gemälde von E. v. Müller.

[2] den letzten steilen Hang die riesige Kalesche hinaufzog, um, vor dem Portale haltend, die hohe Frau zu erwarten, die mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ihre Spazierfahrt unternahm – dieser Viererzug schien unsterblich. Seit langen Jahren kannten die Breitenfelser die großen Schimmel, und es ging sogar ein dunkles Gerücht von ihnen, daß sie einstmals, vor grauen Zeiten, durchgegangen seien. Aber Bestimmtes wußte niemand, es war zu lange her.

Vor dem kunstvollen schmiedeeisernen Gitter droben ging eine Schildwache auf und ab; das war aber auch heute das einzige lebende Wesen hier herum, wenn man nicht des Herrn Oberförsters Teckel, die Lola und den Männe, dazu rechnen wollte, die sich im welken Kastanienlaub umherjagten. Geradezu spukhaft war es. Da auf einmal zitterte etwas durch die feuchte Herbstluft, eine Menschen-, eine Frauenstimme, ein glockenheller Sopran.

„O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,“ klang es aus dem trotz der Kühle geöffneten Wohnstubenfenster des Herrn Medizinalrat Doktor May, des vielgeliebten, aber auch vielgeplagten Leibarztes Ihrer Durchlaucht, ohne dessen Rat die hohe Frau keinen Tag leben konnte, dem sie, wie sie jedermann, der es hören wollte, erzählte, ihr Leben nicht ein-, sondern hundertmal verdankte, den sie sämtlichen Autoritäten seines Standes, und wären es die berühmtesten unter den berühmten, vorzog. Das May’sche Haus lag dem Schlosse gegenüber, seine Fenster blinzelten von unten herauf ehrerbietig zu ihm empor. Durchlaucht pflegte „ihrem lieben May“ des öfteren zu versichern, wie wohlthuend es ihr sei, den abendlichen Schein seiner Lampe heraufstrahlen zu sehen, wisse sie doch, daß dort ein treues Herz für sie denke und ihr Leben zu verlängern trachte, welches ihr, obgleich es eigentlich nichts bedeute als einen Kampf gegen den Egoismus ihres erlauchten Stiefsohnes, doch zur lieben Gewohnheit geworden sei.

Jedenfalls wollte sie noch nicht sterben, die hohe Dame, und so befolgte sie mit rührender Gewissenhaftigkeit die Vorschriften ihres ärztlichen Beraters. Der Herr Medizinalrat mußte natürlich jeden Augenblick gewärtig sein, auf das Schloß citiert zu werden; eine auswärtige Praxis konnte er infolgedessen nicht betreiben, und im Städtchen selbst waren noch vier Kollegen, die kaum ihr Brot fanden. Was aber das ärztliche Honorar für die Hilfleistung und täglichen Konsultationen am herzoglichen Hofe anlangte, so war es durchaus nicht verblüffend groß; Durchlaucht zahlten tausend Thaler jährlich für sich und den gesamten Hof, außerdem hatte ihr „lieber May“ freie Wohnung, so und so viel Klaftern Buchenholz, und endlich besaß er mehrere Orden des herzoglichen Hauses. Er war aber zufrieden damit, sagte sich, daß er als einfacher praktischer Arzt mehr als ein Paar Stiefel ablaufen müsse, um tausend Thaler zusammen zu bringen, schlug Wohnung und Holz über Gebühr hoch an und lebte schlecht und recht und glücklich mit seiner Frau, die vollständig die Ansicht ihres Eheherrn teilte. Die Söhne, von denen der eine Lieutenant in einem preußischen Artillerieregiment, der andere noch Student war, hätten freilich lieber gesehen, wenn ihnen ein reichlicherer Zuschuß aus der väterlichen Kasse geflossen wäre, indes, ein Schuft giebt mehr als er hat, erklärte der Medizinalrat. „Drückt euch durch, Jungens, ihr habt es ja nicht besser gewollt, habt eure Metiers selbst gewählt – mehr als zehn Thaler monatlich kann ich nicht hergeben; ihr habt ja noch den Zuschuß aus der Ruprecht-Stiftung.“

Am wenigsten ward Aenne von der bescheidenen Lage ihres Vaters angefochten. Sie vermißte nichts, bis jetzt jedenfalls noch nichts. Sie kannte nichts anderes, war nach alter guter Sitte erzogen, und nach der gehörten die Frauen und die Oefen in das Haus, ein Sprichwort, das der Herr Leibarzt des öfteren im Munde führte. Aenne war so jugendfrisch, so gesund an Seele und Leib, so befriedigt von ihren kleinen Pflichten, so beglückt von ihrem einzigen, durch mangelhaften Unterricht freilich nicht sehr geförderten Talent ihrer schönen Singstimme, daß sie mit niemand getauscht hätte; am wenigsten mit Fräulein Antonie von Ribbeneck, der jüngsten Hofdame Ihrer Durchlaucht, die in ihren dienstfreien Stunden, von trostloser Langweile geplagt, zuweilen ein Stündchen bei Mays vorsprach. Mays waren ja hoffähig in Breitenfels; zu jedem Theeabend wurden sie von Durchlaucht befohlen, und Aenne mußte singen vor dem wunderbar zusammengestellten Cercle im herzoglichen Musiksaal.

Auch für heut’ abend war sie huldvollst darum ersucht worden, und nun probte sie noch einmal ihre Lieder, eines besonders, zu dessen Vortrag sie sich erst eben entschlossen hatte, um mit ihm den heutigen Musikabend, den ersten der kommenden Saison, zu eröffnen.

Es mochte so ungefähr zehn Uhr morgens sein; Mutter May war unter Assistenz des Dienstmädchens Karoline, die eben sechzehn Lenze zählte, beim Zubereiten des Mittagsessens in der Küche, der Herr Medizinalrat saß in seiner Stube vor dem Cylinderbureau und schrieb. Die Frau Herzogin wünschte in einigen Zimmern neue Oefen, da die alten nicht genügend mehr heizten, und Se. Hoheit, der Regierende, hatte die Eingabe des Kammerherrn von Ellenberg nicht beantwortet, wohl in der Meinung, daß die hohe Stiefmama die gewünschte Verbesserung aus eigenen Mitteln bestreiten könne. Die Herzogin-Mutter aber bestand auf ihrem verbrieften und besiegelten Recht, demzufolge der Regierende gehalten war, ihren Witwensitz in wohnlichem Zustand zu erhalten, und alterierte sich sichtlich über den Rabensohn so, daß der Leibarzt sich ins Mittel zu legen für gut fand und von der Gefährlichkeit sothaner Oefen, die Kohlenoxydgase ausströmen lassen und somit die Gesundheit der hohen Dame zu gefährden ernstlich imstande seien, eine blühende Schilderung entwarf. Wenn Se. Hoheit auch hierauf nicht zeichnete, so gab er sich vor dem ganzen Lande das Ansehen eines lieblosen Stiefsohns.

Im Wohnzimmer, der Arbeitsstube des Rats gegenüber und von dieser nur durch den Flur getrennt, verhallten eben die letzten Töne. Aenne May stand vom Piano auf und klappte etwas geräuschvoll den Deckel des Instruments zu, so daß Tante Emilie aus dem leisen Schlummer, in den die süßen Töne sie gewiegt hatten, entsetzt aus der Sofaecke empor fuhr und schrie:

„Gott im Himmel, was bist du für ein Mädchen – man meint ja, ’s ist ein Erdbeben!“

Aenne May lachte, und unter diesem Lachen, bei dem Anblick dieser Frühlingserscheinung, an der alles lachte, schwand die verdrießliche Miene der alten Dame und sie sagte: „Wo willst hin, Goldköpfchen? Du ziehst ja die Handschuhe an?“

„Zur Generalprobe aufs Schloß, Tantchen. Leb’ wohl, setz’ dich gemütlich in deine Ecke und schlafe weiter – kannst’s ja haben! Auf Wiedersehen!“ Sie machte einen Knicks nach Art kleiner Mädchen und entschwand den entzückten Augen der alten Dame, um gleich darauf über den Schloßplatz der schmiedeeisernen Pforte des herzoglichen Parkes zuzugehen.

Aenne May hatte eine schlanke, im schönsten Ebenmaß gebaute Gestalt, blondes Haar, duftig und lose, das aussah, als wäre es leicht mit Asche überstäubt; dazu den zartesten Teint und glänzende bräunliche Augen, die jedermann groß und offen anzuschauen pflegten, vertrauende Augen, denen man es anmerkte, daß sie in ihrem jungen Dasein noch nichts Häßliches erblickt, noch keine Thräne der Enttäuschung zu weinen gebraucht hatten. Manchmal war es, als spielten Goldfünkchen in ihnen, gleich den lustigen Gedanken, die hinter der Stirn sich jagten; und so war es meistens, es gab kein fröhlicheres Mädchen wie Aenne May, ihr Gekicher hörte man zu allen Zeiten und die Mutter schüttelte des öftern den Kopf, wenn sie eine Neckerei verübt hatte, und pflegte zu versichern: „Das Lachen wird dir schon noch vergehen.“

Jetzt aber war es noch nicht so weit, und das feine Näschen schnupperte noch beständig in der Luft umher, ob es nicht etwas zu lachen gab für den Mund, hinter dessen roten Lippen so gern die prächtigen Zähne hervorlugten.

Sie war mittlerweile bis an die Gartenpforte gekommen, ohne zu gewahren, daß vom Fenster der Oberförsterei ein paar Männeraugen ihr folgten. Aber sie mußten keine Macht über sie haben, diese Blicke; sie sah sich nicht um, sondern ging jetzt innerhalb des Parkes langsam einen Seitenpfad empor, der auf die sogenannte Südterrasse und von da in den Schloßhof führte. Oben blieb sie an dem steinernen Geländer stehen und schaute in die Ebene hinein, die im Scheine einer blassen Herbstsonne vor ihr lag, so weit, ach so weit! Dann spazierte sie, wie die Schulkinder thun, in dem welken raschelnden Laub mit möglichst wenig aufgehobenen Füßen weiter und um die große Fontäne herum, auf deren ruhigem Spiegel die gelben Blätter der Linden schwammen, die im Kreise um sie her standen.

Die heisere Uhr des alten Schloßkirchturmes schlug just halb, und bei diesem Klange blieb Aenne May stehen; sie hatte ja noch Zeit, eine halbe Stunde lang. Sie wandte sich und [3] raschelte wieder vorwärts in dem Laub bis zu einem Pavillon am westlichen Ende der Terrasse und lugte dort durch die Scheiben der Glasthür. Im selbigen Augenblick fuhr ihr Kopf aber so blitzschnell zurück, daß der dunkelblaue Filzhut vom Scheitel rutschte und sie, mit beiden Händen danach greifend, eine jähe Wendung zur schleunigsten Flucht machte. Die Thür des kleinen achteckigen Gebäudes wurde nämlich aufgerissen und ein junger Mann in farbenbekleckstem Leinwandrock trat oder stürzte vielmehr mit dem Rufe ihr entgegen:

„Das ist wirklich zu nett; Fräulein Aenne – nun müssen Sie aber auch gleich eine Kritik abgeben! Treten Sie ein und sagen Sie mir, wie die Kleckserei ausgefallen ist und ob die Herzogin und ihr Gefolge holder Damen es ansehen können, ohne von Krämpfen befallen zu werden!“

Sie hatte sich dem Redenden gleich zugewandt, aber sie lachte nicht, sie sah vielmehr ein bißchen blaß aus, folgte indessen ohne eine Spur von Widerstreben der Einladung und trat voran in den Raum, dessen Thür weit offen blieb und an dessen zwischen den Fenstern befindlichen Wänden eine gar nicht ungeübte Hand figurenreiche Fresken mittelalterlichen Stiles gemalt hatte.

„Da, Aenne,“ rief er mit komischem Stolz und zeigte auf das Mittelfeld, „das sind Sie! Machen Sie ein Kompliment vor sich!“

„Wirklich? Das soll ich sein?“

„Ja! Sehen Sie es denn nicht selbst? Da sind Ihre blonden Haare, Ihre braunen Spitzbubenaugen – –“ Er hielt inne und schaute sie an mit solchem ehrlichen Entzücken, daß sie verlegen von ihm weg zu dem Bilde hinüber sah.

„Und das sollte ich sein?“ sagte sie noch einmal forciert lustig, „aber keine Spur!“

„Lange nicht so reizend wie in natura, natürlich nicht!“ gab er zu, „aber –“

„Keine Spur!“ unterbrach sie ihn, „so geschmacklos hätte ich mich im ganzen Leben nicht angezogen – ein grünes Unterkleid, ein karmoisinrotes darüber, o, und ein blauer Saum und blauer Gürtel dazu! Pfui, Heinz, Sie haben keine Spur von Farbensinn!“

„Das bestreite ich! Uebrigens damals, Anno 1450, war es so Mode,“ verteidigte er sich.

„Und die dort daneben, die Hofdame mit dem Kränzlein im Haar, das ist – ja, das ist nun wirklich ähnlich. Heinz!“ jubelte sie jetzt, „die haben Sie mit Liebe gemalt, o ja, die Toni von Ribbeneck!“

„Mit was habe ich sie gemalt?“ fragte er lachend.

Aber sie antwortete nicht, sondern betrachtete königlich belustigt die Figur, diese Figur, die der Natur so köstlich abgelauscht war; das starke hochmütige Gesicht mit den blassen aufgeworfenen Lippen, die allzu breiten Schultern, die viereckige Taille und das dünne, zu einzelnen Strähnen aufgelöste Haar, auf dem das Blütenkränzlein saß. Die Guitarre im Arm schritt sie neben der Gräfin Breitenfels, der Ahnfrau der Herzogin, her.

„Es ist ein Jammer und ein Elend, Heinz, daß Sie nicht Maler geworden sind!“ rief das Mädchen endlich. „Satteln Sie um, machen Sie, daß Sie nach München oder sonst wohin kommen, und lassen Sie diese Ihre schöne Gabe nicht verkümmern!“

„Sie sehen ja, Aenne, daß ich ihn mächtig kultiviere, diesen Götterfunken!“

„Das sind doch nur Possen,“ antwortete sie und wies auf die Bilder. „Nun ’mal ganz im Ernst, Heinz, fühlen Sie sich denn wirklich glücklich in Ihrer gegenwärtigen Stellung?“

„Ja,“ sagte er fest, aber mit einem Schatten über dem hübschen Gesicht.

„Ja?“ fragte sie spöttisch. „Es muß ja allerdings ein erhebendes Gefühl sein, in Breitenfels ein zwanzig Mann starkes Corps zu befehligen, die Wachen vor den Thüren Ihrer Durchlaucht zu revidieren und mittags mit Helm und Schärpe der alten Excellenz zu melden, daß alles ruhig sei im Land und die Frau Herzogin ohne Gefahr ihr Mittagsschläfchen machen kann.“

„Er zieht nicht, Aenne, der Spott – das ist Dienst,“ erklärte er. „Ich bin mit Leib und Seele Soldat, wer daran je zweifelt, der – – ich möchte es keinem raten – – und sehen Sie, Aenne, dies Kommando finde ich obenein noch riesig nett!“ Und dabei setzte er sich auf den Tisch und sah ihr mit beredtem Blick in die Augen und lächelte.

