Wahnsinn und Verbrechen

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Autor: Friedrich Helbig
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Titel: Wahnsinn und Verbrechen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, 25, S. 390–392, 406–407
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wahnsinn und Verbrechen.

Von Fr. Helbig.
Das Räthsel der Schöpfung. – Die alte Strafpraxis. – Das Humanitätsprincip. – Verbrechen ohne Motiv. – Die Mordsucht. – Der Stehltrieb (Kleptomanie). – Der Brandstiftungstrieb (Pyromanie). – Der Mord aus Vaterliebe. – Die Schlaftrunkenheit und das Nachtwandeln. – Das Heimweh. – Der religiöse Wahnsinn. – Der Aberglaube.

Der Mensch ist das größte Räthsel der Schöpfung. Gleichwie sein Eintritt ins Dasein, so bieten die Ausflüsse und Aeußerungen seiner Lebensthätigkeit dem Forscher zahlreiche ungelöste Probleme dar. Mißachtet er doch vielfach selbst die Naturgesetze, durch welche er lebt und erhalten wird, und macht das Dichterwort, daß er die ihm verliehene Vernunft gebrauche, um thierischer als jedes Thier zu sein, oft nur zu wahr. Das Verbrechen ist dem Menschen angeboren; es ist darum so alt wie die Menschheit selbst. Aber dem Verbrechen ist auch früh schon die Strafe gefolgt. Sie war ebenso sehr eine äußere Nothwehr der bedrohten Gesellschaft wie eine Forderung des inneren Gerechtigkeitsgefühls.

Mit der staatlichen Ordnung entstanden auch die Strafgesetze. Sie trugen ursprünglich einen ganz äußerlichen Charakter, indem sie sich streng an den Grundsatz hielten: Aug’ um Auge, Zahn um Zahn. Der Richter von ehedem sah dem Thäter nicht ins Herz hinein; er fragte nicht nach den bewegenden Kräften seines Handelns. Er bestrafte nicht den Thäter, sondern die That. War ein Mensch von einem andern getödtet worden, so war es dabei gleichgültig, ob der Tod blos das Produkt eines unglücklichen Zufalls, verminderter Sorgfalt, momentanen Affekts oder kalter Ueberlegung war. Am wenigsten aber frug man darnach, ob der Verbrecher, als er die That beging, sich in einem solchen Zustande geistiger Unfreiheit befand, daß ihm die That überhaupt nicht zugerechnet werden konnte. Wo der Wahnsinn selbst ganz unverkennbar hervortrat, da ward er für den Richter nicht ein Grund, den Verbrecher frei zu sprechen, sondern nur noch ein weit größerer, ihn zu verurtheilen.

Nach mittelalterlicher Anschauung war ein solcher Wahnsinniger vom Teufel besessen, und da in dessen Person sich das eigentlich Böse verkörperte, so erschien ein solcher „Besessener“ noch weit strafwürdiger, und nur allzuoft wurden Irrsinnige als Gotteslästerer oder Zauberer dem Scheiterhaufen überwiesen.

So enthält die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl’s V., die bis in die neueste Zeit hinein noch in einzelnen deutschen Territorien Geltung hatte, keine Bestimmung darüber, in wie weit Wahnsinn die Strafbarkeit ausschließt. Sie beschränkt sich blos darauf, dem Richter anheimzustellen, „bei solchen Entleibungen, die ungefährlich aus Geilheit, das heißt Muthwillen, oder Unvorsichtigkeit, doch wider des Thäters Willen geschehen, mehr Barmherzigkeit zu üben, als wie bei dem, was arglistig und mit Willen geschieht“.

Es mußte erst die große geistige Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, erst der Sieg des Humanitätsprincips dazu kommen, um auch auf diesem Gebiete die nothwendige Reformation herbeizuführen und zu bewirken, daß das Zuchthaus erhielt, was dem Zuchthause, und das Irrenhaus, was dem Irrenhause gebührte. So enthielten schon alle neueren Strafgesetzbücher entsprechende Bestimmungen, aber dieselben trugen noch den verschiedenartigsten Charakter. Bald überließen sie es ganz dem Richter, ob er in dem einzelnen Falle Zurechnungsfähigkeit annehmen wollte, bald zählten sie einzelne Formen des Wahnsinns auf oder beschränkten sich blos auf die Angaben einzelner Kennzeichen vorhandener Seelenstörung. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch faßte die ganze Materie in folgende Bestimmung: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der That sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

So einfach und klar diese von echter Humanität durchdrungene Bestimmung erscheint, so schwierig gestaltet sich ihre Anwendung in der Praxis bei der Beurtheilung des einzelnen Falles. Die List und Ueberlegung, mit welcher die Irren nicht selten ihre Verbrechen planen und ausführen, trüben das Urtheil des Laien, der es ungerecht findet, daß der Geisteskranke, der noch die Folgen seiner That zu übersehen vermag, straflos bleiben solle. [391] Leute, die niemals Gelegenheit hatten, Irrsinnige zu beobachten, und auch unfähig sind, über die geheimnißvollen und räthselhaften Erscheinungen des Wahnsinns zu urtheilen, fürchten, daß der Schutz, den das Gesetz dem Kranken bietet, mißbraucht werde, und tragen viel dazu bei, daß noch heute die öffentliche Meinung dort Vergeltung fordert, wo von einer Schuld nicht die Rede sein kann.

