Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in ihren Zusammenhängen (1914)

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Autor: Adolph Wagner
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Titel: Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in ihren Zusammenhängen
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 3–19
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[451]
Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in ihren Zusammenhängen
Von Professor Dr. Adolph Wagner, Berlin, Wirklicher Geheimer Rat, Mitglied des Herrenhauses


Diese Zusammenhänge.

Die Wirtschaftspolitik, die Finanz- und Steuerpolitik und die Sozialpolitik eines Zeitalters stehen immer in einem gewissen Zusammenhang, vor allem in unserer modernen Zeit, und je mehr wir uns der Gegenwart nähern, um so mehr und um so bewußter, so daß sich deutlich ein Wechselwirkungsverhältnis ergibt. In einem geordneten Staatswesen, wo die organische historische Entwicklung nicht unterbrochen wird, vollzieht sich diese in ruhiger, geordneter Weise durch den Aufbau und Ausbau der einschlagenden Gesetzgebung und Verwaltung auf den geschichtlich gegebenen Fundamenten. Diese Entwicklung wird dann nicht so viel Neues und Originelles, aber um so mehr den Charakter eines organischen Wachstums des Staatslebens zeigen und damit auch als gesund und richtig in allem Wesentlichen anerkannt werden dürfen.

Das gilt in ausgeprägtem Maße von der Politik des Deutschen Reichs und Preußens in Volkswirtschaft, Finanzen und sozialen Verhältnissen, und von der zur Ausführung dienenden Gesetzgebung und Verwaltung in der letzten viertelhundertjährigen Periode der Geschichte des jungen Deutschen Reichs und seines Bildners und Kerns, des preußischen Staats, in der Regierungszeit des Kaisers und Königs Wilhelm II, seit 1888 bis 1913. Nicht daß es auch hier an Wechselfällen, Richtungsschwankungen auf diesen wie auf anderen Gebieten der Reichs- und Staatspolitik ganz gefehlt hätte − die Zeit vor und nach Bismarck zeigt davon die stärksten Spuren, die in geringerem Maße auch in der langen Zeit seit 1890 mit dem Wechsel der Kanzlerschaften und hier und da auch während der einzelnen sich offenbarten. − Aber im wesentlichen tritt doch eine einheitliche gleichmäßige, für die Entwicklung des Staats- und Volkslebens förderliche Gestaltung der deutschen und preußischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hervor, wie sie die Bedürfnisse von Reich und Staat, von Volk und Volkswirtschaft verlangt haben. Das, wozu seit der Neuordnung der Verhältnisse nach der französischen Kriegszeit vor 100 Jahren in der ruhigen Friedensperiode von 1815 bis 1848/66 der Grund gelegt wurde, vor allem mittels der großen Tat, der Schöpfung und Ausbildung des Zollvereins seit 1834, und der noch größeren und eingreifenderen, der Herstellung des Norddeutschen Bundes nach den Ereignissen von 1866 und seiner Erweiterung zum Deutschen Reiche nach dem Krieg 1870/71 gegen Frankreich, das alles mußte erst gelungen und nach innen und außen dauerhaft begründet sein. Hierdurch ist auch der Zollverein erst ein dauerndes [452] politisch-volkswirtschaftliches Gebilde und ein integrierender Wesensbestandteil des neuen Reichs geworden. Erst auf diesen Fundamenten konnte die deutsche Volkswirtschaft ordentlich auf- und ausgebaut werden, und das ist in dieser Zeit seit 1888 im ganzen befriedigend und erfreulich gelungen. Nicht minder ist der in der ersten Reichsperiode begründete gewaltige Bau der Sozialpolitik, diese namentlich im Sinn der sichernden und fördernden Arbeiterpolitik, bedeutsam ausgedehnt und verstärkt worden. Für die Finanzen von Reich und Staat war zwar auch in der Zeit Wilhelms I. und Bismarcks teilweise ein neues Fundament gelegt worden, aber den Bedürfnissen eines großen modernen Staatswesens, eines solchen, welches für die notwendigen Aufgaben der Volkswirtschaft und für ihre unvermeidliche starke Eingliederung in die Weltwirtschaft, für die notwendigen Bedingungen einer modernen Technik in Produktion und Verkehr das von Staatswegen Erforderliche leisten soll, entsprach das noch nicht. Hier war ein großer und umfassender Weiterbau erst noch zu bewerkstelligen.

Volkswirtschaftliche Bedeutung der weiteren Stärkung der Wehrmacht.

Um aber nicht nur den ganzen Neubau des Deutschen Reichs nach außen und innen zu sichern, sondern um gerade auch für die deutsche Volkswirtschaft und ihre notwendig bedeutsamer werdende Stellung in der Weltwirtschaft die Entwicklung zu garantieren, war auch die Wehrmacht zu Lande und zu Wasser im Zeitalter neuer und erweiterter Kolonialgründungen und des weltwirtschaftlichen Verkehrs mächtigeren und schon früher wirtschaftlich entwickelten, neidischen Rivalen gegenüber im Einklang mit der neuesten Entwicklung der Technik, wenn auch unvermeidlich mit größeren Opfern, auszugestalten. Das ist geschehen. Vor allem auch ist das von altersher seeunmächtige Deutschland zum erstenmal in seiner Geschichte zu einer starken Seemacht neben den anderen Staaten gemacht worden. Die Schaffung dieser Seemacht, und schließlich auch die Verstärkung der Landmacht ist gerade im letzten Menschenalter in erfreulicher Weise zu stande gekommen. Hierdurch ist das Schwerste, aber auch das Notwendigste und Segensreichste in der Gesamtpolitik und speziell in der Wirtschaftspolitik gelungen, zwar unter starker Opposition von manchen Seiten, aber es war eine Maßregel, die der wichtigsten Staatsaufgabe entspricht. Ihre Erfüllung erscheint nicht nur jedem ernsten Politiker als das Wichtigste, sondern folgt auch aus den Grundsätzen des größten freiwirtschaftlichen Nationalökonomen, keines Geringeren als eines Adam Smith, daß nämlich die Schaffung von Sicherheit für Staat, Volk und Volkswirtschaft wichtiger ist als bloße Wohlstandssteigerung, ohne genügende Garantie für ihre Dauer und Weiterentwicklung; das läßt alle Maßregeln zur Erreichung jenes Ziels, auch wenn sie mit großen Opfern verbunden sind, gerechtfertigt erscheinen. Gerade diese Schaffung genügender Sicherheit für das neue Deutsche Reich, für seine in so großartigem Aufschwung befindliche Volkswirtschaft und für deren absolut und relativ steigenden Anteil am weltwirtschaftlichen Verkehr ist wohl diejenige Tat im jüngsten Zeitalter, welche diesem seinen dauernden Charakter in der Geschichte verleiht. Während alles Andere, was in Wirtschafts- und Sozialpolitik und teilweise auch in der Finanzpolitik in diesem jüngsten Zeitalter geschehen ist, doch mehr nur einen erfreulichen Ausbau auf den durch die Jahre 1834, 1866, 1870 und speziell [453] unter Wilhelm I. und Bismarck gelegten Grundlagen darstellt, ist hier in der Schaffung der Kriegsmarine und in der Begründung eines, wenn auch immer gegen den anderer Länder kleinen Kolonialbesitzes auch eine neue und originale Leistung gelungen, welche den besonderen Ruhm dieses jüngsten Zeitalters deutscher Geschichte bildet.

Diese politischen Taten, welche zugleich von größter volkswirtschaftlicher und weltwirtschaftlicher Tragweite sind, haben durch sich selbst auch den besten Beweis dafür geliefert, daß erst durch die Ereignisse von 1866 und 1870 Deutschland, und selbst das um die österreichischen Gebiete verkleinerte Deutschland, dem deutschen Volk und der deutschen Volkswirtschaft die gebührende Stellung in der Welt verschaffen konnte. So konnte wenigstens im letzten Moment, wo es möglich war, den ausgeschlossenen und verspäteten Deutschen neben anderen Europäern ein Platz und Betätigungsspielraum auf unserer Erde verschafft werden. Damit hat sich der Weg durch Blut und Eisen, auf dem die neue deutsche Einheit, die Trennung von Österreich, so vielfach gegen Wunsch und Willen anderer Deutscher erreicht worden ist, auch als der richtige und notwendige erwiesen, um zur politischen und wirtschaftlichen Stellung des deutschen Volkes in der Gegenwart zu gelangen.