Er war in seiner Art ein ebenso schönes Menschenexemplar wie Aenne May in ihrer, genau so frisch, so jung wie sie, leider auch ebenso arm, nur mitunter weniger zufrieden, was er aber nur sich selbst eingestand. Und das war ihm nicht übelzunehmen in Anbetracht seiner wirklich drückenden Familienverhältnisse.

„Haben Sie gut geschlafen, Spötterin, und ist Ihnen der Waldspaziergang gut bekommen?“ fragte er nach einer Pause.

Sie war glühend rot geworden. „Ja!“ flüsterte sie ausweichend. „Aber, bitte, sagen Sie mir, Heinz, wie spät es ist! Ich muß zur Probe punkt elf Uhr im roten Saale sein.“

„Noch viel Zeit, Fräulein Aenne, noch eine ganze Viertelstunde! Haben Sie die Gnade, nehmen Sie drüben Platz auf jenem Schemel und lassen Sie mir noch ein wenig Ihren Anblick – – behufs Verbesserung der mangelhaften Aehnlichkeit.“ Und während er zur Palette griff, sprach er immer zu ihr, ohne sie anzusehen. „Solchen Sonnenuntergang habe ich noch nicht erlebt wie gestern, Aenne, das war ja, als ob der ganze Wald in Feuer stände! Wenn man das malen wollte, es käme ein Gewirr von leuchtenden Farben auf die Leinwand, daß jedermann rufen würde: ‚Unmöglich! Ganz unmöglich! So was giebt’s nicht!‘ – Und wir da so mitten in dem Purpur auf der Lichtung – Sie hätten nur Ihr Gesichtel sehen sollen, Aenne, es war ja einfach reizend; und dann das Lied dazu, Sie wollten es erst gar nicht singen.“ Und er markierte die Melodie zu den Worten, während er den Takt mit dem Malstock schlug.

„O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain;
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein!

Diese Worte, die fanden sich wie von selber in meinem Kopf – für einen Lieutenant – das müssen Sie doch zugeben – gar nicht so übel, ja sogar famos! Und dann die Melodie – Ihre Lieblingsmelodie – ach – sehen Sie, Aenne, daß war so ein Lebensmoment, den man nie vergessen kann! Und wie dann die blaue Dämmerung kam und im Waldpfad dunkle Schatten auftauchten – Aenne, wissen Sie – – “ rief er entzückt.

„Ich weiß gar nichts mehr!“ unterbrach ihn das Mädchen, und als er sich, betroffen von ihrem Ton, umwandte, sah er, daß sie jäh errötet war und daß ihre Züge einen peinlich gespannten Ausdruck hatten. „Aber, Aenne, Sie sind mir böse? Mir, Ihrem alten Freunde?“ Und als sie schwieg, fuhr er fort: „Na, Aenne, wie lange kennen wir uns nun schon! Seit unserer Görenzeit, beinahe seit zehn Jahren, wo ich Schüler des Gymnasiums hier war. Ist es nicht genug, wenn wir uns feierlich ‚Sie‘ nennen, seit wir uns vor nun einem Vierteljahr als erwachsene Menschen wiedersahen? Gestern abend habe ich sogar – glaube ich – du – – Ach, Aenne, können Sie mir nicht verzeihen? Warum soll man denn – aber Aenne – was haben Sie nur?“

„Ich muß nun gehen,“ erklärte sie, sich langsam erhebend, blaß bis in die Lippen.

„Auf Wiedersehen denn, Aenne, heute abend; und daß Sie sich von keinem andern Menschen als von mir das Abendessen vom Büffett holen lassen – ich warne Sie! Und Aenne, geben Sie mir doch die Hand, seien Sie mir nicht böse, wegen gestern!“

Sie reichte ihm lächelnd die Rechte, aber dabei konnte sie es nicht hindern, daß ihr ein paar schwere Thränen aus den Augen fielen. Es war dies etwas so Ungewohntes, etwas, das so im Kontrast stand zu ihrem lachenden Mund, daß er sie wie ein Rätsel anstarrte, und als sie nun rasch aus der noch immer geöffneten Thür und unter den entlaubten Kastanien über die völlig einsame Terrasse schritt, da blieb er wie angewurzelt stehen und sah ihr nach, und noch lange, nachdem sie verschwunden war, stand er so. Dann strich er sich wie erwachend über die Stirn, betrachtete wie abwesend die Wandmalerei, die er wie weiland „Fludribus“ in Scheffels „Trompeter“ zu einem hohen Namenstage zu verbrechen im Begriff war, und setzte sich, ganz hingenommen von seinen Gedanken, auf den nämlichen Stuhl, von dem eben das junge Mädchen aufgestanden war.

Du lieber Himmel – Aenne May hatte geweint! Es war ihm, als seien mit diesen Thränen aus ihren Augen zugleich die Schuppen von seinen Augen gefallen; aber, wie konnte er denn auch denken – Aenne May und er! Er, der ärmste Lieutenant der gesamten deutschen Armee, den man höheren Ortes für ein halbes Jahr hierher kommandiert hatte, um ein wenig seinen [4] Finanzen aufzuhelfen, d. h. um ihn eine Zeit lang dem teuren Garnisonleben zu entrücken: hierher, wo er, sozusagen, umsonst lebte und die Kommandozulage obenein bekam. Auch hatte er freie Wohnung im Schlosse und Verpflegung dank dem Interesse der Frau Herzogin, bei welcher seine Tante Hofdame war. Und in eine solche Null, solch’ aussichtsloses Nichts, sollte sich ein schönes Mädchen verliebt haben so ohne weiteres? Eine, die jedenfalls nicht, selbst nicht in dieser kleinen Stadt, von Männeraugen unbemerkt geblieben war in ihrer jungen Schönheit!

Ach was, Heinz, das ist ja Unsinn! Höchstens hat sie dir den – – ja Donnerwetter, es war auch frech – den leisen Kuß auf die schönen blonden Haare übelgenommen bei dem gestrigen Spaziergang. – Aber eigentlich war die Sache so natürlich und eigentlich hat sie es kaum merken können. – Warum auch ging sie so weit von ihm ab, an der Grenze des Weges? Warum blieb sie mit ihren Flechten an einem Ast hängen, so daß er sie befreien mußte, wobei dann diese Unthat vorfiel? Er erinnerte sich, daß sie nachher gestern abend kein Wort mehr zu ihm gesprochen hatte, daß er nicht wie sonst vor der Hausthür ihrer väterlichen Wohnung aufgefordert wurde: „Kommen Sie mit hinein, Heinz.“ – – Und nun heute? Freilich konnte sie nicht wissen, daß er um diese Zeit hier malen würde; sie hatte nur sehen wollen, wie weit er mit den Bildern sei, zu denen er da unten in der Wohnstube ihrer Eltern eine Skizze von ihr gemacht hatte. – Dann war sie doch hereingekommen auf seine Bitte, aber erst, nachdem sie versucht hatte, fortzulaufen. – –

Ja freilich, sie war anders gewesen heute. – „Ach Himmel, und das – das wäre ja zum Schreien!“ sagte er laut. „Sie sollte es nur wissen, das liebe Tierchen, was ich in meinem Leben schon alles geliebt, begehrt und erstrebt habe, um es dann aufgeben zu müssen, so daß ich allmählich eine Art Fertigkeit im Entsagen gewonnen habe. Zuerst die Schule, als Vater gestorben war und es hieß: Kadettencorps – durch Gnade des Herzogs – Schulgeld nicht mehr zu erzwingen – –! Dann mein Malergelüste, diese brotlose Kunst, wie Mutter jammerte, als ich sie fast kniefällig bat, mich in München studieren zu lassen! Ich wollte nichts von ihr als die fünfhundert Thaler, das fürstliche Erbe Onkel Davids. – Dann die Kriegsakademie – aber wovon sollte ich leben in Berlin während dieses Kommandos?

Ach, Aenne May, du kennst die Welt nicht, du weißt nicht, wie jammervoll sie ist für einen blutarmen Lieutenant! Aber es soll mir eine Warnung sein, ich bin kein schlechter Kerl, ich will deinen Frieden nicht trüben, will dich nicht unglücklich machen! Heute abend spiele ich den liebenswürdigen Schwerenöter gegen alle Welt, du wirst dich wundern, Aenne May! Ich will schon sorgen, daß du die Achseln zuckst und wieder lachst in ein paar Tagen und sagst: ‚Dummer Junge, der Heinz!‘ – Weinen darfst du nicht über mich, das soll nicht sein! Nein – ein Schuft bin ich nicht – –“ Er fuhr unter diesen Selbstvorwürfen und Gelöbnissen aus seinem Malerkostüm in die Uniform, wusch die Hände, stülpte den Helm auf und schlug den nämlichen Weg ein wie Aenne, d. h. er ging nach dem inneren Schloßhof, ließ die Hälfte seiner bewaffneten Macht, zehn Mann stark, antreten vor der Hauptwache, gab Parole aus und meldete sich dann zum Rapport bei Sr. Excellenz dem Kammerherrn. Als er über den teppichbelegten Korridor schritt nach dem Empfangszimmer, klang Aennes Stimme aus der nur angelehnten Flügelthür des Musiksaales:

„O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain;
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein!

Halt ein! Entzieh’ deine segnenden Gluten
Der heilig erschauernden Welt nicht gleich!
Vergebens – sie sinkt in die schimmernden Fluten ...
O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Ein lebhafter Applaus folgte. Heinz blieb stehen. Ein glückliches Lächeln ging über seine Züge. Er machte einen Schritt nach dem Musiksaale zu. Dann aber raffte er sich zusammen. „Unsinn, Heinz! Ruhig Blut!“ murmelte er vor sich hin und setzte seinen Weg fort.

(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
Liebeszauber.
Von Max Haushofer.

Der Hunger und die Liebe haben von Anbeginn das physische Leben des Menschen beherrscht, sie waren die mächtigsten treibenden Kräfte in dem großen vieltausendjährigen Kampfe um sein Dasein und um sein Glück. Aber während das Menschengeschlecht den Hunger begriff und klaren Verstandes mit allen Mitteln einer rastlos ringenden Erfindung bekämpfte, blieb ihm die Liebe rätselhaft bis auf den heutigen Tag. Rätselhaft blieb es ihm, wie sie entstehen und zu rasender Leidenschaft anwachsen konnte, rätselhaft, wie sie mit einem Blick und Hauch Himmelsseligkeit und nagende Verzweiflung zu wecken vermochte, rätselhaft, wie sie als zündender Funke ins Herz fällt und als still strahlende Flamme den Tod überdauert.

Darum begreift man, wie seit den ältesten Zeiten diese heiße lodernde herzbewältigende Macht mit den üppigsten Gebilden der Volksphantasie umrankt werden konnte. Der plötzliche Einbruch einer so gewaltigen sinnberückenden Macht in das Menschendasein mußte als etwas Uebernatürliches erscheinen. Und ebenso begreiflich muß es auch erscheinen, daß man seit den frühesten Zeiten schon bestrebt war, Gegenliebe, wenn sie nicht vorhanden oder zweifelhaft war, durch künstliche Mittel zu erwecken oder zu festigen; oder sie wiederzugewinnen, wenn sie verloren war. Was der Mensch an phantastischem Aberglauben leisten kann, mußte ja angeregt werden durch den stärksten aller Herzenstriebe, durch einen Trieb, der nicht bloß unreifen Jünglingen und Mädchen, sondern starken Männern und lebenserfahrenen Frauen den klaren Blick und Verstand zu trüben vermag.

So zeigt uns denn die Kulturgeschichte eine lange Reihe von abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen, die mit der Liebe im Zusammenhange stehen. Kein Volk und kein Zeitalter hielt sich frei von diesen Gebilden heißer Phantasie, die uns manchmal anmuten wie die zarteste Herzenspoesie, manchmal erschrecken wie dämonische Mächte, manchmal auch mit tiefem Ekel erfüllen, wenn wir sehen, wie Heiliges und Abscheuliches in aberwitziger Weise vermengt werden. Denn was die Menschheit an Liebeszaubern ersonnen hat, grenzt bald an unheimlichen grausamen Teufelsdienst, bald an das flehende Gebet reiner Herzensgüte. Diese Liebeszauber sind die Verirrungen im Herzensroman des Menschengeschlechts.

Bei den alten Griechen wie bei den in ihrer Kultur mit den Griechen so innig verwandten Römern spielte der Liebeszauber eine sehr bedeutsame Rolle. Ein kleiner Vogel aus der Gattung der Spechte, der Wendehals oder Drehhals (griech. ῖυγξ, lat. Iynx torquilla oder verticilla genannt), mit schillerndem Halse und eigenartigen Bewegungen des Halses und Kopfes, galt für besonders zauberkräftig. Mädchen und Frauen, die einen geliebten Mann in ihre Nähe bannen wollten, banden einen solchen Vogel an ein vierspeichiges Rad, drehten dasselbe und sprachen Zaubersprüche dabei. Der gewöhnlichste dieser Zaubersprüche lautete: „Jynx, ziehe diesen Mann zu meinem Hause herbei!" Da man aber einen solchen Vogel nicht immer zur Hand hatte und der Liebeszauber doch sehr häufig ausgeübt werden mußte, erfand man einen Ersatz dafür: einen mit Purpurwolle umsponnenen Kreisel. Der Sage nach sollen ihn thessalische Zauberinnen zuerst gebraucht haben. Solche Kreisel, die auch in Lukians Gesprächen, sowie von Horaz, Properz und Ovid erwähnt werden, waren manchmal mit Gold und Amethysten verziert, manchmal bloß von Erz.

Das waren indes keineswegs die einzigen Zaubermittel. Die Liebenden selbst oder die von ihnen um ihre Hilfe angegangenen Zauberweiber kannten noch anderes. So insbesondere

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Auf ewig vereint!
Nach dem Gemälde von G. Bussière.

[6] ein wächsernes Püppchen, das den Geliebten vorstellte und unter Beschwörungen dreimal um einen Altar getragen ward. Mitunter wurden auch solche Püppchen aus Flachs oder aus Thon gefertigt – ein Gebrauch, der in Italien im vorigen Jahrhundert noch ziemlich verbreitet gewesen sein dürfte.

Gern verwendete man bei den Liebeszaubern auch irgend ein Stückchen von der Kleidung des Geliebten, im Wahne, daß solche Sachen mit seiner Persönlichkeit noch in einer gewissen Fernwirkung verbinden seien.

