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Autor: August Schrader
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Titel: Vorurtheile
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–5, S. 1–4, 17–20, 33–36, 45–48, 57–60, 62–63
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]
Vorurtheile.




I.

Im Jahre 1850 schien die Saison in dem Bade P. eben nicht glänzend werden zu wollen. Es war schon um die Mitte des Monats Juli, und die Kurliste wies nur erst fünfhundert und einige Namen auf, während sie in den Jahren zuvor eben so viel tausend enthalten hatte. Aber was der Badegesellschaft in diesem Jahre an der Quantität abging, ward ihr durch die Qualität ersetzt; so meinte wenigstens der Baron von Masset, einer der Tonangeber in der feinen Gesellschaft, die fast nur aus den adeligen Familien der nähern und fernern Umgegend des Bades bestand. Die reiche Bourgeoisie aus Hamburg, Bremen und den größeren Städten des nördlichen Deutschlands war gering vertreten, man schrieb diesen Umstand den Folgen der Revolution von 1848 zu, das heißt dem immer noch stockenden Verkehre. Die Hausbesitzer des Dorfes harrten vergebens auf ihre sonst so regelmäßig wiederkehrenden Kurgäste, ihre freundlich und bequem eingerichteten Zimmer blieben größtentheils ohne Miethsbewohner. Der reiche Adel bewohnte die zahlreichen Hotels des Orts.

Gegen zehn Uhr Morgens betrat ein junger Mann seine Wohnung in einem freundlichen, unweit der großen Allee gelegenen Hause. Er hatte einen Spaziergang durch die Berge gemacht, und warf sich ermüdet in den Sopha.

Werfen wir einen Blick auf den Bewohner des mit einfacher Eleganz ausgestatteten Zimmers. Er war von schlanker Gestalt und mochte sieben bis achtundzwanzig Jahre zählen. Sein Gesicht war stärker von der Sonne gebräunt, als es sich nach der Mode für einen Kurgast schickt; trotzdem aber war es schön, und man hätte sagen können, daß der bräunliche Teint seine Schönheit männlicher machte, die bei einem zarten Weiß weiblich zu nennen gewesen wäre. Das sorgfältig frisirte Haar war glänzend schwarz, ebenso auch der zwar nicht starke, aber natürlich gekräuselte Bart, der das interessante ovale Gesicht einrahmte. Ueber seinen schwellenden Lippen, durch die schneeweiße Zähne schimmerten, zeigte sich ein geschweifter Schnurrbart. Das dunkelbraune Auge war groß und lebhaft. Die Stirn, die schöne dunkele Brauen begrenzten, war hoch und frei. Die Toilette des jungen Mannes war elegant und gewählt. An seinem feinen Brusthemde glänzten kostbare Diamantknöpfe und an den Fingern nicht minder kostbare Ringe.

Still und nachdenkend saß er in seinem Sopha; seine kleine aristokratische Hand spielte mit der goldenen Uhrkette, die über die weiße Weste hinabhing.

Da klopfte es leise an die Thür. Der junge Mann schrak ein wenig zusammen, aber ohne Zögern forderte er mit lauter, wohlklingender Stimme zum Eintreten auf. Die Thür öffnete sich, und die Wirthin des Hauses, eine Frau von vielleicht vierzig Jahren, trat ein.

„Madame Bühl!“ sagte der Bewohner des Zimmers, als ob er eine andere Person erwartet hätte.

„Ich bin es, Herr Ludwig!“ sagte die freundliche und elegant gekleidete Frau mit der Artigkeit und Gewandtheit, die sie sich durch den langen Umgang mit Kurgästen erworben hatte. „Verzeihung, wenn ich störe.“

„Was bringen Sie mir?“

Madame Bühl zog lächelnd einen Brief aus der Tasche ihrer kleinen Taffetschürze.

„Ein Briefchen, Herr Ludwig!“

„An mich?“

„An Sie!“ antwortete die artige Frau, indem sie mit einer zierlichen Verbeugung das Papier überreichte. „Als die Ueberbringerin, eine Art Kammerzofe, hörte, daß Sie nicht zu Hause seien, band sie mir auf die Seele, den Brief Ihnen selbst zu überreichen. Ich verfehle nicht, meine Pflicht zu erfüllen.“

Der junge Mann hatte hastig den Brief erbrochen, und las ihn mit großer Begierde, ohne sich um Madame Bühl zu kümmern, die zu dem Fenster getreten war, und eine Marquise herabließ, um das Zimmer vor der Sonne zu schützen. Dabei aber warf sie einen neugierigen Blick auf den Leser, dessen Gesicht eine freudige Ueberraschung verrieth. Die braunen Wangen desselben errötheten, und Madame Bühl glaubte sogar zu bemerken, daß seine Hände ein wenig zitterten.

„Vielleicht bin ich dem Geheimnisse auf der Spur, das mein Gast so sorgfältig und hartnäckig zu bewahren sucht!“ dachte die kleine Frau, indem sie eine Blumenvase ordnete. „Ich bleibe dabei, er hat ein Geheimniß, und wenn mich nicht Alles täuscht, ein zartes Geheimniß.“

Der junge Mann hatte indeß das Billet sorgfältig zusammengelegt, und in die Brusttasche seines Rockes gesteckt. In einer frohen Bewegung, die unzweifelhaft der Brief erzeugt, ging er einige Mal im Zimmer auf und ab. Madame Bühl unterbrach das Schweigen, als sie sah, daß ihr Gast keine Neigung zum Reden zeigte.

„Mein Herr, ich erlaube mir eine Bitte an Sie zu richten aber ich setze dabei voraus,“ fügte sie sehr artig hinzu, „daß mein verehrter Gast mich nicht mißverstehen wird.“

[2] „Was wünschen Sie, Madame?“ fragte der junge Mann, der seine Promenade unterbrochen hatte. „Sprechen Sie offen, und zweifeln Sie nicht an meiner Bereitwilligkeit, jeden Ihrer Wünsche zu erfüllen. Sie sind mir eine so liebenswürdige und freundliche Wirthin, daß ich trostlos wäre, wenn es nicht in meiner Macht stehen sollte – –“

„O, es ist nicht viel!“ sagte Madame Bühl, die vor Entzücken über dieses Kompliment hoch erröthete. „Ich erlaube mir, Sie an eine kleine Förmlichkeit zu erinnern, die Sie ohne Zweifel vergessen haben.“

„O mein Gott, ist die Rechnung von voriger Woche nicht bezahlt?“

„Nein, nein, das ist es nicht! Sie sind ja so pünktlich –“

„Soll ich Ihnen auf zwei, drei Wochen pränumeriren? Sprechen Sie es ohne Scheu aus, und ich zahle mit Vergnügen. Ich kenne die Förmlichkeiten dieses Bades nicht, das ich zum ersten Male besuche.“

„Verzeihung, es handelt sich um eine geringfügige Förmlichkeit.“

„Nun, was ist es?“

„Ich habe ein Schema auf Ihren Schreibtisch gelegt, das jeder Fremde ausfüllen muß. Ist dieses Schema mit Ihrem Namen und der Angabe Ihres Standes versehen, so sende ich es in das Polizeibureau, das es nur zur Anfertigung der Brunnenliste verwendet. Sie haben das Blättchen übersehen – wäre nicht mein Mann Polizeicommissar, der die Ordnung in dieser Beziehung zu überwachen hat, man würde mich längst in Strafe genommen haben. Opfern Sie mir eine Minute und füllen Sie die Spalten aus.“

Madame Bühl deutete auf ein Papier, das auf dem eleganten Schreibtische lag.

Dem jungen Kurgaste schien diese Forderung nicht gelegen zu kommen. Die Heiterkeit, die der Brief hervorgerufen, verschwand von seinem schönen Gesichte, und unmuthig warf er einen Blick nach dem Schreibtische.

„Es ist wahr, ich habe es vergessen!“ sagte er kalt. „Mir liegt Nichts daran, in der Brunnenliste zu prangen, und wenn es nicht unumgänglich nöthig ist – –“

„Wäre es nicht, ich hätte sicher die Erinnerung nicht auszusprechen gewagt. Sie haben vielleicht Gründe, incognito hier zu sein.“

„Ja, ich habe Gründe, Madame! Es wäre mir lieb, wenn ich noch einige Tage jenes Papier unberücksichtigt lassen könnte. Bis dahin entscheidet es sich, ob ich bleibe oder abreise. Sie werden übrigens keinen Schaden erleiden,“ fügte er lächelnd hinzu; „die Saison ist schlecht, und auf Zuwachs von Gästen läßt sich nicht hoffen – ob ich nun bleibe oder reise, ich habe dieses Zimmer für den Sommer gemiethet, und werde es bezahlen. Nehmen Sie diese Börse, Madame, sie enthält den Miethzins.“

Mit freundlicher Gewalt drückte er der verlegenen Frau eine volle Börse in die Hand, die er aus der Tasche gezogen hatte.

„Mein Herr,“ stammelte sie, „mich hat nicht Mißtrauen geleitet – ich wollte Sie nicht verletzen!“

„Davon bin ich überzeugt, Madame; aber halten auch Sie sich überzeugt, daß Sie keinen Abenteurer unter Ihrem Dache beherbergen.“

„O, dessen ist Gott mein Zeuge!“ antwortete rasch Madame Bühl, die durch die Maschen der Stahlbörse die Goldstücke hatte blinken gesehen.

„Gut, Madame, so unterstützen Sie mich bei der kleinen Intrigue, oder wenn Sie es lieber wollen, bei dem kleinen Herzensromane, in dem ich wider meinen Willen eine Rolle übernommen habe.“

„Das habe ich mir gedacht!“ rief lächelnd die kleine Frau, indem sie die Börse in die Tasche ihrer Schürze gleiten ließ. „Nun, so bleiben Sie denn noch für einige Zeit Herr Ludwig, ich werde in diesem Jahre so nachlässig sein, daß mein Kurgast nicht in der Brunnenliste steht.“

„Aber der Polizeicomissar?“

„Ist mein Mann, und ich bin die Besitzerin dieses Hauses. Ich werde Ihr Incognito zu ehren wissen.“

Madame[WS 1] Bühl wollte sich entfernen; aber Ludwig hielt sie durch die anscheinend gleichgültig hingeworfene Frage zurück: „Uebermorgen ist Ball bei dem Fürsten?“

„Ja, mein Herr, er ist der erste, der diesen Sommer im Schlosse stattfindet. Serenissimus giebt vier Bälle während der Kurzeit. Man sagt, unser Landesherr wolle dadurch den Flor des Bades aufrecht erhalten; aber ich bin der Meinung, und habe sie auch oft gegen meinen Mann ausgesprochen, daß er ein ganz verkehrtes Mittel dazu gewählt hat.“

„Warum, Madame?“ fragte Ludwig gespannt.

Die Frau des Polizeicommissars war in ihr bestes Fahrwasser gerathen und sie ließ auch lustig das leichte Schifflein ihrer Redseligkeit dahinschießen.

„O, die Sache ist sehr einfach, mein Herr,“ fuhr sie fort. „Glänzende Bälle sind in einem Bade allerdings nothwendig, denn sie dienen dazu, die Gäste mit einander bekannt zu machen. Serenissimus aber trennt sie, er theilt sie in gewisse Kasten. Der Kaufmann, und wenn er ein Millionär ist, wird nicht zu den Bällen im Schlosse geladen, wohingegen jeder lahme und kranke Edelmann, der kaum die nothwendigen Kosten seiner Kur bestreiten kann, sehr höflich durch einen Kammerlakai invitirt wird. Nichts als das Wörtchen „von“ kann dem Kurgaste die Thür des fürstlichen Ballsaales öffnen. Seit der unglücklichen Revolution vor zwei Jahren scheint der Adel sich fester zusammenzuziehen und den Bürgerstand demüthigen zu wollen, denn schon in der vorigen Saison ging man bei der Wahl der Gäste sehr difficil zu Werke. Aber wer hebt denn unser Bad? Wer bringt das mehrste Geld hierher? Der reiche Kaufmann aus Hamburg und Bremen, und Leute, die über Hunderttausende zu kommandiren haben, lassen sich von einem kleinen Fürsten nicht zurücksetzen, der den größten Theil seiner Revenüen aus diesem Bade zieht. Ich behaupte, daß sich der reiche Kaufmannsstand ein anderes Bad aussucht, wo man ihn nicht so augenscheinlich zurücksetzt. Sie sehen, daß meine Ansicht begründet ist.“

Ludwig hatte mit großer Spannung zugehört.

„Wer entscheidet über die Einladungen?“ fragte er.

„Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, lieber Herr, denn meine Schwester ist Kammermädchen bei der Hofmarschallin. Der Herr Hofmarschall nimmt die Brunnenliste zur Hand, zieht die Namen mit dem Wörtchen „von“ heraus, und besorgt die Einladungen. Das ist die ganze Procedur. Ob diese Herren nun dem Bade Nutzen bringen oder nicht, ist gleich. Doch ja,“ fügte Madame Bühl höhnisch lächelnd hinzu, „einen Nutzen hat es gebracht: wir haben dieses Jahr viel Adlige hier, und Alle kommen auf die Bälle im Schlosse. Nun, wir wollen sehen, ob Serenissimus auf diese Weise den Flor seines Bades erhalten wird.“

„Und es giebt kein anderes Mittel, um Zutritt zu diesen Bällen zu erhalten?“ fragte der junge Mann wie ängstlich.

„Kein anderes; die Brunnenliste ist der Empfehlungsbrief. Wer nicht von Geburt ist, wird ohne Gnade ausgeschlossen, und wenn er eine Million besitzt. Doch, dort kommt mein Mann schon zurück,“ sagte Madame Bühl, indem sie durch das offene Fenster sah. „Verzeihung, ich ziehe mich zurück, denn ich muß ihm das Frühstück bringen.“

Sie verneigte sich und schlüpfte durch die Thür.

Als Herr Ludwig allein war, begann er seine Promenade wieder, aber unruhiger als zuvor. Er durchmaß das Zimmer mit großen Schritten. Plötzlich blieb er stehen, zog den Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal. Folgende Zeilen, von einer zierlichen Frauenhand geschrieben, standen auf dem duftenden Papiere:

     „Mein Freund!

„Zu meinem großen Bedauern ist es unmöglich, eine Gelegenheit zu der Unterredung zu finden, die Sie fordern, und die auch ich sehnlich wünsche. Mir scheint, mein Vater ist durch einen Neidischen aufmerksam gemacht und sucht unsere gegenseitige Annäherung zu verhindern. Einige Worte werden genügen, um Ihnen völlige Aufklärung zu geben; aber ich kann sie aus Gründen einem Briefe nicht anvertrauen. Wenden Sie die größte Vorsicht an, wie ich sie anwende. Uebermorgen ist Ball bei dem Fürsten, wir sind dazu geladen, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß auch Sie eine Einladung erhalten haben. Fordern Sie mich zu dem ersten Walzer auf, und während des Tanzes werden wir uns verständigen können. Es giebt keine andere Gelegenheit dazu. Sie wissen, was von der Unterredung abhängt. Der erste Walzer gehört Ihnen. Henriette.“

Ludwig drückte das Papier an seine Lippen, dann steckte er es mit zitternder Hand in ein Portefeuille.

„Es giebt keine andere Gelegenheit!“ flüsterte er schmerzlich. „O, über diese Welt, die sich despotisch von Vorurtheilen beherrschen [3] läßt! Und wie nichtig sind diese Vorurtheile! Aber kann ich sie durch Gewalt bekämpfen? Nicht der Unterredung wegen, des Vorurtheils wegen darf ich von diesem Balle nicht ausgeschlossen bleiben. Welche Rolle würde ich nach demselben in dieser Gesellschaft spielen, die mich nur zu dulden scheint? Ich würde darüber lachen, wenn ihr Henriette nicht angehörte, würde ihr den Rücken wenden, wenn sie den Magnet nicht in ihrer Mitte hätte, der mich allmächtig anzieht, daß ich fast keinen Willen mehr habe. Man hat mir den Handschuh hingeworfen – wohlan, ich hebe ihn auf! Serenissimus wird morgen gezwungen sein, mir eine Einladung zu seinem Balle zu senden!“

Er warf sich auf den Stuhl vor dem Schreibtische, ergriff das Blatt, das ihm Madame Bühl angedeutet hatte, und wollte schreiben. Er bebte zurück, als ob er es nicht über sich gewinnen könne, seinen Namen in die Spalten zu schreiben. Starr sah er das Blatt Papier einige Augenblicke an, dann raffte er sich zusammen und schrieb mit fester Hand: „Baron Ludwig von Nienstedt, Particulier.“

Als ob er fürchtete, in seinem Entschlusse wieder schwankend zu werden, zog er rasch die Glocke. Einen Augenblick später trat Madame Bühl ein.

„Das Zeichen galt meinem Diener, Madame!“ sagte der Baron, den das Erscheinen der freundlichen Wirthin bestürzt gemacht hatte.

Er suchte und es gelang ihm, seine Bewegung zu verbergen.

„Ihr Bob, mein Herr, ist nicht zu Hause. Ich wußte es, und habe mich beeilt – –“

„Ah, ganz recht, Bob reitet mein Pferd aus – ich hatte es vergessen.“

„Was steht dem Herrn zu Diensten?“ fragte freundlich die Frau des Polizeicommissars.

„Bob sollte Ihnen dieses Blatt überbringen.“

„Die Fremdenliste?“

„Ja!“

„Vortrefflich! Nun sind alle Unannehmlichkeiten beseitigt.“

„Was für Unannehmlichkeiten?“

„Ich halte die Neugierde dafür, mit der man sich nach meinem reichen Kurgaste erkundigt. So eben machte mein Mann die Einleitung dazu. Ihr Klingelziehen überhob mich der Mühe, eine ausweichende Antwort zu ersinnen.“

„Und ich habe einen andern Plan ersonnen, Madame!“ sagte der junge Baron mit einem erzwungenen Lächeln. „Dieser neue Plan erfordert mein Incognito nicht, und ich gebe es um so lieber auf, da ich Ihnen die Unannehmlichkeit erspare, ausweichende Antworten auf die Fragen zu geben, welche die Neugierde an Sie richtet. Tragen Sie Sorge, daß man morgen meinen Namen und Stand in der Brunnenliste lies’t.“

Madame Bühl warf einen Blick auf das Blatt.

„Herr Baron,“ sagte sie dann mit einer tiefen Verneigung und einem bedeutungsvollen Lächeln, „die Einladung zu dem fürstlichen Balle wird noch zu rechter Zeit kommen, dafür stehe ich!“

Die kleine Frau verließ das Zimmer. In demselben Augenblicke ließen sich die Hufschläge eines Pferdes vor dem Hause vernehmen. Der Baron trat zum Fenster und rief einem Mulatten zu, der so eben ein stattliches Pferd in den Hof führen wollte:

„Bob, ich werde einen Spazierritt machen!“

Dann ergriff er Hut, Handschuhe und eine zierliche Reitpeitsche, und eilte die Treppe hinab. Zwei Minuten später sah man den schönen jungen Mann im kurzen Galopp die Chaussee hinabreiten, die sich neben der Hauptallee des Bades hinzieht.

Bob, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, sah seinem Herrn nach. Das braune, glänzende Gesicht des Mulatten verzog sich zu einem wohlgefälligen Lächeln, daß seine schneeweißen, regelmäßigen Zähne durch die dunkeln Lippen schimmerten. Er nahm seinen betreßten Hut ab, trocknete sich die hohe Stirn mit einem Taschentuche von gelber Seide, und trat in das Haus, als sein Herr hinter den Bäumen verschwunden war.

Madame Bühl saß mit ihrem Gatten, dem Polizeicommissar, beim Frühstücke.

„Und wer hat nun Recht gehabt?“ fragte sie lächelnd, indem sie sein Glas mit Wein füllte, „Unser Gast ist ein Baron von Nienstedt!“ fügte sie stolz hinzu. „Deine Polizeinase wittert stets Dinge, die sich mit dem gesunden Menschenverstande nicht vertragen.“

Herr Bühl war ein guter, schlichter Mann, der wohl in dem Badeorte, aber nicht in einer größern Stadt das Amt eines Polizeicommissars bekleiden konnte. Nachdem er seinen Wein behaglich geschlürft, sagte er lächelnd:

„Glaubst Du, meine liebe Marianne, daß ich von Amts wegen so viel geforscht habe? Ich müßte wenig Erfahrung besitzen, hätte ich nicht auf den ersten Blick gemerkt, daß ich es mit einem Manne von Stande zu thun habe. Seinem Incognito lag ohne Zweifel ein Liebesabenteuer zum Grunde.“

„Nun, und weshalb hast Du denn geforscht? Warum sollte ich unsern Gast erinnern, die Liste auszufüllen?“

„Wirst Du schweigen, Marianne?“ fragte Herr Bühl mit einem gutmüthigen Lächeln.

„Theodor, spiele nicht den Polizeimann gegen Deine Frau!“ sagte Madame verletzt. „Hege Argwohn gegen alle Welt, nur gegen mich nicht!“

Herr Bühl stand auf und drückte seiner schmollenden Gattin einen Kuß auf die Stirn. Er fühlte seine Ehre als kluger Beamter gekränkt, und diese mußte er retten.

„Es ist zwar oft der Fall,“ sagte er, „daß die gefährlichsten Aventuriers am Glänzendsten auftreten, und darum lasse ich mich nicht von der Außenseite verblenden; aber unser Gast hat ein Gesicht und ein Benehmen, das jeden Argwohn verbannt. Wenn ich nach seinem Namen und Stande forschte, so geschah es nur, weil man mich privatim dazu beauftragt hatte.“

Die Neugierde Madame Bühl’s war zwar im hohen Grade angeregt, aber sie fragte dennoch mit erkünstelter Gleichgültigkeit:

„So? Und wer hat Dir denn diesen Privatauftrag gegeben?“

„Ein Herr von Heiligenstein, der dieses Jahr zum vierten Male hier ist.“

„Derselbe Heiligenstein, der vor zwei Jahren sein Vermögen am Spieltische verlor?“

„Ja, mein Kind!“

„So kannst Du es ihm sagen: unser Gast ist der Baron Ludwig von Nienstedt, ein reicher, und dabei generöser junger Mann. Hier nimm den Zettel und trage Sorge, daß der Baron morgen früh in der Brunnenliste steht. Vergiß es nicht, damit die Einladung zum fürstlichen Balle morgen Mittag eintreffen kann.“

Herr Bühl küßte seine Frau, dann ging er nach dem Polizeibureau. Madame Bühl rief Bob in das Wohnzimmer und tractirte ihn mit einem guten Frühstücke.


II.

Am folgenden Morgen stand der Name des Barons Ludwig von Nienstedt in der Brunnenliste. Gegen Mittag kam der junge Mann von einem langen Spazierritte zurück. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, als Madame Bühl erschien. Sie überreichte ihrem Gaste unter einer tiefen Verneigung einen Brief. Als Ludwig das Couvert öffnete, fand er eine Einladungskarte zu dem fürstlichen Balle. Der Hofmarschall begleitete sie mit einigen freundlichen Zeilen.

„Habe ich Recht?“ fragte stolz die kleine Frau.

„Sie sind eine Prophetin, Madame!“

„Es gehört dazu keine große Prophetengabe, Herr Baron. Wer den Mechanismus kennt, kann die Wirkung desselben vorhersagen. Ich wünsche, daß Sie sich auf dem Balle gefallen mögen!“

Der Baron traf seine Vorkehrungen. Um sieben Uhr Abends erschien Bob, um seinem Herrn bei der Toilette behülflich zu sein. Der Mulatte war ein gewandter Kammerdiener, er war Friseur, Barbier und Garderobier in einer Person. Ludwig ging wie ein Adonis unter seinen kunstgewandten Händen hervor. Er trug das eleganteste pariser Ballkostüm, an der Brust glänzte eine prachtvolle Diamantnadel, an den aristokratischen Händen geschmackvolle Ringe, und selbst die kleinen Schnallen auf den leichten Tanzschuhen hatten flimmernde Steine.