Nur durch die Hervorhebung und Charakterisierung einiger einzelner Hauptpunkte der Entwicklung der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in Preußen und im ganzen Reich im letzten Vierteljahrhundert mag das Gesagte hier belegt und begründet werden. Für das Einzelne ist auf die einschlägigen Abschnitte dieses Werks aus anderen Federn zu verweisen.

Agrarverfassung und Agrarpolitik.

Der Charakter der allgemeinen Wirtschaftspolitik eines Landes erhält seinen prägnantesten Ausdruck einmal durch die Agrarverfassung und Agrarpolitik, sodann durch die innere Gewerbe- und Handelsverfassung und -politik und durch die äußere Handelspolitik. Agrarverfassung und Agrarpolitik sind auch im neuen Deutschen Reich ja wesentlich Angelegenheiten der Einzelstaaten geblieben, nur daß die Gesetzgebung des Reichs über Staats- und Reichsbürgerrecht, Niederlassungsrecht, Zugrecht als Freizügigkeit, Wanderrecht und Reiserecht, Eheschließungsrecht, Aus- und Einwanderungsrecht, Unterstützungswohnsitz, Wehrdienstpflicht auch in die Agrarverhältnisse bedeutsam eingreift. Das großenteils bereits in Preußen bestehende „freiheitlich“ ausgestaltete Spezialrecht in den genannten besonderen Rechtsgebieten war in die Reichsverfassung bereits übergegangen und schon in der Periode vor 1888, soweit notwendig, in derselben Richtung noch weiter ausgebildet worden. Die Agrarverfassung speziell hatte in Preußen ihren im ganzen freiheitlich-individualistischen Charakter in die Reichszeit mit herübergenommen, so den Grundsatz der freien Teilbarkeit und Zusammenlegbarkeit des ländlichen Besitzes in Kauf und Verkauf und im Erbgang, des freien Absatzes und Marktverkehrs und der freien vertragsmäßigen Preisbildung für Agrarprodukte, des freien Pachtrechtes und Mietrechtes und des freien Verschuldungsrechts. Aber provinzial- und bezirksweise waren doch auch Ausnahmen von dieser Gestaltung des Agrarrechts geblieben, die auch mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht verschwanden, so einzelne Provinzialsysteme [454] des Anerbenrechtes für bäuerlichen, mitunter für ländlichen Grundbesitz überhaupt, auch des Rechts der Fideikommisse. Das ist in Preußen auch in der jüngsten Periode seit 1888 im ganzen so geblieben, doch sind einzelne Erneuerungen und Fortbildungen besonders im Gebiet des ländlichen Anerbenrechtes und für Zwecke der inneren Kolonisation, sowie für Förderung der Kreditverhältnisse und ländlichen Produktions- und Absatzverhältnisse, namentlich durch genossenschaftliche Einrichtungen, erfolgt. Durch Entwicklung des ländlichen Fachschulwesens hat eine Verbreitung der Kenntnisse agrarischer Technik und vornehmlich auch im Gebiet des Meliorations- und Kunstdüngerwesens eine erhebliche Förderung der Landwirtschaft stattgefunden. Der Fortschritt zu intensiverer Bewirtschaftung, zum Übergang von der Körnerwirtschaft mehr zur Viehwirtschaft ist damit begünstigt worden. Durch Gewährung steigenden und nach einer bedenklichen Verminderung in der Zeit der Reichskanzlerschaft Caprivis später wieder ausreichend gewährten Zollschutzes, besonders für Getreide, ist der Landwirtschaft auch der notwendige im Gesamtinteresse der Volkswirtschaft und der Nation liegende Schutz gegen die erdrückende Preiskonkurrenz des noch schwach bevölkerten und extensiv wirtschaftenden Auslands und gegen die Folgen der die Fernfrachten vermindernden Entwicklung des Kommunikations- und Transportwesens, zu Land und namentlich auch zu Wasser, gewährt worden. An dieser internationalen Handels- und Tarifpolitik ist, abgesehen von der Schwankung zu Caprivis Zeit, trotz aller Gegnerschaft des reinen Konsumenteninteresses und des Freihändlertums, auch im letzten Vierteljahrhundert festgehalten worden, besonders im Zollgesetz 1902, einem Hauptpunkte der Bülowschen Kanzlerperiode. Und im ganzen mit Recht. Durch diesen in der ersten Reichsperiode seit 1879 eingeleiteten Agrarschutz mit seinen bedeutsamen Folgen, auch nach der finanziellen Seite, hat die gesamte deutsche Wirtschaftspolitik ihren eigentümlichen Charakter einer konsequenten Verbindung wirtschaftsfreiheitlicher und regulierender und schützender Momente auch bis zur Gegenwart behalten. Die tatsächliche Gesamtentwicklung des deutschen Wirtschaftslebens zeigt, daß das zu seinem Segen war.

Ob die Verkehrsfreiheit in Grundbesitzwechsel in Land und Stadt, ob die Verschuldungsfreiheit, ob die Kauf-, Pacht- und Mietpreisfreiheit nicht manche bedenkliche Folgen gezeigt haben, die Spekulation in landschaftlichem und städtischem Grundbesitz nicht manche Schäden allgemein volkswirtschaftlicher und sozialer, damit auch politischer Bedeutung hervorgerufen hat, ob hier nicht namentlich seit den höheren Agrarschutzzöllen der Besitzwechsel der ländlichen Großgüter und die Preissteigerung dabei zu groß, rasch und schädlich geworden, der Auskauf von Bauernland durch Großgrundbesitz und neuerworbenes bewegliches Kapital nicht zu umfassend geworden ist, taucht dabei freilich als eine kaum zu verneinende Frage auf. Die Gesetzgebung ist demgegenüber bisher untätig geblieben, bis auf die Steuergesetzgebung und Steuerveranlagungspraxis, die in der Entwicklung der Wertzuwachssteuer und der Besteuerung nach dem gemeinen Werte, allerdings hier auch mit den volkswirtschaftlichen Folgen dieser Besteuerungen, neue Wege vorsichtig einzuschlagen begonnen hat. Dadurch ist tatsächlich, wenn auch bisher kaum klar bewußt, auch in diesem Punkte die betreffende Besteuerung in sozialpolitische Wege mit hinübergeführt worden. Hier liegen noch weitere Aufgaben für die [455] Zukunft vor. Solche können auch für das Fideikommißwesen in der Richtung neuer Regelung und Beschränkung beim ländlichen Großgrundbesitz und in umgekehrter Richtung in der Ausgestaltung des bäuerlichen Besitz- und Erbrechtes für die Zukunft kaum bestritten werden. Der Bauernschutz der friderizianischen Zeit ist seit der Grundbesitzfreiheit fortgefallen, und so ist es bis jetzt geblieben. Aber damit ist in der Periode des modernen Großkapitalismus im Gebiet von Industrie, Handel, Geld, Bank- und Börsengeschäft und -erwerb wie in England eine Gefahr für Bauernland und Bauernschaft und damit für den vollends in Deutschland unentbehrlichen Grundstock unserer Bevölkerung erwachsen, von der sich immer deutlichere Spuren offenbaren. Auch schädliche Nebenfolgen des Agrarschutzzolles für Land- und Volkswirtschaft, für Besitz und soziale Verhältnisse machen sich damit kund. Gegenüber dieser Passivität von Regierung und Volksvertretung in der Gesetzgebung taucht bei Weiterblickenden der Gedanke an das alte videant consules jedenfalls auf. Und mit Recht. Das möchte am Schluß der letzten 25jährigen Periode für Preußen, aber doch auch für das übrige Deutschland (wie vollends für unser nachbarliches Österreich) nicht bestritten werden können. Im Deutschen Reich als Ganzen möchte so auch die Zeit herannahen, wo die einzelstaatliche Partikulargesetzgebung auf agrarpolitischen und verwandten Gebieten, im Kreditwesen und in der Kreditpolitik, im Fideikommißwesen durch die Reichsgesetzgebung im nationalen Gesamtinteresse ersetzt oder wenigstens ergänzt werden müßte. Diese und verwandte Fragen der, soweit zur Lösung solcher Aufgaben erforderlich, Erweiterung der Reichskompetenz sind aus dem Gesichtskreis unserer Staatsmänner, Parlamentarier und selbst unserer Theoretiker zu sehr zurückgetreten oder mindestens in diesen Gesichtskreis noch zu wenig hineingetreten.