Hochbedeutsam erscheint der Liebeszauber in der Volksphantasie der germanischen Stämme. Die germanische Sagenwelt kennt schaffenden und zerstörenden Liebeszauber; der erste weckte die Liebe, letzterer ließ sie vergessen. Zaubermittel für den schaffenden wie für den zerstörenden Liebeszauber gab es mancherlei. Obenan aber standen die Liebestränke. Solch einen Trank reichte Chrimhild dem Sigurd, worauf er die Brunhilde vergaß. Auch Gudrun konnte ihren Sigurd nicht vergessen und Atli zum Gemahl wählen, ehe sie nicht einen magischen Trank erhalten hatte, der sie die Treue verlieren ließ. Oefter wiederholt sich die Sage, daß Walküren und elbische Weiber den Helden ihre Trinkhörner mit solchen zaubrischen Tränken reichen, auf daß sie alles vergessen und bei ihnen bleiben.

Bei dem tiefwurzelnden Sinn für Treue, der dem germanischen Volkscharakter eigen ist, konnten die germanischen Völker jede Untreue in der Liebe und Ehe nur begreiflich finden, wenn sie durch etwas Uebernatürliches, durch ein Zauberwerk begründet ward. Die Treue mußte erst künstlich in Vergessenheit gebracht werden, ehe sie gebrochen werden konnte. Dabei vermeidet auch die ältere Volksphantasie manches Abgeschmackte, ja Widerwärtige und Grausige, das späterhin in diesen Gegenstand hereinspielt.

Seine reichste poetische Darstellung findet der Liebeszauber in den Schicksalen des Helden Tristan und seiner Geliebten, der schönen Isolde. Ursprünglich ist es eine bretonische Sage, aus welcher das Liebesdrama von Tristan und Isolde in die französische, englische, skandinavische und deutsche Dichtung überging. Isolde war eine irische Königstochter, welche Tristan für seinen Oheim, den König Marke von Cornwall, warb und zu Schiff nach England führte. Durch einen Zaubertrank, den die Verkettung des Geschicks die beiden trinken läßt, erwacht in ihnen rasende Leidenschaft füreinander, so daß der edle Tristan seiner Vasallentreue vergessen muß und mit Isolde den alten König täuscht. Auch eine Trennung der Liebenden, selbst Tristans Vermählung mit einer anderen Königstochter, die ebenfalls Isolde heißt, sind nicht imstande, die unheilvolle Leidenschaft der beiden zu ertöten. Tristan kehrt zu seiner ersten Isolde zurück, wird aber bei einem Ritterabenteuer tödlich verwundet; Isolde, welche ein Mittel zu seiner Rettung in Händen hat, kommt zu spät und stirbt an Tristans Leiche. Und der Liebestrank in ihnen ist so stark, daß die Sträucher über ihrem gemeinsamen Grabe zu einem einzigen untrennbaren Busche verwachsen. Bekanntlich liegt die Sage von diesem Zaubertranke Gottfrieds von Straßburg herrlichem Gedichte und Richard Wagners machtvollem Musikdrama zu Grunde, welch letzterem die Scene entnommen ist, die das Bild auf Seite 5 darstellt und die auf Seite 20 näher geschildert ist.

Außer den Liebestränken finden wir bei den germanischen Völkern auch noch manchen Liebeszauber, der dem althellenischen verwandt ist. So jene schon erwähnten Wachspuppen. Eine solche Wachspuppe, „Atzmann“ genannt, konnte benutzt werden, um eine ferne Person zur Liebe zu zwingen oder ihr Böses anzuthun. Je nachdem hängte man den Atzmann in die Luft, ins Wasser, ans Feuer; oder man durchstach ihn mit Nadeln. Auch lautet der Spruch eines fahrenden Schülers (Grimm, Mythologie).

Mit wunderlichen Sachen
Ler ich sie denne machen
Von Wahs einen Kobolt,
Wil sie daz er ir werde holt,
Und teufez (tauch es) in den Brunnen
Und leg in an die Sunnen.

Einzelne Vorkommnisse aber, die von dem allgemeinen durch viele Jahrhunderte die Vorstellungen beherrschenden Glauben an Liebeszauber Zeugnis geben, gehören der Geschichte an; und mit ihnen wollen wir uns eingehender befassen.

Ein geschichtlich beglaubigtes Ereignis, in welches der Liebeszauber hereinspielt, betrifft den Erzherzog und nachmaligen Kaiser Matthias. Herzog Wilhelm V. von Bayern besaß eine Tochter, Magdalena, die aus Gründen der Staatskunst entweder an Kaiser Rudolf II. oder an dessen vermutlichen Nachfolger, den Erzherzog Matthias, verheiratet werden sollte. Vor der Vermählung seiner Tochter mit Matthias aber wurde Herzog Wilhelm durch vertraute Briefe gewarnt. Denn Matthias stand in einem Liebesverhältnis mit einer gewissen Susanne Wachter. Nach einer Nachricht sollte dieselbe dem Erzherzog in einer Feige einen Liebeszauber zu schlucken gegeben haben. Außerdem brannte in einem gewissen Kloster ein mit Zauberei zugerichtetes Licht, und so lange dasselbe brannte, konnte Matthias nicht von seiner Liebe zu Susanne lassen. Wenn aber der Abt jenes Klosters und die anderen in das Geheimnis eingeweihten Personen stürben, könne jenes Licht überhaupt nicht mehr ausgelöscht werden und dann bliebe der Erzherzog bis zu seinem Tode an Susanne – übrigens eine gewöhnliche, seiner nicht würdige Person – gefesselt. So lauteten die Nachrichten über Matthias, der während der Heiratsverhandlungen König von Ungarn geworden war. Dazu gesellten sich Zweifel über seine kirchliche Politik. Die Heirat kam nicht zustande. Die bayrische Prinzessin, eine edle und reine Fürstentochter, von deren Liebenswürdigkeit noch ein aus jener Zeit vorhandener Brief an ihren Vater ein rührendes Zeugnis ablegt[1], sollte die Krone des Reiches nicht tragen. Matthias heiratete erst nach Rudolfs II. Tode, als er selber Oberhaupt des Deutschen Reiches geworden war, eine österreichische Erzherzogin, mit welcher er dann ein recht glückliches Familienleben geführt haben soll. Magdalena starb, nachdem sie kaum des Lebens Mitte erreicht hatte, als Pfalzgräfin von Neuburg, im Jahre 1628.

Der Hexenglaube, jener unselige Wahn, welcher Jahrhunderte hindurch das Gemütsleben der Kulturwelt belastete und unzählige von unschuldigen Opfern zu Kerkernot, Folter und qualvollem Tode brachte, ließ erklärlicherweise auch die Vorstellungen von Liebeszaubern aufs üppigste erblühen. Aber diese Vorstellungen richteten sich meist einseitig nach einer dunklen unheimlichen Seite hin: nach der Idee der Teufelsbuhlschaft, die in zahllosen Hexenprozessen eine so wichtige Rolle spielt. Das sei hier nur gestreift. Wie aber auch rein menschliche Liebesleidenschaft mit dem finsteren Aberglauben, den man in alle Schicksale und Zustände seine schwarzen Fäden hereinspinnen ließ, verwoben ward, zeigen noch ein paar andere Fälle. So tiefgewurzelt war der Aberglaube, daß man sich jedes Ereignis, das nicht ganz klar und selbstverständlich schien, durch Zauberei erklärte und daß auch die scharfsichtigsten Menschen den nüchternen Verstand völlig verloren, wenn sie nur von Zauberei hörten.

Unter der Herrschaft des glänzendsten Despoten Frankreichs, Ludwigs XIV., lebte zu Paris eine Frau, Catharine Monvoisin, gewöhnlich nur la Voisin genannt – eine der berüchtigtsten Schwarzkünstlerinnen, welche die Kulturgeschichte kennt. Zu dieser Voisin kam, was in Paris abergläubisch und verliebt zugleich war. Sie betrieb die Hexerei in großartigem Maßstabe, hatte eine glänzende Klientel und verdiente ungeheure Summen. Wahrsagerei war das harmloseste, was sie trieb; viel schlimmere Künste enthüllte der Prozeß, der ihr gemacht ward, nachdem sie jahrelang die scheußlichsten Greuel und Giftmorde verübt hatte. War eine Frau in Sorge, daß ihr Geliebter in seiner Leidenschaft erkalte, so wandte sie sich an die Voisin. Diese war, wenigstens in der ersten Zeit ihrer Thätigkeit, klug genug, sich nicht selber mit Hexerei zu beschäftigen, sondern brachte ihre Kunden nur mit anderen Schwarzkünstlern zusammen, die dann den eigentlichen Zauber vollbrachten. Ein solcher Schwarzkünstler war Lesage, dessen Zaubermittel in einer Wachspuppe bestand, welche den Geliebten der Klientin vorstellen sollte und ins Feuer geworfen ward, unter Beschwörungsformeln, die der Schwarzkünstler dazu sprach.

Dieses entsetzliche Weib ward im Jahre 1680 vor einen besonderen Gerichtshof, die „chambre ardente“ („glühende Kammer“) gebracht. Der Folter unterworfen, gestand die Voisin eine Unzahl von Greuelthaten und ward am 20. Februar 1680 lebendig verbrannt. Man entledigte sich der Verbrecherin so rasch, um ihren Mund für immer zu verschließen. Denn sie wußte Dinge, die dem allmächtigen Ludwig, wenn sie ans Tageslicht [7] gekommen wären, höchst peinlich sein mußten. Der König griff selber in die Prozesse ein, die nach dem Tode der Voisin gegen ihre Verwandten und Gehilfinnen geführt wurden, und veranlaßte, daß gewisse Aussagen der Angeklagten verborgen blieben. Ganz blieben sie aber doch nicht verborgen.

Triumphierend und stolz war die schöne Marquise von Montespan im Jahre 1668 die erklärte Geliebte Ludwigs XIV. geworden. Sie hatte die arme La Vallière aus dem Herzen des Monarchen verdrängt, durch ihre Schönheit, durch die Künste ihrer Koketterie und durch ihren berückenden Geist. Weil aber diese Machtmittel nicht rasch genug wirken wollten, hatte auch die Montespan zu Zauberkünsten ihre Zuflucht genommen. In dem Prozeß, der gegen die Voisin geführt ward, kam es an den Tag, daß auch die Marquise eine Kundschaft der schändlichen Hexe war. Und zwar nicht bloß einmal. So oft die Montespan Besorgnis empfand, daß sie in der Gunst des Königs noch nicht hinreichend gefestigt sei oder daß das bewegliche Herz Ludwigs anderswohin sich neigen wollte, wandte sie sich an die Voisin. So konnte der Polizeilieutenant La Reynie, der unerschrockene Ankläger im Prozeß Voisin, feststellen, daß die Beziehungen der Montespan zu den Pariser Schwarzkünstlern im Jahre 1666 begonnen hatten. Damals galt es noch, die La Valliere beiseite zu schieben, und die stolze Montespan war abergläubisch genug, um in Gegenwart betrügerischer Schwarzkünstler unter den abgeschmacktesten Zauberformeln die Nebenbuhlerin zu verfluchen.

Nur wenige Jahre erfreute sich das entartete Weib der unbestrittenen Gunst des Königs. Schon 1672 erhielt sie begründete Ursache zur Eifersucht; und diese Leidenschaft erfüllte fortan ihr heißes Herz mit marternder Raserei. Sie wandte sich wieder an die Voisin und endlich an den verworfensten der Schwarzkünstler, den Abbé Guibourg. Die Verirrungen, die hier im Banne des Aberglaubens begangen wurden, möchte man für wahnwitzige Träume irgend eines verrückten oder verleumderischen Geschichtschreibers halten: aber sie sind historische Thatsachen, erhärtet durch die gleichartigen Aussagen verschiedener getrennt verhörter Personen, die an jenen höllischen Ceremonien beteiligt waren.

Doch trotz allem gelang es der Montespan nicht, die Gunst des Königs zurückzugewinnen. Er wandte sich ihr zwar aufs neue zu, weil es ihm so gefiel, aber nur, um sie durch baldigen Abfall aufs neue zu demütigen. Im Jahre 1677 gelang es der Verzweifelnden noch einmal, die alte Stellung zu erobern. Aber es war das letzte Mal. Angst vor neuen Demütigungen, vielleicht auch Gewissensbisse machten sie ruhelos; in wahnsinnig hohem Spiele, bei welchem Millionen über den Spieltisch rollten, suchte sie sich zu betäuben. Und dann brach endlich die Strafe über sie herein. Das jugendlich bildschöne Fräulein von Fontanges nahm den Platz im Herzen des Königs ein.

Nun gerät die gestürzte Favoritin in die finstersten Abgründe menschlicher Verworfenheit. Wieder wendet sie sich an die Voisin; aber diesmal gilt es keinen Liebeszauber mehr, sondern Gift, Gift gegen die Fontanges und gegen den König selbst! Der entsetzliche Plan mißlingt, die Fontanges aber stirbt bald darauf an einer Lungenentzündung.

Mit der Montespan war’s zu Ende. Der König verbannte sie nicht, aber er behandelte sie mit Härte und Kälte. Elf Jahre nach ihrem endgültigen Sturze zog sie sich ins Kloster zurück. Der König ließ ihr ein glänzendes Einkommen. Viele Jahre lang lebte sie noch fern dem Hofe, gemartert von Gewissensbissen und schrecklicher Todesangst. Aus der herrschsüchtigen Favoritin ward allmählich eine reuevolle Büßerin, die in Gebet, Kasteiung und in Werken der Barmherzigkeit Trost begehrte. So starb sie, sechsundsechzig Jahre alt, im Jahre 1707, schön bis zum Ende.

Ihr König hatte sie schon viele Jahre zuvor zu den Toten geworfen.

Wenige Jahrzehnte nach dem Zauberroman der Montespan spielte auch an einem deutschen Fürstenhofe eine seltsame Geschichte ähnlicher Art sich ab: der Herzensroman des Kurfürsten Johann Georg IV. von Sachsen. Er war nicht schön, dieser Roman, ebensowenig wie jener der Montespan.

Schon als Kurprinz war Johann Georg in heißer Liebe zu der damals noch sehr jungen Magdalene Sibylle, Tochter des Obersten, späteren Generallieutenants von Neitschütz (auch Neitzschütz geschrieben), entbrannt. Umsonst waren die Versuche seiner Eltern, den Kurprinzen von seiner unheilvollen Liebe zu lösen. Er machte Sibylle zu seiner Geliebten und pflegte sein Verhältnis mit ihr auch dann noch, als er selber Kurfürst geworden war und die Markgräfin Eleonore von Ansbach heiratete. Ja, er bevorzugte jene sogar öffentlich vor dieser unglücklichen Fürstin. Sibylle ward zur Reichsgräfin von Rochlitz erhoben und hatte ihren eigenen Hofstaat, während das Volk sie schmähte und verfluchte. Der böse Geist dieses Romans war Sibyllens Mutter, die Generalin Neitschütz, die in maßlosem Ehrgeiz mit dem Plane sich trug, die Kurfürstin ganz zu verdrängen und ihre Tochter Sibylle an deren Platz zu bringen. Die Vorbereitungen dazu waren getroffen, als Sibylle plötzlich an den Blattern starb und der trostlose Kurfürst wenige Wochen später, am 27. April 1694, erst 26 Jahre alt, ein Opfer derselben Krankheit ward. Die Regierung kam an seinen älteren Bruder Friedrich August.