Der Arzt urtheilt allerdings anders. Er kennt die Formen des Wahnsinns, in denen weder fremder Zuspruch noch eigener Wille die wahnwitzigen Ideen zu beeinflussen vermag, und er giebt dem Dichter Recht, der Hamlet so einfach und doch beredt sich vertheidigen läßt:

„War’s Hamlet, der Laërtes kränkte? Nein,
Wenn Hamlet seinem eignen Selbst entrückt ist
Und, wenn er nicht er selbst, Laërtes kränkt,
Dann thut es Hamlet nicht, Hamlet verneint es.
Wer thut es denn? Sein Wahnsinn. Steht es so,
Dann ist ja Hamlet selber mitgekränkt,
Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind.“

Die Geschichte der Rechtspflege berichtet übrigens von einer großen Zahl von Verbrechen, bei denen selbst der Laie an der Zurechnungsfähigkeit der Thäter zweifelt, weil man bei ihnen vergebens nach einem inneren, egoistischen Beweggrunde sucht oder weil dieser Beweggrund selbst ein so geringfügiger ist, daß er gar nicht im Verhältnisse steht zu der Größe der That und der vernichtenden Macht ihrer den Thäter treffenden Folgen. Wir erinnern uns da an jene großen und kleinen Tyrannen der Menschheit, welche um nichts ganze Hekatomben von Menschenleben vernichteten; erinnern uns an die furchtbaren Giftmischerinnen, die Zwanziger, Jäger und Gesche Gottfried und neuerer Zeit Marie Janneret, welche ihre Männer, Kinder, Verwandte und Freunde mordeten aus keinem andern Grunde, als aus Wohlgefallen am Morden, weil es ihnen Vergnügen bereitete, Leiden und Tod anzuschauen. Da erzählt die neuere Casuistik von jenem Freiherrn, der, einem plötzlichen Impulse folgend, einen Menschen wie einen Sperling vom Dache herunterschießt; von dem Augsburger Karl Bertle, der nach einander fünfzehn Mädchen nächtlich auf der Straße mit Dolchen verwundet, ohne einen andern Grund dafür angeben zu können, als seinen unwiderstehlichen Trieb, Jemand zu verletzen. Eine arme Tagelöhnersfrau empfand mit einem Male einen solchen Haß gegen ihr Kind – „es wurde,“ sagte sie beim Verhöre, „mir so gram“ – daß sie sich erst völlig anzog, dann das Rasirmesser des Mannes vom Kamin holte, das Kind auf den Schoß nahm und ihm den Hals abschnitt.

Man hat dabei von einem krankhaften unwiderstehlichen Triebe zum Morden, einer Mordmanie, gesprochen; die medicinische Wissenschaft versuchte diese räthselhafte Erscheinung zu erklären, und es gelang ihr, wenigstens ein genaues Bild dieser schauervollen Form des Irrsinns zu entrollen, das dem Arzte die Möglichkeit bietet, wirkliche Krankheit von gemeiner mit Verstellung gepaarter Rohheit zu unterscheiden. Wir wollen im Nachstehenden einige solcher Krankengeschichten wiedergeben, die düster und unheimlich erscheinen und aus denen wir lernen, daß jene Unglücklichen, die gewöhnlich verabscheut werden, in der That das tiefste Mitleid verdienen.

Maudsley, der berühmte englische Irrenarzt, citirt in seinem auch ins Deutsche übertragenen Werke: „Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken“ folgenden Fall.

Einmal konsultirte ihn ein Herr von fünfzig Jahren, ein kräftiger ungemein muskulöser Mann, der ein durchaus thätiges Leben geführt und in seinen Geschäften die meisten Welttheile besucht hatte, aber bereits seit ein paar Jahren aus der Geschäftsverwaltung ausgetreten war. Ihn peinigte ein furchtbarer Mordtrieb, der ihn fortwährend heimsuchte und manchmal so mächtig hervortrat, daß er sich veranlaßt fand, getrennt von der Familie zu leben und aus einem Hôtel ins andere zu ziehen, um nicht ein Mörder zu werden. Er war niemals ganz frei, aber der Mordtrieb that sich zu verschiedenen Zeiten mit ungleicher Mächtigkeit hervor. Am besten ist es, erzählte der Kranke, wenn nur die Idee auftritt, womit er sich fortwährend beschäftigen muß, ohne daß es ihn treibt, diese Idee auch wirklich auszuführen, wenn also eher die Mordidee als der Mordtrieb obwaltet. Aber zwischendurch äußert sich der Mordtrieb paroxysmusartig; es drängt sich das Blut nach dem Kopfe, der schwer und verwirrt ist, der Mann fühlt sich ganz und gar verlassen, zittert am ganzen Leibe und wird mit kaltem Schweiße bedeckt; dann stürzen ihm die Thränen hervor und er fühlt sich ganz erschöpft. Nicht selten kommen solche Paroxysmen während der Nacht; er springt dann in furchtbarer Angst aus dem Bette, zittert aufs heftigste am ganzen Körper und trieft von Schweiß. So schilderte der Mann seinen unglücklichen Zustand, von dessen Vorhandensein jeder, der die Geschichte mit anhörte, hätte überzeugt werden müssen; die Thränen stürzten ihm während der Erzählung hervor, und er weinte bitterlich. Der Mann zeichnete sich durch Entschiedenheit im Wollen und durch einen energischen Charakter aus, und von intellektueller Störung war nichts an ihm zu merken, ausgenommen, daß er leicht grundlosen Verdacht schöpfte und Mißtrauen hegte. Wenn er auch sonst sich ganz beherrschen konnte, so vermochte er dies doch nicht in dem einen Punkte; ihn beherrschte ein moralischer Fehler, der recht wohl sein Nervensystem schädigen und seinen jammervollen Zustand einigermaßen erklärlich machen konnte.