Was sonst noch die agrarischen Verhältnisse im letzten Menschenalter anlangt, hängt mit der Entwicklung der allgemeinen Gesetzgebung über Verkehrs-, Geld-, Kredit- und Bankwesen, Gewerbe und Handel usw. zusammen.

Innere Gewerbe- und Handelspolitik.

In der inneren Gewerbe- und Handelspolitik war der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich im wesentlichen der preußischen Gesetzgebung aus der Zeit nach 1806 gefolgt. Dadurch war der leitende Grundsatz der Gewerbefreiheit zur Anerkennung gelangt. Die Rückschritte auf diesem Gebiete, welche in Preußen besonders 1845 und 1849 erfolgt waren, waren dabei, zum Teil unter Einfluß der in manchen anderen deutschen Staaten schon kurz vor 1866 ebenfalls eingebürgerten Gewerbefreiheit, wieder beseitigt worden. Durch Ausdehnung der gewerbefreiheitlichen und der damit sonst in näherer Verbindung stehenden Gesetzgebung über persönliche und gewerbliche Freizügigkeit, Eheschließungsfreiheit usw. auf das ganze norddeutsche und spätere Reichsgebiet − nur in einzelnen Punkten mit Ausnahme Bayerns − war so aus dem Reichsgebiete bzw. aus dem des Zollvereins ein großes, einheitliches Wirtschafts- und Marktgebiet, umsponnen von dem gemeinsamen Grenzzollnetz der Finanz- und Schutzzölle, gebildet worden. Dadurch war gerade in wirtschaftlicher Beziehung ein großer Fortschritt über die Zollvereinsperiode vor 1866 herbeigeführt. Durch die Ausdehnung des Zollvereinsgebietes [456] über Mecklenburg und Schleswig-Holstein, wenn auch erst später auf die Hansastädte, war das Zollvereinsgebiet auch mit dem Reichsgebiet im wesentlichen identisch geworden, wobei erfreulicherweise hier wenigstens der verbliebene Rest des alten deutschen Landes Luxemburg im Zollverein geblieben war. So ist das Reichs- und Zollgebiet nicht nur erheblich vergrößert, sondern auch besser arrondiert worden, was für Volkswirtschaft und Finanzen wichtig war. Durch die Gewerbeordnung von 1869, deren allmähliche Einführung nach 1870 auch in den süddeutschen Staaten, erst zuletzt auch im Reichsland Elsaß-Lothringen erfolgte, war so zum erstenmal in Deutschland eine einheitliche, gleichmäßige Gesetzgebung über inneres Gewerbe- und Handelswesen eingetreten, die Voraussetzung einer einheitlichen Entwicklung der ganzen deutschen Volkswirtschaft. Die etwas zu radikal-wirtschaftsfreiheitliche Gestaltung dieser Gewerbeordnung ist zwar bald nach ihrem Erlaß schon in der Reichszeit bis 1888 in manchen Punkten wieder modifiziert worden, aber hat doch im wesentlichen ihren Grundcharakter behauptet. In nachbarlich verwandten Rechtsgebieten, namentlich auf dem immer wichtiger werdenden Gebiet des Aktien-Gesellschaftsrechts, war durch eine Novelle von 1870 unter Beseitigung des Zwangs zur Individualkonzession, schon wegen der bloßen Rechtsform der Unternehmungen, der Übergang zu einem allerdings wesentlich bald als zu lax befundenen System bloßer Normativbedingungen eingetreten, der dem Gründungsschwindel unmittelbar nach dem Siege über Frankreich die Zügel so weit schießen ließ. Aber auch darin war bereits 1884 immerhin eine Modifikation und Beschränkung erfolgt. Die einheitliche Gewerbeordnung, das Freizügigkeits- und sehr erleichterte Niederlassungsrecht, die endlich nach Jahrhunderten wiedererreichte Geld-, Währungs- und Münzeinheit, die tiefgreifende Reform des Notenbankwesens, vor allem die Erhebung der Preußischen Bank zur Reichsbank und die großartige Entwicklung der letzteren, die Entwicklung des inneren Verkehrs- und Transportwesens, das Post- und Telegraphenwesen, trotz der in den Versailler Verträgen an Bayern und Württemberg gewährten Selbständigkeit, und die großartige Entwicklung des Eisenbahnwesens, bei dem zwar der bedeutende und folgerichtige Bismarcksche Gedanke eines Reichsbahnnetzes dank dem mittelstaatlichen Partikularismus nicht ausgeführt wurde, aber doch die einzelnen Staatsbahnnetze, vor allem das stark ausgedehnte preußische, diesem wichtigsten modernen Verkehrszweig fast ganz für Preußen und großenteils doch auch für das übrige Deutschland eine einheitliche Gestaltung gaben, − dies alles waren Errungenschaften von größter Tragweite für die deutsche Volkswirtschaft. Die durch die Gesetzgebung begünstigte Entwicklung des sonstigen Bank- und Börsenwesens, alle diese und weitere damit zusammenhängende Vorgänge, haben dann den gewaltigen Aufschwung der deutschen Volkswirtschaft in Gewerbe, Handel, Bergbau, im Großbetrieb, im Maschinenwesen und in der damit verbundenen methodischen Ausnützung der naturwissenschaftlich fundamentierten technischen Fortschritte zuwege gebracht und das innere Zusammenwachsen des deutschen Wirtschaftslebens über die Grenzen der Einzelstaaten, selbst Preußens hinaus, bedeutend gefördert. Das war schon in den ersten zwei Jahrzehnten des neuen Deutschen Reiches bis zu Kaiser Wilhelms I. Tode und bis zu Bismarcks Ausscheiden aus dem Reichs- und Staatsdienst erreicht. Damit war die Grundlage für die noch weitere und höhere Entwicklung [457] der deutschen Volkswirtschaft, für den immer stärkeren Übergang vom Agrar- zum Industriestaat und für alle die damit verbundenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, auch populationistischen Folgen und Begleiterscheinungen, namentlich die Entfaltung des Städtewesens, vor allem der Großstädte, und damit auch für die emporsteigende Stellung Deutschlands im Weltverkehr gelegt worden.

Sozialpolitik.

Zugleich waren aber in dieser Periode die Grundlagen des charakteristischsten Teils der deutschen Sozialpolitik zu Schutz und Förderung der sog. arbeitenden Klassen, besonders der industriellen, nämlich der Arbeiterversicherung, in Gemäßheit der berühmten Botschaft Kaiser Wilhelms I. von 1881 gelegt und zum Teil auf ihnen die wichtigste Gesetzgebung schon erlassen und praktisch ausgeführt worden. Weniger hatte man bis dahin, Bismarcks Standpunkt gemäß, den Arbeiterschutz gefördert. In der begonnenen Entwicklung der Arbeiterorganisation war durch das Sozialistengesetz zugleich eine hemmende Wirkung mit hervorgerufen. Die Organisation der gewerblichen selbständigen Arbeit, besonders des Handwerks, war zwar in der Gesetzgebung wieder etwas mit angebahnt worden, aber doch mit zu schwachen Mitteln und ohne ausreichenden Erfolg. So war der Entwicklung des privatkapitalistischen Systems eine Ausdehnung mit auf Kosten des Mittel- und Kleinbetriebes noch leichter möglich geworden, als es die Technik von Produktion und Verkehr ohnehin zu bewirken strebte.

Äußere Handelspolitik.