Es war dämmerig, als der Baron, in einen leichten Mantel gehüllt, das Haus verließ. Bob, in großer Livree, folgte ihm. Madame Bühl sah ihm lächelnd nach.

„Er ist so schön,“ dachte sie, „daß er Aufsehen erregen muß. Der kleine Roman, von dem er sprach, kann nur einen befriedigten Schluß haben, es sei denn, daß die Heldin ein Herz von Stein oder keinen Geschmack besitzt.“

[4] Der Ballgast ging rasch durch die große Allee, in der noch einzelne Gruppen sich auf und ab bewegten. Das Schloß, der Sommersitz des Fürsten, lag vielleicht fünfhundert Schritte von der Allee entfernt. Ein großer Teich umgab das Schloß, das mehr einem Fort als einem Sommersitze glich. Fünf Minuten später flog Ludwig über die ziemlich lange Brücke und trat unter das gewölbte Thor, das sich unter einem mit Rasen dicht bewachsenen Walle befand. Bei dem Scheine einer Laterne ging ein Soldat mit Gewehr auf und ab. Der Schloßhof war ein großes Viereck, in dessen Mitte das Hauptgebäude lag. Die erste Etage desselben war glänzend erleuchtet. Aus der Balconthür, die man geöffnet hatte, um der frischen Abendluft Eingang zu gestatten, drang eine rauschende Tanzmusik – der Ball war also schon eröffnet. Ludwig erkannte, daß das Orchester einen Walzer spielte. Ueberrascht blieb er stehen.

„Der erste Walzer!“ dachte er. „Sie wird glauben, ich komme nicht oder vernachlässige ihr Engagement.“

In diesem Augenblicke rasselte ein Wagen in den Hof und hielt vor dem Perron des Schlosses an. Fünf bis sechs fürstliche Lakaien flogen die Treppe herab. Einer derselben öffnete den Schlag des Wagens. Ein bejahrter Herr in der preußischen Armeeuniform stieg aus.

„Deinen Arm, Henriette!“ sagte er, indem er sich zurückwandte.

Bei dem hellen Scheine der Laternen sah Ludwig eine junge Dame aussteigen. Sein Herz begann heftig zu klopfen und ein dumpfes Sausen durchbebte seinen Kopf. Wie fest gebannt blieb er stehen und starrte die aussteigende Dame an. Sie trug ein hellblaues seidenes Kleid mit weißen Spitzen. Der niedliche Fuß mit Atlasschuhen von weißer Farbe berührte kaum den Wagentritt. Ein leichter Florshawl lag über den glänzenden weißen Schultern. Das braune Haar war schlicht gescheitelt und mit einer künstlichen dunkelrothen Rose geschmückt.

„Henriette!“ flüsterte Ludwig entzückt vor sich hin. „Ich komme also nicht zu spät!“

Der Vater – der Herr in der Armeeuniform war Henriette’s Vater – ergriff den Arm seiner Tochter und stieg die mit Decken belegten Stufen des Perrons hinan. Die reizende Tänzerin streifte dicht an Ludwig vorüber. Eine Purpurröthe überflammte ihr Gesicht als sie den jungen Mann erblickte, sie grüßte nicht, aber dieses Erröthen und ein Blick sagten ihm mehr als ein Gruß.

„Du wartest bis nach Mitternacht hier!“ befahl der Baron seinem Diener in englischer Sprache.

Dann warf er ihm den Mantel zu und flog die Treppe hinan.

In dem Vorsaale empfing der Hofmarschall, ein Mann mit grauen Haaren, die Gäste. Ludwig war gezwungen, sich in Gegenwart Henriette’s ihm vorzustellen. Er nannte seinen Namen. Der alte Herr in der Uniform schien überrascht zu sein; doch grüßte er den jungen Baron mit einem Lächeln, das eine oberflächliche Bekanntschaft voraussetzen ließ. Der Hofmarschall führte die Gäste in den Saal, wo er sie der fürstlichen Familie vorstellte. Die Ceremonie war kurz, und es blieb ein Jeder bald sich selbst überlassen. Henriette schloß sich einem Kreise bekannter Damen an, und Ludwig suchte den Oberförster von Wildau auf, den er am Pharaotische kennen gelernt hatte.

Ludwig von Nienstedt erregte unter den Damen Aufsehen. Die junge Männerwelt war nur schlecht vertreten, und um den Mangel an flinken Tänzern einigermaßen auszugleichen, hatte der Fürst sein Offiziercorps zum Balle befohlen, das aus einem Major, einem Kapitain und drei Lieutenants bestand. Die Lieutenants allein waren Tänzer. Der Major, ein Mann mit rothen Haaren und Pockengruben, war zu klein und zu dick, und der Kapitain war zu lang und zu mager.

Der Ball war belebt, und ungeachtet der Anwesenheit des Hofes nicht steif. Die Ungezwungenheit des Badelebens machte sich auch hier bemerkbar.

Ludwig sah nach der Tanzordnung: eine Quadrille, eine Polka und ein Galopp gingen dem zweiten Walzer voran. Schon wählte er unter den Damen; um das Engagement Hennriette’s später nicht auffällig zu machen, wollte er die Quadrille mittanzen: da trat einer der Ballgäste, ein Mann von einigen vierzig Jahren, zu ihm:

„Herr Baron von Nienstedt?“

Ludwig verneigte sich.

„Sie erlauben mir eine Frage,“ fuhr der Gast fort.

„Fragen Sie?“

„Gehören Sie der Familie von Nienstedt an, deren Besitzthum im W.schen lag?“

„Ja.“

„Man glaubte die Familie ausgestorben –“

„Sie sehen, daß der einzige Sohn Ludwig aus Indien zurückgekehrt ist.“

„Ihre älteste Schwester, Herr Baron, war meine Braut. Der Tod verhinderte leider eine Verbindung, die zu den glücklichsten der Erde gehört haben würde.“

„Und wer giebt mir die Ehre –?“

„Friedrich von Heiligenstein, der Gutsnachbar Ihres Vaters. Ich erinnere mich, Sie als Knaben von zwölf Jahren gesehen zu haben –“

„Und ich erinnere mich, daß meine Schwester Adelheid mit großer Vorliebe von Ihnen sprach.“

„Adelheid!“ rief Friedrich von Heiligenstein mit einem Seufzer. „Sie war schön und gut, ein liebenswürdiges Wesen. Sie haben eine so große Aehnlichkeit mit Ihrer Schwester, Herr Baron, daß Ihr Anblick die Wunden wieder aufreißt, die in einem Zeitraume von sechzehn Iahren kaum verharrschen konnten. Reichen Sie mir die Hand – wir sind uns nicht fremd, obgleich wir uns kaum kennen!“

Ludwig reichte dem Gaste die Hand, und dabei sah er ihm in das freie, ehrliche Gesicht. In diesem Augenblicke traten die Paare zur Quadrille an. Henriette stand dem Baron gegenüber, Henriette in ihrer ganzen strahlenden Schönheit. Ihre Züge verriethen eine recht innige Freudigkeit, und Ludwig hatte allen Grund zu glauben, daß sein Erscheinen auf dem Balle das angebetete Wesen in diese Stimmung versetzt habe, und daß er sich ein günstiges Resultat von der beabsichtigten Unterredung mit ihr versprechen dürfe.

Die Musik begann, und die Tänzer führten die ersten Pas aus. Wie eine Sylphe schwebte die reizende Henriette dahin. Der arme Baron vergaß den Herrn von Heiligenstein, der neben ihm stand, und mit einer Art Rührung in seinen Zügen forschte. Wie ungezwungen und graziös war jede Bewegung der Tänzerin. Ihr zarter, elastischer Körper schwebte nur auf den Spitzen des kleinen, gewölbten Fußes. Das rosige Gesicht mit den geschweiften Brauen an der mattweißen Stirn, mit den langbewimperten seelenvollen Augen, der schön geschnittenen Nase, dem feinen, blühenden Munde und dem runden, koketten Kinne verklärte das anmuthigste Lächeln von der Welt. Jetzt reichte sie die zarte Hand, die ein weißer Handschuh bis an das Gelenk eng einschloß, dem Tänzer. Bei dieser Gelegenheit sah Ludwig den runden, vollen Arm, der von den feinen weißen Spitzen des halblangen Aermels wie von einer Wolke umgeben ward. So schwebte sie an ihm vorüber, und dabei sandte sie ihm ein Lächeln und einen Blick zu, die ihm tief in die Seele drangen. Herr von Heiligenstein rief den Entzückten zur Wirklichkeit zurück.

„Tanzen Sie, Herr Baron?“

„Jetzt nicht, mein Herr.“

„So bitte ich um die Freundlichkeit, mir ein Viertelstündchen der Unterredung zu schenken.“

„Sie sehen mich bereit; seit ich den heimathlichen Boden wieder betreten, habe ich noch keinen Freund meiner Familie gesprochen. Es ist erklärlich, wenn ich mich nach Nachrichten über die letzten Jahre derselben sehne.“

Arm in Arm traten die beiden Männer in eine Nische; hier ließen sie sich auf dem Sopha nieder, von wo aus sie den Saal und die Tanzenden übersehen konnten, ohne in ihrer Unterhaltung gestört oder belauscht zu werden.

[17] Die Natur hatte Ludwig mit dem großen Vorzuge eines angenehmen Aeußern beschenkt; seine heitere, ruhige Stirn, der Schnitt seines ausdrucksvollen Gesichts und seine ungekünstelten, edeln Bewegungen hatten in dem Herrn von Heiligenstein, den eine schmerzliche Erinnerung an die Familie Nienstedt fesselte, ein persönliches Interesse für ihn erweckt. Und Ludwig mußte den Mann mit dem ehrlichen Gesichte und dem offenen Wesen lieb gewinnen, zumal da sich ihm noch keiner so vertraulich genähert hatte. Der junge Mann stand einsam in der Gesellschaft, die er im zarten Jünglingsalter verlassen hatte, es traten ihm unbekannte Gesichter, andere Menschen entgegen.

„Sie haben Ihr Heimathland in glücklichen Verhältnissen wieder betreten,“ begann Herr von Heiligenstein theilnehmend.

„Ja, mein Herr, und diese Verhältnisse machen mich um so glücklicher, da ich sie mir und keinem Andern zu verdanken habe.“

„So nehmen Sie die Versicherung, Herr Baron, daß ich mich Ihres Glückes innig freue.“

Ludwig reichte ihm die Hand.

„Und nehmen Sie dafür den Dank meines erfreuten Herzens. Ich darf wohl mit Recht die Vermuthung hegen, daß meine rasche und heimliche Entfernung zu mancherlei Annahmen Veranlassung gegeben?“ fragte Ludwig, indem er seinen Gesellschafter schmerzlich lächelnd ansah.

„Gewiß, Herr Baron, Annahmen, die nur Ihren jugendlichen Leichtsinn tadelten, weil er Ihren alten, guten Aeltern einen tiefen Kummer bereitete. Sie waren der einzige und letzte männliche Erbe der Familie Nienstedt, die, wenn sie auch mit zeitlichen Glücksgütern nur karg gesegnet war, dennoch eines Rufes sich erfreute, der sie den ersten Adelsfamilien Deutschlands beigesellte. Ich war der Freund Ihres Vaters, und oft hat er mir sein bekümmertes Herz eröffnet. Ihre Entfernung zerstörte ihm den Plan, den er mühsam erdacht und eingeleitet, um seiner Familie die frühere Geltung wieder zu verschaffen. Ich weiß nicht, ob er Ihnen je eine Andeutung davon gegeben hat –“

„Nie, nie!“ sagte Ludwig eifrig. „Sie wissen es, mein Herr – und wenn ich Sie nun bitte, mir jetzt diese Andeutung zu geben – –“

„Ich halte es selbst für meine Pflicht, Herr Baron, Ihnen Alles mitzutheilen, was mir über diesen Punkt bekannt ist. Vielleicht gelingt es mir, zur Verwirklichung des Planes, den Ihr verstorbener Vater entworfen, etwas beizutragen.“

„O, reden Sie, reden Sie, mein Herr!“

„Zuvor aber gestatten Sie mir eine Frage, welche ich aus Gründen voranschicken muß, die ihnen bald einleuchten werden. Sind Sie verheirathet, Herr Baron?“

„Nein!“

„Sie haben auch sonst kein Versprechen gegeben, das Sie bindet?“

„Eben so wenig, mein Herr!“ antwortete Ludwig ein wenig verlegen.

Dem Fragenden entging diese Verlegenheit nicht.

„Verzeihung,“ sagte er lächelnd, „wenn ich indiscret erscheine; aber der Drang, Ihrer Familie zu nützen, die mir theuer ist –“

„O, ich bitte, mein Herr, fahren Sie fort!“ sagte Ludwig, den die Neugierde verzehrte.

„Ihr Vater also hatte den Plan gefaßt, Sie in Ihrem zwanzigsten Jahre zu verheirathen, und zwar mit der Tochter eines Hauses, das fähig war, zur glänzenden Fortpflanzung Ihres Namens Alles beizutragen. Es waren alter Adel und ein großes Vermögen vorhanden. Die Einleitungen waren dem Abschlusse nahe gediehen, als Sie verschwanden, und einen Brief zurückließen, der wenig Beruhigendes hatte, da er weder den Zweck noch das Ziel Ihrer Abreise anzeigte. Zwei Tage nach diesem Ereignisse betrat ich das Schloß Nienstedt. Ihr Vater war trostlos, und mit Thränen in den Augen bekannte er mir, daß die Hoffnung, den Rest seiner Tage ruhig zu verleben, zerstört sei. Noch mehr: später theilte er mir mit, daß er seinem Ruine nicht vorbeugen könne, da Sie ihm das einzige Mittel dazu entzogen hätten. Herr Baron, ich verhehle es nicht, daß ich, der ich nur ein kleines Vermögen besitze, auf eine Morgengabe von Adelheid’s Hand gerechnet hatte. Diese Enttäuschung aber hielt mich nicht ab, mich mit meiner Geliebten öffentlich zu verloben, und Ihrem Vater die kleinen Summen zur Verfügung zu stellen, deren er zur Deckung der dringendsten Schulden bedurfte. Wir stellten inzwischen Nachforschungen nach Ihnen an, und erhielten die Gewißheit, daß Sie in Hamburg zu Schiffe gegangen seien, um Europa für immer zu verlassen. Umsonst fragten wir nach dem Grunde, umsonst forschten wir in Göttingen, wo Sie den Brief geschrieben, der Ihre Abreise angekündigt – Sie studirten Cameral-Wissenschaft – weder eine Person noch irgend ein Umstand vermochte das seltsame Räthsel zu erklären. Man gab überall Ihrem ehrbaren und ruhigen Charakter das beste Zeugniß, Gram und Leid warfen Ihren Vater auf ein langes Krankenbett. Zwei traurige Jahre verflossen, und es war wohl natürlich, daß Adelheid nicht an ihre Verbindung denken konnte, sie war ja die einzige Stütze, die einzige Pflegerin des alten gebeugten [18] Mannes. Der alte Herr von Nienstedt starb; seine Freunde und Standesgenossen bedauerten ihn, aber es war keinem eingefallen, ihm zu helfen. Nun fielen die Gläubiger über den Nachlaß her, man ließ verkaufen, was vorhanden war, und Adelheid flüchtete sich zu der Gräfin v. B., um nur ein Unterkommen zu finden, da ich leider außer Stande war, ihr ein solches zu bieten. Die Aufregungen der Krankenpflege und die gewaltigen Gemüthserschütterungen warfen sie auf das Krankenbett – sie starb am Nervenfieber. Die Behörden erließen Aufrufe an den letzten der Herren von Nienstedt; sie blieben eben so erfolglos, als unsere frühern Nachforschungen. Man hielt die Familie von Nienstedt für ausgestorben. Seit dieser Zeit sind Jahre verflossen, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich diesen Abend von dem Obersten von Eppstein höre, der junge Baron Ludwig von Nienstedt befinde sich unter den Gästen.“

„Ich danke Ihnen, mein Herr, für die warme Theilnahme an dem Geschicke meiner Familie!“ sagte Ludwig gerührt. „Und nicht wahr, ich darf hoffen, daß Sie die Freundschaft, die Sie für meinen Vater und meine Schwester gehegt, auf mich übertragen werden? O, ich verstehe die Frage, die in Ihren Blicken liegt: fürchten Sie nicht, daß Sie sich einem leichtsinnigen Abenteurer anschließen – ich kannte die bedrängte Lage meines Vaters, ich wußte, daß sein Gut überschuldet war, und aus diesem Grunde schloß ich mich einer Expedition nach Indien an, wozu mir damals gerade Gelegenheit geboten ward. Aus Furcht, daß man mich hindern würde, diesen kühnen, abenteuerlichen Schritt auszuführen, reiste ich heimlich, unter Zurücklassung eins Briefes, ab. Ich war damals achtzehn Jahre alt, hatte den Kopf voll großartiger Ideen und kühner Unternehmungen, die Vorurtheile, die ein armer Edelmann in dem lieben deutschen Vaterlande gegen sich hatte, verschmähete ich zu bekämpfen, und es kam mir lästig, selbst lächerlich vor, auf einen Stammbaum, und nur auf einen Stammbaum meine Carriere zu gründen. Alles ist Vorurtheil in der Welt, sagte ich mir; nur das Geld, nur der Mammon nicht. In glänzenden Karossen, in prachtvollen Schlössern hat der Geburtsadel einen Werth – ein armer Edelmann, der sich nur mit seinem Stammbaume bläht, dachte ich, ist eine lächerliche Erscheinung. Ich sah die furchtbaren Leiden meines Vaters, ja, mein Herr, ich kannte den Wurm, der ihm am Herzen nagte: es war der Stolz auf seinen Stammbaum, die Furcht, seinen Glanz nicht aufrecht erhalten zu können; und diese Furcht erstreckte sich bis über das Grab hinaus – er wußte, daß es seinem Sohne unmöglich sein würde, einen deutschen Baron zu repräsentiren. Ist der Plan meiner Verheirathung nicht der sprechendste Beweis? Mein Vater war gut, aber schwach; hätte er die Vorurtheile abgeschüttelt, hätte er das Leben genommen, wie es sich ihm bot, er würde vielleicht die Freude gehabt haben, seinen Sohn als Millionär wiederzusehen. Ja, mein Herr, ich bringe die Mittel mit, um das Geschlecht der Nienstedt im neuen Glanze erstehen zu lassen. Was der Stammbaum nicht vermocht, hat meine Kühnheit, nennen Sie es auch jugendliche Unbesonnenheit, hat mein rastloser Unternehmungsgeist und meine Verachtung der Vorurtheile vermocht. Ich war Kaufmann, Pflanzer und Sklavenbesitzer – jetzt will ich der Baron von Nienstedt sein, um einen Stammbaum aufrecht zu erhalten. Ich zahle die Schulden meines Vaters, und bei Ihnen, dem großmüthigsten seiner Gläubiger, will ich den Anfang machen. Nennen Sie mir die kleinen Summen, die Sie dem Verstorbenen im Drange der Noth zur Verfügung stellten, und ich zahle sie Ihnen doppelt und dreifach zurück.“

„Herr Baron!“

„Und außerdem seien Sie meines Dankes gewiß, er wird nie erlöschen!“

Ludwig ergriff mit Innigkeit die Hand des Edelmannes.

„Fast bereue ich,“ antwortete dieser bewegt, „in meiner Offenherzigkeit so weit gegangen zu sein, daß ich Ihnen eine Mittheilung machte, die mich eigennützig erscheinen lassen muß.“

„Ist es nicht meine Pflicht, die Schulden des Verstorbenen zu tilgen?“

„Herr Baron,“ sagte Heiligenstein in einem fast feierlichen Tone, „ich war mit Adelheid von Nienstedt verlobt, und ich glaube ein Recht zu haben, mich als ein Glied Ihrer Familie zu betrachten. Dieser Gedanke war bisher mein Trost, und ich hoffe, Sie werden ihn mir nicht rauben, indem Sie mich als einen Gläubiger Ihres Vaters betrachten. Darf ich dem Bruder meiner todten Braut ein Freund sein, so habe ich keinen Wunsch mehr auszusprechen!“

Gerührt reichten sich die beiden Männer die Hände.

Ludwig war keines Wortes fähig; aber die Blicke seiner großen, ehrlichen Augen verriethen, was in seinem Innern vorging.

Die Quadrille war zu Ende und die Tänzer zerstreuten sich. Die beiden neuen Freunde gingen Arm in Arm durch den Saal und traten, wie von einem und demselben Gedanken geleitet, auf den Balcon hinaus. Die Nacht war prachtvoll. Das Silberhorn des Mondes hing wie eine Sichel an der höchsten Spitze der Bergkette, die das Thal einschließt, in welchem das reizende Bad liegt. Ein mildes Licht schwebte über der duftenden Landschaft. Die köstlichste Sommernacht war herabgesunken. Schweigend standen die Freunde an dem hohen Eisengitter, das mit einem Blumenflore geschmückt war, dem tausend Wohlgerüche entströmten. Der gereiste Mann dachte mit Rührung der Vergangenheit – der jüngere zitterte bei dem Gedanken an das Glück der Zukunft.

„Mein lieber Freund,“ begann Ludwig nach einer langen Pause, „es bedarf zwar der Schilderung meiner Gefühle nicht, die sich meiner bemächtigten, als ich das Schloß Nienstedt betrat, und nur von fremden Gesichtern empfangen und neugierig angeblickt ward – denn Sie vermögen sich einen Begriff davon zu machen; aber es drängt mich, Ihnen Alles mitzutheilen.“

„Sie waren schon auf Nienstedt?“ fragte Heiligenstein überrascht.

„Ja. Es sind heute vier Wochen, als ich dort ankam. Um die Freude der Ueberraschung zu vergrößern, ließ ich mich dem Besitzer des Schlosses, wofür ich natürlich meinen Vater hielt, unter dem einfachen Namen Herr Ludwig anmelden. Ich trat in das Zimmer, und fand einen mir völlig fremden Mann.“

„Den Obersten von Eppstein; er hatte sich zur Zeit des Todes Ihres Vaters aus dem Dienste zurückgezogen und kaufte das Schloß Nienstedt, das damals feil geboten ward.“

„Der Oberst unterrichtete mich kurz und bündig von den obwaltenden Verhältnissen, und, sei es nun, daß mich meine Gemüthsstimmung zu gereizt machte, oder daß ich den Charakter des Mannes zu wenig kenne – kurz, er sprach in einem Tone, der mich bewog, mein Incognito zu bewahren, und ihn in dem Glauben zu lasse,; ich sei der Kaufmann Ludwig. Diesen Namen habe ich als Geschäftsmann geführt. Der Oberst entschuldigte sich, mich zu einem längern Verweilen nicht einladen zu können, da er nach zwei Stunden mit seiner Tochter in das Bad P. reisen wolle, wozu bereits alle Anstalten getroffen seien. Aber er lud mich zum Frühstück ein, bei dem ich ihn gestört hatte. Halb willenlos nahm ich die Einladung an. Ich trat mit ihm in den Saal, und da sah ich seine Tochter. O, mein Herr, Henriette ist das einzige weibliche Wesen, das auf mich einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat; sie besitzt für mich etwas unaussprechlich Heiliges und Geweihtes, sie ist eine Erscheinung, die ich wie eine göttliche Offenbarung verehre und bewundere. Ich verberge es nicht, daß die reizende Wirthin eine völlige Umwandlung in meinem ganzen Wesen hervorbrachte; die halbe Stunde, die wir beim Frühstücke saßen, genügte, um mich auf immer zu ihrem Sclaven zu machen. Ich war frei; das heißt, unabhängig von Zeit und Verhältnissen – ich wählte dasselbe Bad für den Sommer zu meinem Aufenthalte, in das der Oberst mit seiner Tochter reis’te.“

Ludwig schwieg, als ob er die Ansicht seines neuen Freundes über diese Eröffnung hören wollte, zu der ihn sein Herz gewaltsam gedrängt hatte.