Charakteristisch für diese Form des Irrsinns ist auch die nachstehende Krankengeschichte einer zweiundsiebzigjährigen Dame, die in ihrer Familie mehrere Irrsinnige zählte. Sie litt an immer wiederkehrenden Paroxysmen großer Erregtheit, während deren sie jedesmal ihre Tochter zu erwürgen versuchte, die doch nur Güte und Aufmerksamkeit gegen sie an den Tag legte und an der sie selbst voll Liebe hing. Für gewöhnlich saß sie ruhig und gedrückt da, klagte über ihren Zustand und schien so schwach zu sein, daß sie sich kaum rühren konnte. Plötzlich sprang sie aber in Erregtheit empor, aufschreiend, sie müsse es thun, und stürzte auf die Tochter los, um sie zu erwürgen. Während des Paroxysmus entwickelte sie solche Kraft, daß eine einzelne Person sie kaum zu halten vermochte. Aber schon ein paar Minuten, nachdem sie zu ringen angefangen, sank sie erschöpft hin, nach Luft schnappend, und rief: „Her! Her! ich habe es euch gesagt; ihr glaubt nicht, wie böse ich war.“ Von einem Irrwahne war nichts bei ihr wahrzunehmen; die Paroxysmen nahmen sich ganz so aus, wie ein konvulsivisches Ergriffensein der Geistesthätigkeiten. Die Person war deßhalb ganz unglücklich, weil sie zu einer schrecklichen Handlung angetrieben wurde, auf die sie nur voller Abscheu blickte.

Die Qualen, welche die von der Mordmanie Heimgesuchten erdulden müssen, sind in der That so unerträglich, daß oft diese Bedauernswerthen, um dem furchtbaren Konflikt in ihrem Innern ein Ende zu machen, sich das Leben nehmen.

Eine der geschilderten verwandte Erscheinung ist die, daß manche Personen ohne allen Eigennutz stehlen. So erzählt der französische Arzt Giraud von einer gebildeten Frau, die ein reichliches Auskommen hatte, gleichwohl aber in allen Kaufläden stahl, welche sie betrat. Casper erwähnt den Fall einer Erzieherin, welche aus bloßer Lust „am Klange des Metalls“ Geld stahl. Ein junges gebildetes Mädchen aus bester Familie nahm Alles, was ihr Auge reizte. Man fand bei ihr Sacktücher, Fingerhüte, Halstücher, Strümpfe, Handschuhe etc. Unter Thränen der Reue gestand sie ihr Vergehen, versprach, ihren Trieb zu beherrschen, und stahl doch immer wieder. Lavater berichtet von einem Arzte, der nie das Zimmer seiner Kranken verließ, ohne etwas mitzunehmen. Seine Frau untersuchte deßhalb jeden Abend seine Taschen und fand in denselben regelmäßig Scheeren, Löffel, Messer, Etuis, welche sie den Eigenthümern heimlich wieder zuschickte. Nach der Wegnahme der Sachen pflegt sich der Trieb zu legen; die Sachen selbst haben für den Stehlsüchtigen keinen Werth mehr, er wirft sie achtlos bei Seite. Man nahm deßhalb einen krankhaften Stehltrieb an (Kleptomanie).

Eine weitere verwandte Kategorie bildet der Brandstiftungstrieb, die Pyromanie. Man führte diesen Trieb auf die Erfahrungthatsache zurück, daß eine große Anzahl von Brandstiftungen von jungen Leuten verübt wird, die in der Zeit der Pubertäts-Entwickelung stehen. In meiner eigenen Praxis wurde mir ein junger Mensch von vierzehn Jahren vorgeführt, der drei Brände nach einander in seiner Heimath angezündet hatte. „Als ich ein Zündhölzchen sah,“ lautete seine Aussage, „da kam mir der Gedanke: das muß anbrennen. Besondres Wohlgefallen hatte ich an den Bränden nicht, vielmehr habe ich es hinterher allemal bereut, allein wenn die Zeit kam, hat es mich mit Gewalt dazu getrieben, wieder Feuer anzulegen.“ Ein sonst ganz gutartiges Dienstmädchen von siebzehn Jahren erklärte, sie habe immer die Angst und den Trieb bekommen, Feuer anzulegen. An die Folgen ihrer Handlung habe sie nicht [392] gedacht. Als das Haus in Flammen gestanden habe, sei sie zwar betrübt gewesen, aber ihre Angst sei geschwunden. Das Vorhandensein eines solchen Brandstiftungstriebes wurde schon Ausgangs vorigen Jahrhunderts in einem Falle von der medicinischen Fakultät in Leipzig anerkannt und später durch das preußische Ministerium geradezu gesetzlich sanktionirt, indem dasselbe ein Reskript an die Gerichte erließ, daß bei allen Brandstiftungen, wo der Thäter in den Jahren der eintretenden Pubertät sich befinde, namentlich im zwölften bis zwanzigsten Jahre, das Gutachten Sachverständiger vor Abfassung des Erkenntnisses einzuholen sei. Später erhob sich in medicinischen Kreisen Widerspruch gegen die Annahme eines besondern Brandstiftungstriebs. Der Medicinalrath Casper, eine bedeutende Autorität auf dem Gebiete der gerichtlichen Medicin, veranstaltete als Mitglied des Medicinalkollegiums in den fünfziger Jahren die Rücknahme jener Bestimmung. Er suchte in den einzelnen Fällen die That auf bestimmte Motive zurückzuführen, auf den Wunsch aus dem Dienste zu kommen, auf das Gefühl der Rache, die Sucht sich geltend zu machen u. dergl. Die neuere Medicin scheint sich nach verschiedenem Für und Wider jetzt dahin zu entscheiden, daß sie die Pyromanie nicht als besondere Geisteskrankheit, sondern nur als einzelnes Symptom einer solchen gelten lassen will. Auf dieselbe Grundlage führt sie dann auch die Kleptomanie und andere Monomanien zurück.