In der auswärtigen Handelspolitik war allerdings nach der freihändlerischen Tendenz in der letzten Zeit vor dem Reich und in der ersten Reichszeit selbst ein prinzipiell bedeutsamer und auch praktisch teilweise wichtiger Umschwung durch den Wandel 1879 eingetreten, der sich schon von da an und mehr noch bald darauf für Industrie, Landwirtschaft und Reichsfinanzen von Einfluß zeigen sollte. Man lenkte wieder mehr in die Schutzzollbahn ein und eröffnete damit auch in den agrarischen Schutzzöllen eine später sehr bedeutsam werdende Einnahmequelle für die Finanzen. Aber nachhaltig ausreichend für die später unvermeidlichen Finanzbedürfnisse des Reichs war dadurch noch nicht fürgesorgt. Durch das leidige System der Überweisungen aus den indirekten Reichssteuern, den Zöllen und inneren Verbrauchssteuern, wodurch dem Bismarckschen Ideal gemäß die Einzelstaaten, statt das Reich zu ihrem Kostgänger zu machen, zu aus Reichseinnahmen dotierten öffentlichen Körpern wurden, wurden die Reichsfinanzen geschädigt und war zugleich in den Weg eingelenkt, der in der Folge bei unzureichenden eigenen Mitteln des Reiches und großen steigenden Finanzbedürfnissen zu der in der neuesten Zeit zu großen und zu raschen Vermehrung der Reichsschulden führen mußte. Damit war am Schluß der Bismarckschen Periode, und als die Monopolprojekte und der Reichsbahnplan gescheitert waren, eine ausreichende Fundierung der Besteuerung für die weitere Zukunft unterblieben. Zwar war neben den inneren Verbrauchssteuern die Entwicklung der inneren Verkehrssteuern (Stempel, Börsensteuern usw.) des Reichs begonnen, doch noch nicht finanziell ausreichend gelungen und die direkte Reichsbesteuerung ausgeschlossen geblieben, aber [458] der Ausbau dieser Steuern als Landessteuer war in Preußen selbst so gut wie ganz unterlassen worden. Unter den schwierigen und nachteiligen Folgen hiervon hat die Periode nach 1888 bis zur Gegenwart, und je mehr man sich dieser näherte, um so stärker, zu leiden gehabt.

In dieser Periode seit 1888 und besonders seit 1890 waren somit manche schon frühere Aufgaben in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik, dann aber auch manche neue Aufgaben, welche die Entwicklung von Volks-, Staats- und Wirtschaftsleben mit sich brachte, vorhanden. Daß dies allmählich erkannt und doch schließlich im ganzen die richtigen Mittel und Wege zur Erfüllung aller dieser Aufgaben ergriffen wurden, wird ein objektiver Beurteiler anerkennen müssen, auch ein solcher, der damit nicht alles Geschehene − und ebenso nicht alles Unterbliebene und zu lang Unterbliebene − ohne weiteres für richtig hält. Im ganzen ist das 1879 begründete Schutzzollsystem für Landwirtschaft und Industrie nach der früher erwähnten Schwankung in der ersten nachbismarckschen Zeit aufrecht erhalten, ausgebaut und befestigt und in geeigneten Fällen durch Handels- und Tarifverträge ergänzt worden. Ob einzelne Zollpositionen in Agrar- und Industriezöllen zu hoch oder zu niedrig und noch nicht überall ausreichend systematisch durchgebildet sind, ob das Verfahren mit den Ausfuhrvergütungen und Einfuhrscheinen ganz passend geordnet ist und nicht einzelne unerfreuliche Nebenwirkungen finanzieller und wirtschaftlicher Art mit sich führt, mag dahingestellt bleiben; ebenso, ob nicht, sei es autonom, sei es im Wege von Handels- und Tarifverträgen, einzelne Zollpositionen von Finanzzöllen und von Schutzzöllen eine Änderung erfahren könnten, und zwar bei der heute erreichten hohen Entwicklung unserer Industrie mehr als auf dem Gebiet der Agrarzölle, durch Ermäßigung oder Beseitigung der industriellen Schutzzölle − indessen auch bei den Agrarzöllen etwa auf dem Gebiet der Futtermittelzölle, aber nicht bei den anderen Getreidezöllen und den Fleisch- und Viehzöllen − das Alles sei hier ebenfalls nur als diskutable Frage hingestellt. Internationale Vereinbarungen, wie sie endlich über Zucker in der Brüsseler Konvention unter einer Reihe der wichtigsten Staaten gelungen sind, bildeten eine für Volkswirtschaft und Finanzen erfreuliche Regelung, wenn auch der jüngste Rücktritt besonders Englands von dieser Konvention wieder zeigt, auf welch’ schwankender Basis dergleichen immer noch beruht.

Das Deutsche Reich nimmt auf diese Weise in der auswärtigen Handels- und Zollpolitik doch im letzten Vierteljahrhundert und in der Gegenwart noch ebenso wie vor 1888 eine mittlere Stellung ein zwischen dem an Freihandel neben einigen sehr hohen Finanzzöllen festhaltenden Großbritannien, und Hochschutzzolländern, besonders auf industriellem Gebiete, wie den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Rußland. Indem es an höheren Agrarzöllen festhält, hat es aber auch seine Landwirtschaft und ländlichen Grundbesitz nicht wie in England dem Industrie- und Handelssystem geopfert.

Einzelne wirtschafts- und sozialpolitische Probleme.

Allerdings sind durch unsere Handels- und Zollpolitik und durch das Festhalten an den Hauptpunkten der Gewerbefreiheit (wenn auch mit einigen Ausnahmen), der Aktien-Gesellschafts- und Börsenfreiheit, einige andere ernste Erscheinungen [459] des Wirtschafts- und Soziallebens eingetreten, und dies trotz des Ausbaus der Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung und der Zulassung der Gewerkvereinsorganisation der Arbeiter, die teilweise mit als hemmende Momente gegenüber jenen Freiheiten einwirken.

Privatkapitalistische Fragen.