Nun brach das Verderben über die Generalin Neitschütz herein. Da man ihrer Tochter nichts mehr anhaben konnte, als daß man ihren Leichnam aus der Kirchengruft entfernte und in irgend einem Winkel verscharrte, richtete sich der berechtigte Grimm der öffentlichen Meinung gegen die schuldige Mutter, die Generalin.

Friedrich August, bekannter unter dem Namen August der Starke, ließ, gedrängt durch die Volksstimme, sofort der Generalin den Prozeß machen; nicht als ob er selber an eine Behexung seines Bruders glaubte, als vielmehr um eine Ehrenrettung desselben zu versuchen. Die Generalin, die übrigens durch gewissenlose Treibereien sich und die Ihrigen mittels des Einflusses ihrer Tochter bereichert hatte, ward angeschuldigt, den Kurfürsten Johann Georg III. durch Zauberei ermordet und seinen Nachfolger, Johann Georg IV., ebenfalls durch Hexenkunststücke in ihre Tochter verliebt gemacht zu haben. Selbst gegen die verstorbene Favoritin ward der Prozeß erhoben. Vierundvierzig Personen wurden teils als Zeugen, teils als Mitschuldige in den Prozeß hereingezogen, insbesondere mehrere Zauberweiber und der Scharfrichter. Verschiedene dieser Personen wurden der Tortur unterworfen. Die Generalin Neitschütz soll ebenfalls den ersten Grad der Folter mit großer Standhaftigkeit ausgehalten haben. Später trug sie, um die Spuren der ausgestandenen Marter zu verberge, stets Handschuhe. In diesem Prozesse nun wurde der ganze Aberglaube jener Zeit noch einmal ans Licht gezerrt. Die gefolterten Helfer und Helferinnen der Generalin bekannten, daß allerhand Zaubermittel angewendet worden seien, um den Kurfürsten zu behexen. So trug Sibylle ein aus ihren und des Kurfürsten Haaren geflochtenes Zauberband am Arme; dasselbe nahm sie sogar mit ins Grab, und man gab diesem Bande die Schuld, daß ihr der Kurfürst so rasch (nach fünfzehn Tagen) in den Tod folgen mußte. Der Apotheker Sartorius ward mit in die Untersuchung gezogen, weil er die Adlerswurzel und das Zauberkraut Moly (mit welchem einst Odysseus den Zauber der Circe löste) an die Frau von Neitschütz und ihre Tochter geliefert haben sollte.

Unser lichteres Jahrhundert weiß, welches die Zaubermittel waren, die damals wirklich gewirkt hatten: die Schönheit der jugendlichen Sibylle und die leidenschaftliche Verliebtheit des Kurfürsten. Damals glaubte alle Welt, selbst die gelehrten Juristen, an Hexerei. Der Prozeß gegen die Generalin ward indessen, nachdem der Zorn der Bevölkerung etwas abgekühlt war, niedergeschlagen. Für ihre Verbrechen war diese Frau durch die lange Untersuchungshaft, durch den Pranger, auf den sie öffentlich gestellt ward, durch die ausgestandene Angst und Folter und durch die Einziehung des zusammengestohlenen Guts noch recht gnädig bestraft. Ihre Freiheit erhielt sie wieder; 1713 starb sie, dreiundsechzig Jahre alt, auf einem Gute ihres Sohnes, des Generalmajors von Neitschütz. Von ihren Mitschuldigen wurden einige durch den Pranger, andere durch Auspeitschen bestraft; ein paar derselben, die „Hexe Margarete“ aus dem Spreewald und der Scharfrichter, starben im Kerker, vielleicht an den Folgen der ausgestandenen Folter. Die finanziellen Machenschaften und Plünderungen der Generalin und ihrer Tochter aber hatte der Mann zu büßen, der ihr dabei hauptsächlich behilflich gewesen war: der Kammerdirektor Gebhard von Hoym. Er büßte seine Uebelthaten [8] mit anderthalbjährigem Gefängnis; dann ward er gegen eine Zahlung von 200 000 Thalern freigelassen – und sogar Kammerpräsident.

So endete der denkwürdige Prozeß gegen die Generalin von Neitschütz, nicht ohne einen ganzen Sumpf von Aberglauben, grobem Laster, maßloser Herrschsucht, Betrügerei, Bestechung und ähnlichen Nichtswürdigkeiten aufgedeckt zu haben.

Ist auch der Hexenglaube mit seinen Scheußlichkeiten nach langem Kampfe helleren Anschauungen gewichen, so erinnern an den einst so verbreiteten Glauben an Liebeszauber doch noch manche harmlosere Bräuche, die sich bis in das gegenwärtige Jahrhundert unter der Landbevölkerung erhalten haben. So die Beschwörung des Geliebten in gewissen „heiligen Nächten“. Der bekannteste dieser Bräuche war noch vor einem Menschenalter in Süddeutschland das „Betttreten“. Das Mädchen, welches seinen Liebsten oder künftigen Gatten zur Erscheinung zwingen wollte, stellte sich in der Thomasnacht auf ein Brett, das aus der Bettstelle genommen war, und sprach dazu:

„Liebes Bett, ich tritt dich,
Heiliger Thomas, ich bitt’ dich,
Daß mir in dieser Nacht erschein’
Der Herzallerliebste mein!“

Uebrigens sind heute die abergläubischen Ideen von der Möglichkeit eines Liebeszaubers keineswegs völlig verflogen. Auch unter den Angehörigen der Kulturvölker giebt es noch am Ende des 19. Jahrhunderts einzelne rückständige Naturen, die von diesem Aberglauben befangen sind und durch ihn die Beute frecher Schwindler werden. Lesen wir doch ab und zu in Tagesblättern von Gerichtsverhandlungen gegen derartige Schwindler, die aus der Unwissenheit und dem leichtgläubigen Liebeswahn schwacher Menschen Kapital schlagen. Während aber vergangene Jahrhunderte aus dem Aberglauben des Liebeszaubers erschütternde und herzbrechende Tragödien erwachsen ließen, entstehen heutzutage meist nur Komödien oder gar Possenspiele daraus – wenigstens dem äußeren Anscheine nach. Da ist eine oder die andere durchtriebene Frauensperson, die im Rufe steht, liebedürstenden oder eifersüchtigen Frauen und Mädchen den Erwählten ihres Herzens huldvoll stimmen zu können, Untreue in Treue, Gleichgültigkeit in lodernde Glut umzuwandeln. Bei Nacht und Nebel wird sie aufgesucht in irgend einem Vorstadthäuschen, von verschleierten Damen, wie von armen Mädchen aus dem Volke. Gegen flehendes Bitten und bares Geld giebt sie dann ihre Ratschläge, Amulette, Liebestränkchen her, die von den Bethörten mit halbem Zweifel und halbem Glauben genommen und angewandt werden, bis einmal der Zufall oder die Entrüstung einer der vielen Betrogenen den Schwindel an den Tag bringt und vor dem Auge des Strafrichters ein schmähliches Possenspiel entrollt, das viele Jahre lang mit armen betrogenen Frauenherzen getrieben wurde. Dann lachen freilich die vernünftigen Zeitungsleser, und auch die Mitleidigsten zucken die Achseln und meinen, den Dummen sei eben nicht zu helfen. Aber jene zahllosen Thränen, jener herzbrechende Jammer, der so oft hinter den Coulissen spielt, während auf der Bühne des Gerichtshofes die Posse mit der Verurteilung der Zauberkünstlerin endet: sie bleiben verborgen und ohne Sühne.

Daran ist freilich nicht die Justiz schuld, nicht einmal die betrügenden Zauberkünstler, sondern nur die Liebe selber, diese verblendende, dämonische, mit dem menschlichen Herzen und dem Verstande spielende – und doch so himmlische Macht!




Die Hansebrüder.
Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).


1.

Ehemalige Studierende unserer berühmten Landesuniversität aus den ersten Jahren nach dem großen Krieg erinnern sich wohl noch des seltsamen Dreigespanns von jungen Philologen, welches damals unter dem Namen der „Hansebrüder“ zu den ständigen Erscheinungen der Stadt zählte. Sie hörten alle drei auf den Vornamen Hans, und das mochte hinreichen, den Spitznamen zu erklären wahrscheinlich aber war er von ihnen selber ausgegangen, als eine Aeußerung jener harmlosen Selbstironie, die es liebt, im eigenen kleinen Schicksal irgend ein großes geschichtliches Beispiel parodiert zu sehen. Denn sie waren die letzten Drei von einer kurzlebigen studentischen Verbindung, die nach einer flüchtigen Blütezeit wieder auseinander gefallen war, ohne auch nur in dem Schattenbilde eines sogenannten Altherrenverbandes fortzuleben, sie allein hatten die alte Bundesfreundschaft bewahrt und sogar, nachdem sie der Zufall wieder in derselben Stadt zusammengeführt, auf eine fast vollständige Gemeinschaft des Lebens ausgedehnt. Insofern erreichten, ja übertrafen sie ihr großes Vorbild, die drei letzten Hansestädte, noch um ein Bedeutendes. In ihrer leiblichen Erscheinung aber glichen sie einander so wenig, daß der Anblick dieses Dreibundes allerdings etwas Auffallendes und für oberflächliche oder rohe Beschauer geradezu Lächerliches bot, zumal sie fast immer in derselben Anordnung neben- oder hintereinander herschritten.

Doktor Hans Bardolf, der rechte Flügelmann, der „beinahe definitiv“ am Gymnasium der Musenstadt angestellt war, erinnerte an die stattlichsten Idealbilder deutscher Vergangenheit, mit seiner hohen, breitschulterigen Gestalt, den ungezwungen kraftvollen Bewegungen und dem mächtigen Haupte, blondbärtig und blondlockig, paßte er vollkommen in die Vorstellungswelt von großen Männersiegen und neuerstandener Herrlichkeit, die er selber auf manchem Schlachtfelde mit erstritten hatte.

Fast schmerzlich mußte auf ein ästhetisch geschultes Auge der Absturz von diesem Hünen zu dem Töchterschullehrer Doktor Hans Mohr wirken, der das Centrum der dreiköpfigen Männerreihe bildete. Gleich vielen andern Männern von besonders geringer Länge des Körpers bekundete er in seinem Aeußern ein widerspruchsvolles Streben, recht fein und zugleich recht männlich zu erscheinen er trug mit Vorliebe helle Kleider von modischem Schnitt und deckte das Haupt, welches nicht bis zur Militärhöhe reichte, mit einem hohen Cylinderhut, vor seinem blühenden, pausbäckigen Antlitz aber starrte beiderseits ein gewaltiger, sorgfältig gezwirbelter Schnurrbart von fuchsroter Farbe drohend in die Welt hinaus.

Den Abschluß bildete Doktor Hans Ritter, eine schmächtige mittelgroße Gestalt, meist in dunklen Kleidern, die sehr reinlich gebürstet waren, aber immer aussahen, als hätte ihr Besitzer das Maß dazu von einem andern als von sich abnehmen lassen. Sein schwächlicher Körper war durch eine angeborene Mißbildung entstellt. Der Hals saß etwas schief nach links, und da der Doktor Hans Ritter zu jenen Leuten gehörte, die unter allen Umständen neben jedem Menschen für sich die bescheidenere Seite wählen, so sah es von fern aus, als ob er den Begleiter mit einer neugierigen und wohl gar spöttischen Kopfwendung, wie ein lauschender Dachshund, betrachte. Wenn man ihm näher in das von spärlichem dunklen Bart umrahmte Gesicht sah, mußte man freilich jeden Verdacht des Spottes aufgeben, denn aus diesem blassen, frühgefurchten Gesicht und zumal aus den großen grauen Augen sprach neben nachdenklicher Klugheit nur die aufmerksamste, freundlichste Teilnahme. Er war wie seine beiden Freunde von Haus aus Philologe, hatte aber niemals ein Staatsexamen oder gar ein Probejahr abgelegt, es hieß, daß er sich auf die akademische Laufbahn vorbereite und an einem großen philosophischen Werke arbeite. Einstweilen bekleidete er einen kleinen Posten an der Universitätsbibliothek.

In dieser Anordnung sah man die Drei jeden Mittag aus dem Speisehaus treten, in welchem sie gemeinsam ein ihren bescheidenen Einkünften entsprechendes Mahl genommen hatten. Man sah sie nebeneinander, in eifrigem Gespräch, durch Stadtpark und Alleen spazieren oder auch an schulfreien Sommernachmittagen mit Stock und Ranzen irgend einem möglichst abseits vom Verkehr gelegenen schönen und billigen Plätzchen der weiteren Umgebung zustreben. Am genußvollsten aber erschien ihr Anblick für humoristisch veranlagte Beschauer, wenn sie am Abend vom Spaziergang heimkehrten, mit allerlei Eß- und Trinkbarem beladen, das sie sich unterwegs in der Stadt für ihr gemeinsames

[9]

Die ersten Schlittschuhe.
Nach einer Originalzeichnung von Werner Zehme.

[10] Abendbrot eingekauft hatten. Auch hierbei zeigte sich eine merkwürdige Verschiedenheit in der Art, wie sich der Einzelne mit den neugierigen oder lachenden Gesichtern der Vorübergehenden abfand. Doktor Bardolf ließ die mit Bierflaschen gefüllten Seitentaschen seines Rockes mit einer gewissen herausfordernden burschikosen Fröhlichkeit hin und her baumeln; Hans Mohr zeigte eine große Geschicklichkeit darin, selbst umfangreichere Wurstpakete unter dem Rock zu verbergen, und Doktor Hans Ritter trug ein oberflächlich in Packpapier gewickeltes Graubrot mit derselben gelassenen Ruhe unter dem Arme, wie er an manchem Nachmittag einen Pack dickleibiger Bücher für seine philosophischen Studien von der Bibliothek quer durch die Stadt schleppte. Auch schien es unter den Freunden längst eine selbstverständliche Sache, daß er allemal das schwierigste und sozusagen genierlichste Paket auf sich nahm.