Zeichnet sich diese Kategorie von Verbrechern durch das Fehlen eines eigentlich verbrecherischen Motivs aus, so geschieht bei andern das geradezu Unglaubliche, daß sie morden nicht aus Haß, sondern geradezu aus Liebe zu den Gemordeten. Wir meinen damit jene Morde der eigenen Kinder, wie sie jetzt in unseren Großstädten in erschreckender Weise sich mehren. Der entsetzliche Fall des Tapezirer Schultze in Berlin, der erst seinen beiden älteren Töchtern den Hals durchschnitt, dann dasselbe an seinen beiden Knaben, sowie an sich selbst versuchte, steht leider nicht vereinzelt da. Holtzendorff nennt solche Fälle mit Recht die modernen Schicksalstragödien des wirthschaftlichen Ruins. Es sind gerade meist die besseren Naturen, welche, auf „der letzten Sprosse der Verzweiflung“ über den unfruchtbaren Kampf mit dem Dasein angekommen, von aufrichtiger Liebe zu den Ihrigen getrieben, anstatt wie Andere sie zu verlassen, sie durch einen gemeinsamen Tod vor Schande, Armuth oder Almosen bewahren wollen. „Ich beschloß, meine Töchter zu tödten, damit sie nach meinem Tode sich nicht allein in der Welt herumstoßen lassen müssen,“ sagte der genannte Schultze. Der Mord der geliebten Angehörigen erscheint fast immer in Verbindung mit dem geplanten Selbstmorde, der in Folge eintretender Schwäche dann meist nicht zur Ausführung kommt. Durch äußere Schicksalsschläge und innere seelische Zerrüttung unfähig geworden, den Kampf mit dem Leben fortzuführen, sieht der unselige Vater das gleiche Schicksal auch bei den Kindern voraus und weiß in seiner Angst und Bedrängniß keinen andern Weg, als den er selbst einschlägt. Der Arzt ist hier oft in der Lage, den Nachweis einer krankhaften Schwermuth (Melancholie) zu führen und damit diese Unglücklichen der strafenden Gewalt des Richters zu entziehen und der Irrenanstalt zu übergeben.

Außer den krankhaften Trieben giebt es auch noch gewisse Zustände, welche die Begehung von Verbrechen besonders begünstigen. Als ein solcher wird zunächst die Schlaftrunkenheit angegeben. Hier spielt namentlich der Fall des Landwirths Schidmeitzig eine Rolle. Schidmeitzig legt sich nach reichlicher Mahlzeit im Sommer in einen Schuppen zum Schlaf nieder. Um Mitternacht erwacht er aus tiefem Schlafe und sieht im Augenblicke des Erwachens eine weiße Erscheinung dicht an seinem Lager. Er ruft zweimal „Wer da?“, ergreift, da diese nicht antwortet, die nebenliegende Axt und erschlägt damit die eigene Frau, die an sein Lager getreten ist. Oder der noch entsetzlichere Fall, wo eine Mutter ihren Säugling durch das geöffnete Fenster wirft, weil ihr im Traume Stimmen zugerufen hatten, das Haus brenne.

In allen diesen Fällen ist die Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen, denn das Handeln des Schlaftrunkenen ist recht eigentlich entstanden aus der auf Wahnvorstellung beruhenden Verrückung des Selbstbewußtseins. Bei den Schlaftrunkenen, sagt ein medicinischer Schriftsteller, sind zwar die Sinne bereits erwacht, aber noch umhüllt vom Nebel traumhafter Gebilde. Nicht das Bewußtsein, sondern dunkle unklare Ahnungen und Empfindungen sind es, welche sein Handeln bestimmen.

Auch der vielfach noch unaufgeklärte Fall des Schlafwandelns würde einer dem entsprechenden Beurtheilung unterliegen.