Solche Erscheinungen sind namentlich die Entwickelung des Kartellwesens und der industriellen und merkantilen Syndikate, der Spekulation zur Ausbeutung von Konjunkturen, des spekulativen Bank- und Börsenwesens, des Börsenspiels in allen Kreisen der Bevölkerung. Der hochprivatkapitalistische Charakter der deutschen Volkswirtschaft, die Entstehung von großen, ja riesigen Einzel-Einkommen und Vermögen, die gedrückte Lage des Mittelstands trotz der gleichzeitigen unzweifelhaften Hebung des namentlich industriellen und montanistischen Arbeiterstands, die größeren wirtschaftlichen und sozialen und teilweise auch politischen Gegensätze und Unterschiede von Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse, von beweglichem Kapital und Grundbesitz, von Stadt, besonders Großstadt und Land, sind aus diesen Verhältnissen mit hervorgegangen. Plutokratie gerade der Oberklasse, maßloser Luxus und Genußsucht, hier wie von da aus schon durch Beispiel nachwirkend in den anderen Klassen, wirtschaftliche Übermacht und beherrschende Gewalt, auch Übermut in vielen Kreisen und vollends an den Spitzen der modernen Geld-, Bank-, Börsen-, Handels-, Industriekreise, sind ohne hinlänglich retardierende Gewichte fast stärker als sonst in ganz Europa, selbst als in England, Frankreich, Belgien zu einer hypertrophischen Entfaltung gekommen, ähnlich, wenn auch noch schwächer, wie in Nordamerika. An wirksamen Versuchen, solche retardierende Gewichte anzubringen, ist aber teils noch nicht viel gelungen, teils sind solche von vornherein unterblieben. So ist namentlich die Kartellbildung mit ihren Folgen der Entstehung faktischer Monopole des Einzel- und des assoziierten Großkapitals, mit ihrer privaten Besteuerung der Konsumenten in hohen Preisen, mit ihrem Druck auf die Arbeiterklasse in deren Löhnen und Arbeitszeiten, mit ihrer Bedrückung des gewerblichen Mittelstands, mit ihren für Besitzer, auch Aktionäre oder Beteiligte an anderen Erwerbsgesellschaften abfallenden überhohen Gewinnen uneingeschränkt geblieben. Gleiches gilt von der Börse, die mit ihrem vielfachen bloßen Spielgeschäft trotz der Börsengesetzgebung sich zu sehr selbst überlassen blieb. Dieser Ausspruch bleibt bestehen, auch wenn man anerkennt, daß durch manche Einzelgesetze, so zur Modifikation und Beschränkung der Gewerbefreiheit, die innere Handels- und Gewerbeverfassung und die wirtschaftsfreiheitliche Produktion und der Verkehr immerhin eine Beeinflussung erfahren haben. So besonders durch die neue Handwerksordnung, durch die Rückkehr zu einem umfassenderen, leistungsfähigeren und wirksameren Innungswesen, sogar wieder bis zu Zwangsinnungen, durch Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, durch Gesetze wie über Fleischbeschau u. a. m. Auch der große Ausbau des Genossenschaftswesens, besonders im Kredit- und Bankwesen, zum Teil auf der Grundlage eines neuen Rechtes, der beschränkten Haftbarkeit neben der unbeschränkten. Er ist an sich auch eine der erfreulichsten Erscheinungen unseres Wirtschafts- und Soziallebens und zugleich eine besonders mitwirkende Hemmung der Entfaltung des bloßen Bank- und Börsenwesens und des Privatkapitalismus, des Einzelkapitals und des [460] in großen, mittleren und kleineren Erwerbsgesellschaften in der Form von Aktien, Kommanditaktien und neuen Erwerbs-Gesellschaften m. b. H. konzentrierten und arbeitenden Privatkapitals. Durch Einrichtungen wie die preußische Zentralgenossenschaftskasse als Staatsinstitut ist die Stärkung des Genossenschaftswesens durch eine passende Form der Staatshilfe herbeigeführt worden. Aber, begünstigt noch durch die eigene Technik gewisser modernen allgemeineren Großbetriebstendenzen, ist doch bei der Schrankenlosigkeit hinsichtlich der Größe, Anlageart und geschäftlichen Verwendung des Privatkapitals in einzelnen Unternehmungen, wie Banken, Versicherungsanstalten, Bergwerken, Fabriken, Handelsunternehmungen selbst für das Detailgeschäft (Warenhäuser!) das Großkapital, das des einzelnen Privaten und das der Kapitalassoziation, auf dem Boden unseres Privat-, Handels-, gewerblichen und merkantilen Verwaltungsrechts in der Übermacht und Vorherrschaft geblieben und zu weiterer und stärkerer Entwickelung gekommen. Durch die Festhaltung und den Ausbau des staatlichen Forstwesens und Bergbaus, vor allem des öffentlichen Verkehrswesens, des Post-, Telegraphen-, Telephon- und namentlich auch Eisenbahnwesens, ist den faktischen Monopolen der Privatwirtschaft und der Erwerbsgesellschaften zwar gerade in Deutschland und zumal in Preußen ein mächtiger Hinderungsriegel, mindestens ein starker Hemmschuh und Zügel verblieben. Zugleich haben diese Einrichtungen, vor allem das gewaltige Staatseisenbahnwesen, die sogenannten Verstaatlichungen von Wirtschaftsanlagen und -betrieben der Gemeinden in manchen Fällen in kleinerem Maße, das Gebiet der, rein privatwirtschaftlich-spekulativen Organisation der Aktien- und sonstigen Erwerbsgesellschaften zugunsten der gemeinwirtschaftlichen Organisation des öffentlichen Kapitals und öffentlichen Betriebes stark eingeengt. Die Taxe ist so an Stelle des Vertrags- und Konkurrenzpreises, der öffentliche Säckel an Stelle des bloß privaten als Bezugsberechtigter von Reinerträgen getreten. Der schon früher namentlich durch das Staatseisenbahnprinzip bestehende Unterschied der deutschen Verhältnisse gegenüber denen eines großen Teils des Auslands, besonders unserer Hauptkonkurrenten Großbritannien, Frankreich, Vereinigte Staaten, ist so zum Wohle der deutschen Volks- und Staatswirtschaft und Finanzen gerade im letzten Vierteljahrhundert noch bedeutender geworden. Trotzdem hat sich in dieser Zeit der allgemein privatkapitalistische Charakter der modernen Volkswirtschaft auch in Deutschland stark gesteigert und neben bekannten und anzuerkennenden günstigen doch manche sozial, finanziell, politisch, auch ethisch bedenkliche Folgen hervortreten lassen.

Arbeiterpolitik.

Speziell auf dem Gebiete der industriellen und montanistischen Arbeiterverhältnisse und in der allgemeinen Politik trat seit den letzten Jahren der vorausgehenden Periode der bedeutsamste Unterschied wohl darin ein, daß das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie fallen gelassen wurde, − ob mit Recht oder Unrecht, darüber waren und sind die Meinungen der Politiker vielfach geteilt, aber daß ein derartiges Ausnahmegesetz, mindestens in dieser Form und mit seinen Spezialbestimmungen, kein dauernder Bestandteil der deutschen Rechtsordnung bleiben konnte, wird doch auch von andersdenkenden Politikern nicht leicht völlig bestritten werden können. Auch die neben der Arbeiterversicherung zurückgebliebene [461] Entwickelung des Arbeiterschutzrechtes und der Verwaltungseinrichtungen zu seiner Durchführung und die schließlich erreichte umfassende Fortbildung dieses Rechts und dieser Einrichtungen ist ein Streitpunkt der Parteien geblieben. Aber in der so erfolgten Ergänzung der Arbeiterversicherung und des schon von vornherein in Kraft stehenden und in Kraft gebliebenen Organisationsrechts der industriellen Arbeiter liegt doch wohl ein richtiger Fortschritt über die Verhältnisse in der ersten Reichsperiode hinaus. Gerade der modernen Entwickelung der Industrie, der Unternehmungsformen, der Stellung des Unternehmertums, zumal im Großbetrieb, der allgemeinen Anerkennung und Ausübung der Grundsätze der Gewerbefreiheit und des freien Vertragsrechtes entsprach es nur, der Lohnarbeiterklasse das Koalitions- und Gewerkvereinsrecht zu gewähren, um ihre Interessen genügend mit geltend machen zu können. Das brauchte übrigens keineswegs das Fehlen jeden gesetzlichen Schutzes der Arbeitswilligen in sich zu schließen. Und wenn durch ein solches Organisationsrecht und durch den entwickelten Arbeiterschutz und die Arbeiterversicherung auch gewiß Unternehmertum und Kapitalistenwelt mannigfach in der Verteilung der volkswirtschaftlichen Reinerträge, die in ihren Unternehmungen unter ihrer Führung erzielt werden, eine ihnen ungünstige Beeinflussung erfahren, namentlich durch die Zwangsbeiträge der Arbeitgeber, und wenn so die Arbeiterwelt begünstigt wird, so sind das einmal Folgen, welche der Gesetzgeber bei vollem Verständnis dessen, was er tat, gewollt hat und wollen mußte. Es sind aber auch Folgen, welche im Zeitalter hochentwickelter Technik und Ökonomik und großartiger Umgestaltung und Entfaltung der privatwirtschaftlichen Organisation der Unternehmungen im wesentlichen dem Gemeininteresse moderner Kulturvölker entsprochen haben. Erst so konnte das naturwissenschaftliche und Maschinenzeitalter der Produktion und des Verkehrs seine reichen und guten Früchte der gesamten unteren Bevölkerung zum Mitgenuß bringen. Es ist eine kleinliche egoistische Auffassung, darüber zu klagen, daß diese Früchte so nicht in noch größerem Maße dem Besitz, den Herren der Unternehmung, dem „Kapital“ verbleiben. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß aus Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung auch einzelne üble psychische Einwirkungen auf die Arbeiterkreise selbst hervorgegangen sind, die gewiß bekämpft werden sollen und auch können. Aber deshalb kann die große bezügliche Gesetzgebung in ihren weit überwiegenden guten Wirkungen − auch psychologisch guten Wirkungen − trotz aller sozialdemokratischen Verhetzung, Entstellung und Herabsetzung des Erreichten nicht verkannt werden. Daß so im letzten Menschenalter an der positiven Sozialpolitik zugunsten der Arbeiter unentwegt festgehalten und weitergebaut wurde, ist eine der größten politischen Leistungen und einer der höchsten Ruhmestitel dieser Periode. Und daß in allen kompetenten und maßgebenden Kreisen, außerhalb eines Teils der Großindustrie, die Notwendigkeit, hieran auch jetzt festzuhalten und weiterzubauen eingesehen wird, ist gewiß erfreulich.