Das Haus, in welchem die drei Hansebrüder wohnten, lag und liegt noch weit draußen am äußersten Nordende der Stadt, zwischen dem Armenviertel und den weitläufigen Anlagen der Universitätskliniken und Krankenhäuser. Es war wohl eigentlich nur aus Versehen stehen geblieben, als man die übrigen seinesgleichen da draußen ankaufte und wegräumte, um Platz für die Krankenhäuser zu schaffen. Das Anwesen gehörte damals einer frommen Stiftung; von dieser hatte es die Witwe eines städtischen Beamten gemietet, deren Pension nur um ein paar hundert Mark den mäßigen Pachtpreis überstieg. Es war eine ältliche, zuweilen etwas schwerhörige Dame, sehr lang, sehr hager und immer schwarz gekleidet, mit Namen Margarete Klämmerlein. Ohne fremde Beihilfe pflegte sie den Garten, den sie im altmodisch kleinbürgerlichen Geschmack bestellt hatte, zur Hälfte mit Salat, Petersilie, Zwiebeln und Lauch, zur anderen Hälfte mit Gras zur Bleiche, eingefaßt von Veilchen, Levkojen, Feuernelken, Heliotrop und anderen bewährten Blumen von starkem Duft; auch einige Dutzend Himbeersträucher waren da, und ein paar alte Kirschbäume mit spätreifenden glashellen Früchten von würzig sauerem Geschmack. Ringsum längs der Gartenmauer aber züchtete sie alljährlich einen dichten Wall von Kapuzinerkresse, mit runden, fast tellergroßen Blättern und unzähligen Blüten in den wunderbarsten Farben, gesprenkelt und einfarbig, vom lichtesten Hellgelb bis zum purpurschimmernden Lila und sammetweichen Karmin. Auf diese Pfleglinge schien sie besonders stolz, man sah sie stundenlang in stiller Andacht an ihnen entlang wandeln. Da man jene hübsche und blütenreiche Schlingpflanze in der dortigen Gegend auch Klämmerchen nennt, so lag für unbeschäftigte Geister die Beziehung auf den Namen der Pflegerin verführerisch nahe und zeitigte eine Menge von Rätseln, die meist mit den Worten anfingen „Was ist für ein Unterschied –,“ und um deren Vermehrung sich besonders die jungen Assistenzärzte aus dem benachbarten Krankenhaus mit betrübendem Fleiße bemühten.

Noch sorgsamer als ihre Blumen pflegte Frau Klämmerlein alle Andenken an ihre eigene Blütezeit; die Stuben ihrer Mietsherren und besonders ihre eigene Wohnstube waren mit unzähligen Etageren, Glasrähmchen und Wandbrettchen geschmückt, welche Schattenrisse, Daguerreotypien und verblichene Photographien auf geschnitzten Ständern, Porzellanfigürchen, Väschen und Trinkbecher mit Landschaftsbilderchen trugen. An jede dieser Kleinigkeiten knüpfte sich die Erinnerung an irgend ein Ereignis aus der Verwandtschaft, der Mädchenzeit und besonders der zwölfwöchigen Brautzeit der Besitzerin, und es war sehr gefährlich, eine davon zu beschädigen oder aber zu bewundern; denn alsdann begann sich das Rad ihres Gedächtnisses zu drehen und hörte nicht auf, bis es in endloser Rede, unter vielen Seufzern den ganzen Katalog ihrer Erinnerungen abgehaspelt hatte.

Nur an einer Stelle schien eine Störung im Uhrwerk zu bestehen, und zwar merkwürdigerweise da, wo das Gedächtnis einer Mutter sonst am sorgfältigsten arbeitet. Frau Klämmerlein hatte eine Tochter gehabt – nach Aussage älterer Mitbürger sogar eine sehr ansehnliche und liebenswürdige Tochter; aber unter den Photographien und Schattenrissen fehlte das Bild dieser Tochter, in den Erinnerungsreden huschte es kaum einmal verstohlen vorüber, und nur vermutungsweise ließ sich erkennen, daß hier eine jener trübseligen Familientragödien vorlag, die mit einer von der Mutter nicht gebilligten Heirat anfangen, um dann nach einem jahrelangen Wechselspiel von Sturm und mattem Sonnenschein in den graugrämlichen Landregen beiderseitiger Resignation zu zerfließen. Die Tochter war dem Mann ihrer Wahl in eine weit entlegene Stadt gefolgt, dort war sie in der Enge eines dürftigen Haushaltes unter den Alltagssorgen für Küche, Kind und Mann eingerostet wie die Mutter daheim in dem ihrigen; schließlich war sie gestorben, und wenn sich in den letzten irdischen Vorstellungen ihrer müden, abgehetzten Seele mit den sorgenvollen Wünschen für ihr einziges Kind noch ein wehmütiger Gruß an die Mutter verband, so hatte ihr Mann jedenfalls in der Todesanzeige nichts davon merken lassen. Vor der Welt bestand keinerlei Verkehr mehr zwischen der alten Frau und der Familie ihrer Tochter; was sie selber dabei empfand, verschloß sie sorgsam, mit der ganzen Zähigkeit, die den Frauen im Grollen wie im Lieben gegeben ist.

Außer der Wohnstube, die sie selber fast nie „bewohnte“ und eigentlich nur als Museum ihrer Vergangenheit zu betrachten schien, hatte Frau Klämmerlein im Erdgeschoß noch ein sehr geräumiges Schlafzimmer und einen Küchenanbau zur Verfügung. Eine nach ländlicher Art steil und schmal angelegte Treppe endigte mit einem winzigen Vorraum im oberen Stock, wo die drei Zimmer lagen, von deren Mietsertrag sie vornehmlich lebte und die zur Zeit von den drei Hansebrüdern besetzt waren. Links, in „Bremen“, hauste Doktor Hans Bardolf mit seinen Aufsatzheften und Klassikern, rechts lag „Lübeck“, das von Hans Mohr beherrscht wurde und immer ein wenig nach Bartpomade duftete, und geradeaus kam man nach „Hamburg“. Es war das größte der drei Zimmer und wurde außer als Wohnung des dritten der Freunde auch als Ort ihrer gemeinsamen Abendmahlzeiten, Zechereien und Plauderabende benutzt, welche sie als „Hansetage“ zu bezeichnen liebten. Die Zimmer waren, abgesehen von der störenden Menge zarter Andenken, leidlich ausgestattet und sehr billig; dafür mußten aber ihre Bewohner auch fast vollkommen auf das verzichten, was man Bedienung nennt. Alle paar Tage kam eine Stundenfrau, um die gröbere Hausreinigung zu erledigen, im übrigen besorgte Frau Klämmerlein in den Morgenstunden, wo ihre Mietsherren abwesend waren, selber Betten, Kohlenkasten und Zimmer, stäubte Bücher und Andenken ab und füllte die dazu bestimmten Gefäße mit frischem Wasser bis zum Rande.

Damit hatte aber ihre hausfrauliche Fürsorge auch ein Ende. Wenn sie mittags in ihrer Küche ein einsames Mahl bereitet und verzehrt und ihren Garten gründlich besichtigt hatte, vertauschte sie das abgetragene schwarze Hauskleid mit einem fast ebenso abgetragenen schwarzen Ausgehkleid aus Seide, welches vor Alter schon wieder anfing, modern zu werden, und trat ihren üblichen Besuchsgang zum Kreuzkonvent an, einem klösterlichen Versorgungshaus für würdige alte Damen, welches in der Stadt unter dem Namen „Lavendelkiste“ bekannter ist. Dort verbrachte sie den Rest des Tages mit gleichaltrigen und gleich erinnerungsseligen Freundinnen, und wenn sie abends heimgekehrt war, hüllte sie sich völlig in Schweigen und Taubheit. Sie war dann unempfindlich für etwaigen ruhestörenden Lärm über ihren Häupten, aber auch für jedes Anliegen. Am wenigsten hätte sie sich dazu verstanden, außer dem täglichen Frühstück irgend etwas zur Beköstigung ihrer Mietsherren beizutragen, und das einzige geistige Getränk, das sie in dem kleinen Keller des Hauses bewahrte, war wiederum ein unverletzliches Andenken, nämlich eine Flasche Kometenwein, achtzehnhundertelfer Rüdesheimer, die ihr ein weinkundiger und vaterlandsliebender Patenonkel zur Feier ihres just auf den ersten Gedenktag der Schlacht von Leipzig fallenden elften Geburtstages verehrt hatte. Sie hatte das edle Naß durch alle Wüsten und Dürren des Lebens hindurch gerettet, und es schien, daß sie es nun aufsparte, um es mit ins Grab zu nehmen.


2.

Das Zusammenleben der drei Hansebrüder im Hause der Frau Margarete Klämmerlein dauerte nun ohne nennenswerte Störung bereits drittehalb Jahre. Sie waren alle drei verwaist; Bardolf und Ritter waren ganz ohne nähere Verwandte, Mohr besaß noch irgendwo im Ukermärkischen eine verheiratete Stiefschwester und ein paar Tanten, wohlhabende Leute, mit denen er aber nur jeweils zu bestimmten Zeiten, meist einige Wochen vor dem Quartalsschluß, den Verkehr wieder aufzunehmen pflegte, und nicht immer mit dem von ihm gewünschten Barerfolg. Um sich aber in kurzer Zeit innerhalb der gesellschaftlichen und geselligen Kreise der Stadt eine behagliche Stellung zu erstreben, [11] gebrach es ihnen an der so wichtig gewordenen Beihilfe ererbten Besitzes oder aber einflußreicher Verbindungen, und wenigstens zweien unter ihnen, Bardolf und Ritter, ging auch die Fähigkeit ab, sich in dem geselligen Leben ihrer Tage ganz wohl zu fühlen. Denn dieses Leben stand für sie allzusehr unter dem Zeichen jener Richtung auf rücksichtsloses Erwerben und rücksichtsloses Genießen, die keiner Nation nach einem für sie siegreichen Kriege erspart bleibt. Die Lobredner der Zeit sprachen von einem ungeheueren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung, andere, nicht minder übertreibend, beklagten darin einen ungeheueren Schwindel; ruhige Beobachter mochten an einen starken und plötzlichen Sommerregen erinnert werden, der manches Feld segnet, manchem Säumigen oder Leichtsinnigen die überreife Frucht verregnet, friedliche Spaziergänger aber ins Zimmer bannt und ihnen die Aussicht völlig zudeckt. Die Hansebrüder gehörten zu diesen Spaziergängern; je reichlicher der goldene Regen auf das Land niederrieselte, um so unwegsamer wurde es für sie. Sie hatten ziemlich viel studiert, aber nichts, womit man irgend einen Rohstoff in Geld oder Geldeswert umwandeln kann, und besaßen sehr wenig; also gehörten sie zu den ganz kleinen Leuten.

Da kündigte sich ganz unversehens eine neue Erscheinung an. An einem schönen Augustabend, dicht vor den großen Schulferien, klopfte die würdige Frau Margarete Klämmerlein plötzlich an „Hamburgs“ Thür, wo die Hansebrüder eben um eine Batterie Bierflaschen versammelt saßen und mit großer Stimmkraft das Scheffel’sche Lied absangen.

„Ott’ Heinrich, der Pfalzgraf bei Rheine,
Der sprach eines Morgens: Rem blemm!“

Ziemlich verlegen starrten sie die unerwartete Besucherin an, deren Gehör und Geduld sie diesmal doch wohl zu hart geprüft hatten. Doktor Ritter schob ihr einen Stuhl hin, Doktor Bardolf bot ihr ein wappengeschmücktes Seidel voll Bier und Doktor Mohr bemerkte einschmeichelnd: „Wir sprachen eben von Ihren Kapuzinern, Frau Klämmerlein; was das eine Blütenpracht ist! Alle Tage wieder etwas Neues.“ Aber die alte Dame verschmähte Sitz und Trunk und blickte ordentlich befangen vor sich hin. „Ja, da haben Sie wohl recht,“ meinte sie. „Es giebt immer etwas Neues. Ich wollte den Herren auch eine Neuigkeit mitteilen. Ich erwarte nämlich Besuch. Morgen kommt sie.“

„Wer denn?“ riefen die Drei aus einem Munde. Frau Klämmerlein schluckte ein paarmal, dann blickte sie herzhaft auf. „Meine – Enkeltochter, Fräulein Emilie Flügge,“ sagte sie und griff nach der Klinke. „Aber nun will ich weiter nicht stören. Guten Abend, meine Herren!“ Und war verschwunden.

Vor den beiden Lehrern ließ sie sich auch am folgenden Morgen nicht sehen; aber dem Doktor Hans Ritter, der eine Stunde später als seine Freunde zum Dienst zu gehen pflegte, schüttete sie ihr Herz aus. Er traf sie eben dabei, einige Schreinerburschen abzulohnen, die ihr ein zweites Bett in ihrer großen Schlafstube aufgestellt hatten.

„Sehen Sie, Herr Doktor,“ sagte sie, als die Leute fort waren, „hier unten soll sie bei mir wohnen wie früher ihre Mutter selig. Ich hoffe, die Herren geben uns auch einmal die Ehre, daß es dem lieben Kinde nicht gar zu einsam bei seiner alten Großmutter wird. Und sehen Sie, das ist ihr Bild!“ Sie zog eine Schublade auf und reichte ihm eine verblaßte Photographie, die ein pausbackiges, großäugiges Kindchen, kaum ein Jahr alt, im weißen Hemdchen darstellte.

„Hm,“ sagte er, „sie wird sich wohl inzwischen etwas verändert haben.“

Frau Klämmerlein nickte und wischte sich mit dem Tuch über die Augen. „Ach ja,“ sagte sie, „das Bild ist freilich auch an die achtzehn Jahre alt. Ihre Mutter schickte es mir, es war ihr vorletzter Brief.“

Sie blickte in die Schublade nieder. Doktor Hans Ritter folgte dem Blick; da lagen allerlei kleine Andenken, wie man sie von einem frühverstorbenen Kinde verwahrt, Spielsachen, Schulhefte, Glückwünsche in steifer Schönschrift, auch ein Päckchen Briefe; abgegriffen, mit verblaßten Schriftzügen, zierlich mit bunter Seidenlitze zusammengebunden.