Der wackere Heiligenstein ließ nicht lange darauf warten:

„Herr Baron,“ flüsterte er bewegt, „Ihre Neigung zu Henrietten ist eine wunderbare Fügung des Himmels. Die Familie Eppstein ist es, mit der Ihr seliger Vater jene Verbindung eingeleitet hatte, von der ich vorhin sprach. Henriette hat noch eine ältere Schwester, diese sollten Sie kennen lernen und sich dann mit ihr verheirathen. Ihr Verschwinden und der dadurch herbeigeführte Sturz Ihres Hauses vereitelte den Plan, und der Oberst, der an Ihrem Wiedererscheinen zweifelte, auch wohl seine Gesinnung nach dem Tode Ihres Vaters geändert hatte, billigte die Wahl, die Emilie getroffen: sie ist seit sieben Jahren schon die Gattin eines höhern Offiziers in der preußischen Armee.“

„Und Henriette?“ fragte Ludwig dringend und mit bebender Stimme.

[19] „Mir ist nicht bekannt, daß man über ihre Zukunft entschieden hat.“

Eine Gruppe Herren und Damen trat auf den Balcon und unterbrach das Gespräch der beiden Männer. Sie gingen in den Saal zurück. Heiligenstein stellte seinen Freund einigen Edelleuten vor, die den seligen Herrn von Nienstedt gekannt und geschätzt hatten. Ludwig hatte die Freude, die Achtung auf sich übertragen zu sehen, die man seinem Vater gezollt hatte. Der schöne und reiche junge Mann – Heiligenstein hatte nicht verfehlt, Andeutungen über seinen Reichthum zu geben – erregte das allgemeine Interesse. So verfloß noch eine halbe Stunde, und der letzte Tanz vor dem Walzer war vorüber. Ludwig suchte Henrietten mit den Blicken auf. Sie saß in einem Kreise älterer und jüngerer Damen. Wie reizend war das junge Mädchen in dieser Umgebung, die nur eine Folie ihrer Schönheit zu sein schien. Lächelnd und ungezwungen unterhielt sie sich mit ihrer nächsten Nachbarin, einer vielleicht sechzigjährigen Dame von stolzem, aristokratischen Aeußern. Es war ersichtlich, daß diese Dame es sich angelegen sein ließ, Henrietten durch eine Unterhaltung zu fesseln. Da trat plötzlich der Oberst mit einem blonden, jungen Manne heran, den er, indem er seine Hand ergriff, seiner Tochter vorstellte. Henriette erhob sich und grüßte durch eine graziöse Verneigung. Aber dem Baron, dessen Blick eine furchtbare Eifersucht schärfte, entging es nicht, daß Henriette’s Gesicht plötzlich eine dunkele Röthe überzog, während der Vater freundlich zu ihr sprach.

„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig leise den Freund, der neben ihm stand.

Heiligenstein hatte ebenfalls die Gruppe in’s Auge gefaßt.

„Er ist der Sohn der alten Dame, die neben Fräulein von Eppstein sitzt,“ war die Antwort.

„Und die alte Dame?“

„Eine Freifrau von Erichsheim, die Mutter des Gemahls Emiliens, der Schwester Henriette’s. Der junge Mann lebt bei seiner Mutter, die Wittwe ist, auf dem großen Gute Erichsheim, nicht weit von hier. Er hat vor einem Jahre seine Studien auf der Universität beendet. Er muß heute erst angekommen sein, denn ich habe ihn bis jetzt im Bade noch nicht gesehen. Der Oberst selbst führt ihn seiner Tochter zu. Es ist dies erklärlich, da die beiden Familien verwandt sind.“

In diesem Augenblicke trat der Oberst zurück und unterhielt die Freifrau, die sich erhoben hatte. Henriette und der junge Mann unterhielten sich allein.

Ludwig’s peinlicher Zustand läßt sich nicht beschreiben. Er liebte mit der ganzen Glut der ersten Leidenschaft, mit der Leidenschaftlichkeit seines Charakters. Er beneidete einen Augenblick den blonden jungen Mann mit dem hübschen, aber einfältigen Gesichte, daß es ihm vergönnt war, zwanglos mit der Abgöttin seines Lebens zu sprechen, und, wie er in diesem Augenblicke wirklich that, ihr die Hand zu küssen. Er zitterte am ganzen Körper und alle seine Pulse klopften heftig. Da begann das Orchester den Walzer, zu dem Henriette ihn durch den Brief engagirt hatte. Die Töne erklangen ihm wie Sphärenmusik, denn sie gaben ihm das Recht, eine Unterredung zu unterbrechen, die sein Herz zerriß, obgleich er sie nicht einmal kannte. Raschen Schrittes ging er durch den Saal, näherte sich der Gruppe, und bat Henriette um den Tanz. Sie zuckte einen Moment wie vom Blitze getroffen zusammen, aber mit dem feinen Takt der gebildeten Dame verbarg sie ihre Ueberraschung, indem sie sich lächelnd zu dem jungen Freiherrn von Erichsheim wandte:

„Sie beklagen, daß Sie mich noch nicht tanzen gesehen – ich freue mich, daß sich Ihnen jetzt die Gelegenheit bietet. Seien Sie nicht ein zu strenger Kritiker, mein Herr, vielleicht rechtfertige ich die Erwartungen, die Sie von meiner Tanzkunst hegen.“

Sie legte ihren reizenden Arm in den Ludwig’s, und beide traten in die sich bildende Reihe der Tänzer. Aller Blicke folgten dem schönen Paare als es durch den Saal schwebte. In wenig Minuten war der Baron Ludwig von Nienstedt der Gegenstand des allgemeinen Gesprächs. Die Damen fanden ihn schön, und die Männer, die nicht tanzten, traten zu dem Herrn von Heiligenstein, um sich näher nach dem eleganten Cavalier zu erkundigen, da sie gesehen, daß er sich lange mit ihm unterhalten hatte.

Die erste Tour war vorüber, und Ludwig trat mit seiner Tänzerin unter die Zweige eines blühenden, großen Oleanders, der in einem zierlichen Kübel neben einer Säule des Saales stand. Er fühlte, wie der Arm Henriette’s in dem seinigen brannte, wie sie leise zitterte und wie der warme duftige Hauch ihres Mundes sanft sein Gesicht streifte. Ihm fehlte fast der Muth einen Blick auf die Abgöttin seiner Seele zu werfen.

„Vorsicht!“ flüsterte sie. „Mein Vater, die Freifrau und ihr Sohn beobachten uns scharf.“

„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig so unbefangen als es ihm möglich war.

Er hätte gern die Frage anders gestellt, aber es fehlte ihm die ruhige Ueberlegung dazu.

„Der Schwager meiner ältern Schwester Emilie,“ antwortete Henriette so leise, daß es der Baron kaum verstehen konnte.

„Ich bitte, eröffnen Sie mir kurz, was Sie dem Briefe nicht anvertrauen konnten.“

„Mein Gott, wir sind von allen Seiten beobachtet!“

„Aber man hört uns nicht, und wir sind um so sicherer, da die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet ist.“

„Seit vier Tagen erwarteten wir den jungen Freiherrn. Eine Zusammenkunft mit ihm und seiner Mutter ist der Zweck unserer Badereise.“

„Henriette, ich beschwöre Sie, verhehlen Sie mir Nichts!“

„Sie sehen meine Angst, mein Herr!“ flüsterte sie, indem sie sich zitternd mit dem kleinen Elfenbeinfächer frische Luft zufächelte.

„Verbannen Sie die Angst, und fassen Sie unbedingtes Zutrauen zu mir. Unsere Lage ist so eigenthümlich, daß es gerechtfertigt erscheint, wenn wir die gewöhnlichen Schranken kleinlicher Decenz nicht berücksichtigen. Henriette, ich schwöre Ihnen bei Gott, der uns sieht und hört, Sie werden nicht gezwungen sein, einen Schritt zurückzuweichen, wenn Ihr Herz den Weg billigt, den Sie zu meinem Glücke betreten haben.“

„Ich fürchte leider, daß ich schon zu weit gegangen bin!“

„Wie, Henriette!“

„In einer fürchterlichen Angst habe ich diesen Abend erwartet.“

„Weil Sie besorgten, ich würde nicht unter den Gästen sein?“

„Ja, mein Herr!“ flüsterte sie aus beklommener Brust.

„O, nun weiß ich Alles! Die Macht des Vorurtheils –“

„Vorurtheile sind mir fremd – aber mein Vater, den ich zärtlich liebe, der mit Leib und Seele an seinem Stande hängt, dessen Liebe ich nicht verscherzen möchte, der unglücklich werden würde – –“

„Henriette, ich bin der Baron Ludwig von Nienstedt!“

Sie zuckte zusammen.

„Tanzen Sie, mein Herr, die Reihe ist an uns!“ flüsterte sie ängstlich.

Der Baron raffte sich zusammen. Das schöne Paar schwebte im langsamen Walzer durch den Saal. Der Takt des ruhigen, gemessenen deutschen Tanzes paßte wenig zu der Aufregung, in der sich die beiden Tanzenden befanden; die raschen Schwingungen eines Galopps wären angemessener gewesen. Nach zwei Minuten war es dem Baron wieder gestattet, mit seiner Dame zu ruhen.

„Herr Baron,“ fragte Henriette, „warum haben Sie so lange Ihren Namen und Stand verschwiegen? Warum treten Sie als einfacher Kaufmann auf, während Sie das Recht hatten –“

„Nennen Sie mich einen Sonderling, mein liebes Fräulein; aber ich konnte es nicht über mich gewinnen, mir durch den Geburtsadel Ansehen zu verschaffen. O, wie glücklich macht mich der Gedanke, daß es mir, so lange ich der schlichte Kaufmann war, gelungen ist, Ihnen einiges Interesse abzugewinnen.“

„Leider muß ich Vorurtheilen huldigen, die mein Verstand verwirft; und dennoch hätte ich die Richtung meines Gefühls beklagen müssen, wäre es mir nicht vergönnt gewesen, die Pflichten der Tochter damit zu vereinbaren.“

„O, ich verstehe Sie, Henriette! Und was fordern Sie nun, das ich thue?“

„Dem Baron von Nienstedt kann es nicht schwer fallen, mit dem Freiherrn Ignaz von Erichsheim in die Schranken zu treten, zumal da Letzterer Nichts für sich hat, als ein Heirathsproject der alten geizigen Freifrau, die eine Ehe unter Edelleuten wie ein Geschäft betrachtet, bei dem die Stimme des Herzens ohne Einfluß ist. Sie will unser beiderseitiges Vermögen verheirathen. Bis jetzt habe ich nicht gewagt, dem Plane meines Vaters zu widersprechen – –“

„Aber nun, Henriette?“ fragte Ludwig zitternd.

[20] „Sie sind auf dem Balle des Fürsten, Sie sind der Baron von Nienstedt – ich habe auf Nichts mehr zu hören, als auf die Stimme des Herzens.“

Wie berauscht vor Entzücken neigte sich Ludwig dem Ohre des reizenden Mädchens zu und flüsterte:

„Henriette, was sagt Ihnen die Stimme Ihres Herzens?“

„Daß es mir vergönnt ist, die Schwüre Ludwig’s anzunehmen.“

„Und ich wiederhole diese Schwüre vor dem Angesichte Gottes!“

Ein leiser, aber inniger Händedruck war die Antwort.

Der Walzer ging dem glücklichen Paare viel zu rasch zu Ende; sie mußten sich trennen. Der Baron führte seine Tänzerin zu dem Familienkreise zurück. Ignaz von Erichsheim empfing sie, und führte sie mit stolzer, vertraulicher Miene zu dem Sessel. Ludwig kümmerte sich um den blonden Gecken nicht, er suchte seinen Freund wieder auf, nachdem er den alten Herrn von Eppstein freundlich gegrüßt hatte.

Gleich darauf erschien Henriette am Arme des jungen Freiherrn; Ludwig verfolgte jede ihrer Bewegungen. Es war ersichtlich, daß sie sich freundlich, aber zurückhaltend mit ihrem Tänzer unterhielt. Um Mitternacht verließen der Oberst, die Freifrau und die beiden jungen Leute den Ball. Eine halbe Stunde später folgten Ludwig und Heiligenstein. Arm in Arm machten sie noch einen Spaziergang durch die große Allee. Als sie sich vor dem Hause des Polizeicommissars trennten, sagte der Baron:

„Zweifeln Sie nicht, Freund, der Plan meines Vaters soll auch nach seinem Tode noch verwirklicht werden. Henriette ist ein Engel, ich kann nur mit ihr leben oder ohne sie sterben!“

„Verbannen Sie die Grabesgedanken,“ sagte lächelnd Heiligenstein; „Amor, scheint mir, hat die Absicht, Sie noch lange an das Leben zu fesseln.“

„Tragen auch Sie das Ihrige dazu bei!“

„Wie?“

„Indem Sie mir ein aufrichtiger Freund bleiben.“

„Sind Sie nicht der Bruder meiner Adelheid? Vergessen Sie nicht, daß mich ein heiliges Band an die Familie Nienstedt fesselt.“

Gerührt umarmten sich die beiden Männer, dann trennten sie sich. Ludwig betrat sein Zimmer. Bob folgte ihm und begann seinen Herrn auszukleiden.

„Wie gefällt es Dir in Europa, Bob?“ fragte der Herr, den das Glück redselig machte.

Der braune Diener zögerte mit der Antwort.

„Hast Du Lust, in Dein Vaterland zurückzukehren?“ fuhr der Baron fort. „Wenn Dich das Heimweh plagt, so bekenne es offen – das Leid des Herzens ist das drückendste, es zerstört das Leben. Sprich ein Wort, Bob, und ich rüste Dich mit den Mitteln aus, die erforderlich sind, um Indien zu erreichen.“

Dem guten Bob traten die Thränen in die Augen.

„Herr,“ sagte er, „wollen Sie mich nicht behalten? Wohl denke ich jetzt noch mit Sehnsucht an mein Vaterland, obgleich ich dort ein Sclave war – aber das wird sich geben. Es gefällt mir nicht in Europa, es ist wahr – aber was habe ich davon, wenn ich zurückkehre?“

„Was Du davon hast, Bob? Du bist kein Sclave mehr, ich habe Dich zum freien Manne gemacht –“

„Ach, Herr, das lohne Ihnen Gott!“ unterbrach ihn der Mulatte, indem er ihm dankbar die Hand küßte. „Sie haben mich von einem strengen, furchtbaren Herrn befreit, der den armen farbigen Mann wie eine Sache betrachtete. Verzeihen Sie, lieber Herr, er war Ihr Landsmann, ein Europäer –“

„Genug, Bob!“ sagte der Baron erregt, „Dein Peiniger ruht im Grabe, und von den Todten soll man nur Gutes reden. Mit ihm ist Deine Knechtschaft begraben, Du bist so frei wie ich, wie alle die Leute, die Du hier siehst. Nun denke Dir, wenn Du mit einem kleinen Kapitale in Deine Heimath zurückkommst, wenn Du Dir ein Stück Land kaufen, und es als Eigenthümer bebauen kannst; wenn Du Dich verheirathest und ein glücklicher Familienvater wirst – Bob, ich meine, die Sache verdient, daß Du sie überlegst.“

Bob sah seinen jungen Herrn einen Augenblick gerührt an, dann schüttelte er schmerzlich lächelnd seinen mit krausen Haaren bedeckten Kopf und sagte:

„Nein, Herr, ich würde dort nicht glücklicher sein als hier.“

„Warum, Bob?“

„Weil ich mich nach meinem Retter, nach meinem guten Herrn sehnen würde! Haben Sie mir nicht selbst gesagt, als wir zu Schiffe gingen: wo man glücklich ist, hat man seine Heimath? Darum lassen Sie mich in Ihrem Dienste leben und sterben!“

Bob hatte diese Bitte so rührend ausgesprochen, daß der Baron nicht weiter in ihn drang. Es wäre eine Grausamkeit gewesen, den treuen Diener zu einer Trennung zu bewegen,

„Gut, so bleibe, Bob!“ sagte er nach einer Pause.

„O, ich wußte es wohl,“ meinte der Mulatte, „daß Sie mich nur auf die Probe stellen wollten. Ich werde jede bestehen, um Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen!“

Eine Viertelstunde später schlich Bob in seine Kammer. Der Baron betrat sein Schlafzimmer. Mit dem Gedanken an die reizende Henriette schlief er ein, um von ihr zu träumen.


III.

Ungefähr acht Tage nach dem Balle in dem fürstlichen Schlosse trat der Oberst von Eppstein in das Zimmer seiner Tochter. Es war noch früh, und Henriette hatte ihre Toilette nur erst halb vollendet. Bei dem Eintreten des alten Herrn richtete das Kammermädchen einen fragenden Blick auf ihre Gebieterin.

„Sophie, ich werde diesen Morgen nicht spazieren gehen,“ war die Antwort auf diesen Blick. „Ich werde Dich rufen, wenn ich meine Toilette vollenden will.“

Das Kammermädchen verließ das Zimmer; Vater und Tochter waren allein.

„Ich setze nämlich voraus,“ wandte sich das junge Mädchen freundlich lächelnd zu dem Obersten, „daß Sie nicht gekommen sind, um mich abzuholen.“

„Deine Voraussetzung ist richtig, mein Kind,“ antwortete der Oberst, indem er seine Tochter mit einem ruhigen Ernste ansah. „Ich bin im Gegentheil gekommen, um Dich um eine Unterredung zu bitten, die eben so wenig für die Promenade paßt als meine Stimmung. Willst Du mich anhören, Henriette?“

Henriette sah den Vater mit einem fast trübseligen Lächeln an; dann sagte sie im Tone zärtlichen Vorwurfs:

„Vater, warum fragen Sie denn, ob ich Sie anhören will? Ist es nicht meine Pflicht, jedem Ihrer Wünsche zuvorzukommen? Mehr noch, Vater: giebt es eine Pflicht für eine gute Tochter? Ich habe ein falsches Wort gewählt – Sie kennen ja meine Kindesliebe, die der Pflichten nicht bedarf –“

„Henriette,“ unterbrach sie der Oberst, „wohl Dir und mir, wenn ich Dich nicht an Deine Pflicht zu erinnern brauche, wenn Dein Herz Dich antreibt, mir offen und wahr entgegenzukommen. Aber hast Du dies in der letzten Zeit unsers Hierseins auch immer gethan? Hat Dein Herz mir Nichts verborgen, das ich als Vater wissen mußte?“

Die reizende Henriette erröthete; sie legte ihr glühendes Gesichtchen an die Brust des Vaters und schlang ihren Arm um seinen Nacken.

„O, mein Kind,“ rief der Oberst, „das Herz liegt mit der Pflicht im Streite, und ich glaube mir es zum Vorwurfe machen zu müssen, daß ich so lange gezögert, letzterer hülfreich zur Seite zu treten. Jetzt muß es geschehen, und ich bin in dieser Absicht zu Dir gekommen.“

Er führte Henriette zu dem Sopha. Dem Vater entging es nicht, daß sie sich gewaltsam mit Ruhe und Ergebung waffnete, daß in ihrer Brust eine gewaltige Macht mit der Liebe des Kindes kämpfte.

„Sie sehen mich bereit, mein Vater, Ihnen zuzuhören!“ flüsterte sie.

„Du kennst den Plan, Henriette, den ich mit der Freifrau von Erichsheim über Deine Zukunft und über die ihres Sohnes entworfen habe.“

„Ja, mein Vater, Sie haben mich davon in Kenntniß gesetzt, als wir in dieses Bad reis’ten.“

„Ich komme heute auf diesen Plan zurück – – Welchen Eindruck hat Ignaz von Erichsheim auf Dich ausgeübt?“

[33] Henriette erröthete und spielte einen Augenblick mit der feinen goldenen Kette, die von dem schlanken Halse über den weißen Morgenmantel herabfiel.

„Vater,“ sagte sie, „ich weiß, daß Sie eine offene Antwort fordern, und darum will ich sie Ihnen geben; aber Sie verzeihen mir,“ fügte sie mit einem unbeschreiblichen Blicke hinzu – „wenn sie nicht so ganz nach Ihrem Wunsche ausfällt. Der junge Freiherr mag allen Anforderungen der großen Gesellschaft entsprechen – den Anforderungen, die ich an meinen zukünftigen Gatten mache, entspricht er durchaus nicht.“

„Henriette, willst Du nichts weiter in Betracht ziehen, als nur die Ansprüche Deiner Person?“ fragte der Oberst, indem er einen forschenden Blick auf seine Tochter warf. „Giebt es für eine Eppstein keine andern Beziehungen; die zu erwägen sind?“

„Vater, meine ältere Sehwester Cäsarine hatte nur die Beziehungen im Auge, von denen Sie reden – sie war nur die folgsame Tochter eines hocharistokratischen Hauses, und ist in diesem Augenblicke eine unglückliche Gattin und Mutter. Dasselbe Schicksal steht mir bevor, und ich kann selbst sagen, ein noch schrecklicheres, wenn ich dem Schwager meiner Schwester die Hand reiche. Die Freifrau sucht für ihren jüngsten Sohn nicht etwa eine Gattin; sie sucht ein Vermögen für ihn.“

„O wie falsch sind Deine Ansichten!“ rief mit Bitterkeit der Baron; „die Familie Erichsheim zählt sich zu den reichsten unserer Provinz; Geld und Gut üben keine Gewalt über sie aus, nur die Ehre – –“

Henriette zuckte unwillkürlich zusammen; mit einer reizenden Impertinenz hob sie den Kopf und sagte:

„Vater, man erzählt den Tod des alten Freiherrn auf mancherlei Weise, und ich glaube, daß mir nur die gelindeste zu Ohren gekommen ist.“

Der Oberst schrak zusammen.

„Henriette, Du hast conspirirt, Du hast Erkundigungen eingezogen, die – –“

„Wahrlich nicht, mein Vater; was ich weiß, ist mir zufällig bekannt geworden.“

„Von jenem Herrn von Nienstedt?“

„Ich habe zu wenig mit ihm gesprochen, um die Unterhaltung auf solche Dinge leiten zu können.“

„Und was weißt Du, Henriette?“

„Daß die Freifrau mit ihrem ältesten Sohne, mit dem Manne meiner armen Schwester, den alten Freiherrn in einer Art von Wuth um’s Leben gebracht hat, als er sich weigerte, eine bestimmte Summe zu einem bestimmten Zwecke herzugeben. Man weiß, der Freiherr war sehr geizig, aber man weiß auch, daß seine Familie eben so verschwenderisch war. Vater, das schöne Gut Nienstedt ist Ihr alleiniges, unbestreitbares Besitzthum – bewahren Sie es, tragen Sie Sorge, daß nie einer dieser Verschwender seine Hand daran lege, noch irgend ein Recht der Verfügung daran erhält; es ist ja möglich, daß Ihren beiden Töchtern Nichts bleibt, als dies Asyl.“

Der Oberst war aufgestanden und ging in großer Bewegung durch das Zimmer. Er hatte am verflossenen Abende mit der alten Freifrau eine lange Unterredung gehabt; und wenn Henriette hierin die Impulse zu allen seinen Unternehmungen erblickte, so hatte sie Recht. Sie las es in den strengen Zügen des Vaters, daß seine Liebe und seine Intelligenz mit einem starken, gewaltigen Feinde im Kampfe lagen; mit einem Feinde, dem er nicht ausweichen konnte. Henriette hatte sich mit dem Muthe und der Entschlossenheit gepanzert, die ein bewährter Erfahrungsfall stets zu verleihen pflegt; sie stützte sich nachdrücklich auf das Unglück ihrer Schwester Cäsarine, und sie konnte es mit vollem Rechte, da ihre Verbindung mit Ignaz unter denselben Verhältnissen stattfinden sollte, als die Cäsarine’s bereits stattgefunden hatte. Dazu kam noch ihre Neigung zu Ludwig, den sie mit dem ersten jugendlichen Feuer eines unverdorbenen Herzens liebte.