Allerdings, es ist ein Maß in den Dingen, das ist ebenso einzusehen und ein Maßhalten in der sozialpolitischen Gesetzgebung ist geboten. Die internationalen Konkurrenzverhältnisse können und dürfen im Industrie- und Exportstaat der Gegenwart auch nicht unbeachtet bleiben. Das Ziel einer internationalen Regelung mancher Punkte im Gebiet des Arbeiterschutzes, das von Wilhelm II. gleich im Beginn seiner Regierung mit aufgestellt [462] wurde, ist nicht aus den Augen zu verlieren, wenn auch gerade die damaligen Erfahrungen und alle späteren die großen Schwierigkeiten, dem Ziel sich zu nähern, gezeigt haben und es erklären, daß so manche Blütenträume nicht reiften. Aber auch die spontane autonome Entwickelung einer Gesetzgebung kann sich hier in der Arbeiterversicherung, wie sich ja auch gezeigt hat, unter dem Impuls aufgeklärter öffentlicher Meinung und unter der Initiative tüchtiger Praktiker und Theoretiker in der gewünschten Richtung entwickeln.

Kredit- und Bankwesen.

Von anderen Seiten der volkswirtschaftlichen Entwickelung sei hier nur noch Weniges erwähnt. Auf einem der wichtigsten und immer noch wichtiger gewordenen Gebiete, dem Kreditwesen und der Kreditorganisation, ist das Notenbankwesen schon in der ersten Reichszeit unter Berücksichtigung der historisch gewordenen Verhältnisse in die Richtung der größeren, wenn auch nicht vollständigen Zentralisation hinübergeführt worden, namentlich durch die Bildung der Reichsbank aus der Preußischen Bank heraus und durch Regelung der gesamten Notenbanken und des Notenumlaufs. Durch die Reichsbank, die sich als Notenbank und zugleich als Depositenbank und Bank für den Giroverkehr, als Hauptglied für Wechseldiskontierung und Lombardierung mit ihrem großen Filialnetz eine Stellung erhalten und weiter ausgebaut hat, durch welche sie unter den ersten bezüglichen Instituten der Welt eine erste und günstigste Stellung einnimmt, ist die volle Herrschaft über Geld- und Kreditmarkt ebenfalls dem bloßen Privatkapital mit seinen Einrichtungen (Börse, Banken usw.) vorenthalten geblieben. Aber die Vormacht des stark konzentrierten und unter sich wieder vielfach kartellierten und zu gemeinsamen Geschäftsaufgaben verbundenen Privatkapitals ist dadurch doch nur etwas, jedoch nicht mehr ausreichend beschränkt geblieben. Durch sehr bedeutende Ausdehnung ihres durch eigene Depositenkassen als Filialen neuerdings entwickelten Depositengeschäfts und Scheckwesens und durch Hinzunahme der Emissionstätigkeit auf dem Gebiet öffentlicher Anleihen und der Erwerbsgesellschafts-, namentlich Aktien-Gesellschaftsgründung, zu den alten normalen Hauptaktivgeschäften des modernen Bankwesens, durch Verbindungen unter sich zu großen, gemeinsam operierenden Geschäftsgruppen, durch Kreditgewährung in mancherlei Form, wie sie die Bedürfnisse von Handel, Industrie und Bergbau mit sich bringen, hat eine Anzahl dieser Banken sich zu großen spekulativen Geschäftsunternehmungen, sogenannten Effektenbanken, entwickelt. Sie erscheint damit als zwar wesentlich geläutertes, aber doch als fortgebildetes Banksystem nach dem Typus des Pereireschen Crédit mobilier aus der Zeit des zweiten französischen Kaiserreichs. Die größte und wichtigste Gruppe davon, die sogenannten Berliner Großbanken, stellen einen eigentümlichen Typus dieses modernsten Bankwesens dar und haben für einen großen Teil der deutschen Volkswirtschaft und für deren Eingliederung in die Weltwirtschaft durch ihre Kreditvermittelung die schon in der vorausgehenden Periode begründete machtvolle, zum Teil beherrschende Stellung aus dem Geld- und Kreditmarkt immer völliger errungen. Von gesetzgeberischer Intervention sind sie aber bisher wenig berührt worden, obgleich ihre Beanspruchung der Kreditgewährung der Reichsbank, ihre großen Forderungen um Unterstützung bei den Ultimoterminen des Börsenverkehrs, ihre große Summe von stets rückzahlbaren [463] Depositen ohne immer entsprechend große liquide Deckungen, ihre Konkurrenz im Depositengeschäft mit Genossenschaften und teilweise selbst mit Sparkassen und ihre ganze Stellung in Geldmarkt und Volkswirtschaft wohl Gedanken an gesetzliche Regulierung, wenigstens einiger Punkte ihres Geschäftsbetriebes, mehrfach näher gelegt haben. Aber abgesehen von der Erlangung von mehr Publizität in ihren Bilanzen ist noch nichts Bezügliches erreicht. Hier und auch im Genossenschafts- und vor allem im Sparkassenwesen werden wohl über kurz oder lang besonders für die Frage der Deckungen der großen, namentlich der stets und kurz fälligen Verbindlichkeiten, Aufgaben an die Gesetzgebung herantreten. Auch für den Börsenverkehr, die gesamte Emissionstätigkeit auf dem Gebiet des Aktienwesens und der öffentlichen und Gesellschaftsobligationen, damit dann auch für einzelne Punkte des Notenbankwesens und speziell der Verfassung der Reichsbank möchten sich solche Aufgaben zeigen. Da hat die letzte Geschichtsperiode seit 1888 mit der Gesetzgebung über das Hypothekenbankwesen und die Pfandbriefemission einen erfreulichen, notwendigen Fortschritt auch wieder von der Partikular- zur Reichsgesetzgebung gemacht. Aber auch die anderen Zweige des Bankwesens neben den Noten- und Hypothekenbanken bieten noch Probleme gesetzlicher Regelung einiger Punkte wohl sicher für die Zukunft. Auf dem verwandten Gebiete des Versicherungswesens ist eine reichsgesetzliche Regelung ebenfalls in wünschenswerter Weise gelungen. Das Kartellproblem steht jedoch noch ungelöst da. Einstweilen hört man nur selbst aus den regierenden Kreisen das einst verpönte Wort einzelner Theoretiker: wenn überhaupt „Monopole“, dann lieber Staats- als Privat- und Aktien-Gesellschafts-Monopole.

Steuerpolitik.

Das ist dann zugleich wieder eine Frage, die neben der Volkswirtschaft und Sozialpolitik auch die Finanzpolitik des Reichs und Preußens berührt. Über die Finanz- und besonders die Steuer- und Staatsschuldenpolitik des Reichs und Preußens seit 1888 sollen hier jetzt zur Ergänzung des schon im Vorausgehenden Berührten nur noch wenige Bemerkungen hinzugefügt werden.