„Ich habe mich oft in meiner Verbitterung geschämt, daß ich das alles heimlich verwahrte,“ sagte sie leise. „Aber manchmal konnte ich nicht anders, ich mußte die Briefe immer wieder lesen, und die Puppen habe ich aus- und angezogen, wie ich es meiner Tochter vorthat, als sie noch ein kleines Mädchen war … Und so ein liebevolles kleines Mädchen! – Wie hätte ich damals denken können, daß sie sich je von meinem Herzen losreißen würde, um dem Manne zu folgen, vor dem ich sie warnte, weil ich ihn für einen leichtsinnigen und unfrommen Menschen hielt … Ach, lieber Herr Doktor, ich habe viel gelitten um sie, das dürfen Sie mir glauben … Wenn wir uns nur noch einmal gesehen hätten … wenn sie einmal mit dem Kleinen zu mir gekommen wäre, dann hätte ich mich wohl von meinem Groll bekehrt … Aber das wollte ja wohl der Mann nicht. Zuletzt gab sie es eben auf, ihre Briefe wurden seltener und blieben endlich ganz aus. Und als sie dann so früh gestorben war, da wurde der alte Groll gegen ihn erst recht stark und wild in mir. Wenn mir die Leute sagten, daß er ja doch ein ganz braver Mann geworden sei und in glücklicher Ehe mit ihr gelebt habe, so wollte ich es nicht glauben, und wenn sie von dem Kinde meiner Tochter sprachen, so wandte ich mich ab, denn es war ja sein Kind … Aber es war auch mein Enkelkind … und es glich ihr so, auf dem Bilde da … Ich hätte so gern für es gesorgt, wenn nur sein Vater nicht gewesen wäre. … Manchmal wurde ich ganz verwirrt, daß es mir in meiner Ungerechtigkeit war, als hätte er mich zweimal beraubt: erst meiner Tochter und dann ihres Ebenbildes. Und so ist das weiter gegangen, ein langes Jahr ums andere. Ich wußte gar nicht mehr, wo er jetzt wohnte. Bis vor drei Wochen – da treffe ich im Kreuzkonvent eine Fremde aus einer Stadt oben an der See, die Schwester eines der alten Fräulein, die da in Pflege sind, und die erzählt so ganz nebenbei von einem Herrn Flügge, den sie dort gekannt habe, und was der für ein prächtiger Mensch gewesen sei, ordentlich voll Andacht für seine verstorbene Frau und ganz nur Liebe zu seinem Töchterchen, für das er sich in schwerer Arbeit um kargen Lohn abmühte. Ich bezwinge mich und sage: wo wohnt der Herr denn jetzt? Da sagt sie: ach, der ist ja tot, voriges Jahr ist er gestorben, und seine Tochter ist jetzt Lehrerin irgendwo an einer Anstalt, sie muß eben für sich selber sorgen, so jung sie auch noch ist. Und da … wie ich da heim kam, habe ich gleich einen Brief angefangen an das Kind, es hat aber wohl acht Tage gedauert, bis ich damit zustande kam. Und dann habe ich gelauert und gelauert auf die Antwort und gedacht: es geschieht dir recht, wenn sie dir nie vergiebt. Bis auf einmal vorgestern die Antwort kommt: ein langer Brief, und ein so lieber! Wissen Sie, sie hat den meinen erst so spät bekommen, weil sie eine vornehme fremde Schülerin aus der Anstalt nach Hause begleiten mußte, irgendwo nach Belgien oder da herum; sonst hätte ich wohl gleich anderen Tages ihre Antwort bekommen, denn die Anstalt liegt kaum vier Meilen von hier, und ich war ihr so lange schon nahe und habe es nicht gewußt! Aber nun war es ein Glück, daß sie gerade Ferien hat; und heute kommt sie und will die Ferien bei mir bleiben. Ach, Herr Doktor, wir wollen es ihr recht schön machen!“

„Ja,“ sagte der Doktor Hans Ritter, drückte der alten Dame herzlich die Hand und ging nach seiner Bibliothek.

Beim Mittagessen traf er die beiden anderen in sehr aufgeregter Stimmung. Seine Anfrage, ob man am Nachmittag zusammen spazieren gehen wolle, wiesen sie mit einer gewissen Entrüstung ab. „Nein,“ sagte Doktor Bardolf, „ich habe genug zu thun, mein Zimmer aufzuräumen. Ich bitte dich, wenn eine junge Dame zu Besuch kommt!“

„Aber sie kommt doch nicht zu Besuch auf dein Zimmer,“ meinte Doktor Ritter.

„Sie könnte doch ’mal hineinsehen.“

„Jawohl,“ bestätigte Doktor Mohr, „und da will man doch mit nichts Anstoß erregen.“

„Und überhaupt muß man zum Empfang da sein,“ schloß Doktor Bardolf. „Hoffentlich habe ich noch ein paar reine Manschetten in der Kommode – sonst mußt du mir deinen Radiergummi leihen, Mohr.“

„Die Rosen habe ich schon bestellt,“ versetzte dieser.

Doktor Hans Ritter machte seinen Spaziergang allein. Unterwegs pflückte er einen großen Strauß Waldblumen.

Als er gegen Abend heimkam, überraschten ihn schon von fern Lichtschimmer und fröhliche Klänge aus der Wohnstube der

[12]

Blücher auf dem Marsch nach Belle-Alliance.
Nach dem Gemälde von Rud. Eichstädt.

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

[13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] Wirtin. Hans Mohr saß an dem uralten, bemalten Tafelklavier und begleitete den Gesang Hans Bardolfs, der mit mächtigem Bariton soeben versicherte: „Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar.“ Frau Klämmerlein saß mit einem Ausdruck verschämter Seligkeit auf dem lederbezogenen Sofa hinter dem Tische, der zwischen zwei großen Rosensträußen – dem Geschenk der beiden Musiker – eine mächtige Bowle trug, ein junges schlankes Mädchen aber, mit vollem hellblonden Haar, ganz hell gekleidet, trat Hans Ritter entgegen und unterbrach seine Vorstellung mit den Worten: „Meine Großmutter hat mir heute schon viel von Ihnen erzählt, Herr Doktor.“

Und indem er ihr in die blauen Augen sah, war ihm, als ob er sie auch schon längst kennte. Das machte ihn so verwirrt, daß er kaum stammelnd ihr den Waldblumenstrauß anzubieten vermochte, der sich neben den vornehmen Rosen gar bescheiden ausnahm.

(Fortsetzung folgt.)


Die Elektricität im Hause.
Von Franz Bendt. Mit Abbildungen von A. Kiekebusch.

Elektrische Treppenbeleuchtung.

Allüberall, in der Stadt und auf dem Lande, kann man das siegreiche Vordringen der Elektricität beobachten. Die Dampftechnik, die Gastechnik und die meisten anderen Zweige der angewandten Physik werden von der Elektrotechnik immer mehr aus ihren Stellungen gedrängt und sie können sich nur erhalten, indem sie sich selbst in den Dienst der jungen Königin stellen. Es ist daher keine Redensart, wenn man behauptet, daß wir uns im Anfange einer neuen Epoche, im Beginn des Zeitalters der Elektricität befinden. Am klarsten wird die Richtigkeit des Auspruches dadurch bewiesen, daß die Elektricität bereits beginnt, auch im kleinsten zu wirken und in den vielen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens Verwendung zu finden. Wir können jetzt in der That unsere Häuslichkeit ganz elektrisch gestalten. Das Schlagwort „alles elektrisch“ ist also keine bloße Phrase mehr.

Am leichtesten ist es dem Großstädter gemacht, wenn er beabsichtigt, sein Heim elektrisch einzurichten. Die elektrischen Centralen, welche sich zum Zwecke der Beleuchtung in vielen Städten befinden, führen die stromtragenden Kabel durch die Stadt, bis weit hinaus an ihre Grenzen. Es ist nur nötig, das betreffende Gebäude in den Kreis mit einzuschließen.

Aber auch die Orte, die sich keiner Elektricitätswerke erfreuen, auch die Bewohner eines Landhauses vermögen sich leicht mit dem nötigen Strome zu versorgen, wenn sie sich der sehr bequemen, freilich auch etwas kostspieligen Accumulatoren bedienen. Accumulatoren, oder auch wohl kurz Sammler genannt, heißen die uns von den Physikern geschenkten wunderbaren Zauberkasten, in welchen elektrische Energie aufgespeichert und bewahrt werden kann. Man darf sie etwa mit Flaschen vergleichen, die mit Elektricität gefüllt sind. Von Zeit zu Zeit müssen die Accumulatoren natürlich geladen werden. So empfangen beispielsweise in den Vororten Wiens viele Villenbesitzer durch einen für den Zweck besonders gebauten Batteriewagen, an Stelle der erschöpften, neue Accumulatoren von einem Elektricitätswerk der Stadt.

Der Zeit nach waren es zuerst die feineren Eigenschaften der Elektricität – also u. a. ihre unvergleichliche Geschwindigkeit – welche die Techniker im Interesse des Menschengeschlechtes verwendeten. Erst viel später erkannten sie die gewaltigen Mächte, welche in dieser Naturkraft schlummern, und erzogen die junge Riesin zur willigen Magd, die auch die schwersten Arbeiten verrichtet. Die große Geschwindigkeit macht die Elektricität vorzüglich zum Nachrichtendienst geeignet; und zu solchen Zwecken zog sie auch zuerst in unsere Wohnungen ein. Jetzt kennt jedermann den kleinen Knopf, der auf einen schwachen Druck die Signalglocken auslöst, welche den Gast ankündigen oder den Diener herbeirufen. Noch einfacher hat das Telephon den Verkehr im Hause gestaltet. Es sind hierfür Apparate geschaffen worden, die auch in ihrem Aeußeren kleinen Kunstwerken gleichen und die einen anmutigen Schmuck der Wand oder auch des Arbeitstisches und des Büffetts darstellen. Im öffentlichen Telephonverkehr bedient man sich bekanntlich der Zwischenstationen, um die notwendigen Linienverbindungen zu gewinnen. Für den Gebrauch in den Wohnungen sind sogenannte „Linienwähler“ gebaut worden, die durch eine Kurbel, welche über Zahlen läuft, die den Zimmern entsprechen, die gewünschten Verbindungen selbstthätig veranlassen.

Jedoch erst mit der Erfindung der Glühlampe eroberte sich die Elektricität tatsächlich das Haus. Ihr schönes, helles Licht schlägt in einer Beziehung unbedingt alle Lichtarten, die durch Verbrennung erzeugt werden. Unabwendbar sind mit der Verbrennung von Leuchtgas, Erdöl u. s. w. die Verbrennungsgase verbunden; welche die Luft verschlechtern, ihren Wärmegehalt erhöhen und den menschlichen Organismus schädlich beeinflussen. Nur die elektrische Glühlampe, spendet ohne jedes nennenswerte Nebenprodukt einzig das, was man von ihr begehrt: Licht!

In den letzten Jahren wurden auch die elektrischen Bogenlampen, die ihre riesigen Lichtmengen bisher nur über Straßen, Plätze und große Hallen ausschütteten, in so kleinen Formen angefertigt, daß sie sich auch für das Haus eignen. Damit beginnen sie gleichfalls in den Konkurrenzkampf um die beste und – was nicht zu unterschätzen ist – um die billigste unter den Beleuchtungsarten mit einzutreten.

Aber nicht nur schön und gesund, auch in unvergleichlicher Weise bequem ist das elektrische Licht; genügt doch auch hier ein Druck auf den Knopf, um den Raum mit Licht zu durchfluten. Das Zündhölzchen ist, wie sich im weiteren noch öfters zeigen wird, in der elektrisch eingerichteten Häuslichkeit ein überwundener Faktor.

Der augenblickliche Gehorsam, mit dem das elektrische Licht dem Befehle folgt, hat zu einer ganzen Anzahl origineller Anwendungen geleitet. Zumal die zeitweise nächtliche Beleuchtung des Flurs und des Treppenhauses ist in verschiedener Weise gelöst worden. Die Beleuchtung darf natürlich nur so lange währen, bis der Bewohner sein Heim erreicht hat. Die Stromauslösung läßt sich sehr einfach durch einen Knopf erzielen, der sich unmittelbar in der Nähe der Hausthür befindet. Noch zweckmäßigere Einrichtungen sind von der rastlos vorwärtsschreitenden Elektrotechnik geschaffen worden. Bei ihnen verursacht das Oeffnen des Thores selbst das Aufleuchten der Lampen. Nach etwa fünf Minuten schaltet sich der Strom dann selbstthätig wiederum aus.

[15] Auch im elektrisch erleuchtbaren Uhrhalter haben uns die Techniker einen ähnlichen sehr niedlichen und praktischen Apparat geschenkt, der die Verwendung der Zündhölzchen beschränkt und uns unmittelbar in der Nacht zu erkennen erlaubt, was die Stunde geschlagen hat.

Alle diese Einrichtungen sind seit Jahren mehr oder minder erprobt und ziemlich allgemein bekannt. Neu ist dagegen die Verwendung der Elektricität zu Heiz- und Kochzwecken.

Elektrisch beleuchteter Uhrhalter.

Fast sämtliche Lichtquellen, deren man sich seit der Väter Zeiten und auch jetzt bedient, sind zugleich Wärmequellen. Wird doch beispielsweise das Leuchtgas mit Erfolg zum Heizen und Kochen verwendet. In solchen Fällen muß der Techniker die Aufgabe lösen, die Energie der Flamme soviel wie möglich in Wärme umzuwandeln. In je höherem Maße dies gelingt, um so bedeutender ist der Vorteil, mit dem er arbeitet.

Von allen Kräften, die unsere Erde spendet, besitzt keine eine so große Anpassungsfähigkeit wie die Elektricität, sie genügt durchaus jeder Forderung, die wir an sie stellen. Wünschen wir Licht zu haben, so vermögen wir den elektrischen Strom, der uns zur Verfügung steht, in Licht umzuwandeln; bedürfen wir seiner wärmenden Kraft, so erscheint er in neuer Verwandlung nur als Wärme. Das sind, wie man sofort einsieht, ganz hervorragende wirtschaftliche Eigenschaften. Wenn trotzdem noch die Meinung herrscht, daß die Elektricität besonders für Koch- und Heizzwecke zu kostspielig sei, so liegt das nur in der Höhe des Grundpreises, den die elektrischen Gesellschaften gegenwärtig noch wegen zu geringer Zahl der Abnehmer für den Strom ansetzen müssen. Das wird sich sofort ändern, wenn die Zahl der Anschlüsse wesentlich zunimmt.

Die Häuslichkeit, in der die Elektricität herrscht, kann mit allen dabei in Betracht kommenden Verhältnissen wirklich eine ideale genannt werden. Die Bezeichnung ist durchaus nicht überschwenglich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Rauch und Ruß und der schlechte Geruch der Feuerungsgase aus einem solchen Haushalte verbannt sind und daß die umständliche und immerhin unsaubere Art des Feuerns durch einen Handgriff ersetzt werden kann.

Elektrischer Cigarrenanzünder.

Aber wie vermag man denn am besten die Elektricität in Wärme umzuwandeln? Die Frage wurde schon vor einem halben Jahrhundert von den Physikern beantwortet. Wird ein elektrischer Strom durch Drähte geleitet, so erhitzen sie sich, wenn der Strom stark genug ist, bis zur Weißglut. Der Grund für die erzeugte hohe Temperatur liegt in dem Widerstande, den der Draht dem Strom beim Durchfließen entgegenstellt. Die Größe des Widerstandes wiederum wird von der Substanz des Drahtes und der Kleinheit seines Querschnittes beeinflußt. In der freien Luft würde ein in Weißglut gebrachter Draht sehr schnell verbrennen. Man hat ihn deshalb bei den elektrischen Glühlampen in eine luftleer gemachte Glasbirne gesetzt; und so entfaltet er Licht, ohne zu zerfallen. Um nur Wärmewirkungen zu erzielen, muß man den Strom in solche Körper einführen, in denen er nicht zum Leuchten kommen kann. Das veranlassen aber die elektrischen Heizplatten, denen wir in den Heiz- und Kochapparaten in allen Formen begegnen werden.