Plötzlich blieb der Oberst vor ihr stehen.

„Mein Kind,“ sagte er, sie fixirend; „hast Du wirklich nur das Schicksal Deiner Schwester im Auge? Glaubst Du, daß Du ihr einst mit Deinem Erbtheile, mit Nienstedt, hülfreich beistehen müssen wirst?“

„O, gewiß, mein Vater, und ich schwöre Ihnen, daß es mit Freuden geschehen wird.“

„In diesem Falle bedaure ich, Dich dieser Freude berauben zu müssen – Ludwig von Nienstedt hat sich wieder angekündigt, wie Du weißt, und nach einer Klausel in dem Kaufkontrakte – ich erkaufte das Gut zu einem sehr billigen Preise – steht ihm fünfundzwanzig Jahre ein bedeutendes Besitzrecht zu. Er ist vor Ablauf dieser fünfundzwanzig Jahre erschienen, und ich bin verbunden, diese Klausel zu Deinem Nachtheile zu halten. Nur noch kurze Zeit hält man Dich für ein begütertes Mädchen, dann wird man Dich in die Kategorie der armen Fräulein werfen, deren Verheirathung nur ein Werk des Zufalls ist. Ich überlasse Dich jetzt Deinem Nachdenken, und hoffe, daß es Dir nicht schwer werden wird, das Beste für Dich und Deine Familie herauszufinden. Die Freifrau erwartet diesen Abend meinen definitiven Entschluß; [34] setze mich also diesen Mittag in den Stand, daß ich ihn ertheilen kann. Henriette, vergiß die Ehre unseres Standes, vergiß Deinen Vater nicht!“

Der Oberst entfernte sich. Die letzten Worte hatte er in einem fast bewegten Tone gesprochen.

„Was ist das?“ fragte sich Henriette bestürzt. „Ich bin einem neuen Geheimnisse auf der Spur, und wenn mich nicht Alles täuscht, so hat jene ränkesüchtige Familie der Erichsheim’s meinen armen Vater in eine Schlinge gezogen, aus der er sich ohne Verlust seiner Ehre nicht wieder befreien kann. Der Vermögensantheil Ludwig’s an dem Schlosse ist Nichts – hier liegt eine neue Infamie zum Grunde.“

Sie zog die Glocke; die Kammerfrau erschien.

„Wo ist mein Vater?“

„Er befindet sich auf seinem Zimmer. Herr von Heiligenstein und Herr Ludwig von Nienstedt sind bei ihm.“

„So vollende rasch meine Toilette, denn man wird ohne Zweifel bald nach mir rufen!“


IV.

Wir verlassen das Putzzimmer der jungen Dame, und betreten das Gemach des Herrn von Eppstein, das durch einen kleinen Saal davon geschieden ward. Die beiden Freunde hatten sich so eben auf die Einladung des Obersten niedergelassen.

„Sie sind pressirt, Herr Oberst,“ begann Ludwig; „darum werde ich mich kurz fassen, wenn mir auch bei dem Ernste der Sache ein tieferes Eingehen wünschenswerther erscheint. Mein Besuch hat zunächst den Zweck, mich Ihnen persönlich als den Letzten des Hauses Nienstedt vorzustellen. Ich halte dies aus mehr denn einer Rücksicht für eine Pflicht, die ich nicht umgehen kann.“

„Aus mehr denn einer Rücksicht?“ fragte wie neugierig der Oberst.

„Ja, mein Herr!“

„Und die erste?“

„Weil Sie der gegenwärtige Bewohner meines väterlichen Stammschlosses sind.“

„Sagen Sie lieber: der rechtmäßige, unantastbare Besitzer des Gutes Nienstedt.“

„O gewiß, mein Herr.“ sagte Ludwig lebhaft, „denn Sie haben es mit Ihrem Vermögen erkauft, und ich müßte ein Wahnsinniger sein, wollte ich Ihnen einen Stein daran streitig machen. Ich freue mich vielmehr, daß das Stammschloß der Nienstedt’s auf eine so würdige Familie als die Ihrige übergegangen ist. Muß es mir, dem in der Schule des Lebens gereiften Manne, nicht ein beruhigendes Gefühl sein, wenn er die Orte, die alle seine Jugenderinnerungen einschließen, unter der Obhut eines Mannes weiß, der sie aus Rücksicht für seinen verstorbenen Freund heilig hält? Herr Oberst, als ich vor zwölf Jahren Europa verließ, kannte ich zum Theil die zerrütteten Vermögensumstände meines Vaters, und ich reiste mit dem festen Vorsatze ab, entweder nie, oder mit einer kräftigen Hülfe zurückzukehren. Ich kehre zurück, die Hülfe trage ich bei mir; aber der, dem sie zu Gute kommen soll, ist nicht mehr, selbst meine Schwester schlummert den ewigen Schlummer. Sie standen, was ich damals nicht wußte, da mich meine Studien fern von der Heimath hielten, mit dem alten Baron von Nienstedt in freundlichen Verhältnissen – –“

„Mein Herr, Sie wollten sich kurz fassen,“ sagte unruhig der Oberst.

„Es geschieht, Herr Oberst; ich spreche kein Wort, das nach meinem Gefühle nicht sehr wichtig wäre. O, verschmähen[WS 2] Sie nicht, mich anzuhören, denn ich bilde mir ein, daß ich vor meinem Vater stehe. Und darum muß ich mich zunächst selbst anklagen.“

„Sich selbst anklagen?“ fragte verwundert der Oberst.

„Und diese Anklage mag Ihnen den Beweis von der Aufrichtigkeit dessen liefern, was ich so eben ausgesprochen habe. Es giebt Dinge, mein Herr, die man im Leben nur einmal begehen kann, weil sie mit der Reue das Verlangen erzeugen, das Geschehene ungeschehen zu machen. Zu diesen Dingen zähle ich den letzten heimlichen Aufenthalt in dem Hause meines Vaters. Zu der beabsichtigten großen Reise bedurfte ich einiger Legitimationspapiere und vorzüglich solcher, die sich über meinen Geburtsadel aussprachen. Sie erlassen mir die Erörterung der Gründe, die mich dazu veranlaßten. Ich wiederhole es, daß mich die reinsten Absichten zu dem Unternehmen überhaupt leiteten, und daß mir Alles daran lag, meinen Vater, der mich sicherlich durch alle Mittel zurückgehalten haben würde, nicht in das Geheiumiß zu ziehen. So benutzte ich meinen letzten kurzen Besuch auf Nienstedt dazu, mich eines kleinen Packets Papiere zu bemächtigen, die dem angegebenen Zwecke entsprachen. Der Verlust derselben konnte, wie ich damals wähnte, meinem Vater nicht schaden; mir aber konnten sie in jeder Beziehung den erwarteten Vortheil bringen. Ich verließ Nienstedt, um kurze Zeit darauf nach der neuen Welt, nach meinem Eldorado, zu reisen. Nach einer langen, aber glücklichen Fahrt kam ich in Calcutta an. Ich bedurfte meiner Papiere, und unterwarf sie_der ersten, sorgfältigen Prüfung. Da machte ich die Entdeckung, daß sich ein Document unter ihnen befand, das in den Händen meines Vaters besser aufgehoben gewesen wäre. Ja, Herr Oberst, ich verwünschte meinen Leichtsinn, und würde Alles in der Welt darum gegeben haben, hätte ich das Papier sofort zurücksenden können. Dies aber war aus mehr als einem Grunde ein Ding der Unmöglichkeit, und ich suchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß mein Vater auch ohne dieses Papier eine Summe von 24,000 Thalern zurückerhalten würde, denn der Aussteller war mir als ein Mann von Ehre und hoher Rechtschaffenheit bekannt.“

„Wahrlich, mein Herr,“ sagte der Oberst, indem er rasch und stolz seinen Kopf emporwarf, „in diesem Punkte haben Sie sich nicht getäuscht! Es war diese Sunnne zwar nur eine Spielschuld, aber der Oberst von Eppstein zahlt alle seine Schulden mit gleicher Gewissenhaftigkeit. Verzeihung, Herr von Heiligenstein, da Sie einmal als Zeuge bei dieser delicaten Verhandlung eingeführt sind, so erlauben Sie mir, daß ich sie in Ihrer Gegenwart zu Ende bringe. Ihr Vater, mein Herr,“ wandte er sich zu dem jungen Manne, „war nicht minder gewissenhaft als ich; er verweigerte die Annahme der Schuld, da er mir meinen Ehrenschein nicht zurückerstatten konnte, und da er fürchtete, daß man ihn mir früher oder später präsentiren würde. Noch mehr, mein Herr, Ihr Vater ging in seinem Stolze und in seiner Gewissenhaftigkeit so weit, daß er die Zerrüttung seines Vermögens zu verbergen suchte und mich bat, von einer Angelegenheit ferner nicht zu reden, die nur durch den unglücklichen Schein selbst beseitigt werden könne. Was ich damals nicht begriff, wird mir in diesem Augenblicke klar: der würdige Vater leistete unter den drückendsten Verhältnissen auf eine Forderung Verzicht, von der er fürchtete, daß sie später sein Sohn mit Hülfe des Ehrenscheins gelten machen würde – ja, mein Herr, der alte Herr von Nienstedt hatte schon damals die Ehre seines Sohnes im Auge, dessen Vergehen er zwar nicht kannte, wohl aber ahnte. Es unterliegt keinem Zweifel: seine Ahnung hat ihn nicht getäuscht.“

Ludwig’s Gesicht überflammte eine dunkele Röthe; einen Augenblick vermochte er kaum zu antworten, er schien die Fassung verloren zu haben. Der Oberst stand vor ihm und sah ihn mit großen, glühenden Augen an.

„Herr von Nienstedt,“ sagte er mit kalter Höflichkeit, „Sie sehen, daß es einer weitern Einleitung nicht bedarf – ich erwarte ohne Umschweife Ihren Antrag.“

Die beiden Gäste erhoben sich. Ludwig ermuthigte sich durch einen Blick auf seinen Freund Heiligenstein, dessen Gesicht ruhig und gelassen geblieben war.

„Herr Oberst,“ begann der junge Mann ernst und fest, „ich bin allerdings gekommen, um Ihnen einen Antrag zu stellen, aber er ist anderer Art als Sie wähnen. Der einzige Vertreter der Familie Nienstedt hält es für Pflicht, jeden, auch den leisesten Makel zu erlöschen„ mit dem ein widrigcs Geschick den Schild derselben beflecken könnte. Ich bitte Sie, ein Papier zurückzuempfangen, das mein Vater nie hätte von Ihnen annehmen sollen.“

„Mein Herr!“ rief der Oberst überrascht, indem er einen Schritt zurückwich.

„Diese Erklärung“ fuhr Ludwig fort, „glaube ich Ihnen nur in Gegenwart eines Mannes geben zu können, der von den Intentionen des Verstorbenen am Besten unterrichtet ist, der sein Freund war. O, nehmen Sie es, Herr Oberst, und helfen Sie mir die Mission meines Lebens erfüllen. Und kann ich meinen leichtsinnigen Schritt – wenn ich heute das kühne Unternehmen meiner Jugend noch so nennen darf, da es durch einen herrlichen Erfolg gekrönt ward – kann ich diesen Schritt würdiger ausgleichen? Nicht ich biete Ihnen dieses Document, sondern der verstorbene [35] Herr von Nienstedt. Ehren Sie mit mir sein Andenken, mein Herr, und weisen den Antrag nicht zurück!“ bat Ludwig mit weicher, flehender Stimme.

Der Oberst kämpfte einige Augenblicke mit sich selbst; dann ergriff er das Papier, das ihm der junge Mann bot, betrachtete die Zeilen und flüsterte:

„Es sind meine Schriftzüge! Ich schrieb sie vor sechzehn Jahren!“

Die Erinnerung schien mächtig jene Zeit heraufzubeschwören, denn das Papier erzitterte in der Hand des alten Herrn.

Während dieser Zeit war ihm Heiligenstein näher getreten.

„Herr Oberst,“ sagte er leise, „hören Sie auf den Rath eines Freundes: behalten Sie dieses Papier und vernichten Sie es!“

„Warum?“

„Der Freiherr von Erichsheim –“

„Er ist todt!“

„Aber seine Frau und seine Söhne leben –“

„Ich verstehe Sie nicht, mein Herr!“

„Warnen Sie den Obersten, waren die letzten Worte des verstorbenen Herrn von Nienstedt – ich mußte es ihm in seine kalte Hand versprechen, Glauben Sie mir, ich bin kein müßiger Zuschauer bei dieser Scene. Mit der Rückkehr des jungen Barons sind für mich Pflichten erwachsen, die ich zu erfüllen mich bestreben werde.“

Der Oberst wandte sich zu Ludwig:

„Wohlan, mein Herr, so nehme ich dieses Papier zurück; dessen ungeachtet aber ist die Verpflichtung nicht erloschen, die es mir auferlegt. Ich behalte mir ein Arrangement der Angelegenheit vor.“

Der junge Baron verneigte sich als ein Zeichen seiner Zustimmung.

„Herr von Heiligenstein“ sagte er dann, „mein Geschäft ist zu Ende – damit Sie das Ihrige beginnen können, ziehe ich mich zurück!“

Er verneigte sich vor dem Obersten und verließ hastig das Zimmer. Der Oberst sah erstaunt den Zurückbleibenden an.

„Herr Oberst,“ begann Heiligenstein, „ich setze voraus, daß Sie meine mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu den Nienstedt’s gekannt haben.“

„Ich erinnere mich, daß Sie mit einem Fräulein von Nienstedt verlobt waren – der Tod raubte Ihnen die Braut, mein Herr.“

„Aber Adelheid’s Vater betrachtete mich wie seinen Sohn. Demnach konnte es mir nicht fremd bleiben, daß der alte Freiherr von Erichsheim, ein Wucherer en gros, eine bedeutende Hypothek auf dem Gute Nienstedt hatte, und daß er es war, der auf den öffentlichen Verkauf drang. Der Tod ereilte ihn, und was er angefangen, setzte seine Familie fort. In diese Zeit fällt die Abreise des jungen Ludwig. Dann starb der alte Baron, und Sie, mein Herr, traten ein Jahr später den Besitz des Gutes an. Kurze Zeit darauf fand die Verlobung Ihrer ältesten Tochter mit dem ältesten Sohne der Freifrau von Erichsheim statt.“

„O, mein Herr,“ sagte schmerzlich der Oberst, „mein Freund von Nienstedt hat Ihnen sein Vertrauen geschenkt, ich kann mich nicht erwehren, Ihnen auch das meinige zu schenken. Ich war gezwungen, mein armes Kind einem herz- und gefühllosen Manne zu opfern. Die Wittwe von Erichsheim dringt jetzt auf ein Arrangement ihres Vermögens, und um die Hypothekschuld auf Nienstedt aus der Welt zu schaffen, hat sie mir eine Verheirathung unserer jüngsten Kinder vorgeschlagen.“

„Mein Herr, haben Sie Ihrem verstorbenen Freunde Nienstedt kein Versprechen zu erfüllen?“

„Die Abreise seines Sohnes und die ungünstigen Vermögensverhältnisse haben mich von diesem Versprechen entbunden.“

„Der junge Baron ist zurückgekehrt – er besitzt mehr als eine Million, sein Stammbaum ist makellos, und mehr noch, ich habe ihn als einen vortrefflichen Mann kennen gelernt. Herr Oberst, von den Verhältnissen, die wir jetzt berühren, ist ihm Nichts bekannt, er ahnt sie nicht einmal; aber er liebt Fräulein Henriette, und wenn er seinen Stand nicht sofort entdeckte, so geschah es aus Besorgniß, daß sein übereilter Jugendstreich ihm angerechnet werden möge. Ueberlassen Sie Ihrer Tochter die Wahl, Herr Oberst, und alle Ihre Bedenken werden beseitigt sein.“

Heiligenstein schilderte nun in begeisterten Worten die Liebe des jungen Mannes. Dem Obersten schien eine schwere Last vom Herzen genommen zu sein. Beide Männer verbrachten noch länger als eine halbe Stunde im eifrigen Gespräche. Nach Ablauf derselben hatte Heiligenstein die schwierige Angelegenheit so weit geordnet, daß der Oberst, und vorzüglich Ludwig zufrieden sein konnte.

Hinter dem Hotel, das der Oberst von Eppstein mit seiner Tochter bewohnte, dehnte sich ein weitläufiger Garten mit schattigen Laubgängen aus. Hier wollte Ludwig den Freund und Anwalt seiner Herzensangelegenheit erwarten. Seine Stimmung bedarf wohl kaum einer Beschreibung. Er wußte, daß Henriette ihn liebte, und nach der so eben stattgehabten Unterredung mit dem Obersten war ihm klar geworden, daß der Vater in Verhältnissen lebte, die ihn mehr als jede andere Rücksicht bestimmen mußten, der Neigung seiner Tochter kein Hinderniß entgegenzustellen. Und befand er sich nicht im Besitze aller der Mittel, die erforderlich waren, um den Obersten dem Einflusse der Erichsheim’s völlig zu entziehen? Er glaubte nicht mehr zweifeln zu dürfen, daß er noch heute das Ziel seiner Wünsche erreichen würde. Glühend vor Aufregung durchschweifte er die einsamen Gänge, die von den Kurgästen um diese Zeit, wo die Sonne heiß herniederbrannte, gemieden wurden.

Da trat ihm plötzlich Henriette’s Kammermädchen entgegen.

„Ich suche Sie, gnädiger Herr!“

„Zu welchem Zwecke?“ fragte Ludwig, der die ihm bekannte Botin wie eine glückbringende Erscheinung begrüßte.

„Fräulein Henriette trinkt jetzt in der Laube ihre Chocolate.“

„Bist Du beauftragt, mir diese Mittheilung zu machen?“

„Ja, mein Herr!“

„So nimm Deinen Botenlohn! Bemerkst Du, daß der Herr von Heiligenstein den Obersten verläßt, so benachrichtige mich davon.“

Er warf dem Mädchen seine Börse zu und verschwand zwischen zwei blühenden Hecken. Bald stand er vor einer kleinen, dicht beblätterten Lindenlaube. Als er leise die Zweige zurückbog, sah er Henrietten: sie saß in einem kleinen Sessel und las in einem Buche. Unter dem großen runden Strohhute mit den langen blauen Bändern quollen die schweren glänzenden Locken herab. Ein einfaches weißes Kleid schmiegte sich leicht den jugendlichen, eleganten Körperformen an. So reizend das Bild auch war, das sich dem entzückten Lauscher in der dunkelgrünen, duftigen Einfassung der Laube bot, so wenig Ruhe hatte Ludwig, um sich auch nur eine halbe Minute dem Beschauen desselben zu überlassen. Er trat in den stillen, dämmernden Raum und ließ sich schweigend vor seinem Ideale auf ein Knie nieder. Henriette streckte ihm hocherröthend die kleine Hand entgegen.

„Guten Morgen, mein lieber Freund!“ flüsterte sie, indem sie das Buch auf den Tisch warf. „Sie kommen von meinem Vater?“ fügte sie rasch hinzu.

„Ja, und ich glaube mich der Hoffnung hingehen zu dürfen, daß mein Glück von Ihrer Entscheidung allein abhängen wird. Der erste Schritt ist bereits geschehen, um den Einfluß unserer Feinde zu schwächen. Ihr edler Vater, Henriette, hat mir bewiesen, daß er für den verstorbenen Baron von Nienstedt noch eine wahre, innige Freundschaft hegt.“

„Sie kommen mit dem Herrn von Heiligenstein?“ fragte sie, als ob sie das Gespräch von diesem Punkte ablenken wollte.

„Er befindet sich noch jetzt bei dem Herrn Obersten, um das Werk zu vollenden, das ich so glücklich eingeleitet habe. Ach, Henriette, überlassen wir dem Freunde und dem Vater das Arrangement der materiellen Dinge, uns bleiben ja andere Gegenstände zu besprechen –“

„Sie haben Recht.“ flüsterte sie wie beruhigt. „Doch zuvor stehen Sie auf und nehmen Sie neben mir Platz.“

Er küßte ihre Hand, erhob sich und setzte sich auf einen Stuhl.