Selbst die Empfindung des Heimwehs kann in ihrer höchsten krankhaften Steigerung die Mutter von Verbrechen werden. Das Heimweh erklärt eine ärztliche Autorität als die traumhaft fixirte Sehnsucht nach der Heimath, nach Verwandten und Freunden. „Es erzeugt allerlei krankhafte Zustände: Herzklopfen, Angst, schwachen Puls, Kongestionen, Verdauungsbeschwerden. Die Thatkraft des Sehnsüchtigen erschlafft; er sucht einsame Orte auf. Alles, was dahin führen kann, ihm die Rückkehr in die geliebte Heimath zu erwirken, wird versucht; zuletzt selbst Brandstiftung und Mord. Ein junges Mädchen diente in einem fremden Orte als Kindermädchen; sie sehnt sich nach Hause, aber die Mutter schreibt ihr, sie dürfe nur kommen, wenn das ihrer Pflege anvertraute Kind gestorben wäre. Hierauf wird das Kind krank und stirbt. In der Familie ist aber noch ein dreijähriger Knabe. Dem Mädchen wird nunmehr die Pflege dieses Kindes anvertraut. Sie muß in Folge dessen bleiben. Da findet man auch diesen Knaben todt, in seinem Bette erstickt. Dem Heimwehtrieb waren zwei Menschenleben zum Opfer gefallen.

Hier kann auch folgender Fall, von dem der oben genannte Maudsley berichtet, herangezogen werden:

Es ist die Krankengeschichte eines jungen Mannes, der an einer gewissen Geistesschwäche litt, sich durchaus kindisch betrug und für Windmühlen ganz eingenommen war: er konnte weit hingehen, um eine Windmühle zu sehen, und tagelang im Anschauen einer solchen dasitzen. Man erwartete bei ihm Besserung von einer Ortsveränderung und brachte ihn in einen Bezirk, wo keine Windmühlen waren. Das eine Mal legte er in dem Hause, wohin er gebracht worden war, Feuer an, ein anderes Mal lockte er ein Kind ins Holz und versuchte es zu morden, indem er dessen Glieder ganz schrecklich mit einem Messer zerschnitt und zerfetzte. Derartige gefährliche Triebe hatten sich früher noch nicht bei ihm gezeigt, ihr einziger Grund bestand eben darin, daß der Mann fort wollte von jenem Orte, wo es keine Windmühlen gab.

Auch überreizte religiöse Gefühle bringen dem Wahnsinn nur zu oft ihren Zoll. Die Ausgeburten des religiösen Fanatismus mit ihren blutigen Autodafés möchte man schon um der Ehre der Menschheit willen auf das Konto der geistigen Störungen setzen. In kleineren Verhältnissen wird, namentlich für den gewöhnlichen Mann, der im Denken nicht genügend logisch geschult ist, das Grübeln über religiöse Dinge oft sehr verhängnißvoll. Dem Verfasser sind mehrere Fälle aus eigener Erfahrung bekannt. So hatte ein Zeugmacher in M. an der Hand gewisser Schriften sich in den Gedanken vertieft, daß die kommunistischen Ideen schone im Christenthum sich verwirklicht fänden, Christus galt für ihn als der erste Socialdemokrat. Nun begann er Tag und Nacht die Bibel zu lesen, vernachlässigte sein Geschäft, trieb sich viel in Wirthshäusern herum und hielt dort gotteslästernde Reden. Der Mann war, wie sich beim Verhör ergab, sonst ganz vernünftig und klar, sobald aber das religiöse Gebiet bei ihm in Anregung gebracht wurde, hörte sofort alles folgerechte Denken auf. Er schwatzte das verwirrteste Zeug, warf einzelne Aussprüche der Bibel blind durch einander etc. Auf Veranlassung des Physikatsarztes wurde die Untersuchung gegen ihn eingestellt und er dem Irrenhause überwiesen.

Daß auch der Aberglaube die Frucht wahnsinnigen Handelns erzeugt, dafür bietet die Geschichte ebenfalls zahllose Beispiele, die selbst unsrem aufgeklärten Zeitalter nicht erspart bleiben. Interessant sind in dieser Beziehung die Gerichtsakten, welche die Untersuchung gegen den Tischlermeister J. und Sohn behandeln. Die Frau des Genannten litt seit längerer Zeit an Beängstigungen und hysterischen Zufällen. Sie bildete sich ein, eine Hexe habe von ihr Besitz genommen, und wohne in ihrem Leibe. Sie bezeichnet sogar eine bestimmte Person als solche. In der Steigerung ihres Wahn- und Angstgefühls bittet sie ihren Ehemann und erwachsenen Sohn darum, dieselbe durch Schläge auf ihrem Körper auszutreiben. In wahnwitziger Verblendung ihres mit der Frau getheilten Aberglaubens vollziehen Beide das Verlangen der Unglücklichen. Der Wahn der letztern ist dabei so stark, daß sie, trotz der furchtbaren Schläge, die sie erhält, ihre Peiniger nur noch anreizt, dieselben zu verstärken, bis sie unter deren Last die gequälte Seele aushaucht.

[406]
Der Querulantenwahnsinn. – Moral insanity. – Die Epilepsie. – Der erbliche Wahnsinn. – Die Simulation des Wahnsinns. – Lichte Perioden. – Absurde Ideen. – Der Wahnsinn des Moments.