Die elektrischen Heizplatten bauen sich zumeist in folgender Weise auf. Eine gußeiserne Platte wird mit einer sehr schwer schmelzbaren Emailleschicht überdeckt, in welche man die stromführenden Drähte einbettet, die, um große Wirkungen zu erzielen, zu möglichst engen Spiralen aufgewunden sind. Zum Schluß überstreicht man die ganze Vorrichtung mit einer Deckemaille. Das klingt sehr einfach, und dennoch hat die Herstellung der Heizplatten den Fabrikanten große Schwierigkeiten bereitet. Wie allgemein bekannt, dehnen sich die Körper bei der Erwärmung aus, und zwar in sehr verschiedenem Maße je nach der Art der Körper. Es ist also notwendig, eine solche Emaille herzustellen, die sich in der gleichen Weise ausdehnt wie der eingebettete Draht; geschieht es nicht, dann zerreißen die Drahtspiralen im Innern des Heizkörpers. Die Herstellung der Emailleplatten gilt daher als eine besondere Kunst, die von den Fabrikanten streng geheim gehalten wird.

Kennt man die Zusammensetzung der Heizplatten, so ist nun leicht zu verstehen, wie der elektrische Strom Wärme erzeugt. Die Drähte in ihnen können nicht zur Weißglut gelangen, weil sie fortdauernd ihre Wärme auf die einhüllende Emaille übertragen.

Sehr praktische elektrische Oefen wurden zuerst in England verwendet. Sie setzen sich aus mehreren Heizplatten zusammen, die an die elektrische Leitung angeschlossen sind. Durch einen Handgriff kann die Stromzuführung eingeleitet, aber auch zugleich so reguliert werden, daß die Zimmertemperatur jeder gewünschten Höhe entspricht. Um eine mittlere Zimmerwärme von etwa 15 Grad zu erzielen, müssen die Heizplatten erfahrungsgemäß eine Temperatur, die zwischen 100 und 130 Grad der hundertteiligen Scala liegt, annehmen. Die Erwärmung eines Zimmers von etwa 30 cbm Raum stellt sich dann bei den jetzigen Elektricitätspreisen in Deutschland auf 20 Pfennig für die Stunde.

Eine große Zahl von Gebrauchs- und Luxusgegenständen, die wir in unsern Salons, Arbeits-, Schlaf- und Toilettezimmern vorfinden, sind für den elektrischen Betrieb konstruiert worden. Die Eleganz und Schönheit ihrer äußeren Gestaltung ist meist hervorragend und rückt beim Vergleiche die alten Vorrichtungen, welche entsprechenden Zwecken dienen, weit in den Hintergrund. [16] Ein hübsches Beispiel hierfür bildet der elektrische Cigarrenanzünder. Er hängt entweder an der Wand oder steht auf einem kleinen Metalltischchen. Die Aufhängevorrichtung, beziehentlich das Tischchen, ist in die Leitung eingeschlossen. Hebt man den Cigarrenanzünder zum Gebrauche ab, so schaltet sich der Strom selbstthätig ein und seine vordere kleine Fläche glüht rot auf. Die Zündfläche beim Cigarrenanzünder pflegt man übrigens ausnahmsweise aus einer Asbestmasse herzustellen, die mit Platindrähten durchflochten ist.

Elektrische Brennschere.

Besonders den Damen dürften die Gebrauchsgegenstände interessant sein, welche die Elektriker für das Toilettezimmer konstruiert haben. Da ist zunächst ein Brennscherenwärmer zu nennen. Er stellt einen kleinen Ofen dar, welcher in seinem Innern mehrere Heizplatten enthält. Durch Oeffnungen können Brennscheren, Toupeteisen u. dergl. in ihn eingefügt werden und so die entsprechende Temperatur empfangen. Es sind aber auch Brennscheren konstruiert worden, die direkt mit Strom beschickt werden und deshalb während des Gebrauches nicht erkalten.

Der Gipfel der Bequemlichkeit und des Komforts wird im Ankleideraum unfraglich durch den elektrischen Wasserwärmer erreicht. Er steht unmittelbar mit der Wasserleitung in Verbindung und hält die Flüssigkeit dauernd in einer mittleren Temperatur von etwa dreißig Grad. Da das Wasserreservoir ziemlich groß gewählt werden kann, so ist man imstande, sich das Waschwasser nach Wunsch zu temperieren und jederzeit das Bad herzurichten.

Am längsten hat sich im modernen Hause die Küche der Einführung der elektrischen Kraft widersetzt. Die elektrischen Apparate, welche hier zum Kochen, Sieden und Braten verwendet werden können, bestehen natürlich der Hauptsache nach aus den elektrischen Heizplatten. Sie unterscheiden sich nur dadurch voneinander, daß die Wärmegrade, welche sie anzunehmen vermögen, nach den Zwecken geregelt sind, welche die einzelnen Vorrichtungen zu erfüllen haben. Um Nahrungsmittel zu rösten oder zu backen, ist z. B. eine Durchschnittstemperatur von 200 Grad der hundertteiligen Skala notwendig. Gerade für das Roesten, Braten und Backen, also für die Zubereitung fester Nahrungsmittel, hat sich der elektrische Betrieb als sehr vorteilhaft erwiesen. Elektrische Bratpfannen, Bratöfen, Fleischroste werden bereits in allen möglichen Größen hergestellt.

Merkwürdig sind die elektrischen Bratöfen. Man hat sie so eingerichtet, daß es ganz in der Hand des Koches liegt, eine jede beliebige Temperatur zwischen 130 und 290 Grad zu erzielen und beliebig lange zu erhalten. In welcher Weise so seine und beständige Temperaturabstufungen auf die Entwicklung der Kochkunst einwirken können, das ist eine Frage, welche die Leserinnen der „Gartenlaube“ besser zu beantworten imstande sein werden als der Berichterstatter.

In England wurden letzthin elektrische Kochherde hergestellt, welche alle Kochvorrichtungen in sich vereinigen. Besonders in Kochschulen bedient man sich ihrer mit Vorliebe.

Auch aus der „elektrischen Küche“ sind alle diejenigen Unannehmlichkeiten verbannt, welche den Koch oder die Köchin sonst zu belästigen pflegen. Abgesehen von der Höhe des elektrischen Grundpreises ist der Gebrauch des elektrischen Stromes für Küchenzwecke unvergleichlich wirtschaftlicher als der des offenen Herdfeuers. Werden doch bei der jetzt so beliebten Verwendung des Rostes nur zwei Prozent von der Wärme des Herdfeuers zum Rösten ausgenutzt; der Rest geht in den Schornstein oder durchstrahlt als schädliche Wärme die Küche und die benachbarten Räume.

Elektrische Bratpfanne.

Viel größere Schwierigkeiten hat den Technikern die Fabrikation elektrischer Kochapparate zur Bereitung flüssiger Speisen gemacht. Doch auch ihre Herstellung ist vollkommen gelungen. Um ein Liter Wasser zum Sieden zu bringen, bedarf man für zwei Pfennig Strom.

Für den Glücklichen, der nicht mit dem Preise zu kargen braucht und dem es nur auf höchsten Komfort ankommt, sind alle möglichen Kochvorrichtungen konstruiert worden. In elegantester und feinster Ausstattung stellen ihm die Fabrikanten die elektrische Kaffeemaschine, den elektrischen Thee- und Eierkocher, den mit Elektricität geheizten Teller- und Speisenwärmer u. dergl. m. zur Verfügung.

In jeder Häuslichkeit, in der sich elektrische Lichtanlagen befinden, kann man, auch ohne ein Krösus zu sein, sehr leicht und mit geringen Kosten das elektrische Plätteisen einführen. Es schlägt in der That alle seine Nebenbuhler und stellt sich nicht teurer als der ältere Bolzenbetrieb. Die Heizplatten, die das elektrische Plätteisen ausfüllen, empfangen den Strom unmittelbar durch ein dünnes Kabel, das mit einer elektrischen Lampe verbunden wird. Die Temperatur des Eisens schwankt daher niemals, sie bleibt stets auf der gewünschten mittleren Höhe und die Plätterin braucht keinen Augenblick ihre Thätigkeit zu unterbrechen. Uebrigens sind auch verwandte Apparate, die auf gleichem Prinzipe beruhen wie die elektrischen Bügeleisen für den Gebrauch des Hauses, in größerer Form für die Schneider-und Hutmacherwerkstatt gebaut worden. Der

[17]

Dürer malt seine Frau.
Nach dem Gemälde von W. Lindenschmitt.

[18] hervorragendste Fortschritt auf dem Gebiete der elektrischen Technik wurde gemacht, als Werner von Siemens zeigte, daß man mit Hilfe des elektrischen Stromes auch imstande sei, Maschinen zu bewegen. Die elektrischen Eisenbahnen, welche jetzt an unseren Häusern vorüberhuschen, sind das älteste, aber auch bedeutungsvollste Beispiel für einen solchen Betrieb. In jeder elektrischen Bewegungsmaschine befindet sich je nach ihrer Verwendung ein größerer oder kleinerer Apparat, welchen die Elektriker den Motor nennen. Er setzt sich aus einem festen und aus einem beweglichen Teile zusammen. Fließt ein Strom in den festen Teil hinein, dann dreht sich der bewegliche Teil, der Anker, mit großer Kraft und zwingt eine jede Maschine, die mit ihm in Verbindung steht, zur Arbeitsleistung. Fügt man also einen Elektromotor in eine Nähmaschine ein, so arbeitet sie sofort selbständig und entlastet die Näherin. Uebrigens auch zum Drehen der Kaffeemaschine, zur Bewegung des Reibkolbens im Mörser und zu ähnlichen Küchenzwecken wird der Motor vielfach benutzt.

Elektrisches Bügeleisen.

In größerer Form werden neuerdings die Motoren zur Hebung und Senkung der Fahrstühle gebraucht; sei es um Speisen und Geschirr von der Küche in das Eßzimmer zu führen, oder um Personen von einem Stockwerk in das andere zu befördern.

So mannigfaltig sind die Anwendungen der Elektricität im Hause! Mit der Verbilligung der elektrischen Kraft werden sie auch den breitesten Schichten des Volkes zu gute kommen, den Aufenthalt im eigenen Heim noch behaglicher und die Hausarbeiten bequemer gestalten. Daß diese Wendung in nicht zu ferner Zeit eintreten wird, dafür bürgt uns der Geist des Fortschritts, der die Technik durchdringt und zu immer höheren Stufen emporleitet.



New Yorks Riesenhäuser.

Auf der schmalen Insel Manhattan, zwischen dem Hudson- und dem East-River, stand einst die Wiege New Yorks, und dort schlägt auch heute das Herz der größten Handelsstadt in der mit Riesenschritten vorwärts eilenden Neuen Welt. Auf Manhattan liegt das Centrum des Geschäftsverkehrs; derselbe wächst von Jahr zu Jahr, und allmählich wird es ihm zu eng auf dem schmalen Eilande. Wo es nur irgendwie anging, hat man bereits seit Jahren dem Wasser Grund und Boden abzuringen gesucht, aber diese Landgewinnung hat schließlich ihre Grenzen erreicht. Kein Wunder also, daß Grund und Boden in den gesuchtesten Straßen New Yorks teuer geworden sind und für 1 qm Bauplatz bereits Preise von 12000 Mark bezahlt wurden. Trotzdem muß das Häusermeer dieses Viertels der Millionenstadt weiter wachsen, und da es sich in der Breite nicht ausdehnen kann, so wächst es in die Höhe.

In der That hat im Laufe des letzten Jahrzehnts das Centrum New Yorks ein ganz neues eigenartiges Aussehen erhalten. Die Geschäftshäuser wurden höher und höher gebaut; Stockwerk auf Stockwerk wurde gesetzt, und bald galten Gebäude mit sechs und sieben Stockwerken verhältnismäßig niedrig; die neuen Bauten erreichten schließlich Höhen, welche sonst nur beim Bau von Kirchtürmen vorkamen; ja, selbst dieses Ziel wurde überschritten. Vor wenigen Jahren war der schlanke 87,5 m hohe Turm der Dreieinigkeitskirche das Wahrzeichen der Stadt, heute erheben schon mehrere Geschäftshäuser ihre Dächer über das Kreuz des Gotteshauses!

Unsere nebenstehende Abbildung giebt eine Gruppe der Riesenhäuser in der Nähe der City-Hall, des Rathauses, und des Court-House oder des Gerichtshofes wieder. Ueber die Dächer dieser Monumentalgebäude erheben sich die Stockwerke der Geschäftspaläste wie Riesen über Zwerge. Eine Stadt in Kirchturmshöhe, erfüllt mit emsigstem Treiben, fürwahr, das ist ein Bild, das neu ist unter der Sonne!

Brooklynbrücke.   „World.“   „Sun.“       „Tribune.“       „Traktat-Gesellschaft.“
„Times.“

Ansicht des Rathauses und der Zeitungspaläste am Printing-House Square.

In dieser modernen Bauart war einst New York nicht tonangebend, Chicago durfte sich rühmen, daß es die gewaltigsten Riesenhäuser besitze, die man dort „sky-scraper“ oder Wolkenschaber nannte. Dort setzte jedoch die Legislatur dem Trieb ins Hohe eine [19] Grenze und heute darf man in Chicago nur noch Häuser von höchstens zwölf Stockwerken und nicht über 40 m hoch bauen. In New York kennt man keine derartige Beschränkung und neue Riesenhäuser wachsen über die alten empor.

Unsere zweite Abbildung zeigt uns eine Zusammenstellung der höchsten Gebäude New Yorks, der noch zum Vergleich der 87,4 m hohe Monumentalbau des Kapitols zu Washington beigefügt ist. Das Haus der amerikanischen Traktatgesellschaft ist schon etwas höher, denn es mißt 88,2 m, der Palast der Zeitung „World“ übersteigt diese Höhe noch um mehr als 1 m, sie erreichen jedoch ebenso wie das St. Paul genannte Haus mit 25 Stockwerken und der Sitz der Manhattaner Lebensversicherungs-Gesellschaft noch nicht das runde Hundert von Metern. Aber auch dieses wird überschritten werden. Auf Park Row ist ein Haus mit 29 Stockwerken im Bau begriffen, das nach seiner Vollendung das höchste der Welt sein wird. Seine Höhe von der Straßenebene bis zur Spitze der Türmchen wird 117,4 m betragen; der gewaltige Unterbau des Hauses ist gegen 12 m tief, so daß die Gesamthöhe des Bauwerks vom Grundstein bis zur Turmspitze sich auf rund 130 m beläuft. In diesen Riesen wird eine Unmasse von Stein und Eisen hineingesteckt. Einzelne eiserne Träger, die zu ihm verwendet werden, haben das Gewicht von 55 Tonnen, und das Gewicht des Eisens, das zu seiner Aufführung nötig ist, wird auf 9000 Tonnen berechnet. Vollendet und bezogen, wird das Riesenhaus aus Park Row insgesamt 50000 Tonnen schwer sein. Es ist klar, daß solche Bauten nur auf einem festen Grunde aufgeführt werden können. New York ist in der glücklichen Lage, über einen solchen zu verfügen, da die Manhattaninsel aus solidem Felsen besteht.

