Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Zur Dynastie Naundorff
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 351
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[351] Zur Dynastie Naundorff. Unser Aufsatz (in Nr. 15 der „Gartenlaube“) hat allgemeines Interesse erregt und verschiedene interessante Zuschriften zur Folge gehabt: als die wichtigste erscheint uns die von Otto Friedrichs in Brüssel, welcher uns gleichzeitig sein umfangreiches Werk: „Un Crime politique, étude historique sur Louis XVII.“ (Ein politisches Verbrechen, historische Studie über Ludwig XVII.) [Bruxelles, 1884] zuschickte. Otto Friedrichs ist der begeistertste Anwalt, welchen Naundorff bisher gefunden hat; er ist durchdrungen von der Ueberzeugung, daß Naundorff in der That Ludwig XVII., der legitime König von Frankreich war. Sein Werk enthält eine große Menge von Aktenstücken, die bisher in solcher Vollständigkeit noch nicht gesammelt, ja theilweise ganz unbekannt waren: die Briefe Naundorff’s an seine Schwester, die Herzogin von Angoulème, die Briefe der Madame de Rambaut, der früheren Kammerfrau des Dauphin, der Frau Marco de Saint-Hilaire, die aus gerichtlichen Akten entnommenen Zeugnisse von Bremond, dem früheren Geheimsekretär Ludwig’s XVI. und andere. Sehr interessant ist die Mittheilung der Proklamation Charette’s, der die Vendéer befehligte und zu dem der junge Prinz nach seiner Flucht aus dem Temple gebracht worden sein soll. Es war zur Zeit, als die Armee der Vendéer die Waffen niederlegte, gegen Ende 1795, und Charette spricht in diesem Armeebefehl vor allem sein Bedauern darüber aus, daß der unglückliche Sohn des unglücklichen Ludwig XVI., kaum der Wildheit seiner Henker entrissen, jetzt wieder sein Asyl verlieren und seinen Verfolgern ausgeliefert werden würde. Aus den Memoiren Napoleon’s I. theilt Friedrichs die Stelle mit, in welcher der Kaiser erklärt, er habe die Erzählung Josephinens, daß der Dauphin am Leben sei, für Weibergeschwätz gehalten, dann aber Untersuchungen anstellen lassen, wobei er seine Verwunderung darüber ausspricht, daß ein Todtenschein nicht aufzufinden und der Sarg Ludwig’s XVII. wohl vorhanden, aber vollständig leer sei. Friedrichs theilt dann eine große Menge von Stellen aus den Memoiren des Vicomte von Larochefoucauld mit, der als Agent der Herzogin von Angoulème mit Naundorff in Verkehr getreten war, um die Wahrheit zu ergründen, und der fortwährend hin und herschwankte zwischen der sich bisweilen ihm aufdrängenden Ueberzeugung, Naundorff könne der echte Dauphin sein, und dem Eifer, den regierenden Bourbons dienstbar zu sein, indem er ihn verleugnet. Einer vernichtenden Kritik unterwirft Friedrichs die Aussagen der sogenannten Zeugen des Temple, Lasne und Gomin, auf welche auch neuerdings Chantelauze in seinem „Louis XVII.“ den Beweis begründet, daß der Dauphin in der That im Temple gestorben sei: Friedrichs weist die innern Widersprüche dieser Zeugenaussagen nach.

Jedenfalls muß man sich fragen, wie es möglich war, daß ein preußischer Uhrmacher auf den kuriosen Gedanken kam, sich für den Sohn Ludwig’s XVI. zu halten? Die preußische Regierung hat ihn, als er sich das Bürgerrecht erwerben wollte und als er sich verheirathete, von der Verpflichtung, seinen Taufschein vorzuzeigen, der mit seinen andern Papieren in ihren Händen war, dispensirt: niemals ist ihm eine andere Herkunft nachgewiesen worden. Alte Diener der königlichen Familie haben ihn in Paris mit voller Ueberzeugung als den legitimen Thronerben anerkannt; während man andere Pseudo-Dauphins vor die Gerichte schleppte und verurtheilte, weigerte man Naundorff die gerichtliche Verhandlung; er wurde verhaftet, des Landes verwiesen, nachdem ein Attentat gegen ihn mißglückt war; neue Attentate folgten dem ersten: gewiß, das Alles spricht sehr zu Gunsten seiner Ansprüche. Nicht ohne Beweiskraft ist auch das Titelbild des Friedrichs’schen Werkes, welches das Portrait des jungen Dauphins und dasjenige des 50jährigen Naundorff zugleich vorführt: Zug für Zug eine unverkennbare Ähnlichkeit.

Eine andere interessante Zuschrift in dieser Sache war uns der Brief des Oberappellationsgerichts-Präsidenten a. D. von Rönne. Der berühmte Verfasser des „Preußischen Staatsrechtes“ schreibt uns: „Die Angaben des Herrn Naundorff über seine Abenteuer rühren nicht erst aus einem Memoire des Jahres 1836 her, sondern sind mir, in fast gleicher Art und Weise, schon 1825 in meiner damaligen amtlichen Stellung zu Protokoll mitgetheilt worden. Als in Paris eine Untersuchung wider den Prätendenten schwebte, sind die Untersuchungsakten von 1825 auf Requisition der französischen Regierung nach Paris eingesendet worden und sollen auch hierher remittirt worden sein, jedoch ohne die von mir aufgenommenen Protokolle, welche ein Adhibendum jener Untersuchungsakten bildeten. Mich, der ich im Jahre 1825 als Auskultator bei dem damaligen Land- und Stadtgerichte zu Brandenburg vereidet worden bin, interessirte damals der Naundorff’sche Fall sehr lebhaft und das veranlaßte mich, mir von dem Kollegium des Land- und Stadtgerichts die Ermächtigung zu erbitten, die Erzählungen Naundorff’s amtlich protokolliren zu dürfen, was der die Untersuchung führende Richter weder selbst wollte noch mir gestatten wollte. Ich war ihm nämlich als Kriminalprotokollführer in der Untersuchung gegen Naundorff beigeordnet. Uebrigens kann ich bestätigen, daß der etc. Naundorff ein stattlicher Mann war, welcher ganz den Typus der Bourbonen trug. Er machte einen angenehmen Eindruck, und man konnte in keiner Weise sagen, daß er mit der Frechheit gewöhnlicher Abenteurer auftrat.“
Rudolf von Gottschall.