Unter dem Drucke einer Wahnidee steht auch in vielen Fällen eine gewisse Kategorie von Leuten, welche glauben, daß ihnen Seitens einer Behörde ein Unrecht zugefügt sei, welche einen Proceß ungerecht verloren zu haben glauben u. dergl. „In ihrem Drange,“ so charakterisirt Casper sie treffend, „ihr vermeintliches Recht zu erreichen, vergeuden sie ihr Vermögen, bestürmen die Rechtsinstanzen, studiren Tag und Nacht die Landesgesetze und zerrütten sich in ihrem innern und äußern Leben immer mehr. Ihre zahllosen Schriftstücke zeichnen sich charakteristisch aus durch ihre Weitschweifigkeit, die vielfach unterstrichenen Worte und Sätze, durch zahlreiche Interjektionen und Einrückungen, Citate von Gesetzesstellen, Randbemerkungen, nachträgliche Benutzung des freien Raums des Papiers, damit ja nichts unbeschrieben bleibt.“ Dabei strotzen dieselben von Beleidigungen und Invektiven gegen Beamte und selbst gegen die Majestät des Landesherrn. Das ist es dann, was sie vor das Forum des Strafrichters führt und die Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit zur Erörterung kommen läßt. Diese Frage wird in vielen Fällen verneinend ausfallen müssen, da dieser Querulantenwahnsinn, wie man ihn technisch wohl bezeichnet, vielfach in Verfolgungswahn und am letzten Ende in paralytischen Blödsinn ausgeht. So wurde in der vor dem königl. bayerischen Bezirksgerichte in D. im Jahre 1867 verhandelten Proceßsache gegen den Querulanten Vitus D. wegen Majestätsbeleidigung durch das Gutachten des Medicinalkollegiums der Universität München festgestellt, daß Vitus D. an Querulantenwahnsinn leide und in Bezug auf all Das, was in den Bereich desselben falle, als selbstbestimmungsunfähig zu erachten sei. Ist der Wahn einmal tief eingewurzelt, werden zuerkannte und verbüßte Strafen ihn nur verstärken. Das Martyrium der eigenen Ueberzeugung, gegenüber der sich im Unrecht befindenden ganzen Welt, wird sich im Angeklagten nur noch mehr befestigen.

Aus den moralischen Zuständen unserer modernen Gesellschaft heraus haben besonders englische und amerikanische Aerzte eine besondere Art des Irrsinns konstruirt, die sie als moralischen Wahnsinn, moral insanity, bezeichnen, indem sie behaupten, daß die Entartung der moralischen Anschauungen innerhalb unserer Gesellschaft in manchem Menschen das Gefühl von Recht und Unrecht alterirt und theilweise aufgehohen hätte. Die intellektuelle Seite, sagte man, sei dabei nicht gestört; es seien auch keine Wahnvorstellungen vorhanden, aber das Gefühls- und Gemüthsleben sei pathologisch entartet, indem die natürlichen Gefühle eine krankhafte Richtung nahmen und der moralische Sinn in seiner Entwickelung eine Hemmung erlitt. Diese Wahnsinnsart spielte besonders in dem Processe Huttington in New-York vor einigen Jahren eine sensationelle Rolle und fand da auch ihre ärztlichen Vertheidiger. Huttington, ein „ehrenwerthes“ Mitglied der Asser-Gesellschaft, stand unter der Anklage schwerer Urkundenfälschung. Derselbe suchte nun auszuführen, er habe die Fälschung als solche seiner krankhaften moralischen Anschauung nach, nicht für ein Verbrechen gehalten. Die Geschworenen hatten aber schließlich doch eine andere Ansicht von der Sache, und ebensowenig haben die meisten unserer deutschen Aerzte sich mit dieser neuen Species befreunden können, welche zuletzt auch geeignet gewesen wäre, den Massenmörder Thomas der Bestrafung zu entziehen.

Auch die bedauernswerthen Opfer der Epilepsie (Fallsucht) haben insbesondere in der Zeit kurz vor oder während ihrer Anfälle Anspruch auf Prüfung der Zurechnungsfähigkeit ihrer Thaten, denn die Einwirkung dieser Krankheit auf das Selbstbestimmungsvermögen ist eine so starke, daß dasselbe vielfach aufgehoben erscheint, um so mehr, als nach neuerer Annahme der Hauptsitz der furchtbaren Krankheit das Gehirn ist! Nun besteht dabei das Eigenthümliche, daß in vielen Fällen die Epilepsie keine echte, sondern eine geheuchelte ist, indem sie benutzt wird, das Mitleid des Richters, des Gefangenwärters und Anderer zu erwecken. Die Täuschung ist hier oft eine ganz frappante.

Als eine der bedauerlichsten Ursachen des Irrsinns erscheint die Erblichkeit. Richter und Arzt werden sich, wenn ihnen unerklärte Thaten entgegen treten, immer zuerst mit fragen müssen, ob die Vorfahren des Thäters schon einmal dem Wahnsinne ihren Tribut gezollt haben. Dieser hereditäre Wahnsinn tritt nicht immer gleich als solcher hervor, er erscheint zunächst nur als erbliche Anlage. Die „erblich belasteten“ Individuen treiben nach einer ärztlichen Schilderung allerhand Bizarrerien, zeigen bei oft großen intellektuellen Fähigkeiten frühzeitig Excentricitäten in Gedanken, Gewohnheiten und Neigungen. Beim großen Haufen gelten sie oft als Originale, verrückte Genies und halbe Narren. Es bedarf aber zuweilen nur eines geringfügigen Beweggrundes, eines heftig angeregten Affekts, um sie zu Handlungen zu treiben, welche den schlummernden Wahnsinn unverkennbar zu Tage fördern. Nur bei niederen Naturen dokumentirt sich die krankhafte Anlage frühzeitig schon als einen unaustilgbaren Hang zu Lüderlichkeit und Verbrechen.