Vergleichende Zusammenstellung der Riesenhäuser in New York.

Zeitung „World“.
89,4 m
„Manhattan“
Lebensversicherungs-
gesellschaft.
94,9 m
Dreieinigkeitskirche
87,5 m
Park Row-Gebäude
117,4 m
„Traktat-Gesellschaft“.
88,2 m
St. Paul
93,4 m
Das Kapitol
in Washington
87,4 m
Zeitung „Sun“
21,3 m

Oft wird behauptet, daß in diesen neuesten Bauwerken die Sucht, Großartiges zu leisten, durch riesenhafte Schöpfungen seine Nebenbuhler zu übertreffen, zum Ausdruck gelange. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Wir haben die Gründe dieses Bauens bis in die Wolken hinein bereits angedeutet. Der Grund und Boden in dem Centrum des Geschäftsverkehrs ist so teuer geworden, daß gewöhnliche Häuser nicht gut rentieren würden. Darum setzt man Stockwerk auf Stockwerk, schafft Häuserkolosse, die in sich ein kleines Stadtviertel bergen, und findet so seine Rechnung. Den Geschäftsmann stört die Höhe nicht; durch Treppensteigen wird er nicht belästigt, da die Fahrstühle den Verkehr zwischen „Himmel und Erde“ vermitteln. Die amerikanische Baukunst hat in der That eine großartige Wandlung erlebt. Vor zwanzig Jahren galt in New York ein Haus, wie das der Zeitung „Sun“ auf unserer zweiten Abbildung, für eine große Leistung - wie winzig klein nimmt es sich aber neben dem jüngsten Riesen aus!

Nach einer Zusammenstellung des „Scientific American“, dem wir auch die Vorlagen zu unseren Abbildungen verdanken, ist die Zahl der Riesenhäuser in New York keine geringe. Es giebt dort bereits 21 Häuser mit 10 Stockwerken, 6 mit 11, 14 mit 12, 6 mit 13, 4 mit 14, 4 mit 15, 2 mit 16, 1 mit 17, 2 mit 21, 2 mit 22, 1 mit 23, 1 mit 25 und 1 Haus mit 29 Stockwerken. Einige wenige solcher Häuser mögen das Stadtbild beleben und ihm ein eigenartiges Gepräge verleihen; ein noch größeres Anwachsen kann aber schwerlich erwünscht sein. Die Straßen der Städte würden alsdann in düstere Hohlwege verwandelt werden.

Zum Schluß wollen wir noch einen Vergleich zwischen den Riesenhäusern Amerikas und einigen hohen Bauwerken der Alten Welt anstellen. Das Gebäude auf Park Row ist 117,4 m hoch, der Turm des Berliner Rathauses nur 74 m, während die Kuppel des neuen Doms in der Reichshauptstadt eine Höhe von 110 m erreichen wird. Es giebt viele Großstädte in Europa, deren höchste Kirchtürme unter dem amerikanischen Geschäftshause zurückbleiben. So ist z. B. der Turm der Peterskirche in Leipzig nur 88,7 hoch. Die Alte Welt kann sich aber anderer unvergänglicher und höherer Baudenkmäler rühmen, ragt doch die Cheops-Pyramide noch 137,2 m in die Höhe, und in den 156 m hohen Türmen des Kölner Doms und dem 161 m hohen Turme des Ulmer Münsters besitzt Deutschland die höchsten Kirchtürme der Welt, die zugleich als zwei der herrlichsten Denkmäler der Baukunst zu preisen sind. C. F.     



Blätter und Blüten.

Zwischen Ligny und Belle-Alliance. (Zu dem Bilde S. 12 und 13.) Es war im Jahre 1815, der korsische Leu hatte sich noch einmal zu gewaltigem Sprunge aufgerafft, nachdem ganz Europa durch seine unerwartete Rückkehr von der Insel Elba in Staunen und Verwirrung gesetzt worden war. Lechzend nach einem Sieg, hatte sich Napoleon mit der Nordarmee, bei der sich seine Garden und der Kern seiner Truppen befanden, zuerst auf die Preußen gestürzt, welche unter Blüchers Oberbefehl in ausgedehnten Stellungen an der niederländischen Grenze standen. Die Engländer unter Wellington, vermutlich in der Meinung, daß Napoleon seinen Hauptangriff auf sie selber richte, obschon nur das Corps von Ney gegen sie geschickt war, rührten sich nicht, trotz Blüchers Aufforderung – und so mußten die Preußen allein dem gewaltigen Anstoß dieser von neuer Begeisterung für den Imperator entflammten Kerntruppen standhalten. Die Schlacht von Ligny am 16. Juni 1815 endete mit dem Rückzug der Preußen, welche namentlich die Dörfer Saint-Amand und Ligny aufs tapferste verteidigt hatten, bis die französischen Garden Vorteile errangen und zuletzt Milhauds Kürassiere mit der reitenden Artillerie durch das Dorf Ligny hindurchdrangen und die Mitte der preußischen Stellung durchbrachen. Vergebens setzte sich der Feldmarschall selbst an die Spitze seiner Schwadronen – sein Pferd wurde ihm unter dem Leibe weggeschossen, und er war in Gefahr, in die Gefangenschaft der Feinde zu geraten, da die [20] feindliche Kavallerie mehrmals vorwärts und zurück an ihm vorbeisprengte, glücklicherweise ohne ihn zu bemerken. Niemals aber hat er seinen Ehrennamen „Marschall Vorwärts“ sich in so glänzender Weise verdient wie in diesen Tagen; denn der Rückzug verwandelte sich aufs einmal in einen Angriffsmarsch, der zu einem glänzenden Siege führte. Napoleon hielt Blücher für geschlagen und ließ ihn, während er sich selbst gegen die Engländer wendete, durch den Marschall Grouchy nur schwach verfolgen. Doch Blücher hatte bei Wavre alle seine Truppen wieder gesammelt und im Einverständnis mit dem Schlachtendenker Gneisenau beschlossen, den Engländern, die ihn im Stich gelassen hatten, jetzt seinerseits zu Hilfe zu kommen. Das Bild von Rudolf Eichstädt führt uns diesen weltgeschichtlichen Marsch vor. Der alte Blücher, die Pfeife in der Hand, die ihm nur bei großen Krisen auszugehen pflegte, hat sein Pferd gewandt, um die marschierenden Truppen zur Eile anzuspornen – liegt doch das Geschick Europas in der Wagschale; und wie sollten die Truppen nicht dem befehlenden Wort eines Generals folgen, der sie so oft zum Siege geführt hat und jetzt auch die letzte Niederlage in einen Sieg zu verwandeln sucht! Mit Begeisterung, die Tschakos schwingend, jubeln sie ihm zu – auch die Verwundeten, die sich zahlreich im Zuge befinden. Und der Kriegs- und Siegsgenosse General Gneisenau dreht sich im Sattel um, voll freudigen Vertrauens auf das Gelingen des kühnen Plans – er weiß, daß, wenn die Soldaten ihren Blücher sehen, sie von Kampfesmut und Siegeshoffnung erfüllt werden! Und sein Vertrauen hatte ihn nicht getäuscht. Bald donnerten die preußischen Kanonen auf der Höhe von Frischermont zum Schreck der Franzosen. Noch einmal suchte Napoleon mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte die englischen Linien zu sprengen – vergeblich. So gelichtet dieselben waren, die preußische Heeresmacht war an ihre Seite gerückt und im Rücken der Franzosen das Dorf Planchenois von den Preußen erstürmt worden. In wilder Flucht suchten die Franzosen sich zu retten – es war die größte Niederlage, die der siegreiche Cäsar erlebt hatte. Der Marsch der Preußen von Ligny nach Belle-Alliance war eine ihrer größten und entscheidendsten Thaten im deutschen Befreiungskriege. †     

Auf ewig vereint. (Zu dem Bilde S. 5) Düster ragen Türme und Mauern der alten Burg Kareol über die Meerflut empor, und düster ist das Geschick, das sich auf dem Burghof vollzieht. Vom Schwerte Melots am Hofe König Markes tödlich verwundet, hat Held Tristan mit Hilfe seines treuen Kurwenal auf der Burg seiner Väter Zuflucht gefunden, und Isolde ist auf die Kunde davon übers Meer geeilt, um ihn zu pflegen und mit ihrer Heilkunst zu retten. Aber sie kam zu spät – der geliebte Held ist bereits dem Tode verfallen, und nachdem er die Wiedergewonnene noch einmal umarmt hat, sinkt er sterbend zurück. Zu spät kommt auch König Marke. Er ist der flüchtigen Isolde auf schnellem Schiffe gefolgt, nicht um sie zurückzuholen, sondern um ihren Bund mit Tristan zu segnen. Das Geheimnis des Liebestranks, dessen dämonischer Zaubermacht die beiden herrlichen Menschen erlagen, ist ihm inzwischen kund geworden; nun will er die tragische Schicksalsverkettung zu ihrem Heile lösen. Der Tod, dessen finsterer Schatten über die Burg hinstreift, ist jedoch mächtiger als sein Wille. Isolde erliegt dem Schmerz über den Verlust des Geliebten, sie stirbt mit Tristan, und beide finden im Tode die ersehnte Vereinigung und die Sühne für ihre Schuld. So hat Richard Wagner im letzten Akt seines Musikdramas das Ende der gewaltigen Herzenstragödie „Tristan und Isolde“ geschildert, und unser stimmungsvolles Bild stellt in allegorischer Verklärung den Höhepunkt dieses tragischen Vorgangs dar, der in dem Aufsatz „Liebeszauber“, siehe Seite 6, weitere Erklärung findet.

Ein Stelldichein.
Nach dem Gemälde von Marie Laux.


Dürer malt seine Frau. (Zu dem Bilde S. 17.) Eine der erfreulichen „Rettungen“, welche die neuere Geschichtsforschung allerhand „Verkannten“ hat zu Teil werden lassen, ist der vielverleumdeten Frau des edlen Meisters Albrecht Dürer zu gute gekommen. Die Legende hat sie zu einer zweiten Xanthippe gemacht, die ihrem hochstrebenden genialen Mann das Leben unsäglich verbittert habe. Den Gründen dafür fehlt jedoch die beweisende Kraft und vieles spricht dafür, daß sie dem Maler eine treuliebende Lebensgefährtin und vortreffliche Hausfrau gewesen ist. Und in jener Zeit, da der junge Dürer, von der „Wanderschaft“ heimgekehrt, sich in seiner Vaterstadt Nürnberg als Meister niederließ und in der anmutigen Jungfrau Agnes Frey die Tochter eines ansehnlichen und vermögenden Handwerksmeisters heiratete, hat er vollends an deren Seite Glücks die Fülle genossen. Als junger Ehemann schuf er den reizenden Kupferstich „Der Spaziergang“, auf dem er sich selbst in zärtlichem Gespräch mit seiner Eheliebsten lustwandelnd dargestellt haben soll. „Der auf der Landschaft ruhende Sonnenschein,“ sagt ein neuerer Biograph Albrecht Dürers von diesem Bilde, „scheint nur der Abglanz ihres eigenen Glückes zu sein.“ Von diesem Sonnenglanz einen Widerschein finden wir in W. v. Lindenschmits Bild, das in so liebenswürdiger Auffassung den Meister Dürer im Begriff zeigt, sein schmuckes Weibchen zu malen. Ihr selbst ist ein Attribut in die Hand gegeben, das auf ihren häuslichen Fleiß hinweist, während das schelmische Lächeln in ihren Zügen auf jenen harmlosen Frohsinn deutet, welcher der beste Lohn für ein treues Wirken in der Enge der Häuslichkeit ist. P.     

Ein festlicher Tag. (Zu unserer Kunstbeilage.) Der große Augenblick ist da: die junge Frau Herzogin hat sich auf dem bereit gestellten Lehnstuhl im Festsaal der höheren Töchterschule, deren „Protektorin“ sie ist, niedergelassen, um die Ansprache aus Kindermund entgegenzunehmen. Die achtjährige Lili, die geweckteste und beherzteste der „Kleinen“, steht vor ihr, das prachtvolle Rosenbouquet in Händen. Hundertmal hat sie der Klasse beteuert, daß sie sich nicht fürchte, auch kein kleines bißchen! ... Aber nun, wo diese gar nicht fürchterliche Herzogin in Person dasitzt und alle die vielen Damen und Herren ihre Blicke auf Lili richten: der Herr vom Hofe daneben mit dem glänzenden Stern auf der Brust und da hinten die Lehrer, der Herr Direktor mit dem strengen Gesicht und der Klassenlehrer, der schon anfängt, das kleine Fräulein bedenklich anzusehen, die alle sind schuld, daß Lilis flinkes Züngelchen zu stocken beginnt. Die Klasse fühlt mit ihr: besorgt und teilnahmsvoll richten sich die Blicke der Kleinen nach der Schwerbedrängten. Die hintere Reihe der angehenden Backfische steht der Kalamität schon kühler gegenüber mit dem spöttischen Ueberlegenheitslächeln ihres reizenden Alters. Sie ahnen nicht, die selbstbewußten „Großen“, wie herrlich sich die für Humor empfängliche Dame über diese Ansprache amüsiert und wie gut ihr die unschuldig besorgten Gesichtchen ringsum gefallen, die in ihrem Kamerädchen die Hauptperson der ganzen Festfeier sehen! Bn.     


☛      Hierzu Kunstbeilage I: „Ein festlicher Tag.“ Von W. Gause.

Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg. S. 1. – Susel. Bild. S. 1. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Liebeszauber. Von Max Haushofer. S. 4. – Auf ewig vereint. Bild. S. 5. – Die Hansebrüder. Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach). S. 8. – Die ersten Schlittschuhe. Bild. S. 9. – Blücher auf dem Marsch nach Belle-Alliance. Bild. S. 12 und 13. – Die Electricität im Hause. Von Franz Bendt. S. 14. Mit Abbildungen S. 14, 15, 16 und 18. – Dürer malt seine Frau. Bild. S. 17. – New Yorks Riesenhäuser. S. 18. Mit Abbildungen S. 18 und 19. – Blätter und Blüten: Zwischen Ligny und Belle-Alliance. S. 19. (Zu dem Bilde S. 12 und 13.) – Auf ewig vereint. S. 20. (Zu dem Bilde S. 5.) – Dürer malt seine Frau. S. 20. (Zu dem Bilde S. 17.) – Ein festlicher Tag. S. 20. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Ein Stelldichein. Bild. S. 20.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Mitgeteilt in Stieve, Wittelsbacher Briefe.