Im Deutschen Reiche wurde mit Recht an der besonders seit 1879 durchgeführten Politik, den Schwerpunkt der Reichseinnahmen in die Einfuhrzölle, die inneren Verbrauchssteuern und Verkehrssteuern zu legen, festgehalten. Durch die steigende Ergiebigkeit der Agrarzölle und einiger der inneren Steuern ist das Finanzwesen des Reiches in erfolgreicher Weise gestärkt und seit wesentlicher Beseitigung des Überweisungssystems das Reich auch in dieser Hinsicht selbständiger geworden. Aber ausreichend ist das noch nicht erreicht. Die betreffs der Branntweinsteuer endlich wenigstens gelungene Unifikation für ganz Deutschland durch Ausdehnung der Gesetzgebung auf Süddeutschland ist bei der Biersteuer nicht erfolgt. Wenigstens aber hat die neueste Erhöhung der Biersteuer die anormale Niedrigkeit der Reichsbiersteuereinnahmen im Reichssteuergebiete beseitigt und Nord- und Süddeutschland in dieser Hinsicht mehr gleichgestellt. Durch Erhöhung der Branntwein- und Biersteuern ist der Ertrag im Reiche auch aus dem Mißverhältnis zum Ertrag in anderen vergleichbaren Staaten Europas mehr herausgetreten. Aber das dritte alkoholische Getränk, der Wein, ist trotz wiederholter Versuche, abgesehen vom Schaumwein, der Belegung mit einer inneren Reichssteuer nicht unterzogen worden. [464] Die Zölle von fremdem Wein, von Champagner, bilden keine genügende Ausgleichung. So ist das ganze Hauptgebiet der Getränkebesteuerung durch Zoll und innere Steuer auch immer noch nicht entfernt in dem Maße im Deutschen Reich ausgebildet, als es prinzipiell unter den sogenannten indirekten Steuern und neben der hohen Tabakbesteuerung am meisten berechtigt erscheint und als es den Verhältnissen anderer wichtiger Länder, namentlich anderer europäischer Großstaaten, entspricht. Von der Tabakbesteuerung gilt etwas Ähnliches. Sie ist zwar durch Erhöhung der Zölle, besonders in der Reform von 1909, durch Hinzufügung der Zigarettensteuer und eines Wertzolls zum Gewichtszoll, etwas ergiebiger geworden, aber steht auch so noch immer in gar keinem Verhältnis zu den Einnahmen anderer Staaten aus der Tabakbesteuerung in Monopol- oder anderer Form. Neben Salz-, Zuckersteuern, Kaffee-, Petroleumzöllen, neben Zündholzsteuern, stellt ein solcher Zustand der Einnahmen aus Zöllen und indirekten Verbrauchssteuern ein starkes Mißverhältnis dar. Namentlich ist durch das Zurückbleiben der Getränke- und Tabakbesteuerung im Deutschen Reich hinter dem, was bei entsprechender, berechtigter und möglicher Entwickelung dieser Besteuerung zur Stärkung der Reichsfinanzen hätte erreicht werden können, die ganze Finanzlage des Reichs dauernd geschwächt geblieben. Selbst die erfolgte, aber noch nicht ausreichende Erhöhung dieser Besteuerung in den letzten Jahren genügt noch nicht und das langjährige Unterbleiben einer solchen Erhöhung hat es unvermeidlich gemacht, den Staatskredit für die so stark wachsenden Reichsausgaben in so übergroßem Maße in Anspruch zu nehmen. Einzelne erfolgte andere Zollerhöhungen, besonders die ohnehin etwas fragwürdige des Kaffeezolls, die berechtigte, aber auch noch nicht ausreichende Ausdehnung und Erhöhung der Verkehrsbesteuerung (Reichsstempel usw.), die Einführung geringfügiger, sonstiger Reichssteuern wie der Erbschaftssteuer im bisherigen Umfang, haben zur Ausgleichung dieser Lücke im Reichsfinanz- und Steuersystem entfernt nicht ausgereicht und nicht ausreichen können. Die Einführung anderer ergiebiger direkter Reichssteuern, unter denen nach Lage der Dinge am ersten eine ergiebige Erbschaftssteuer nach Analogie der meisten vergleichbaren Staaten hätte in Betracht kommen können, unter ebenso notwendiger, wie zulässiger und berechtigter Ausdehnung auf die direkte Deszendenz (Kinder und Frauen), ist unterblieben. Auch der Reichswehrbeitrag 1913 als einer außerordentlichen einmaligen Vermögenssteuer bietet eben keine dauernde finanzielle Hilfsquelle des Reichs und die Zuwachs-Vermögenssteuer ist unzulänglich. So ist aber die im ganzen ja immerhin gelungene starke Erhöhung der Reichseinnahmen aus Zöllen, inneren Verbrauchssteuern und teilweise auch aus den Verkehrssteuern eben doch einmal der Ergiebigkeit nach nicht ausreichend geblieben, andrerseits aber ist sie, vollends wenn man an die Wirkung der Agrarzölle denkt, im Reiche zu einer zu einseitig auf den großen unteren Volksmassen und teilweise der unteren Mittelklasse ruhenden Belastung geworden. Das ist unter allen Umständen politisch unerwünscht, weil es einer, wenn auch oft sehr übertriebenen prinzipiellen und praktischen Opposition und einer gehässigen und verhetzenden Agitation gegen diese ganze Besteuerung die Wege gewiesen und geöffnet hat. Es ist aber auch, vom Standpunkt gerechter Steuerverteilung aus, nach dem richtigen leitenden Hauptprinzip, diese der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen anzupassen, [465] bedenklich. Eben deswegen war der Steuerreformplan der letzten Bülowschen Ära der richtigere, weil er eine Ergänzung der unbedingt gebotenen weiteren Erhöhung und Vermehrung der indirekten durch direkte oder wenigstens als solche wirkende Reichssteuern bezielte. Er hatte dadurch den Vorzug vor der wirklich 1909 erfolgten Steuerreform. Das wird man zugestehen müssen und können, auch wenn man einräumt, daß die schließlich erfolgte Steuerreform, weil sie einmal die zur Deckung der Reichsdefizite unter den gegebenen Umständen allein erreichbare Form war, angenommen werden mußte. Damit werden die inneren Mängel dieser Reform nicht geleugnet. Die Reform von 1913 war ein notwendiger Fortschritt, aber ist technisch zu mangelhaft ausgefallen. Es wird freilich auch anerkannt werden müssen, daß durch die einmal gegebene Verwickeltheit der staatsrechtlichen Verhältnisse, wie sie der Bundesstaatscharakter des Deutschen Reiches gegenüber der Einzelstaatsbildung mit sich bringt, die bekannten Schwierigkeiten von Steuerreformen fast unvermeidlich hervorgerufen werden.

Durch die Verbindung von Reichsbesteuerung und Einzelstaatsbesteuerung und damit durch die wesentlich in den Einzelstaaten bestehende direkte Besteuerung wird allerdings eine gewisse Kompensation der angedeuteten mißlichen Wirkungen der indirekten Reichsbesteuerung erreicht. Aber eben bei der doch vielfach verbliebenen Verschiedenheit der direkten Staatsbesteuerung und auch der Kommunalbesteuerung in den Einzelstaaten ist diese Kompensation doch immer nur eine ungenügende und namentlich auch eine ungleichmäßige. Immerhin ist in Preußen und einigen anderen Staaten die neueste Entwickelung der Steuerverfassung eine bessere als in einigen anderen Staaten, namentlich als bisher in Bayern. Jedenfalls kann aber nur eine angemessene, dann notwendig gleichmäßigere Ausbildung der direkten Einzelstaatsbesteuerung zu Personal-, insbesondere zu Einkommen-, Vermögen-, Erbschaftsbesteuerung eine einigermaßen richtige und gerechte Ausgleichung zwischen den Wirkungen der indirekten Reichsbesteuerung und der direkten Staatsbesteuerung herbeiführen.