Ein eklatantes Beispiel lieferte in dieser Beziehung der bekannte Mordproceß des Grafen Chorinsky, welcher der Theilnahme an dem von seiner Geliebten ausgeführten Giftmorde seiner Gattin beschuldigt war. Die hochangesehene Familie des Grafen bemühte sich, diesen der Schmach des Kerkers oder dem Arme des Henkers dadurch zu entziehen, daß sie ihn besonders in Folge erblicher Belastung für wahnsinnig erklärte. Der französische Arzt Morel, der das Gebiet des erblichen Wahnsinns zu seinem Specialstudium gemacht hatte, sagte schon während der Verhandlung voraus, daß Graf Chorinsky, wenn er nicht schon als wahnsinnig gelten könne, doch unfehlbar noch dem Wahnsinne verfallen würde. Diese Voraussetzung traf in der That ein. Der Verbrecher war, weil die ärztlichen Meinungen über seine Zurechnungsfähigkeit getheilt waren, zwar verurtheilt worden, vertauschte aber sehr bald die Zelle des Gefängnisses mit der des Irrenhauses.

Die Erkenntniß der Geisteskrankheit wird für die entscheidenden Faktoren noch wesentlich dadurch erschwert, daß der Wahnsinn, wie bereits bemerkt, von schlauen Verbrechern simulirt, geheuchelt wird, um von der drohenden Strafe loszukommen, und zwar geschieht dies, namentlich in den Formen der Tobsucht und des Blödsinns, oft mit solchem Geschick, daß diese falschen Irren schon die erfahrensten Irrenärzte auf lange Zeit hinaus getäuscht haben. Ja es kommt vielfach der Fall vor, daß wirkliches und geheucheltes Irrsein neben einander hergehen und mit einander abwechseln. Selbst der wirklich Irre gefällt sich oft darin, die von ihm wahrgenommenen Auslassungen der anderen Geisteskranken nachzuahmen. Daß die simulirte Geisteskrankheit aber auch in die wirkliche übergehen kann, beweist das traurige Geschick einer französischem Schauspielerin, dessen die forensischen Handbücher Erwähnung thun. Sie war bei der Darstellung einer Wahnsinnsscene ausgepfiffen worden. Im Aerger darüber begab sie sich zu einem berühmten Irrenärzte und ließ sich von ihm in das Studium der Geisteskrankheiten, besonders jener Form, welche sie in der betreffenden Scene darzustellen hatte, einführen. Sie ging in diesem Studium förmlich auf und eignete sich die Merkmale des Irrseins aufs Treueste an. Dann trat sie in jener Rolle wieder auf. Ihr wahrhaft erschütterndes naturwahres Spiel riß das Publikum zu stürmischem Beifalle hin. Aber der Wahnsinn, den sie so treu kopirt hatte, hielt sie fest; er ließ sie nicht wieder los. Schon am Ausgange ihres Spiels zeigten sich sehr bedenkliche Symptome – und ihr auf die Bühne eilender Lehrer konnte schon an dem Abende feststellen, daß sie dem Irrsinne unheilbar verfallen war.

Ein unter den Aerzten sensationell gewordener Fall einer Simulation ist der des Reiner Stockhausen, über welchen besondere Abhandlungen geschrieben wurden. Dieser dem Trunke ergebene Vagabund beging eine Reihe schwerer Diebstähle unter Umständen, die an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließen. Man untersucht ihn; zwei Aerzte erklären ihn für einen Simulanten, ein dritter für geisteskrank. Hierauf wird er ein Jahr zur Beobachtung in eine Irrenanstalt gesteckt. Der Direktor derselben erklärt, es liege Simulation vor, da keins der bei ihm wahrgenommenen Symptome unter die Hauptformen des Irrsinns gebracht werden könne. In [407] Folge dessen wird Stockhausen nunmehr vor das Schwurgericht gestellt, verurtheilt und dem Zuchthause überwiesen. Hier tritt nach kurzem Aufenthalte in jetzt nicht mehr angezweifelter Weise der Irrsinn zu Tage. Casper erzählt die Geschichte eines Verbrechers, der elf Jahre lang zwischen Gefängniß und Irrenhaus hin- und hergeschleppt wurde.

Die Schwierigkeit der Beurtheilung geisteskranker Zustände wird für den Richter ferner noch dadurch erhöht, daß, wie wir schon oben andeuteten, bei periodischen Geistesstörungen oft sogenannte lichte Zwischenräume (lucida intervalla) vorkommen, in denen der Kranke scheinbar wieder ganz im freien Gebrauche seiner Seelenkraft sich befindet; aber diese Freiheit ist doch immer nur eine scheinbare. Bezeichnend für diese Art des Wahnsinns ist der nachfolgende von den Amerikanern Wharton und Stillé mitgetheilte Fall:

„Ein gewisser John Billman, der wegen Pferdediebstahls im Eastern Penitentiary von Pennsylvania saß, ermordete seinen Wächter mit großer Brutalität, benahm sich aber dabei mit solcher Schlauheit, daß er dem Verdachte des beabsichtigten Mords entging und beinahe unvermerkt die Flucht ausführte. An der Außenseite des schmalen Fensters, das an den Zellenthüren dazu dient, von außen in die Zelle zu sehen, hatte er eine Schlinge angebracht, und er bestimmte nun seinen Wächter, nach einem draußen auf dem Korridor gerade am Fuße der Zellenthür befindlichen Gegenstande hinzusehen, wobei der Kopf durch die Schlinge gesteckt werden mußte; er selbst zog in diesem Augenblicke die Schlinge an, und es fehlte nicht viel, so wäre der Mann erwürgt worden. Trotz dieses vorausgegangenen Versuchs ließ sich der nämliche Wächter ein paar Tage später wiederum allein in die Zelle locken, weil Billman krank sein wollte, und dieser tödtete ihn durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Stück von einem Waschbrete. Billman entkleidete den Gemordeten, zog dessen Kleider an, legte den Todten in einer Stellung auf das Bett, daß es aussehen sollte, als läge er selbst darauf, schritt in der so erlangten Kleidung ganz unbefangen über den Korridor, richtete leichthin eine Frage an den Pförtner und schlenderte sorglos in die Straße hinein, in welche die Pforte sich öffnete. Er wurde aber alsbald wieder eingebracht. Seine Irrsinnigkeit jedoch konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen; auf Grund einer genauen ärztlichen Untersuchung überzeugte sich die Untersuchungsbehörde von Billman’s Unzurechnungsfähigkeit, und bei der gerichtlichen Verhandlung wurde Freisprechung wegen Irrsinnigkeit beantragt. Billman wurde in der pennsylvanischen Anstalt in Gewahrsam gebracht. Einige Zeit darauf rückte er in einer sprachseligen Stimmung mit der Mittheilung heraus, daß er vor einer Reihe von Jahren seinen Vater ums Leben gebracht habe, und erzählt bis ins kleinste Detail mit einigen Zusätzen ausgeschmückt die nähern Umstände. Es wurde der Sache nachgeforscht, und die Wahrheit der Erzählung stellte sich dadurch heraus. Man hatte den Vater im Bette erwürgt gefunden, und der Sohn war als des Verbrechens verdächtig eingezogen worden; er war aber mit solcher Verschlagenheit bei dem Morde zu Werke gegangen, daß er freigesprochen werden mußte. Er ermöglichte nämlich durch einen raschen Ritt um Mitternacht den Beweis des Alibi und wollte auch in einem Zimmer geschlafen haben, wo hinein er durchs Fenster geklettert war. Billman fühlte sich also nicht blos schuldig, er erwog auch scharfsinnig die Folgen der ihn bloßstellenden Verhältnisse, und klar genug giebt sich die langgehegte Absicht und der fein angelegte Plan zu erkennen. Dennoch war er – wie in nicht zu bezweifelnder Weise festgestellt wurde – wahnsinnig.“

Schließlich darf man ja wohl behaupten, daß sich Niemand beständig auf ganz normaler geistiger Basis bewegt. „Eine absurde Idee,“ bemerkt in dieser Beziehung Casper, „kommt Jeden einmal im Leben an. Wenn ein solcher Gedanke vergessen wird, sich zurückdrängen läßt und an der Macht entgegengesetzter Vorstellungsmassen zerschellt, ist er nicht krankhaft. Erst wenn er nicht mehr bezwungen werden kann, wenn er haftet und Wurzeln schlägt, dem Individuum sich immer und überall aufdrängt, nicht korrigirt werden kann, nennen wir ihn krankhaft.“ Wie oft trifft in Folge einer äußerlich angeregten Ideenverbindung, eines lebhaften Phantasiespiels ein verbrecherischer Gedanke blitzartig unser Gehirn! Wir stehen mit Andern auf einem hohen Thurme oder Bergvorsprunge. Wie wäre es, fliegt es da durch unsere Gedankenreihe, wenn du dich oder den, der neben dir steht, hinabstürztest! Wir erschrecken vor solchen Gedanken und wendest uns im nächsten Augenblicke mit Abscheu von denselben ab, aber sie waren doch da. Lichtenberg, dieser kühle verständige Kopf, schreibt einmal von sich: „Ich fand oft ein Vergnügen daran, Mittel auszudenken, wie ich diesen oder jenen Menschen ums Leben brächte oder Feuer anlegte, obgleich ich nie den Entschluß faßte, so etwas zu thun.“

Man darf sich nicht verhehlen, daß derartige Erwägungen, in ihre äußersten Konsequenzen verfolgt, schließlich zu durchaus unannehmbaren Resultaten führen können, zu Annahmen, wie die des französischen Arztes Piquard: es sei jede verbrecherische Handlung der Ausfluß momentanen Wahnsinns – eine Ansicht, unter deren Konsequenzen sich alle unsere Zuchthäuser in Irrenhäuser zu verwandeln haben würden.

In den neuesten Errungenschaften der medicinischen Wissenschaft auf dem Gebiete der Krankheiten der Seele haben wir jedoch die sichere Gewähr, daß derartige Uebertreibungen vor dem richterlichen Stuhle nicht geduldet werden, und daß der Schutz des humanen Gesetzes nur denjenigen Beklagenswerthen zu Gute kommt, die ihn thatsächlich verdienen.