„Henriette,“ begann er mit schwankender Stimme, „daß in diesem Bade das Loos über mein Lebensglück geworfen werden würde, war mir klar, als ich das Glück der ersten Unterredung mit Ihnen gehabt. In diesem Augenblicke vielleicht fällt der eherne Würfel, und wenn ich mich auch einer frohen Hoffnung hingeben darf, so können dennoch Fälle eintreten, die der Erreichung meines Ziels Hindernisse entgegenstellen. Henriette, verzeihen Sie meiner Liebe den Kleinmuth –“

„Mein Gott, was fürchten Sie?“ fragte sie naiv überrascht. „Ich glaubte Hoffnung von Ihnen zu erhalten, und nun –“

[36] „Noch einmal Verzeihung, Henriette! Wer wie ich liebt, sieht in dem kleinsten Umstande Gefahr, er zittert für sein Heiligstes bei jeder dunkeln Wolke. Die Saison naht sich ihrem Ende, die Ereignisse drängen zu einem Ziele hin, und wenn wir uns trennen müßten, ohne daß eine definitive Entscheidung stattgefunden – Sie haben tausend Rücksichten zu nehmen –“

„Aber keine, mein lieber Freund, die mich bestimmen könnte, mein Herz völlig unbeachtet zu lassen. Ich habe den Muth gehabt, Ihre Betheuerungen anzuhören, ich habe Sie aufgefordert, dem Freiherrn von Erichsheim entgegenzutreten – ich werde auch den Muth haben, meine Neigung offen zu bekennen, jetzt, da ich weiß, daß der Baron von Nienstedt meinem Vater das ist, was er ihm sein soll. Ich verhehle es nicht, daß nur ein blendender, künstlich erzeugter Schimmer uns umgiebt, daß ich ein armes Mädchen bin, wenn die Verhältnisse schwinden, die diesen Schimmer erzeugen.“

„O, mein Gott,“ rief Ludwig hingerissen. „Sie beregen Dinge, die mir so fern liegen –“

„Und dennoch halte ich es für Pflicht, sie zu beregen, denn Sie dürfen über meine Person nicht den leisesten Zweifel hegen. In diesem Augenblicke entscheidet sich unser Loos, und in diesem Augenblicke will ich ganz offen sein. Ludwig, Sie schilderten mir den Eindruck, den mein erstes Erblicken auf Sie ausgeübt – dieselben Empfindungen bemächtigten sich meiner, als ich Sie, den Fremden, zum ersten Male auf dem Schlosse Nienstedt sah. Sie folgten uns in das Bad, und ich entzog mich Ihrer Annäherung nicht, da sie einem Gefühle entsprach, das ich bis dahin nicht gekannt hatte, und ich bekenne es, mich glücklich machte. Mein Vater entdeckte mir nun die Absicht der Erichsheim’s, mit Schaudern gedachte ich des traurigen Schicksals meiner ältern Schwester, und Ludwig, der nicht ohne mich leben zu können schwur, ward mir ein Trost, eine Stütze, denn Alle hatten mich verlassen, man wollte mich rücksichtlos den Verhältnissen opfern. Sie wissen es,“ fügte sie flüsternd hinzu, „ich barg dem Vater das Geheimniß meines Herzens, um gegen ihn und seinen Plan zu conspiriren. Vielleicht war dies ein wenig leichtsinnig, aber ich bauete fest auf den ehrlichen Charakter, der sich so offen in Ihren Zügen ausspricht und glaubte den Versicherungen, daß ein Standesunterschied zwischen uns nicht obwalte. Der Ball bei dem Fürsten gab mir die Gewißheit, daß ich mich nicht getäuscht hatte, und als ich Ihren wahren Namen hörte, ward mir die Vorsicht erklärlich, die Sie anwendeten.“

„Henriette,“ rief Ludwig, „ich wäre sicher ein Fremder geblieben, würde unzweifelhaft mein Incognito bewahrt haben, hätte mich die Liebe nicht zu Ihren Füßen festgebannt! Ich begriff, daß meine Abkunft die einzige Waffe war, mit der ich Sie vertheidigen konnte –“

Sie reichte ihm verschämt lächelnd die Hand und flüsterte:

„Huldigen wir den Vorurtheilen, da das Glück meines armen Vaters davon abhängt. Ich habe Sie geliebt, ehe ich Ihren Stand kannte, und Sie müssen überzeugt sein, daß meine Neigung keine bedingte ist.“

„O, mein Gott, Henriette, ich habe nie daran gezweifelt!“

„Und dennoch erblicke ich eine Wolke auf Ihrer Stirn, die Ihr Glück zu trüben scheint. O, sprechen Sie sich offen aus, diese Stunde darf nicht vergehen, ohne daß der kleinste Zweifel beseitigt wird. Woran denken Sie?“ fragte sie zärtlich, indem sie ihre kleine Hand an seine glühende Stirn legte. „Theilen Sie sich mir mit, vielleiht kann ich Sie beruhigen.“

„Henriette, ich denke an einen Umstand, den der Zufall hätte fügen können.“

„Nennen Sie mir diesen Umstand.“

„Wenn es mir nun nicht vergönnt gewesen wäre, einen Stammbaum aufzuzeigen? O, meine Geliebte, sagen Sie mir, was wäre mein Loos gewesen?“

„Sie gehen zu weit, Ludwig!“ antwortete sie lächelnd und erröthend. „Auch ich habe mir diese Frage in jener Zeit der Ungewißheit vorgelegt –“

„Und was antworteten Sie sich darauf?“

„Ich vertraute dem guten Genius der Liebe, und, wie Sie sehen, hat er mich nicht getäuscht. Warum soll ich jetzt noch an Dinge denken, die mir nur Qual bereiten? Ich liebe Sie, Ludwig, und dieser eine Gedanke füllt mein ganzes Herz aus, daß für andere kein Raum mehr darin ist.“

Hingerissen ergriff Ludwig ihre beiden kleinen Hände und drückte sie an seine Lippen. Henriette legte ihre Wange an seine Schulter, als ob sie ihr glühendes Gesicht verbergen wollte. Ein Geräusch von Schritten schreckte die Liebenden empor. Als sie aufsahen, stand die bleiche Freifrau von Erichsheim am Eingange der Laube; der blonde Ignaz hielt den Arm seiner Mutter in dem seinigen Mutter und Sohn schienen sprachlos vor Erstaunen zu sein. Henriette war nur überrascht, sie erhob sich und grüßte durch eine leichte, anmuthige Verneigung.

„Man sagte uns, daß der Oberst von Eppstein hier bei seiner Tochter sich befände,“ begann die alte Dame mit zitternder Stimme.

„So hat man Ihnen die Unwahrheit gesagt, gnädige Frau,“ antwortete Henriette so ruhig, als ob der Besuch sie durchaus nicht belästige. „Mein Kammermädchen wußte, daß der Herr Baron von Nienstedt mir Gesellschaft leistet, und ich habe durchaus keinen Befehl gegeben, mich zu verleugnen. Mein Vater befindet sich in seinem Zimmer und hat Geschäfte mit dem Herrn von Heiligenstein. Wollen Sie ihn sprechen, so werde ich selbst gehen –“

Die lange bleiche Frau vertrat dem jungen Mädchen den Weg.

„Ich bitte, bleiben Sie mein liebes Fräulein!“ sagte sie spöttisch lächelnd. „Nach dem tête-à-tête, das der tüchtige Zufall uns zu belauschen gestattete, fällt der Grund des Besuches weg, den ich dem Herrn Obersten zugedacht. Der Herr Baron von Nienstedt soll sich nicht darüber beklagen, daß wir dem zärtlichen Ergusse seines Herzens auch nur um eine Minute Abbruch gethan.“

„O, gewiß,“ fügte der blonde, junge Mann höhnend hinzu, „man soll uns nicht der Zudringlichkeit zeihen, und deshalb bitte ich Fräulein von Eppstein annehmen zu wollen, daß wir durchaus keine Ansprüche aus den Beziehungen herleiten, in denen wir zeither gestanden haben.“

Henriette verneigte sich zum zweiten Male. Dann antwortete sie mit kalter Artigkeit:

„Ich habe dies seit dem Augenblicke vorausgesetzt, daß ich das Glück hatte, den Herrn von Erichsheim kennen zu lernen.“

„Wahrhaftig?“ fragten Mutter und Sohn zugleich.

„Sie werden nicht in Abrede stellen, gnädige Frau, daß ich mir das Recht frei zu handeln in jeder Beziehung gewahrt habe.“

„Eben so wenig,“ fügte die Freifrau hinzu, „daß Sie dieses Recht auch geübt haben. Wahrlich, ich kann es mit gutem Gewissen bestätigen!“

„Gnädige Frau,“ sagte Ludwig, dessen Geduld zu Ende ging, „es bedarf Ihrer Bestätigung nicht, denn Fräulein Henriette hat mir den Vorzug eingeräumt, ihrem Vater zu sagen, daß sie der Familie von Nienstedt anzugehören kein Bedenken trägt.“

Die Freifrau zuckte zusammen. Wie krampfhaft drückte sie die Spitzen ihrer schwarzen Mantille in der Hand, und dabei schleuderte sie einen furchtbaren Blick auf die beiden jungen Leute, die mit furchtloser Stirn vor ihr standen.

„Sie trägt kein Bedenken!“ zischte sie, in tiefster Seele verletzt.

„Ich verschmähe es, von Ihnen, mein Herr eine nähere Deutung dieser Worte zu fordern.“

„Aber ich verschmähe es nicht, Mutter!“ rief Ignaz. „Mein Herr,“ wandte er sich zu Ludwig, „Sie werden nicht abreisen, ohne mir Rede gestanden zu haben! Erwarten Sie bis morgen meinen Cartelträger.“

„Seien Sie gewiß mein Herr, daß ich ihn erwarte!“

Mutter und Sohn verließen rasch die Laube und verschwanden in den Gängen des Gartens. Henriette sank an Ludwig’s Brust.

„Die Entscheidung ist rascher gekommen, als ich geglaubt habe!“ flüsterte sie. „An ein Umkehren ist nicht mehr zu denken, darum schreiten Sie vorwärts, und vergessen Sie nicht, daß meine Ehre in Ihre Hand gegeben ist!“

„Ach, Henriette, ich werde sie zu wahren wissen!“ rief der Baron. „Nur mit meinem Leben erlischt die Sorge für Ihre Ehre, für Ihr Glück!“

Nach einigen Minuten erschien das Zimmermädchen. Ihr auf dem Fuße folgend der Oberst und Heiligenstein.

[45] „Herr Baron,“ sagte der Greis, „Ihr Rechtsanwalt hat die schwierige Angelegenheit zu einem gedeihlichen Ende geführt. Genehmigen Sie die Punkte, die ich mit ihm zu verabreden gezwungen war, so kann ich den Willen meiner Tochter mit gutem Gewissen sanctioniren.“

„Ich genehmige Alles, Alles,“ rief Ludwig, „denn Heiligenstein ist mir ein väterlicher Freund, er besitzt die ausgedehnteste Vollmacht.“

„Und Du, Henriette?“

Sie reichte dem jungen Baron die Hand und trat mit ihm zu dem Vater.

„In Gottes Namen!“ rief der greise Oberst. „Und Du, alter Freund,“ fügte er gerührt hinzu, indem er zum Himmel emporblickte, „gieb wie ich deinen Segen zu einer Verbindung, die unabhängig von allen äußern Einflüssen geschlossen ist. Mein ältestes Kind ward ein Opfer der Verhältnisse, ich hege die frohe Zuversicht, daß meine Henriette in der Wahl ihres Herzens glücklich sein wird!“

Gerührt kehrten Alle in das Zimmer des Obersten von Eppstein zurück. Hier erzählte Ludwig die Scene mit den Erichsheim’s. Die drei Männer hielten eine kurze Berathung. Es ward beschlossen, daß Ludwig der Freifrau am nächsten Morgen einen Besuch abstatten und bei dieser Gelegenheit die Geschäfte seines künftigen Schwiegervaters ordnen sollte. Nach Tische unternahmen die Liebenden eine Landparthie, und der Oberst und Heiligenstein begleiteten sie. Ludwig stand auf dem Gipfel seines Glücks – als er am Abend schied, trug er den Verlobungsring Henriette’s am Finger.


VI.

Am folgenden Tage begab sich Ludwig zu der Freifrau von Erichsheim. Die alte Dame war überrascht, aber sie empfing den Besuch stolz und mit kalter Artigkeit,

„Sie wollen meinen Sohn sprechen?“ sagte sie.

„Zunächst bitte ich die gnädige Frau um eine kurze Unterredung.“

„Mich, Herr Baron? Zählen Sie auf eine Vermittlung des Ehrenhandels mit meinem Sohne, so muß ich im Voraus bitten, mich zu verschonen, denn – –“

„Verzeihung, gnädige Frau, ich bin gewohnt, meine Ehrenhändel selbst auszufechten; mein gegenwärtiger Besuch hat einen andern Zweck, er betrifft eine Geschäftssache.“

Nachdem die Dame dem jungen Baron einen Stuhl angedeutet, ließ sie sich mit der Würde einer Königin auf dem Sopha nieder. Ungezwungen nahm Ludwig ihr gegenüber seinen Platz.

„Gnädige Frau,“ begann er, „Sie haben diesen Morgen dem Obersten von Eppstein das Kapital gekündigt, das Sie auf seinem Gute Nienstedt stehen haben. Dieses Kapital ist Ihnen nicht nur durch die erste Hypothek genannten Gutes gesichert, Sie besitzen über dieselbe Summe auch noch einen Wechsel.“

„Ah, das ist es!“ flüsterte höhnend die Freifrau.

„Ja, das ist es, Madame !“

„So sind Sie der Negociant des Herrn Obersten?“

„Ich bitte, nehmen Sie mich als solchen.“

„Nun gut, so sagen Sie ihm, daß ich nach acht Tagen zunächst von dem Rechte Gebrauch machen würde, das mir der Wechsel giebt. Noch heute,wird mein Rechtsanwalt Auftrag erhalten – –“

„Ersparen Sie sich diese Mühe, gnädige Frau; ich komme im Auftrage des Herrn Obersten, um den Wechsel, sofort einzulösen. Dieses Portefeuille enthält die volle Summe in guten Staatspapieren.“

Der Baron holte ein Taschenbuch hervor und behielt es in der Hand. Fast bestürzt sah es die Freifrau an.

„Dieser Umstand würde das Geschäft allerdings vereinfachen,“ sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. Demnach würde ich meinem Rechtsanwalt nur Auftrag zu geben haben, das Kapital gegen die Papiere einzutauschen.“

„Und wenn sich die gnädige Frau auf der Stelle diesem Geschäfte unterzöge?“

„Dies ist unmöglich, da ich die betreffenden Papiere nicht bei mir führe. Aber zählen Sie darauf, in acht Tagen wird das Geschäft beendet sein. Wo hat sich mein Geschäftsträger einzufinden?“

„Auf dem Gute Nienstedt.“

Ludwig verbarg sein Portefeuille und erhob sich. Die Freifrau verließ ebenfalls ihren Platz. Man grüßte sich gegenseitig sehr artig, und der Besuch entfernte sich. Frau von Erichsheim war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben.

„Verdammt,“ zischte sie, „so wäre mir das letzte Mittel entrungen, mit dem ich den alten Schwachkopf meinem Plane geneigt machen konnte! Armer Ignaz, die schöne Henriette ist für Dich verloren. Und wer trägt die Schuld daran? Wer zerstört alle Hoffnungen, alle Aussichten auf einen glücklichen Erfolg? Dieser Abenteurer, dieser spekulirende Baron. Er ist uns ein gefährlicher [46] Gegner, denn er besitzt die mächtige Waffe des Reichthums. Soll ich mich für überwunden erklären, indem ich ihm einfach, die Papiere übersende? Dagegen sträubt sich mein Stolz! Das Geschick des Obersten lag völlig in meiner Hand, es hing von der letzten Bewegung derselben ab, und er wäre ein Bettler gewesen. Bleibt mir denn Nichts, Nichts, um einen letzten Streich zu führen? O, daß dieser Ehrenschein verschwunden ist, er würde jetzt zu einer furchtbaren Waffe in meiner Hand werden.“

Zitternd vor Aufregung sank die bleiche Frau in den Sopha; sie zog ein kleines Medaillon aus dem Busen hervor, in dessen Goldrahmen sich das Portrait eines jungen Mannes zeigte. Mit leuchtenden Blicken betrachtete sie die Züge, als ob sie neue Nahrung für ihren Haß daraus schöpfen, als ob sie ihre Erfindungsgabe dadurch schärfen wollte. Da ließen sich Schritte in dem Vorzimmer vernehmen. Die Freifrau verbarg rasch und zitternd das Medaillon. Ignaz trat ein; er trug ein zusammengelegtes vergilbtes Papier in der Hand.

„Was bringst Du, mein Sohn?“ fragte sie in scheinbarer Ruhe.

„Dieses Papier fand ich in dem Vorzimmer, Mutter. Haben Sie es verloren?“

„Gieb!“ sagte hastig die Mutter.

Ignaz überreichte ihr das Papier, das in den Brüchen bereits durchlöchert war; sie entfaltete es und las.

„Was ist das?“ rief sie in höchster Ueberraschung, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte.

Der junge Mann sah seine Mutter an; ihre Züge veränderten sich sichtlich. Die Augen der bleichen Frau vergrößerten sich und die feinen schmalen Lippen zuckten wie im Krampfe, während die magern, mit Ringen geschmückten Finger heftig zitierten. Sie hatte geendet.

„Wo fandest Du das Papier?“ fragte sie.

„In Ihrem Vorzimmerr, Mutter.“

„Wann?“

„Jetzt, Ich habe mir nicht so viel Zeit genommen, es anzusehen.“

„Dann hat er es verloren, und kein Anderer!“ rief die Freifrau, die noch einmal zu lesen begann. „O, das ist ein unschätzbarer Fund,“ fügte sie hinzu, indem sie das Papier mit leuchtenden Augen betrachtete; „er kann zu Entdeckungen führen, die für mich unbezahlbar sind. Aber wir müssen Vorsicht anwenden, denn wir haben es mit einem schlauen Gegner zu thun. Wohlan, mein Herr, jetzt gebe ich die Hoffnung nicht auf, der Kampf mag von Neuem, aber heftiger als zuvor beginnen.“

„Mutter,“ fragte verwundert der junge Mann, „von wem sprechen Sie?“

„Von wem ich spreche, mein Sohn? Von meinem, von Deinem Feinde, von dem Baron von Nienstedt.“

„Ich werde ihn heute noch zum Duelle fordern, er soll seine Insolenz büßen.“

Die Freifrau blieb stehen und sah ihren Sohn an; sie schien zu überlegen.

„Nein,“ sagte sie nach einer kurzen Pause, „das Duell wird nicht stattfinden. Ignaz, ich verbiete Dir, Dich mit dem Baron zu schlagen. Ich weiß, Du bist ein geschickter Fechter und ein geübter Schütze, Du wirst als Sieger aus dem Kampfe zurückkehren; aber was haben wir damit gewonnen? Der Baron allein hat eine Strafe erhalten, und der Oberst, dessen Schwachheit uns die größte Beleidigung zufügt, geht frei aus. Dieses Papier setzt mich in den Stand, eine empfindlichere Rache zu üben, eine Rache, die alle unsere Feinde zugleich trifft, selbst die kokette Henriette nicht ausgenommen. Vertraue mir, mein Sohn, Deine Angelegenheit ist ja auch die meinige. Du hast dem Baron eine nähere Erklärung zugesagt?“

„Zu heute.“

„Gut; setze Dich und schreibe, was ich Dir diktiren werde.“

Zitternd vor Aufregung drängte sie den jungen Mann zu dem Schreibtische. Mit einem krampfhaften Beben legte sie ihren Arm um seinen Nacken, sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke voll Schmerz und Bitterkeit an, und flüsterte:

„Auch Du mußt darunter leiden, mein Sohn; aber fasse Dich, unsere Rache wird eine vollständige sein. Frage mich nicht, ich kann Dir jetzt keine Aufklärung geben, ich muß den Schleier noch einige Zeit über der Vergangenheit ruhen lassen – die Zeit ist nicht fern, wo Du mich begreifen wirst. Folge mir blindlings und schreibe!“

Der Sohn ergriff die Feder, und die Mutter dictirte:

„Herr Baron! Ernste Rücksichten veranlassen mich, eine Sache zu ignoriren, die mir eigentlich stets hätte fremd bleiben sollen. Es ist mir lieb, daß der Plan meiner Mutter auf die bekannte Weise vereitelt wurde, denn wenn ich mich fügte, so geschah es aus kindlichem Gehorsam, mein Herz gab mir keine Veranlassung dazu. Da Sie ein Mann von Ehre sind, überlasse ich Ihrem eigenen Gefühle die Schritte, die zu unternehmen erforderlich, um die Kränkung einer Dame wieder gut zu machen. Dies ist der Wille meiner Mutter, und ich füge mich ihm als gehorsamer Sohn.“

Trotz aller Protestationen des jungen Mannes ward der Brief versiegelt und abgeschickt. Als Antwort darauf erhielt die Freifrau eine einfache Entschuldigung Ludwigs und die Anzeige des Obersten, daß seine Tochter Henriette mit dem Baron Ludwig von Nienstedt verlobt sei.

„Mutter, darin liegt eine neue Beleidigung!“ sagte Ignaz, nachdem er die Zeilen gelesen.

„Sie entgeht mir nicht,“ antwortete bitter lächelnd die Freifrau. „Mögen sie Beleidigung auf Beleidigung häufen – der Tag der Abrechnung bleibt nicht aus. So habe ich es gewollt; man soll an meine Niederlage glauben, damit ich einst desto furchtbarer mich erheben kann, Gieb Befehl, daß man packe, diese Nacht reisen wir ab.“

Um Mitternacht verließen die Erichsheim’s das Bad. Zwei Tage später reiste der Oberst mit seiner Tochter ab. Tags darauf folgten Ludwig und Heiligenstein, sie begaben sich nach dem kleinen Gute des Letztern, das eine Stunde von Nienstedt entfernt lag. Die Frau des Polizeicommissars hatte den Auftrag erhalten, ihr ganzes Haus zum Empfange der jungen Gatten für das nächste Jahr vorzubereiten.


VII.

Der Herbst und der Winter waren verflossen. Ludwig wohnte mit seiner jungen Gattin auf Nienstedt, und Alles schien sich zu vereinigen, um sein Glück zu einem vollständigen und dauernden zu machen. Henriette liebte ihn mit der innigsten Zärtlichkeit, und der greise Oberst, der frei aufathmete, nachdem er das lästige Joch der Erichsheim’s abgeschüttelt, lebte wieder auf bei dem Glücke seines Kindes, Aber die Erinnerung an seine älteste Tochter trübte den Sonnenschein, der den Winter seines Lebens mit einem milden Lichte übergoß, und sein Schmerz über das unglückliche Loos derselben war um so größer, da es nicht in seiner Macht stand, der armen Gattin eines leichtsinnigen und gemüthlosen Mannes hülfreich die Hand zu bieten. Durch den Bruch mit der Freifrau waren alle Beziehungen zu der Familie der Erichsheim’s aufgehoben, und die Nachrichten, die man zufällig erhielt, brachten wenig Beruhigung.

Heiligenstein war im vollen Sinne des Wortes ein Hausfreund auf Nienstedt, man zog den erfahrenen Mann bei jeder Gelegenheit zu Rathe und Nichts ward ohne seine Beistimmung unternommen. Ludwig verwandte einen Theil seines großen Vermögens dazu, seinem väterlichen Gute den alten Glanz wieder zu verleihen, und als der Frühling erschien, entfaltete sich in allen Theilen der weiten Besitzung ein reges Leben. Der benachbarte Adel näherte sich den jungen Leuten, und Ludwig ward nicht nur als der reiche Baron geachtet, man schätzte ihn auch seines vortrefflichen Charakters wegen, und wünschte dem alten Obersten Glück zu einem solchen Schwiegersohne.

Die Reise in das Bad ward durch einen neuen Glücksumstand verhindert. Henriette schenkte ihrem Gatten einen Sohn, Heiligenstein hob ihn aus der Taufe, und der Täufling empfing den Namen seines Pathen, Friedrich. Die zärtliche Liebe der beiden Gatten, die sich mit jedem Tage der Ehe zu vergrößern schien, erregte die allgemeine Bewunderung, und wenn auch einige eifersüchtige und neidische Frauen hier und da boshafte Bemerkungen darüber machten, so wagte es doch Niemand, dem jungen Baron die Vergangenheit zum Vorwurfe zu machen, Ludwig und Henriette hatten sich einer aufrichtigen Liebe und Achtung zu erfreuen, vielleicht deshalb, weil es keinen erhabenern Anblick giebt, als glückliche Menschen. Beide lebten sich selbst und ihrer Familie, ohne sich gerade von der Welt zurückzuziehen. Ludwig empfing von Zeit zu Zeit eine große Gesellschaft in seiner prachtvollen Wohnung, denn gab er [47] dem stillen Familienleben auch den Vorzug vor den Freuden der Welt, so war er doch der richtigen Ansicht, daß eine Familie früher oder später ihrer bedarf. Und dann sah er mit Stolz, wie man seiner reizenden Gattin huldigte, die an Schönheit und Liebenswürdigkeit alle Damen überstrahlte.

Es war gegen Ende des Sommers. Ein heiterer Septemberabend hatte sich auf die herrliche Landschaft herabgesenkt, und die Ruhe der Nacht begann sich über der Besitzung auszubreiten. Ludwig stand mit seiner Gattin an der Wiege des kleinen Friedrich. Die Freude über den reizenden Knaben, der ruhig schlafend in den weißen Kissen lag, durchbebte die Herzen der Aeltern. Innig umschlungen standen sie da und lauschten auf das leise Athmen des kleinen Schläfers.