Deshalb kann ein großer Teil der Bismarckschen Steuerpolitik in Preußen nur als ein Fehler erkannt werden. Mit der Wandlung, die in dieser Politik vor allem in der Nach-Bismarckschen Zeit in Preußen durch die Miquelsche Steuerreform und teilweise auch durch die Reformen in Preußen in der Nach-Miquelschen Zeit unter dessen Nachfolger im Finanzministerium herbeigeführt wurde, ist daher hier ein richtiger Weg betreten worden. Durch die Einkommensteuerreform ist eine Reihe der schwersten und unerträglichsten Mängel der früheren Klassen- und klassifizierten Einkommensteuer erfolgreich beseitigt. Durch die Hinzufügung einer Vermögenssteuer, wenn auch unter dem euphemistischen, politisch nicht ungeschickten, aber schon im Wortlaut einer tendenziösen Auslegung fähigen Namen: „Ergänzungssteuer“, ist der tiefe Mangel der früheren preußischen Personalbesteuerung beseitigt. Dem beweglichen Kapitalbesitz ist so seine rechtliche und faktische Steuerfreiheit gegenüber dem Grund- und Hausbesitz und dem Gewerbekapital teilweise entzogen worden, die ungerechte, gesetzwidrige, teilweise wirklich schmachvolle Steuererleichterung (erinnert sei nur an den Bochumer Steuerprozeß) des größeren Privateinkommens ist in erheblichem Maße beseitigt. Erst so wurde die preußische Personalsteuerfassung für die Finanzzwecke und für den Zweck gerechterer Steuerverteilung sowie [466] für das System von Zuschlägen für die Gemeinden einigermaßen brauchbar. Indem gleichzeitig die mehr als ein halbes Jahrhundert alte und ganz veraltete Gewerbesteuer durchgreifend umgestaltet wurde, ist ein weiterer Fortschritt erzielt worden. Als dann diese Steuerreformen es möglich machten, auch dem Problem der Kommunalbesteuerung näher zu treten, wurde durch Überlassung fast des ganzen Ertrags der staatlichen Ertragsbesteuerung an die Gemeinden auch für diese eine zwar noch nicht ausreichende, aber doch bedeutsame Erleichterung und Verbesserung ihrer ganzen Finanz- und Steuerverhältnisse in die richtigen Wege geleitet. Die Ausdehnung der Einkommensteuerpflicht von bloß physischen Personen auf gewisse wichtige quasi juristische Personen des Privatrechts, vor allem auf die Aktien-Gesellschaft, in neuester Zeit auch auf die G. m. b. H., war zwar eine Maßregel, die nicht ganz von prinzipiellen und praktischen Gegenbedenken frei ist, aber doch auch richtige Gründe, namentlich nicht ganz unberechtigter fiskalischer Art und bedeutende fiskalische Erfolge für sich hat. Diese Reformen und ihre teilweise Fortführung über die Miquelschen hinaus haben noch keinen ganz befriedigenden Zustand, am wenigsten auf dem Gebiet der Kommunalbesteuerung, herbeigeführt; und auch in der staatlichen Einkommen- und Vermögensbesteuerung ist das Verfahren, die Gestaltung der Steuersätze, noch mannigfach mangelhaft. Die Progression der Einkommensteuer ist z. B. seit dem Miquelschen Gesetz 1891, besser als bis dahin und etwas weiter hinauf, von 3 auf 4%, hinaufgeführt, was aber noch nicht ausreicht. Dagegen ist die Vermögenssteuer noch ganz ohne Progression, ohne notwendige Unterscheidung der Vermögensarten, im Steuerfuß und in den Veranlagungsgrundsätzen. Indessen kann man auf dem nunmehr gebahnten Wege ja leichter passend weiterschreiten. Der große Fortschritt gegen die Zeit vor 1890 ist unvereinbar.

Es muß eben auch hier der Zusammenhang zwischen volkswirtschaftlicher Entwickelung und Verteilung von Volkseinkommen und Vermögen, Gestaltung der Produktion und der privaten Erwerbsverhältnisse berücksichtigt werden. So der Zusammenhang der Einkommenverteilung mit der ganzen Entwickelung der Technik, Ökonomik, Betriebsgrößen, Höhe der Einzel-Einkommen und Vermögen in der modernen Volkswirtschaft des Industrie und Exportstaates und mit der der gesamten privatkapitalistischen Organisation der Volkswirtschaft, mit der Entwickelung des beweglichen Kapitals, der Kreditformen, des Wertpapierwesens, mit der spekulativen Ausbeutung der Konjunkturen (Grundstückspekulation!), mit dem Einkommen- und Vermögenszuwachs bloß infolge des steigenden Konjunkturenwerts, vor allem gewisser Hauptarten des Grundeigentums (namentlich großstädtischen, aber auch des bergwerklichen, des mit industriellen Unternehmungen verbundenen), mit dem Umstand, daß zahlreiche Privateinkommen und Vermögen die Form des Wertpapierbesitzes und der Renten daraus annehmen, eine Form, in der sie durch indirekte Verbrauchssteuern allein und selbst durch Verkehrssteuern nicht ausreichend getroffen werden. Alle diese Verhältnisse machen die feinere Ausbildung der direkten Personalbesteuerung immer zwingender, weil nur durch diese die höheren Mittelklassen und vollends die reicheren Kreise von der Besteuerung einigermaßen genügend erfaßt werden können. Das führt auch zur allgemeineren Rechtfertigung der Forderung direkter Personalbesteuerung in der Form von Einkommen-, Vermögens- und Erbschaftssteuern mit stärker progressiven Steuersätzen und mit höheren Steuersätzen für das [467] fundierte Einkommen oder zur Forderung der Verbindung stärkerer Vermögens- und Erbschaftssteuern mit der Einkommenbesteuerung. Dies gilt vor allem für die wohlhabenderen Klassen, vollends für die oberen 10 000, deren Quote von der Bevölkerung aber im Industriestaatssystem selbst wächst, um die Besteuerung der Leistungsfähigkeit mehr anzupassen. Es führt auch zu Forderungen, welche über diejenigen noch hinausgehen, die nur eine Ausgleichung der mehr oder weniger umgekehrt progressiv treffenden Wirkungen der schweren indirekten Verbrauchssteuern aufzustellen sind, gerade auch aus sozialpolitischen Gesichtspunkten. Das wurde früher selbst unter den Theoretikern nicht genügend beachtet, ja vielfach kaum erfaßt, sogar bestritten. Die staatsmännische Praxis hatte noch weniger Empfindung und Verständnis dafür. Das war ein Hauptmangel der Bismarckschen Steuerpolitik, ist in weiten Kreisen noch jetzt der Fehler der Auffassung, doch hat, wie die vorausgehende Theorie, so auch die Praxis der Gesetzgebung bei uns seit der Miquelschen Reform, wenn auch immer noch vielfach zagend und ängstlich, im letzten Menschenalter die richtigere Einsicht zu gewinnen begonnen, so in den Bülow-Sydowschen Reformvorschlägen von 1908/09 und in der jüngsten Reichssteuerreform von 1913.

So endet dieser letzte 25jährige Zeitraum gerade auf finanziellem Gebiete schon mit einem wesentlichen Fortschritt, wozu auch die Neugestaltung und Verstärkung der Staatsschuldentilgung gehört. Das läßt uns hier einen günstigen Ausblick auf die Zukunft gewinnen. Da wird man in der Finanz- und namentlich Steuerpolitik klarer, bewußter und mutiger ein Hauptgebiet zugleich der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der gesamten Staatspolitik erkennen und wird die Besteuerung einen ausgeprägteren sozialen Charakter annehmen. Dies nicht mit dem unrichtigen unerreichbaren Ziel, im Rahmen der privatwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft die indirekten Verbrauchssteuern ganz zu beseitigen, aber wohl, sie mannigfach umzugestalten, vor allem ihren Schwerpunkt in die Getränke- und Tabakbesteuerung zu legen, wie nach britischem Muster, aber sie durch richtige, direkte Steuern, oder, wie die Erbschaftssteuer, als solche wirkende, und die höheren und vollends reichen und die am meisten von der modernen technisch-wirtschaftlichen Entwickelung profitierenden Klassen und einzelne Kapitalisten- und Unternehmerkreise treffende Steuern zu ergänzen. Auf dem Gebiete der Kommunalbesteuerung liegen in dieser Richtung noch mehr Aufgaben vor als auf dem der Staatsbesteuerung. Doch auch hier sind mit der Besteuerung nach dem gemeinen Wert und der Wertzuwachssteuer die Bahnen sozialer Steuerreform bereits beschritten, auf denen nur folgerichtig und mutig und ohne stete, übermäßige Rücksicht auf die Privatinteressen des Grundeigentums, besonders des städtischen, weitergeschritten werden muß.