„Ludwig,“ flüsterte Henriette, „ist unser Kind nicht ein Engel?“

Er schloß sie in seine Arme und flüsterte zurück:

„Dem Himmel können nur Engel entsteigen, und Du bist mein Himmel, Henriette, meine Vorsehung, mein Leben!“

Sie lehnte ihr Gesichtchen, das in diesem Augenblicke von einer überirdischen Schönheit zu sein schien, an seine Wange. Ludwig fühlte, wie ihr Herz an dem seinigen klopfte„ wie der würzige Hauch ihres Mundes sein Gesicht fächelte.

„O, könnte ich Dir Alles sein, was Du soeben ausgesprochen!“ rief sie leise. „Ich lebe ja nur für Dich und für unser Kind. Nun,“ fügte sie mit einem Lächeln unter Thränen hinzu, „ich werde mich wenigstens bemühen, durch Liebe und Ergebenheit Dein Glück zu fördern. Bleibt das Resultat hinter meinen Bemühungen zurück, so habe Nachsicht, Ludwig – –“

Er schloß ihr durch einen leidenschaftlichen Kuß den kleinen, blühenden Mund.

„Henrtette,“ rief er dann, „sprich nicht weiter, Du tödtest mich!“

Sie hing sich an seinen Hals; er umschlang sie mit beiden Armen und trug sie zu dem Sopha. Nachdem er sie langsam auf das schwellende Polster gesetzt, ließ er sich zu ihren Füßen nieder, ergriff ihre Hände und sah zärtlich zu ihr empor.

„Bist Du nun ganz glücklich, Ludwig?“ fragte sie leise.

„Ich bin es, und daß ich es bin, danke ich Dir. Ich wiederhole es, Henriette, mein Reichthum wäre mir ohne Dich Nichts gewesen, und gern würde ich ihn hingegeben haben, wenn ich mir dadurch Deinen Besitz hätte erkaufen müssen.“

„O mein Freund, Du kommst schon wieder auf Annahmen, wie einst in der Laube, als die Würfel über unser Schicksal geworfen wurden. Vertrauen wir, wie bisher, dem Sterne unserer Liebe und wahren wir uns das Glück für die Zukunft in der eigenen Brust. Du bist gut, Du bist großmüthig, Ludwig, unaere Freunde achten Dich und suchen Dich auf – bedürfen wir noch einer Bürgschaft für unser Glück und das unseres Kindes? Die Vorsehung allein kann uns dessen berauben, was wir besitzen. Sieh’, Ludwig, Du sagtest mir, daß ich für Dich das schönste Weib auf der Erde sei – ich glaube Dir, mein lieber Freund, ja ich glaube Dir, weil es mich glücklich macht, denn Du wirst aufrichtig und wahr von dem schönsten Weibe der Erde geliebt. Und ich bin stolz auf diese Liebe, ich halte mich bestimmt, nur dieses eine Gefühl zu empfinden. Sieh’ dorthin,“ fügte sie hinzu, indem sie auf die Wiege blickte, „dort schlummert unsere Zukunft, und können wir leugnen, daß sie noch große und reiche Schätze birgt?“

Sie strich sein dunkles Haar zurück, und drückte einen langen Kuß auf seine Stirn. Nach einer halben Stunde traten sie noch einmal zu der Wiege und flüsterten mit dem kleinen Schäfer, als ob er die an ihn gerichteten Worte verstände. Dann verließ der Baron seine junge Gattin, nachdem er sie zärtlich geküßt.

„Henriette hat Recht,“ rief er aus, als er allein auf seinem Zimmer war; „ich bin der glücklichste Mensch auf dieser Erde, und es ist thöricht, mir durch abgeschmackte Annahnmen das Leben zu verbittern. Auf meiner Seele haftet kein Vorwurf, ich kann getrost zum Hinnnel emporblicken, und Gott wird mich schützen!“

Er stand im Begriffe, Bob, seinen braunen Kammerdiener zu rufen, als sich auf dem Pflaster im Hofe Hufschläge vernehmen ließen. Es war nicht weit mehr von zehn Uhr, wer konnte so spät noch einen Besuch abstatten? Ludwig trat rasch zum Fenster und öffnete es. Da hörte er Heiligenstein’s Stimme, die nach dem Gutsherrn fragte. Ludwig’s hatte sich ein leichter Schrecken bemächtigt, aber die Stimme des Freundes beruhigte ihn wieder. Er schloß das Fenster und eilte auf den Corridor hinaus. Heiligenstein, mit Staub und Schweiß bedeckt, trat ihm entgegen. Arm in Arm gingen die beiden Männer in das Zimmer zurück.

„Sie kommen spät, Freund, und in einer Aufregung, die mich auf wichtige Nachrichten schließen läßt,“ sagte Ludwig in einer Befangenheit, die Heiligenstein nicht entging. „Was bringen Sie?“

Heiligenstein legte Hut und Reitpeitsche ab. Der Baron erschrak über die Exaltation, die sich in den Zügen des Freundes aussprach, des Freundes, der stets nur in ruhiger Heiterkeit sich ihm genähert hatte.

„Sind wir ungestört?“ fragte ängstlich der Edelmann.

„Warum? Warum?“

„Tragen Sie Sorge, mein Freund, daß uns der Oberst und Ihre Gattin nicht überraschen, ich habe Ihnen allein wichtige Eröffnungen zu machen.“

„Mir allein?“ fragte Ludwig, indem er erbleichte.

Heiligenstein schob den Riegel vor die Thür, ergriff die Kerze und führte den Baron in das angrenzende Schlafgemach. Hier ließen sich Beide auf einem kleinen Sopha nieder.

„Ludwig,“ begann der Edelmann, „ich bin Ihr Freund, Ihr väterlicher Freund, und daß meine Freundschaft eine wahre, eine aufrichtige ist, glaube ich nicht nur bereits bewiesen zu haben, ich werde es auch jetzt noch darthun, denn ich schätze und liebe Sie. Aber sind auch Sie stets wahr und offen gegen mich gewesen? Haben Sie mir Nichts aus Ihrer Vergangenheit verschwiegen? Bei dem großen Gotte, Ludwig, der Sie so wunderbar geführt hat, die Zeit ist gekommen, wo Sie jede Falte Ihres Herzens öffnen müssen, wenn Sie nicht ein namenloses Unglück allen denen zuziehen wollen, die Ihnen nahe stehen und Sie lieben.“

Der Baron hatte mit Mühe seine Fassung wiedererlangt. Heiligenstein faßte ihn scharf in’s Auge; unwillkürlich zuckte er zusammen, als er den innern Kampf des Barons gewahrte, der sich in seinen bleichen Zügen abspiegelte.

„Sie sprechen so ernst und feierlich,“ sagte Ludwig, „als ob es sich um ein Verbrechen handelte.“

„O, die Sache ist so ernst, mein armer Freund, daß ich Sie bitten muß, anzunehmen, es handelt sich um ein Verbrechen.“

Ludwig ergriff die Hand des Edelmanns.

„Heiligenstein,“ sagte er mit bewegter Stimme, „Sie sind mein Freund, Sie kennen mich, und können mich eines Verbrechens für fähig halten? Anstatt mich zu vertheidigen, wenn Neid und Feindschaft ihre Arme nach mir ausstrecken, kränken Sie mich durch einen furchtbaren Verdacht. Mein Gewissen ist frei von jedem Vorwurfe, und ich schwöre zu Gott, dem ich mein unendliches, überschwengliches Glück verdanke, daß ich wissentlich keinem Menschen in der Welt ein Unrecht zugefügt habe. Mein Vermögen verdanke ich meinem Muthe und meiner Thätigkeit; kein Seufzer, keine Thräne beeinträchtigt mir den ruhigen Besitz desselben.“

„O, mein Gott,“ unterbrach ihn Heiligenstein, „ich wollte Sie nicht kränken! Es ward mir schwer, die Einleitung zu dieser Unterredung zu treffen, die ich Ihnen als Freund nicht erlassen kann. Ludwig, ich glaube Sie genug vorbereitet zu haben – lesen Sie selbst, und erlassen Sie mir jede weitere Erklärung. Diesen Brief brachte mir vor einer Stunde ein Courier aus der Residenz; er kommt von einem Verwandten, der einen hohen Posten bei dem Criminalgerichtshofe bekleidet. Lesen Sie, und Sie werden mein Benehmen erklärlich finden und entschuldigen.“

Der Baron entfaltete das Papier und las:

„Mein lieber Vetter! Ihre Beziehungen zu der Familie Nienstedt sind durch die Rückkehr des jungen Barons freundschaftlicher geworden, als je. Ich weiß, daß jeder Schlag, der jene trifft, auch Sie berührt, denn Sie betrachten sich als ein Glied derselben, um das Andenken an Ihre verstorbene Braut zu ehren. Es ist betrübend, eine geachtete Familie plötzlich am Rande des Abgrundes zu sehen, und ich halte es für Pflicht, Sie von einer Denunciation in Kenntniß zu setzen, die auch Sie in den Criminalprozeß verwickeln kann, der dem jungen Baron von Nienstedt droht. Sie erinnern sich, daß dem Freiherrn von Erichsheim kurz vor seinem Tode, also vor sechzehn Jahren, bedeutende Werthpapiere entwendet wurden, und daß alle Nachforschungen kein Resultat ergaben. Vor acht Tagen erschien der Rechtsanwalt der Wittwe von Erichsheim und reichte eins von den Papieren ein, die um jene Zeit dem Freiherrn entwendet wurden. Zwar hat es weiter keinen Werth, aber es ist von der Hand des verstorbenen Freiherrn geschrieben und befindet sich mit auf der Liste, die der Beraubte auf [48] seinem Sterbebette gefertigt hat. Dieses Papier nun hat der junge Baron von Nienstedt in dem Vorzimmer der Freifrau von Erichsheim verloren. Das Gericht lehnte die Untersuchung ab, da der Beweis ungenügend war, aber vorgestern lieferte man neue Beweise, die unumstößlich sind und das Einschreiten des Gerichts erfordern. Die vor Zeiten erfolgte heimliche Entfernung des jungen Barons vermehrt den Verdacht, und man vermuthet, daß jene entwendeten Papiere den Grund zu seinem enormen Vermögen gelegt haben. Hat Bosheit eine Anklage erhoben, oder erwacht die rächende Nemesis – die Untersuchung wird es lehren, Suchen Sie sich zu wahren, eine Deputation des Gerichts ist bereits abgegangen.“

Einen Augenblick saß Ludwig und starrte den Freund mit großen Augen an; es schien, als ob er das Furchtbare dieser Anklage nicht erfassen könnte. Dann sprang er plötzlich auf, eilte zu einem Secretär, und riß mit bebenden Händen ein geheimes Fach auf. In demselben Momente stieß er einen durchdringenden Schrei aus.

„Was ist das? Was ist das? Gerechter Gott, man hat mich beraubt!“

Unter krampfhaftem Zittern sank er auf einem Stuhle nieder, während seine starren Blicke nach dem leeren Kasten gerichtet blieben.

Heiligenstein war zur Bildsäule erstarrt, er konnte weder eine Bewegung ausführen noch ein Wort äußern. Bot Ludwig selbst in dieser Verfassung nicht den unumstößlichen Beweis seiner Schuld? Der brave, großmüthige Mann, den Alle liebten und achteten, war plötzlich von der Höhe seines Glücks herabgesunken, es streckten Schmach und Schande ihre furchtbaren Arme nach ihm aus. Aber nicht er allein stand an dem jähen Rande dieses scheußlichen Abgrundes, auch Henriette und der greise Oberst mußten mit ihm hinabstürzen. Eine fürchterliche Minute verfloß. Heiligenstein hatte nicht den Muth, an die gräßlichen Folgen zu denken, die dieses Vergehen nach sich ziehen mußte. Aber Ludwig gewann zuerst die Fassung wieder; er erhob sich und suchte noch einmal in dem Secretär. Dann sagte er kalt und mit tonloser Stimme:

„Man hat mich bestohlen, um mich zu verderben! Mein Glück war ja zu groß, als daß es ohne Anfechtung bleiben konnte!“

„Ludwig, so sind Sie wirklich im Besitze dieser verhängnißvollen Papiere gewesen?“ fragte Heiligenstein.

„Man hatte sie mir anvertraut, ich habe sie bewahrt, ohne ihre Bedeutung zu kennen.“

„Wer, wer hat sie Ihnen anvertraut? O, zögern Sie nicht, den Mann zu nennen, Sie werfen einen furchtbaren Verdacht von sich ab!“

„Ich kann, ich darf ihn nicht nennen,“ antwortete fest der Baron. „Es binden mich Rücksichten, die ich nie im Leben außer Acht lassen darf.“

„Unglücklicher, Unglücklicher!“ rief Heiligenstein, als er die furchtbare Ruhe des jungen Mannes sah. „Haben Sie nicht ernstere, wichtigere Rücksichten zu nehmen? Sie sind Gatte und Vater!“

Ludwig zuckte krampfhaft zusammen, sein Gesicht ward leichenblaß. Plötzlich raffte er sich zusammnen und warf sich an die Brust des Freundes.

„Ludwig,“ begann Heiligenstein gerührt, „ein furchtbares Schicksal ereilt Sie, denn Sie sollen als Mann ein Vergehen büßen, dessen Sie sich als unbesonnener, übermüthiger Jüngling schuldig gemacht. Der Blick des Freundes erfaßt vollkommen die Lage der Dinge, und er beurtheilt Sie mit der Milde, auf die Sie durch Ihre jüngste Vergangenheit gerechte Ansprüche haben. Aber die Gesetze urtheilen nicht wie der Freund, sie lassen die Großmuth nicht gelten, mit der Sie eine Jugendsünde vergessen machen wollten. Ludwig, bekennen Sie mir offen, was geschehen, verhehlen Sie mir Nichts, denn nur in diesem Falle kann ich mit Ihnen die Mittel berathen, die zur Abwehr des Unglücks nöthig sind. Ich fürchte nicht, mich zu Ihrem Mitwisser, und dadurch vielleicht auch zu Ihrem Mitschuldigen zu machen, denn ich erachte es für Pflicht, die Ehre der Nienstedt’s zu retten. Sie sind der Bruder meiner Adelheid, und was ich Ihnen thue, thue ich ihr. In diesem Vorsatze bestärkt mich die Ueberzeugung, daß die Erichsheim’s nur von einer niedern Rache geleitet werden; man richtet die Schläge auf Sie, um den braven Obersten und Henrietten zu treffen. Ludwig, Sie schweigen immer noch? Denken Sie an Ihre Gattin, denken Sie an Ihr Kind!“

„Meine Gattin! Mein Kind!“ rief der junge Mann verzweiflungsvoll.

„Zögern Sie nicht, theilen Sie mir Alles mit, es könnte morgen schon zu spät sein.“

Der Baron ergriff die Hand Heiligenstein’s und sagte feierlich:

„Ich habe Ihnen nur zu bekennen, daß auf meiner Seele kein Vorwurf lastet. Halten Sie mein Schweigen nicht für Mangel an Vertrauen, ich kann, ich darf Nichts mehr sagen, glauben Sie mir, ich darf nicht, weil Henriette meine Gattin ist.“

„Und mit dieser einfachen Behauptung Ihrer Unschuld glauben Sie den Verdacht zu entkräften? Sie bekennen, daß Sie in dem Besitze der Papiere gewesen –“

„Ich habe es bekannt?“ rief der Baron auffahrend.

Heiligenstein deutete auf den leeren Kasten des Secretärs.

„Dort suchten Sie in fieberhafter Angst!“ sagte er.

Ludwig schob den Kasten zu und schloß heftig den Secretär.

„Dann habe ich es nur Ihnen, hören Sie, nur Ihnen bekannt! O, Sie sind mein Freund,“ fügte er zitternd und mit wirren Blicken hinzu, „Sie werden mich nicht verrathen! Meine Feinde haben einen unsicheren Weg betreten, sie haben nicht bedacht, daß sie durch einen Diebstahl sich in den Besitz der Papiere gesetzt, die mich verderben sollen. Ich weiß nichts von den Papieren, ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen! Wollen Sie mein Glück, Heiligenstein, so verschweigen Sie diese Unterredung; es muß jeder Verdacht an meinem Stande, an der Achtung, die ich genieße, zerschellen.“

Den größten Theil der Nacht brachten die Freunde im Gespräche zu. Der Baron gerieht in eine Geistesverfassung, die Heiligenstein erzittern machte. Bald saß er ruhig und in sich gekehrt auf dem Sopha, bald durchsuchte er die Kästen seines Schreibtisches und seines Secretärs, bald wollte er Bob und die übrigen Diener rufen, um ein Verhör anzustellen. Heiligenstein, der selbst, rathlos war, verhinderte Alles, was einen neuen Mitwisser herbeiziehen konnte. Gegen morgen ward Ludwig von einem heftigen Fieber ergriffen; seine Kräfte waren erschöpft, er erlag dem Kampfe, der sich in seinem Innern erhoben. Heiligenstein rief den Kammerdiener, der im Vorzimmer auf einem Stuhle saß und schlief.

„Dein Herr ist krank,“ sagte er, „bringe ihn zu Bett!“

Der Mulatte entkleidete den Baron und brachte ihn zu Bett. Heiligenstein ging in dem Zimmer auf und ab. Da die Thür des Schlafgemachs nur angelehnt war, konnte er folgendes Gespräch hören, das Herr und Diener führten.

„Bob,“ sagte Ludwig leise, dessen Stimme vor Fieberfrost bebte, „hast Du mich verrathen? Hast Du das Geheimniß ausgeplaudert, das Du mit Dir in das Grab zu nehmen geschworen?“

„Herr, wie kommen Sie auf diese Vermuthung?“ rief Bob.

„O, sagen Sie mir, was geschehen ist!“

„Man hat mir wichtige Papiere entwendet, die Papiere Deines frühern Herrn. Du warst stets in meiner Nähe – hegst Du keinen Verdacht?“

„Nein, Herr!“

„Bob, Du kennst mich, glaubst Du, daß ich ein Verbrechen begehen könne?“

„Herr, wer wagt es, Sie zu beschuldigen?“ rief auffahrend der Mulatte.

„Leise, leise, mein Freund, es darf uns Niemand hören! Die Papiere, die mir gestohlen sind, klagen mich an. Sie beweisen, daß der Besitzer derselben ein Verbrecher ist. Du weißt, daß ich Feinde habe, und diese benutzen die Papiere, um mich zu verderben.“

„Beruhigen Sie sich, lieber Herr, noch bin ich da, um Ihnen als Zeuge zu dienen. Ich weiß, daß Sie nicht –“

„Um Gottes willen, sprich dieses Wort nicht aus!“ rief hastig der Baron. „Bob, denke an Deinen Schwur!“

Nach einer Pause flüsterte der Baron: „Laß mich ein wenig ruhen; gehe, wache im Hause und benachrichtige mich von Allem, was vorgeht.“

[57] Bestürzt trat der Mulatte in das Zimmer; er schloß die Thür des Schlafgemachs hinter sich und sah Heiligenstein mit fragenden Blicken an. Aus der kurzen Unterredung hatte der Edelmann die Gewißheit geschöpft, daß der Kammerdiener um das Geheimniß des Barons wisse.

„Mein armer Herr scheint mir sehr krank zu sein; ich halte es für nöthig, daß man nach dem Arzte schicke,“ sagte Bob.

„Der Arzt würde hier überflüssig sein; aber ich kenne Jemanden, der sichere Hülfe zu bringen im Stande ist.“

„O, wer ist dieser Mann? Nennen Sie ihn, und ich eile, ihn zu holen.“

„Du bist es, Bob! Wenn Du es redlich mit Deinem Herrn meinst, so verbindest Du Dich mit mir, mit seinem besten, aufrichtigsten Freunde, zu seiner Rettung.“

„Was kann ich thun, mein Herr?“ fragte Bob eifrig.

„Die Vergangenheit Deines Herrn birgt ein Geheimniß, das ich kennen muß, um ihn zu vertheidigen. Was es auch sei, theile es mir mit, und Du wirst an mir einen treuen Verbündeten haben. Der Zustand Deines Herrn ist von der Art, daß wir ohne seine Beihülfe handeln müssen.“

Der Mulatte schüttelte schmerzlich sein Haupt.

„Lieber Herr,“ antwortete er, „wohl ist mir klar, daß die Eröffnung dieses Geheimnisses meinen Herrn sofort freisprechen würde; aber wenn er selbst es Ihnen nicht mittheilt, – ich kann es nicht, denn ich habe einen heiligen Eid abgelegt. Nur soviel kann ich versichern, daß der Herr Baron der edelste Mensch ist, daß er nie Böses, sondern stets nur Gutes gethan hat. Er ist nächst Gott mein größter Wohlthäter, und darum darf ich ihm meinen Eid nicht brechen.“

„Aber wenn Du durch Dein Schweigen sein Unglück herbeiführst?“

„Herr, ich gebe gern mein Leben hin, aber fordern Sie nicht, daß ich meinem guten Herrn ungehorsam bin.“

Traurig verließ Bob das Zimmer. Heiligenstein hatte nicht den Muth, den treuen Diener zurückzuhalten und weiter in ihn zu dringen. Das Herz des Freundes blutete bei dem Gedanken an die nächste Zukunft. Nach Allem, was er seit seiner Ankunft erfahren, war es unzweifelhaft, daß des jungen Barons Glücksstern erbleichen würde. In qualvoller Unruhe hatte Heiligenstein eine halbe Stunde verbracht, als Bob wieder eintrat.

„Herr,“ meldete er, „so eben sind drei Männer angekommen, die den Herrn Baron zu sprechen verlangen; ihr Wagen hält am Thore.“

Der Edelmann bebte zusammen; ihm ahnte, daß es die Commission des Criminalgerichts sei. An ein Abweisen war nicht zu denken, aber man mußte Sorge tragen, daß sie ohne Aufsehen in das Schloß gelangte. Die Uhr auf dem Hauptgebäude zeigte in diesem Augenblicke die vierte Morgenstunde an.

„Bob, führe die Herren so leise in dieses Zimmer, daß Niemand im Hause dadurch gestört werde. Zugleich sage ihnen, daß der Herr Baron krank liege.“

„Könnte man sie aus diesem Grunde nicht abweisen?“ meinte der Mulatte, der am ganzen Körper zitterte.

„Das Gesetz, mein Freund, läßt sich nicht abweisen. Bob,“ sagte Heiligenstein, indem er die Hand des Mulatten ergriff, „ein furchtbarer Augenblick naht – willst Du Dich nicht mit mir verbinden, ihn abzuwehren?“

„Herr, nehmen Sie meinen Kopf, aber lassen Sie mich ein treuer Diener bleiben!“

„Ein treuer Diener rettet seinen Herrn von Schmach und Schande! Weigerst Du Dich zu sprechen, so kann ich nur ein ohnmächtiger Zeuge sein.“

Der braune Mann sank Heiligenstein zu Füßen und bedeckte seine Hand mit Thränen und Küssen. Noch ehe er zu Worte kommen konnte, öffnete der Baron die Thür des Schlafgemachs. Er war halb angekleidet; das Licht der Kerze, die er in der Hand trug, beleuchtete seine bleichen, verstörten Züge. Heiligenstein trat ihm entgegen und theilte ihm die Ankunft der Fremden mit.

„Sie mögen eintreten!“ befahl Ludwig dem Diener.

Bob zögerte.

„Verweigerst Du mir schon den Gehorsam?“ fragte der Kranke mit einem schmerzlichen Lächeln.

Der Mulatte entfernte sich. Der Baron warf einen Pelz über und setzte sich in einen Sessel. Eine furchtbare Ruhe lag in seinen Zügen, sein großes Auge blitzte in fieberhafter Glut. Es schien, als ob ein ungeheurer Entschluß in ihm zur Reife gediehen sei.

„Nicht wahr,“ fragte er nah einer Pause, „Henriette und mein Kind schlafen?“

„Es ist vier Uhr, man kann es wohl annehmen.“

„Heiligenstein, Sie betrachten mich mit zweifelnden Blicken – Ihr Vertrauen beginnt zu wanken, nicht wahr?“

„Sie fordern Vertrauen, Ludwig, während Sie selbst es verweigern!“

„Gönnen Sie mir Frist!“ stammelte der Baron, indem er beide Hände flehend ausstreckte. „Der Schlag kommt so unerwartet, [58] daß ich seine Folgen nicht zu übersehen vermag – er hat mich bis in das tiefste Mark erschüttert. Glauben Sie nur an meine Unschuld, Sie werden sich nicht täuschen! O, meine Gattin, die ich anbete wie einen Gott, ich hätte es wahrlich nicht gewagt, dir meine Hand zu reichen, wenn sie ein Vergehen beschmutzte!“

Ein Thränenstrom rann über die Wangen des armen Mannes.

„Was gedenken Sie nun zu thun?“ fragte Heiligenstein erschüttert.

„Im Vertrauen auf die Gerechtigkeit der Behörde trete ich der Anklage entgegen.“

„Aber die Papiere?“

„Ich darf sie nicht kennen – ich will sie nicht kennen – die Pflicht gebietet es mir!“ flüsterte der Baron mit gepreßter Stimme, als ob ihm dieser Ausspruch eine furchtbare Ueberwindung kostete. Dann sank er wie vernichtet zusammen; ein heftiger Fieberfrost durchrüttelte seinen Körper.“

„Seltsam! Seltsam!“ murmelte Heiligenstein, indem er seinen Freund erschüttert betrachtete.

Da ließ sich ein Geräusch von Schritten in dem Vorzimmer vernehmen. Die Thür ward geöffnet und drei Männer erschienen, die sich als eine Deputation des Criminalgerichts zu erkennen gaben. Der Führer derselben forderte den Baron auf, alle seine Papiere zur Durchsicht vorzulegen. Ludwig deutete schweigend mit der Hand auf die Möbel. Fast eine Stunde lang durchsuchten die Beamteten jedes Fach und jeden Schubkasten, sie prüften jedes Papier – es fand sich keins, das ihren Verdacht erregte.

„Herr Baron,“ sagte der Commissar, „eine Prozeßangelegenheit erfordert, daß sie stets bereit sind, der Ladung des Gerichts Folge zu leisten. Sie werden mir nicht nur eidlich versprechen, bis nach beendetem Prozesse Ihr Gut nicht zu verlassen, sondern auch eine Kaution von zehntausend Thalern stellen. Wollen und können Sie dies, so ist für jetzt meine Sendung erfüllt.“

Ludwig gab das Versprechen und lieferte Papiere zu dem geforderten Werthe aus. Sein Benehmen dabei war mehr kalt als ruhig, so daß man hätte glauben mögen, die Krankheit habe ihn gegen Alles völlig abgestumpft. Als die Gerichtspersonen sich entfernt hatten, suchte er sein Bett wieder auf. Heiligenstein bedeutete ihm, daß es nöthig sei, den Obersten und Henrietten von der Bosheit der Erichsheims in Kenntniß zu setzen, damit das Gerücht davon sie nicht überraschte; er nickte traurig mit dem Kopfe und flüsterte:

„Es muß sein, übernehmen Sie es, mein Freund; aber sagen Sie kein Wort von den Papieren, der geringste Zweifel, den Henriette hegt, wird mir den Tod geben.“

Der Morgen brach an. Es lag in der Absicht der Behörde, die Sache so lange als möglich geheim zu halten und den jungen geachteten Baron zu schonen. Wie man sieht, war diese Absicht erreicht. Der Fürst selbst hatte angeordnet, daß die Untersuchung mit der größten Vorsicht geführt werden solle.

Um acht Uhr erschien die bestürzte Henriette an dem Krankenbette ihres Mannes, Ludwig tröstete sie und versicherte, er fühle sich besser, die Hülfe des Arztes sei unnütz. Die arme Frau warf sich über das Bett und begann bitterlich zu weinen.

„Du bist sehr blaß!“ schluchzte sie.

„Ich habe eine heftige Migräne gehabt.“

„Der gute Gott wird ja geben, daß Du nicht ernstlich erkrankst.“

„Er wird es, Geliebte, denn er erhört das Gebet eines Engels, und Du wirst beten, daß unser kaum erblühtes Glück nicht gestört werde.“

Während dieser Zeit war Heiligenstein zu dem Obersten gegangen. Vorsichtig bereitete er den Greis auf die Nachricht vor, dann theilte er ihm Alles mit, nur den Umstand verschwieg er ihm, daß Ludwig wirklich in dem Besitze der Papiere gewesen sei. Der alte Mann war tief erschüttert. Daß die Feindschaft einer Frau so weit gehen könne, hatte er nicht für möglich gehalten.

„Die Sache muß im Keime erstickt werden!“ murmelte er. „O, es ist ersichtlich, sie will meiner Ehre einen empfindlichen Streich versetzen, und der unbesonnene Jugendstreich meines Schwiegersohnes bietet ihr eine günstige Gelegenheit. Aber auch an Henrietten, die ihren Sohn verschmäht, rächt sie sich. O mein armes, armes Kind! Weiß sie um die erhobene Beschuldigung?“

„Ich habe sie nur von der Krankheit Ludwig’s in Kenntniß gesetzt.“

„So darf sie noch Nichts erfahren. Und was hat Ludwig beschlossen?“

„Im Vertrauen auf seine Unschuld will er ruhig den Prozeß abwarten.“

„Unmöglich!“ rief bebend vor Aufregung der Greis. „Man hat ihn unter obrigkeitliche Aufsicht gestellt – dieser Zustand ist ein schimpflicher, er muß sobald als möglich wieder aufgehoben werden.“

„Wie läßt sich das bewirken?“ fragte Heiligenstein.

Der Oberst hatte einige Augenblicke nachgesonnen.

„Die Ruhe und das Glück meines Kindes stehen auf dem Spiele,“ murmelte er – „ich werde zunächst einen Schritt bei der Freifrau unternehmen. Bleiben Sie hier, mein Freund, und wachen Sie über meine Kinder. Diesen Abend sehen wir uns wieder.“

Eine Viertelstunde später bestieg der Oberst den Wagen, der ihn nach Erichsheim brachte. Heiligenstein ging zu dem Baron, den Henriette soeben verlassen hatte. Ludwig saß aufrecht in seinem Bette, schmerzlich lächelnd streckte er dem Freunde die Hand entgegen.

„Meine Gattin ist der Arzt, der mich bald heilen wird,“ sagte er. „Und Sie, Freund, bewahren Sie mein kleines Gehemnniß, die juristische Klugheit erfordert es. Ich biete den feindlichen Angriffen eine gepanzerte Brust, glauben Sie mir, es werden alle Pfeile daran zerschellen.“

Heiligenstein betrachtete den Kranken mit einer tiefen Rührung. Da trat Henriette ein; die junge Mutter, reizend wie eine Fee, trug den Säugling auf ihren Armen.

„Ludwig“ rief sie, „küsse unsern Sohn, und Du wirst genesen!“

„Mein Kind, mein Kind!“ rief der Baron in einem dnrchdringenden Tone.

Dann drückte er einen Kuß auf die kleine Stirn desselben. Nachdem er das zarte Wesen einige Augenblicke gerührt betrachtet, gab er es der Mutter zurück.

„Dank, Henriette, Dank, Du hast mich wunderbar gestärkt!“ rief er aus.

Heiligenstein betrachtete aus einiger Entfernung die rührende Gruppe.

„Es ist unmöglich,“ dachte er, „daß die Vorsehung ein solches Glück erschafft, um den Kontrast des Unglücks desto fürchterlicher zu machen. Täusche ich mich hier, so ist mir mein tröstlichster Glaube erschüttert!“


VIII.

Der Oberst hatte das Schloß der Erichsheim’s um Mittag erreicht. Als man der Freifrau den Gast meldete, erschien ein stolzes, triumphirendes Lächeln in ihren Zügen. Ohne Zögern gab sie dem Diener Befehl, den Besuch in den Empfangsaal zu führen. Dann ließ sie durch die Kammerfrau ihre Toilette noch einmal ordnen und legte einige Sehmucksachen an, deren Diamanten bei den dunkeln Farben ihres Kostüms eklatant hervorstachen. Das bleiche Gesicht dieser Dame, obgleich von einigen Furchen durchzogen, trug noch deutliche Spuren einer pikanten Schönheit. Das schwarze Haar bildete noch einen glänzenden Scheitel, und zwischen den Lippen zeigten sich noch weiße Zahnreihen, die durch keine Lücke unterbrochen wurden.

Zehn Minuten hatte der Oberst unruhig im Saale gewartet, als ein Diener die Flügelthür öffnete und die hohe Gestalt der Freifrau von Erichsheim eintrat. Auf den Gruß des Obersten dankte sie durch eine kalte, höchst ceremonielle Verneigung. Dann gab sie dem Diener ein Zeichen, dieser zog sich ehrerbietig zurück und schloß die Thür.

„Ich habe mich beeilt, den verehrten Gast, den ich so wenig erwartete, zu empfangen,“ sagte sie mit leicht erregter Stimme, indem sie mit dem Fächer nachlässig auf einen Sessel deutete.

„Das durfte ich voraussehen“ antwortete ruhig und fest der Greis, „wenn wir uns auch in P. ohne Abschied trennten.“

„Wenn der Vater Henriette’s diese Voraussetzung hegt, so kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, mein Herr, daß Sie der Mutter des jungen Freiherrn von Erichsheim entweder eine große Schwäche oder einen Ueberschwang von Großmuth beimessen, der sie in den Augen der Welt lächerlich erscheinen lassen muß. Den Vater meiner Schwiegertochter heiße ich willkommen.“

[59] Sie lud noch einmal den Gast zum Sitzen ein. Der Oberst ließ sich auf dem Sessel nieder, die Freifrau nahm ihm gegenüber Platz.

„Gnädige Frau,“ begann ruhig der Greis, „ich bin Soldat und pflege mein Ziel auf dem geradesten Wege zu verfolgen – demnach theile ich Ihnen ohne Umschweife mit, daß ich als Vater Henriette’s zu Ihnen gekommen bin. Wir stehen Beide in dem Alter, in dem die Leidenschaften keine Gewalt mehr haben und jede Uebereilung uns doppelt angerechnet wird – ja, gnädige Frau, Sie bereiten einen Eclat vor, der uns Beiden bei unsern Standesgenossen schaden wird.“

„Was meinen Sie?“ fragte verwundert die Freifrau.

„Ich meine die Anklage gegen Henriette’s Gatten, die Sie wahrlich nicht bedacht haben.“

„Ah, das ist es!“ rief sie. „Herr Oberst, ich überdenke stets meine Handlungen, und bevor ich etwas unternehme, kenne ich nicht nur das Ziel, ich weiß auch, daß ich es erreiche.“

Der Oberst sah bestürzt die Freifrau an, aus deren dunkeln Augen stechende Blicke schossen.

„Madame,“ sagte er fast staimmelnd, „Sie sind eine Frau, Sie sind selbst Mutter, Sie lieben Ihre Kinder –“

„Und daran erinnern Sie mich, Herr Oberst, Sie?“

„Noch mehr: ich erinnere Sie auch daran, daß Sie in dem vorliegenden Falle nicht zum Ziele gelangen werden.“

„Dann begreife ich nicht, warum Sie gekommen sind!“ sagte höhnend die aufgeregte Dame.

„Ich bin gekommen, um der Schwiegermutter meiner ältesten Tochter die Reue zu ersparen, die Reue über einen Schritt, den sie – ich wiederhole es – nicht überlegt hat. Zu diesem Zwecke wende ich mich nicht nur an Ihr Herz, sondern auch an Ihren Verstand. Noch ist es Zeit, die Uebereilung wieder auszugleichen; warum soll die Welt erfahren, daß eine Dame aus dem Adelstande eine Rache übt –“

„Genug, mein Herr!“ rief auffahrend die Freifrau.

„O, Sie müssen mich hören, Madame! Ich kann Sie nicht verlassen, ohne eine Verständigung herbeigeführt zu haben, die uns Beiden zum Heile gereichen wird. Sie wollen den jungen Baron von Nienstedt und mit ihm Henrietten verderben, weil die gegenseitige Neigung der beiden jungen Leute einen Ihrer Pläne vereitelte – Sie holen ungewisse Anhaltepunkte aus einer Vergangenheit, die fast in das Knabenalter dessen fällt, den Sie hassen – Madame, Sie nehmen zur Denunciation Ihre Zuflucht, um eine vermeintliche Beleidigung zu bestrafen! Wahrlich, wer vor diesem Gedanken nicht zurückbebt,“ fügte der Greis wie empört hinzu, „ist ein Sclave seiner Leidenschaften oder sein Herz hat nie edlere Gefühle gehegt.“

Frau von Erichsheim zuckte zusammen, als ob ein Dolchstich ihr Herz durchbohrte; aber anscheinend verlor sie ihre Fassung nicht, sie spielte vielmehr die unschuldig Gekränkte.

„Mein Herr,“ flüsterte sie, „ich begreife, daß die Verständigung von mir ausgehen muß. Sie wähnen, die jüngste Vergangenheit liefere die Motive zu meinen Handlungen – gehen Sie weiter zurück, fünfundzwanzig, dreißig Jahre – versetzen Sie sich in die Zeit, wo Emilie von Windheim noch jung und, wie man sagte, noch schön war; erinnern Sie sich, daß man sie wie eine Königin feierte, daß sie glänzende Vasallen an dem Fuße ihres Thrones sah, aber daß sie nur einem gewogen war, daß sie nur einem gestattete, ihr seine Huldigungen darzubringen. Die arme Emilie liebte ihren Vasallen, wie er sich oft selbst nannte und sie glaubte sich wieder geliebt, denn sie empfing schriftlich und mündlich die Versicherungen. Da ward der junge Offizier zu einem fernen Regimente versetzt, und Emilie empfand bei der Trennung, daß ihre Neigung eine Leidenschaft geworden war, die sich ihres ganzen Wesens bemächtigt hatte. Hoffend auf die Treue des Geliebten, sonderte sie sich von der Welt ab, sie lebte für ihn, dachte an ihn und ertrug ruhig den Zorn des Vaters, der ein vortheilhaftes Heirathsproject für seine einzige Tochter hegte. Niemand kannte den wahren Zustand ihres Herzens, und deshalb hielt man sie allgemein für überspannt, für ein Mädchen, das über ihren Stand hinaus wollte. Was kümmerte sich Emilie darum? Ein Brief von dem Geliebten entschädigte sie für Alles und erhielt ihren Muth aufrecht. Er schrieb von Hindernissen, die sich einer Verbindung entgegenstellten; sie begriff die Unmöglichkeit einer raschen Erfüllung ihrer Wünsche, und deshalb beschloß sie, in Ergebung zu warten. Da starb ihr Vater plötzlich vom Schlage getroffen, und hinterließ seiner Tochter Nichts als ein kleines, überschuldetes Gut. Emilie wies die besten Anträge um ihre Hand zurück, sie kämpfte mit Entbehrungen und mit der stets wachsenden Sehnsucht nach dem Geliebten, sie verlebte furchtbare Tage, aber sie blieb ihrer ersten Neigung treu, Die Anmuth und der Stolz der schönen Emilie machten sie bald zum Gegenstande des Spottes und endlich auch der Lächerlichkeit, es verbreiteten sich selbst Gerüchte, die ihrer Ehre nachtheilig waren. Herr Oberst, der junge Offizier, um den sie so viel litt, avancirte, er avancirte rasch, damit er die Tochter seines Generals heirathen konnte. Die Kunde davon schmetterte Emilien zu Boden; der Zufall wollte, daß ihre getäuschten Hoffnungen bekannt wurden, und anstatt daß man sie bemitleidete, verlachte man die stolze Schönheit. Noch mehr: nach zwei Jahren kam der treulose Geliebte als Oberst nach M., wo das verlassene Mädchen trauerte. Sie sah ihn an der Spitze seines Regiments – dieser Anblick brachte sie fast dem Wahnsinne nahe; aber ihr starker Geist widerstand, sie ward ruhiger, und endlich gleichgültig gegen den treulosen Mann, den man allgemein achtete, selbst feierte. Ein Husarenoberst von dreißig Jahren ist eine interessante, pikante Erscheinung! Die Lage Emilien’s war eine traurige, denn die Armuth zwang sie, aus der Sphäre zurückzutreten, der sie eigentlich angehörte. Kein Freier ließ sich mehr sehen, man hatte das blutarme Fräulein vergessen. Und wer trug die Schuld davon? Der Mann, auf dessen Treue sie gebauet hatte, der Mann, den sie so zärtlich liebte. Da nahete sich abermals ein Bewerber, ein Mann, der weiter keinen Vorzug besaß, als ein großes Vermögen. Das getäuschte Herz des armen Fräuleins war der Liebe für immer verschlossen, es konnte ein Glück in dieser Beziehung nicht mehr erwarten; aber um wenigstens nicht dem Elende anheim zu fallen, wenn sie nicht als Gouvernante dienen wollte, reichte sie dem Manne, den sie nicht lieben konnte, die Hand, und Emilie von Windheim ward die Freifrau von Erichsheim. Das Herz fand keine Befriedigung in dieser Ehe, wohl aber der Stolz – man suchte die Vergessene wieder auf, und die Gattin des Freiherrn von Erichsheim gehörte zu den ersten Damen. Bald jedoch sah sie ein, daß der Reichthum allein nicht glücklich macht; der Pein, einem Manne anzugehören, den sie kaum achten konnte, nachdem sie ihn näher kennen gelernt, gesellte sich eine Art Lebensüberdruß bei, und es ist wohl natürlich, daß in der Brust einer Frau, die Anwartschaft auf das höchste Lebensglück gehabt, der Haß gegen den Urheber ihrer traurigen Lage erwachte. Und dabei war ich gezwungen, vor der Welt glücklich zu erscheinen, wenn ich nicht lächerlich werden wollte. Diesem Scheine glaubte auch der Oberst, wenn wir uns in Gesellschaften trafen, die ich nicht umgehen konnte. Zwischen ihm und meinem Manne entspann sich ein freundschaftliches Verhältniß. Der Oberst ward der Pathe meines ältesten Sohnes, und ich hob ein Jahr später seine erste Tochter aus der Taufe, welche die Namen Emilie Cäsarine erhielt. Ich wies diese Annäherungen nicht zurück, da ich den Grund derselben kannte: mein Mann war reich, und der General hatte seinem Schwiegersohne nicht einen Thaler hinterlassen. Mit Freude machte ich die Bemerkung, wie der stolze Oberst, der ein großes Haus führen mußte, immer tiefer in die Schuld meines Mannes gerieth, der es in seiner Habsucht nicht verschmähete, Geld zu hohen Zinsen auszuleihen. Die Zeit verfloß, und ich muß meine Schwäche bekennen, daß durch die gegenseitige Annäherung meine erste Neigung wieder erwachte, ein Umstand, der die Pein meiner Situation erhöhete. Da starb die Gattin des Obersten, indem sie der Welt eine zweite Tochter schenkte. Der Gedanke, der Mann meiner ersten Liebe ist frei von allen Fesseln, brachte mich unwillkürlich in eine Aufregung, die ich vergebens zu bemeistern mich bestrebte. Jahre lang suchte ich sie zu bekämpfen – umsonst, die Fesseln meiner unglücklichen Ehe wurden stets drückender, und mein Mann wurde mir eine verhaßte Last. Das Gefühl der Liebe war in der gereiften Frau mit neuer Heftigkeit erwacht, und in in meinem verwirrten Geiste fliegen Hoffnungen auf ein Glück empor, das mich vor Wonne schaudern machte. Um diese Zeit trieb der geizige Freiherr seine ausstehenden Kapitalien ein, und auch der Oberst wurde angegriffen, dessen Ehre dabei auf dem Spiele stand. Ich empfand das Bedürfniß ihn zu retten, und brachte die Heirath unserer Kinder zu Stande; die verhängnißvollen Papiere blieben fest verschlossen, und ich ging selbst so weit, einen Ehrenschein [60] von dem Herrn von Nienstedt einzulösen, damit dem Manne meiner Liebe von dieser Seite keine Gefahr drohe.“

„Madame, dessen waren Sie fähig?“ stammelte wie betäubt der Oberst.

„Zweifeln Sie nicht daran, mein Herr; was ich that, wissen Sie!“

„Aber ich kannte die Gründe nicht.“

„Sie kannten meine erste Neigung, Sie kannten meine unglückliche Ehe und empfingen selbst Andeutungen, die Ihnen jeden Zweifel hätten lösen müssen, wenn Sie ihr Unrecht hätten einsehen wollen. Aber kein Wort des Trostes kam über Ihre Lippen, Sie sprachen keine Entschuldigung aus, die mich überglücklich gemacht haben würde – statt dessen legten Sie allen meinen Handlungen schmähliche Gründe unter, Sie machten mich selbst zur Theilhaberin aller nicht zu billigenden Handlungen meines Mannes und traten offen zu der mir feindlichen Partei über, als der Freiherr erkrankte, während seines Krankenlagers beraubt wurde, und unter Verwünschungen gegen mich starb. Ich kenne die Gerüchte, die sich damals verbreiteten, ich weiß auch, daß Sie Ihre Tochter nicht mehr Emilie nannten, sondern Cäsarine, um mich, die Pathe derselben, zu kränken. Die Ehe unserer Kinder ist zu meinem Bedauern eine unglückliche geworden, und auch dies schreiben Sie meinem Einflusse zu. Herr Oberst, anstatt mich zu beklagen, haben Sie mich verfolgt und den letzten Funken von Neigung in mir erlöscht.“

„Großer Gott, gnädige Frau, welch’ eine furchtbare Vergangenheit rollen Sie meinen Blicken auf!“ rief der Oberst.

„Wollen Sie mir nicht sagen, daß Sie jetzt erst zur Einsicht gelangen?“ fragte die Freifrau, indem sie sich auf den Arm ihres Sessels lehnte. „Am Hochzeitstage unserer Kinder, als Sie mir die Hand küßten, sahen Sie meine Thränen, Sie sahen selbst Ihren Ring an meinem Finger glänzen, den ich wie ein theures Kleinod aufbewahrte. Wir sprachen von dem Glücke der Ehe, aber Sie wollten mich nicht verstehen, Sie wichen mir aus, indem Sie mir einige spöttische Phrasen zuwarfen, die eine Galanterie sein sollten. Da wurden mir Ihre Ansichten von den Frauen klar, und um Ihnen nicht völlig zum Gespött zu werden, zog ich mich zurück. Ich wußte nun, daß Sie der Leidenschaft des Spielens Alles opferten; Sie hatten Ihre erste Jugendliebe aufgegeben, weil Emilie arm war – Sie hatten Ihre Tochter gegen ihre Neigung verheirathet, um Ihre Spielschulden zu bezahlen.“

„Gnädige Frau!“ fuhr der Greis auf.

„Ward meine Ansicht nicht vorigen Sommer bestätigt?“ fragte höhnend die bleiche Frau. „Mein zweiter Sohn hatte Henrietten gesehen und liebte sie – ich näherte mich Ihnen, aus Liebe zu meinem Sohne, und Sie kamen mir damals entgegen, weil Sie ein gewisses Papier fürchteten.“

„Verzeihung,“ unterbrach sie der Oberst, „Sie sprachen von einem Ehrenscheine, den Sie von dem Barone von Nienstedt eingelös’t – um mich sicher zu stellen!“ fügte er betonend hinzu.

„Ich will offen sein – ja!“

Die Freifrau biß wie krampfhaft die Lippen zusammen.

„Mein Herr, Sie zeihen mich auch der Lüge?“ flüsterte sie nach einer Pause.

„Madame, jener Schein befindet sich seit einem Jahre in meinen Händen.“

Eine leichte Röthe überflog das Gesicht der Freifrau. Gewaltsam unterdrückte sie ihre Bewegung.

„Aber nichts destoweniger danke ich Emilien für diese Erfindung,“ fuhr der Oberst fort, denn sie beweis’t das Bemühen, sich mir nützlich zu machen.

Die Dame verneigte sich.

„Herr Oberst,“ sagte sie lächelnd, „Sie wissen, daß Emilie triftige Gründe hat, Ihnen zu mißtrauen, und wenn Sie es versuchen, Ihre Untreue in ein weniger ungünstiges Licht zu stellen – –“

Des Greises Zorn keimte auf.

„Sie fordern meine Offenheit heraus. Madame!“ rief er. „Der alte Baron von Nienstedt war mir ein wahrer Freund, der mit solchen Papieren keinen Handel trieb. Man kann sich nicht wundern, wenn es die erste Sorge seines Sohnes war –“

„Ihnen diesen Schein zurückzugeben?“

„Ganz recht.“

“Dann freilich habe ich die Unwahrheit gesagt, Herr Oberst. Solchen Beweisen gegenüber zu beharren, wäre lächerlich.“

„Madame, wir haben eine vertrauliche Unterredung gehabt –“

„Und wenn ich nun offen meine Behauptung wiederholte?“

„Dann würde ich gezwungen sein, Ihnen dasselbe zu wiederholen.“

Die Freifrau verließ rasch ihren Sessel; sie öffnete eine Tapetenthür, die sich neben dem Kamine befand, und eine alte Kammerfrau trat ein.

„Jenny, hast Du die letzten Worte unserer Unterredung gehört?“ fragte sie zitternd.

„Ja, gnädige Frau. Der Herr Oberst theilte Ihnen mit, daß er von dem Sohne des Barons von Nienstedt einen Schein empfangen habe –“

„Geh’, und vergiß nicht, was Du gehört hast.“

Die Kammerfrau verschwand durch die Tapetenthür.

„Was soll das bedeuten?“ fragte der Oberst, der sich überrascht erhoben hatte.

„Herr Oberst, bekennen Sie nur, daß Sie, auf die Schwäche der armen Emilie bauend, hierher gekommen sind; aber statt Emilien treffen Sie die Freifrau von Erichsheim, die Mutter des verschmähten Ignaz, den näher kennen zu lernen Henriette nicht einmal der Mühe werth hielt. Sie werden mir antworten, daß Sie das Glück Ihrer Tochter im Auge gehabt haben – auch ich bin für das Glück meines Sohnes besorgt, denn Ignaz liebt Ihre Tochter, wie ich einst liebte. Und wen ziehen Sie ihm vor? Einen Menschen, den man für einen Abenteurer halten muß, der Nichts für sich hat, als ein großes Vermögen, dessen Quelle Niemand kennt. Jetzt steht eine doppelte Feindin vor Ihnen: die betrogene Geliebte und die schwer gekränkte Mutter. Das Schicksal ist mir günstig in dem Kampfe, zu dem ich herausgefordert bin, es giebt mir heute noch durch Sie selbst eine mächtige Waffe in die Hand – wissen Sie denn, mein Herr, das Papier, in dessen Bestz zu sein Sie sich übermüthig rühmten, dasselbe Papier, das mich zu einer arglistigen Heuhlerin stempeln sollte, ist mit jenen Papieren gestohlen, die ich bereits der Behörde überliefert habe.“

Wie vom Blitze getroffen zuckte der Oberst zusammen.

„Sie werden nach Beweisen fragen?“ fuhr die aufgeregte Dame fort. „Die Acten des Criminalgerichts enthalten eine Quittung über 24,000 Thaler, die für Einlösung eines Ehrenscheins des Obersten von Eppstein gezahlt sind. Sie sehen, mein Herr, daß der Baron von Nienstedt nur so lange Ihr Freund war, als er Ihr Geld nicht gebrauchte. Die Noth besiegte seine Freundschaft, er gab Ihr Papier aus den Händen, unbekümmert, was daraus werden würde.“

„Es ward ein Mittel, mich zu verderben!“ murmelte erschüttert der Oberst. „Gnädige Frau, mein Geschick liegt in Ihrer Hand –“

„Wie das der armen Emilie einst in der Ihrigen lag.“

„Ich versuche es nicht, mich zu rechtfertigen, denn ich würde nur Vorurtheile anführen können, die mich in meiner Jugend leiteten. Damit Sie mch aber nicht für allzu strafbar halten, bekenne ich Ihnen, daß meine Ehe eine unglückliche war. Ich habe viel gelitten – erhöhen Sie das Leid meiner alten Tage nicht, indem Sie mich zwingen, ein Zeugniß gegen den Gatten meiner Henriette abzulegen, und eine wirklich glücklihe Ehe zu zerstören. Nehmen Sie die Hälfte unsers Vermögens und erklären Sie, daß Ihr Antrag auf einem Irrthum beruhe. Der Fürst wird gern einen Prozeß niederschlagen, der seinen Adel compromittirt.“

„Also mit Gelde wollen Sie die lange Pein meines Lebens bezahlen?“ rief mit Bitterkeit die Freifrau.

„Nein, o nein! Sie sehen uns nur bereit zu einer Entschädigung dessen, was Ihnen ein leichtsinniger junger Mensch genommen hat.“

„Zählen Sie nicht auf meine Nachsicht,“ rief die Freifrau; „ich habe mir geschworen, meine Rache zu fühlen!“

Der Oberst trat zu ihr und ergriff ihre Hand.

„Emilie,“ sagte er bittend, „mein Haar ist bereits ergraut und mein vergangenes Leben bietet mir nur traurige Erinnerungen – über unserer Liebe hat ein Unglücksstern gewaltet, lassen Sie die Freundschaft des Alters an die Stelle der Jugendneigung treten, lassen Sie uns die wenigen Jahre, die uns noch bleiben, einem ruhigen Glücke weihen! Emilie, es giebt einen Gott, der die guten Handlungen belohnt!“

[62] Bewegt ließ sich der Greis auf ein Knie nieder. In den Augen der Freifrau erschienen Thränen.

„Adalbert! Adalbert!“ stammelte sie, indem sie sich hinabneigte.

Doch plötzlich fuhr sie wieder empor und trat von dem Knienden zurück. In ihren Zügen drückte sich wieder eine herbe Bitterkeit aus.

„Hinweg, hinweg!“ flüsterte sie zitternd. „Ich darf diese Stirn nicht küssen! Soll ich mich zum zweiten Male berücken lassen? Die Liebe hat mich betrogen, die Freundschaft, wenn sie möglich ist, wird mich betrügen!“

„Emilie, ist das Herz des Weibes härter als das des Mannes?“

„Mann, Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin!“ rief sie mit tonloser Stimme. „Jetzt näherst Du Dich mir, weil es Dein Vortheil erfordert – warum erinnertest Du Dich meiner nicht, als Deine Gattin gestorben war, als mich der Tod des Freiherrn zur Wittwe gemacht hatte? Ah, ich lese es in Deinen Zügen,“ flüsterte sie ganz leise: „Du glaubst dem Gerüchte, daß ich ein Verbrechen begangen habe. Adalbert, fandest Du keine Entschuldigung für mich, keine, keine?“

„Emilie!“ rief zusammenbebend der Oberst.

„O, ich habe Dir Nichts verrathen,“ fügte sie hinzu, indem ihre glühenden Blicke den immer noch Knienden durchbohren zu wollen schienen; „aber ich schleudere den Vorwurf auf Dein Gewissen zurück, den Du nicht auszusprechen wagst. Martere Dich ab in Vermuthungen, Treuloser, und wenn Du den Muth hast, an die Wirkungen Deines Verrathes zu glauben, wie sie Dir das Gewissen vorspiegelt, so klage mich an!“

Sie zog eine Glocke. Der Diener erschien.

„Der Wagen des Herrn Obersten soll vorfahren!“ befahl die Schloßherrin mit fester Stimme.

Dann grüßte sie kurz und kalt, und verließ den Saal.

Nach einigen Minuten erschien der greise Oberst in dem Hofe; schwankend wie ein Kranker bestieg er seinen Wagen.


IX.

Gegen Abend kam der Oberst auf Nienstedt an. Kaum hatte er sein Zimmer betreten als Heiligenstein erschien; er brachte die Nachricht, daß Ludwig’s Zustand sich verschlimmert habe.

„Auch seine übrigen Angelegenheiten stehen sehr schlimm!“ sagte der Oberst. „Wir haben es mit einer unversöhnlichen Feindin zu thun, die alle zu unserm Verderben erforderlichen Mittel besitzt.“

Wie wir wissen, war Heiligenstein Zeuge gewesen; als Ludwig dem Obersten den Ehrenschein übergeben hatte. Der Greis nahm keinen Anstand, die Mittheilungen der Freifrau in Betreff dieses verhängnißvollen Papiers dem Freunde zu eröffnen. Er verschwieg auch nicht, daß er zu einem Zeugnisse gegen den Baron gezwungen werden könne. Beide Männer glaubten an das Verbrechen, aber keiner wagte es auszusprechen. Um den Greis zu trösten, zog Heiligenstein die Handlung des verstorbenen Barons von Nienstedt in Zweifel und hielt die Angaben der Freifrau nur für Drohungen. Da Ludwig’s Zustand eine Gemüthserregung nicht erlaubte, beschloß man, einige Tage zu warten, ehe man ihm die neue Wendung der Dinge mittheilte und die nothwendigen Aufklärungen von ihm forderte. Henriette, die um den Zustand ihres Gatten in der peinlichsten Besorgniß war, sollte vor der Hand noch Nichts erfahren. Am folgenden Tage ritt Heiligenstein zu dem Gute der Freifrau; man sagte ihm, daß sie verreis’t sei, er kam unverrichteter Sache zurück. Nun zog man einen geschickten Advokaten in das Geheimniß. Der Rechtsgelehrte erklärte Nichts thun zu können, wenn ihm sein Client keine Anhaltepunkte zur Vertheidigung lieferte, das heißt, wenn er keine Auskunft darüber lieferte, wie er in den Bestz der Papiere gekommen sei, und vorzüglich des Ehrenscheins, dessen Empfang der Oberst nicht abschwören könne. Eine Klage wegen Erbrechung des Secretärs dürfe man nicht erheben, da dies ein Zugeständniß sein würde. Um diese Zeit kam eine Ladung des Gerichts. Der Advokat reichte ein Krankheitsattest ein. Nun drang man in Bob, man versuchte List und Gewalt – Alles blieb vergebens. Der Mulatte setzte heimlich seinen Herrn von Allem in Kenntniß, was vorging.

Der Oberst konnte den peinlichen Zustand der Ungewißheit nicht mehr ertragen; er kannte die Liebe Ludwig’s zu Henrietten, und in der Voraussetzung, daß er ihren Bitten nachgeben würde, weihete er sie in das schreckliche Geheimniß ein. Die junge Frau schauderte zurück, aber sie zweifelte nicht an der Unschuld ihres Mannes.

„Es muß sein, um unsere Ehre zu retten,“ sagte sie; „ich werde mich des traurigen Auftrags unterziehen.“

Denslben Abend trat sie in das Krankenzimmer. Bob saß am Bette seines Herrn. Bei dem Erscheinen seiner Gattin, obgleich es täglich um diese Zeit erfolgte; zuckte der Kranke leicht zusammen.

Henriette ertheilte dem Kammerdiener einen Auftrag, um ihn zu entfernen. Zögernd verließ der Mulatte das Zimmer.

„Ludwig,“ begann die junge Frau mit gepreßter Stimme, „Du hast viel gelitten, und leidest noch – Du willst mich nur trösten und stellst Dich stärker, als Du bist.“

„Hege keine Besorgniß, meine Geliebte!“ antwortete unruhig der Kranke, „Ich bin ja noch jung, mein starker Körper widersteht der Krankheit.“

Sie ergriff zärtlich seine Hand.

„Und dennoch hegt meine Liebe große Besorgnisse!“

„Frage den Arzt, Henriette, er wird sie verscheuchen.“

„Ludwig, Dein Leiden ist ein moralisches – o, glaube mir, es konnte Deiner liebenden Gattin nicht entgehen! Habe ich nicht die Pflicht, selbst das Recht, Deine Leiden mitzutragen? Und Du schließest mich aus, duldest allein – fast möchte ich Dir Vorwürfe machen!“

„Was ist das? Was ist das?“ flüsterte bestürzt der Baron.

„O, Verzeihung, mein lieber Freund, ich kann nicht länger schweigen, ich muß Dich an Deine Pflicht erinnern!“

„An meine Pflicht?“

„Es ist Deine Pflicht, mit Deiner Gattin, die Dein zweites Ich ist, Leiden und Freuden zu theilen. Oder verdiene ich Dein Vertrauen nicht?“

„Henriette,“ rief Ludwig, „man hat mich bei Dir angeklagt! Man will mir auch deine Liebe rauben!“

„Meine Liebe ist Dein Eigenthum, das Dir Niemand in der Welt rauben kann!“ antwortete feierlich die junge Frau. „Sieh’, Ludwig,“ fuhr sie unter Thränen fort, „mein Herz liegt offen vor Dir, es birgt keine Falte, die Dir unbekannt geblieben wäre, und würde es von einem geheimen Kummer bedrückt, es müßte sich Dir unwillkürlich erschließen, denn es weiß, daß es bei Dir Trost findet, daß Du es nicht verkennst. Kannst Du die Mutter Deines Kindes leiden sehen, Ludwig? Kannst Du es dulden, daß sie der Gram über Dein Mißtrauen verzehrt? Du bist der Wohlthäter aller Armen, sie segnen Deine milde Hand – und mir, Deiner Gattin, entziehst Du Dein Vertrauen, Du läßt es mich wie ein Almosen erflehen.“

„Halte ein, Henriette, Deine Worte tödten mich!“ rief der Baron erschüttert.

„Ich habe schon zu viel gesagt,“ flüsterte sie, die herabquellenden Thränen mit ihrem weißen Tuche trocknend; „ein Wort hätte hinreichen müssen.“

„Henriette,“ rief er flehend: „zweifle nicht an meiner Liebe, alle meine Gedanken, alle meine Handlungen werden von der Liebe zu Dir geleitet!“

Sie warf sich über ihn und schloß sein Haupt in beide Arme.

„Ludwig,“ flüsterte sie zitternd, „dann bin ich Deine Mitschuldige; gestatte meiner Liebe zu Dir, daß ich es sei!“

„Mitschuldige?“ rief der Kranke in einem unbeschreiblichen Tone. „Wer spricht von einer Schuld? Henriette, auch Du, Du hältst mich für schuldig? Ich reichte Dir eine reine, unbefleckte Hand am Altare.“

„Vergieb, vergieb meiner grenzenlosen Liebe, Ludwig! Ich wollte Dir nur zeigen, wenn ich von Schuld sprach, daß Deine Gattin Alles mit Dir zu theilen bereit ist!“

Laut schluchzend schloß er die junge Frau in seine Arme.

„Mein Gott,“ rief er aus, „habe Dank, daß du mir diesen Augenblick gesendet hast! Er lös’t die furchtbaren Zweifel, mit denen mein Herz im Kampfe lag. Henriette, wenn ich mir einen Vorwurf zu machen habe, so ist es der, daß mein Vertrauen nicht ohne Grenzen war, wie Deine Liebe! Du hast den Muth, mit mir eine Schuld zu theilen, Du wirft auch über Vorurtheile erhaben sein.“

[63] „Ich bin es, seit Du mich Deine Gattin nennst!“

„Wohlan, so sollst Du Alles wissen, ich darf Dir Nichts mehr verschweigen. Doch Du allein nur, Henriette – das Geheimniß muß unter uns bleiben.“

Nachdem sie die Thür verschlossen, setzte sie sich zu ihm auf das Bett. Er umschlang sie mit seinen zitternden Armen und begann leise:

„Der Drang zu erwerben, trieb mich nach Calcutta, wo ich durch einen seltenen Glücksfall in Verhältnisse geworfen wurde, die mir gestatteten, in kurzer Zeit ein großes Vermögen zu erwerben. Während ich vom Glücke überschüttet ward, schlugen einem andern Deutschen, meinem Nachbar, alle Unternehmungen fehl, so daß er bald in das tiefste Elend gerieth. Ich unterstützte ihn, indem ich ihm seine letzten Sklaven zu hohen Preisen abkaufte, unter denen sich auch mein Bob befand. Dieser Deutsche interessirte mich doppelt: er war mein Landsmann und hatte eine so wunderbare Aehnlichkeit mit mir, daß man uns allgemein für Zwillingsbrüder hielt. Aber so ähnlich unser Aeußeres war, so verschieden waren unsere Charaktere, und mehr als einmal wollte man mich, seinen Doppelgänger, für seine leichtsinnigen Streiche verantwortlich machen, Um ihn nicht völlig untergehen zu lassen, nahm ich ihn in mein Haus als Sekretair. Nach wenigen Wochen ergriff ihn ein heftiges Fieber, und er ließ mich an sein Bett kommen. Sie haben die Absicht, nach Europa zurückzukehren, sagte er, nehmen Sie diese Papiere und übergeben Sie sie meinem Vater, der vielleicht noch einigen Nutzen daraus ziehen kann; dann gab er mir noch nähere Nachrichten über seine Familie und verschied. Ein Jahr später verkaufte ich meine Besitzungen und reis’te nach Europa zurück. Ich erinnerte mich des Versprechens, das ich dem sterbenden Freunde gegeben, und um es zu erfüllen, reis’te ich nach Nienstedt. Hier sah ich meine Henriette, ich folgte ihr in das Bad, und der Kaufmann Ludwig benützte die Aehnlichkeit mit seinem verstorbenen Freunde und die Papiere desselben, um den fürstlichen Ball als der Baron von Nienstedt zu besuchen. Henriette, die Leidenschaft beherrschte mich, und ich glaubte kein Verbrechen zu begehen, wenn ich durch List lächerliche Vorurtheile zu beseitigen suchte, Henriette, bin ich strafbar, so hat mich die Liebe zu Dir dazu gemacht. Du bist nicht die Gattin eines Barons – mein Vater ist ein armer Handwerker in Hamburg, den ich heimlich unterstütze. Ich habe einen furchtbaren Kampf gerungen!“ fügte er schmerzlich hinzu. „Henriette, kannst Du mich noch lieben wie zuvor? Ich bin der Sohn eines Bürgersmannes, aber meine Hand ist rein. Die Täuschung, die ich begangen, wird mir Gott und meine Henriette verzeihen.“

„Bist Du nicht derselbe noch?“ rief weinend die junge Frau. „Mein Herz kann Dich nicht verurtheilen – ich bin Deine Mitschuldige! Der Vorsehung sei Dank, daß sie das furchtbare Drama auf diese Weise lös’t.“

„Dank, Dank, mein geliebtes, hochherziges Weib! Henriette, verwende das Geheimniß nach Deiner Ansicht.“

„Jetzt ist es an mir zu handeln – beruhige Dich, Ludwig!“

Sie küßte ihn, und verließ das Krankenzimmer. Eine halbe Stunde später meldete Bob den Obersten. Ludwig, der sich wunderbar gestärkt fühlte, hatte das Bett verlassen.

„Mein Sohn,“ rief der Greis, und schloß den bleichen jungen Mann in seine Arme.

Hinter ihm stand Henriette, sie trug ihr Kind an der Brust. Dann erschien Heiligenstein und reichte gerührt seinem Freunde die Hand. Alle bestürmten ihn mit Vorwürfen über sein hartnäckiges Schweigen.

„Ich war der Ansicht,“ antwortete er, „daß die Macht des Vorurtheils nicht minder stark sei, als der Verdacht eines Vergehens. Der Verdacht ließ sich durch einen glücklichen Prozeß beseitigen, während das Vorurtheil – –“

„Es ist längst beseitigt,“ unterbrach ihn der Oberst, „und ich bin zu der Ansicht gelangt, daß das wahre Glück im eigenen Herzen und bei guten Menschen, aber nicht in Verhältnissen zu suchen ist, die nur durch äußern Flitter glänzen. Wir alle sind schwache Menschen, wir alle stehen unter dem Einflusse der Leidenschaften – Sie, Ludwig, hat ein guter Engel verblendet, ich verzeihe Ihnen, zumal da sich Henriette als Ihre Mitschuldige bekannt hat. Das Vorurtheil soll das Glück meiner Kinder nicht zerstören; ich folge Euch in den Bürgerstand.“

Am folgenden Morgen fand eine Berathung mit dem Advokaten statt. Gleich darauf ward ein Expresser nach Hamburg abgesendet, um den Vater Ludwig’s zu holen. Er traf schon den dritten Tag ein. Am vierten stand der Advokat mit seinem Clienten und dessen Vater vor dem Criminalgerichte, auch Bob hatte man mitgenommen. Der Rechtsanwalt entkräftete die Anklage durch den Beweis, daß nicht der Baron von Nienstedt, sondern der Kaufmann Ludwig in dem Besitze der Papiere gewesen sei. Der Vater recognoscirte seinen Sohn, Bob trat als Zeuge auf, und Ludwig präsentirte einen Todtenschein des Barons, den der Mulatte zur größern Sicherheit aufbewahrt hatte. Die neue Anklage wegen Mißbrauchs anvertrauter Papiere und Anmaßung des Adels war bald entschieden. Da Ludwig Niemandem geschadet, vielmehr der ausgestorbenen Familie der Nienstedt’s durch seine Großmuth genützt habe, belegte ihn der Fürst, aus besonderer Rücksicht für den Obersten, mit einer Geldbuße von fünftausend Thalern.

Der Advokat forderte nun den Obersten auf, die Freifrau über Erlangung der Papiere zur Rechenschaft zu ziehen; aber er gab seine Zustimmung nicht dazu.

„Ich verzeihe ihr,“ sagte er; „sie leidet mehr, als ich gelitten habe.“

Ueber den Diebstahl der Papiere hat man nie Gewißheit erlangt, doch ruhete der Verdacht auf einem Jägerburschen, der später Kammerdiener des jungen Freiherrn von Erichsheim ward.

Ludwig verkaufte Nienstedt und ging mit seiner Familie nach Hamburg. Der Oberst begleitete ihn, um seine letzten Tage in Ruhe und Gemächlichkeit zu verleben. Der Gatte seiner ältesten Tochter stürzte bald darauf in der Trunkenheit mit dem Pferde und starb an den Folgen des Sturzes. Heiligenstein brachte die Wittwe mit ihren beiden Kindern nach Hamburg, und der Oberst hatte die Freude, seine ganze Familie um sich versammelt zu sehen. Ein Jahr später erhielt er die Kunde von dem Tode der Freifrau, specielle Nachrichten fügten hinzu, daß sie in einer Art Wahnsinn gestorben sei.

„Friede sei ihrer Asche!“ sagte erschüttert der Oberst.

„Auch ich verzeihe ihr ,“ fügte Ludwig hinzu, „denn sie hat mich ganz das Glück kennen gelehrt, das ich in meiner Gattin besitze.“

„Leider bedurfte es dieser Lection!“ sagte Henriette im Tone zärtlichen Vorwurfs.

„Sei gewiß, daß ich sie nie, nie vergesse!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Madama
  2. Vorlage: verfchmähen